Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 14. Okt. 2016 - 3 Ws 684/16; 3 Ws 684/16 (HEs 104/16)

bei uns veröffentlicht am14.10.2016

Tenor

Die Untersuchungshaft des Angeschuldigten hat fortzudauern.

Die weitere Haftprüfung wird für die Dauer von drei Monaten dem Landgericht R. - Große Jugendkammer - übertragen.

Gründe

 
Der am 3.4.2016 vorläufig festgenommene Angeschuldigte befindet sich auf Grund Haftbefehls des Amtsgerichts R. vom 4.4.2016 seit diesem Tage in Untersuchungshaft. Das nach Anklageerhebung mit der Sache befasste Landgericht R. hat mit Beschluss vom 21.9.2016 den Haftbefehl aufrecht und in Vollzug gehalten. Die Generalstaatsanwaltschaft trägt auf die Anordnung der Haftfortdauer an. Der Verteidiger des Angeschuldigten hat mit Schriftsatz vom 29.9.2016 die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung beantragt.
Die nach § 121 Abs. 1 StPO gebotene besondere Haftprüfung durch den Senat führt zur Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft.
Dringender Tatverdacht hinsichtlich des Tatvorwurfs besteht nach Maßgabe der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft R. vom 5.7.2016 auf Grund der dort angegebenen Beweismittel, insbesondere der Aussagen der Zeugen A, B, C und D. sowie den Feststellungen im rechtsmedizinischen Gutachten vom 15.6.2016 (betreffend die körperliche Untersuchung des Geschädigten E.), deren vorläufiger Bewertung im "Wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen" der Senat beitritt.
Als Haftgrund besteht Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Angeschuldigte, der die marokkanische Staatsangehörigkeit besitzt, hat im Falle einer Verurteilung wegen der ihm vorgeworfenen Tat mit einer erheblichen Jugendstrafe zu rechnen. Dem aus dieser Straferwartung resultierenden natürlichen Fluchtanreiz stehen Umstände von fluchthinderndem Gewicht nicht entgegen. Der 16 Jahre alte Angeschuldigte, der nach eigenen Angaben (gegenüber der Jugendgerichtshilfe im Januar 2016 im Rahmen eines früheren Strafverfahrens) fast täglich Marihuana konsumiert haben will, lebte seit seiner Einreise im Januar 2015 bis zu seiner Festnahme in vorliegender Sache als „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ im Kinderheim in R. und kann sich nur schwer alleine verständigen. Aufgrund dieser Umstände und im Hinblick auf die dem Angeschuldigten vorgeworfene Tat kommen andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, ebenso wie minder schwere Maßnahmen nach § 116 StPO nicht in Betracht. Ohne den Vollzug der Untersuchungshaft steht zu befürchten, dass sich der Angeschuldigte dem Verfahren durch Flucht oder Untertauchen entziehen wird.
Auch die besonderen Haftvoraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO sind gegeben. Ein wichtiger Grund im Sinne dieser Vorschrift hat ein Urteil bisher nicht zugelassen und rechtfertigt die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft.
a) Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen wurden - wie der Senat im Einzelnen geprüft hat - mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt. Nach Eröffnung des Haftbefehls und Beiordnung von Rechtsanwalt F. als Verteidiger wurden die Zeugen G., H. und I. nachvernommen. Am 11.4.2016 erteilte die Staatsanwaltschaft den Auftrag, ein rechtsmedizinisches Gutachten u.a. zu der Art und Schwere der Verletzungen des Geschädigten und des Angeschuldigten sowie der Wucht und Kraftentfaltung bei den dem Geschädigten zugefügten Stichverletzungen einzuholen. Am 12.5.2016 teilte der Verteidiger nach Rücksprache mit dem Angeschuldigten mit, dass derzeit keine Stellungnahme abgegeben werde. Am 30.6.2016 gingen die rechtsmedizinischen Gutachten vom 15. (betreffend den Geschädigten) und 16.6.2016 (betreffend den Angeschuldigten) bei der Staatsanwaltschaft ein. Die Staatsanwaltschaft R. schloss mit Verfügung vom 5.7.2016 die Ermittlungen ab und erhob am 11.7.2016 Anklage zum Landgericht R.. Zuvor gab die Staatsanwaltschaft noch eine Nachuntersuchung im Hinblick darauf in Auftrag, dass die rechtsmedizinische Sachverständige in ihrem Gutachten vom 15.6.2016 ausgeführt hatte, durch eine forensisch-radiologische Nachbefundung klinischer Bilddateien könne geprüft werden, ob durch das Auftreffen und Abbrechen der Messerklinge eine radiologisch erkennbare Knochenscharte entstanden sei. Die Strafkammervorsitzende verfügte am 12.7.2016 die Übersetzung und Zustellung der Anklageschrift unter Gewährung einer Erklärungsfrist von vier Wochen. Am selben Tag sprach die Strafkammervorsitzende mit dem Verteidiger zunächst Hauptverhandlungstermine auf den 13.1.2017 und fünf Folgetage im Februar 2017 ab. Die übersetzte Anklageschrift wurde am 18.7.2016 an den Angeschuldigten abgesandt. Am 27.7.2016 gelangte der molekulargenetische Untersuchungsbericht vom 25.7.2016 (bezüglich des Fahrtenmessers und des abgebrochenen Messergriffs) zu den Akten. Die forensisch-radiologische Nachbefundung bezüglich einer eventuell feststellbaren Knochenscharte wurde am 1.9.2016 zu den Akten gereicht.
Mit Beschluss vom 21.9.2016 hielt die Strafkammer den Haftbefehl des Amtsgerichts R. vom 4.4.2016 aufrecht und legte die Akten dem Oberlandesgericht zur Haftprüfung vor. Sie führt aus, eine frühere Terminierung sei im Hinblick auf näher aufgeführte Haftsachen sowie Jugend- und Jugendschutzsachen nicht möglich gewesen. Mit Schriftsatz vom 29.9.2016 rügte der Verteidiger die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes. Seit Übersetzung der Anklageschrift habe eine Förderung des Verfahrens nicht mehr stattgefunden; auch ein Eröffnungsbeschluss liege noch nicht vor. Grund hierfür sei die Auslastung der Jugendkammer; so könne beispielsweise ein weiteres von ihm bearbeitetes Verfahren bei der Jugendkammer, welches ebenfalls Mitte 2016 angeklagt worden sei, wegen der Vorrangigkeit von Haftsachen erst Mitte 2017 vor der Jugendkammer terminiert werden. Nach Übermittlung des Verteidigerschriftsatzes an die Strafkammervorsitzende teilte diese am 5.10.2016 mit, dass nach Erledigung einer und Verlegung einer anderen Jugendschutzsache nunmehr verbindlich Hauptverhandlungstage auf den 21., 25., 28. und 29.11.2016 mit dem Verteidiger vereinbart worden seien.
Hieraus ergibt sich, dass auch das gerichtliche Verfahren noch mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt wurde und in Verbindung mit dem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren ein Urteil vor Ablauf von sechs Monaten Untersuchungshaft nicht zugelassen hat. Allerdings kann nicht übersehen werden, dass, obwohl die Sache seit spätestens Mitte September 2016 (nach Abwicklung des Urlaubs der Kammermitglieder) entscheidungsreif war (Ablauf der gerichtlichen gesetzten Erklärungsfrist war Mitte August 2016), bisher noch nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden wurde. Die Strafgerichte haben nämlich - im Hinblick auf die Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes auch für das Zwischenverfahren (BVerfG, B. v. 4.5.2011 - 2 BvR 2781/10 - bei Juris [Rdn. 14ff.]) - im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen. Da vorliegend nunmehr jedoch Termine für die Hauptverhandlung in der zweiten Novemberhälfte 2016 (somit etwas mehr als zwei Monate nach der möglichen Eröffnungsentscheidung) abgesprochen wurden, ist das Beschleunigungsgebot - auch unter Beachtung des § 72 Abs. 5 JGG - noch nicht verletzt.
b) Der dargestellte - ein Urteil vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist nicht zulassende - Umfang der Ermittlungen stellt einen wichtigen Grund dar und rechtfertigt auch die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft. Entscheidend hierfür ist, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen. Hierbei ist der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten. Zwischen beiden Belangen ist abzuwägen, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt und sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößert. Im Rahmen der Abwägung kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann (BVerfG, StV 2006, 703).
10 
Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass der 16 Jahre alte Angeschuldigte, für dessen Verfahren das Gebot der besonderen Beschleunigung gilt (§ 72 Abs. 5 JGG), sich bei Beginn der Hauptverhandlung etwas mehr als 7½ Monate in Untersuchungshaft befinden wird und das Verfahren voraussichtlich infolge der in nahem zeitlichen Abstand geplanten weiteren Hauptverhandlungstermine noch vor Ablauf von acht Monaten erstinstanzlich abgeschlossen sein wird. Der Senat hält diese Dauer der Untersuchungshaft bis zum Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung im Hinblick auf die Bedeutung der Sache, der der Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts zugrunde liegt, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich um einen überschaubaren Sachverhalt handelt, noch für angemessen und sieht deshalb den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als gewahrt an.
11 
Die Übertragung der weiteren Haftprüfung beruht auf den §§ 122 Abs. 3 Satz 3, 126 Abs. 2 Satz 1 StPO.
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Ergänzend merkt der Senat an, dass Jugendhaftsachen im Hinblick auf § 72 Abs. 5 JGG grundsätzlich Erwachsenenhaftsachen vorgehen. Aber auch Jugendstrafverfahren (wegen des das Jugendgerichtsgesetz beherrschenden Erziehungsgedankens vgl. BGH, NStZ 2010, 94) und Jugendschutzsachen (zum Schutz der Opfer, vgl. auch Medieninformation des baden-württembergischen Ministeriums der Justiz und für Europa vom 10.10.2016), die keine Haftsachen sind, müssen zügig terminiert und abgeschlossen werden können. Im Hinblick auf die mitgeteilte Belastungssituation der Jugendkammer und auf das vom Verteidiger diesbezüglich exemplarisch mitgeteilte Verfahren sowie die (dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren in den letzten Jahren bekannte) Belastungssituation der anderen Straf- einschließlich der Wirtschaftsstrafkammern beim Landgericht R. hat der Haushaltsgesetzgeber (hier konkret: der Landtag von Baden-Württemberg) Abhilfe zu schaffen. Denn die sich ständig wiederholende Bildung von Hilfsstrafkammern, die in der Regel mit Richtern/innen anderer ebenso belasteter Strafkammern besetzt werden, bzw. die temporäre Verteilung von neu eingehenden Haftsachen auf andere (teilweise voll ausgelastete oder ebenso schon überlastete) Strafkammern führen dazu, dass Nichthaftsachen nicht mehr in angemessener Zeit abgeschlossen werden können. Die dem Senat u.a. - aber nicht nur - aus dem Bereich der Wirtschaftsstrafkammern bekannten Zustände, in deren Folge Nichthaftsachen mangels unzureichender Personalausstattung mehrere Jahre liegen bleiben müssen, bevor sie verhandelt werden können, wobei teilweise Tatvorwürfe wegen Verjährung eingestellt werden müssen, sind evident rechtsstaatswidrig. Der Senat ist der Auffassung, dass angesichts des geltenden Beschleunigungsgrundsatzes in Jugend- und Jugendschutzsachen im Regelfall bei einer Dauer des erstinstanzlich gerichtlichen Verfahrens von maximal sechs bis neun Monaten gerade noch von einer Verhandlung „in angemessener Frist“ (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) bezogen auf den Angeklagten (in Jugendsachen) bzw. bezogen auf das Opfer (in Jugendschutzsachen) gesprochen werden kann. Hieraus folgt, dass der Haushaltsgesetzgeber diese strukturellen Defizite abzustellen hat und nicht auf das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) verweisen kann. Dieses Gesetz gewährt zwar einen Ausgleich für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, entbindet aber den Gesetzgeber nicht von seiner Pflicht, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln schon in der Entstehung zu verhindern. Es stellt einen Verstoß gegen das Verfassungsgebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (BVerfG, B. v. 8.4.2013 - 2 BvR 2567/10) dar, wenn rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen in Nichthaftsachen immer mehr (soweit dem Senat bekannt ist, werden Statistiken hierüber nicht geführt) unter Anwendung der sog. „Vollstreckungslösung“ (BGHSt 52, 124) als scheinbar nicht zu vermeidender Nachteil Akzeptanz finden und sich nicht mehr nur auf besondere bzw. außergewöhnliche Umstände zurückzuführende Einzelfälle beschränken.

Urteilsbesprechung zu Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 14. Okt. 2016 - 3 Ws 684/16; 3 Ws 684/16 (HEs 104/16)

Urteilsbesprechungen zu Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 14. Okt. 2016 - 3 Ws 684/16; 3 Ws 684/16 (HEs 104/16)

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe


(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßr

Strafprozeßordnung - StPO | § 121 Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate


(1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden

Strafprozeßordnung - StPO | § 116 Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls


(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werd

Strafprozeßordnung - StPO | § 122 Besondere Haftprüfung durch das Oberlandesgericht


(1) In den Fällen des § 121 legt das zuständige Gericht die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor, wenn es die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich hält oder die Staatsanwaltschaft es be

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 72 Untersuchungshaft


(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der
Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 14. Okt. 2016 - 3 Ws 684/16; 3 Ws 684/16 (HEs 104/16) zitiert 5 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe


(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßr

Strafprozeßordnung - StPO | § 121 Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate


(1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden

Strafprozeßordnung - StPO | § 116 Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls


(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werd

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Tenor Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 16. November 2010 - 3 Ws 884/10 H - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.

Referenzen

(1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 ist der Haftbefehl nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben, wenn nicht der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt wird oder das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnet.

(3) Werden die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist vorgelegt, so ruht der Fristenlauf bis zu dessen Entscheidung. Hat die Hauptverhandlung begonnen, bevor die Frist abgelaufen ist, so ruht der Fristenlauf auch bis zur Verkündung des Urteils. Wird die Hauptverhandlung ausgesetzt und werden die Akten unverzüglich nach der Aussetzung dem Oberlandesgericht vorgelegt, so ruht der Fristenlauf ebenfalls bis zu dessen Entscheidung.

(4) In den Sachen, in denen eine Strafkammer nach § 74a des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, entscheidet das nach § 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Oberlandesgericht. In den Sachen, in denen ein Oberlandesgericht nach den §§ 120 oder 120b des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, tritt an dessen Stelle der Bundesgerichtshof.

(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.

(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen

1.
festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
2.
bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
3.
das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a)
Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b)
auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c)
andere zu solchem Verhalten veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).

(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 176c, 176d, 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.

(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. In Betracht kommen namentlich

1.
die Anweisung, sich zu bestimmten Zeiten bei dem Richter, der Strafverfolgungsbehörde oder einer von ihnen bestimmten Dienststelle zu melden,
2.
die Anweisung, den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich nicht ohne Erlaubnis des Richters oder der Strafverfolgungsbehörde zu verlassen,
3.
die Anweisung, die Wohnung nur unter Aufsicht einer bestimmten Person zu verlassen,
4.
die Leistung einer angemessenen Sicherheit durch den Beschuldigten oder einen anderen.

(2) Der Richter kann auch den Vollzug eines Haftbefehls, der wegen Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt ist, aussetzen, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß sie die Verdunkelungsgefahr erheblich vermindern werden. In Betracht kommt namentlich die Anweisung, mit Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen keine Verbindung aufzunehmen.

(3) Der Richter kann den Vollzug eines Haftbefehls, der nach § 112a erlassen worden ist, aussetzen, wenn die Erwartung hinreichend begründet ist, daß der Beschuldigte bestimmte Anweisungen befolgen und daß dadurch der Zweck der Haft erreicht wird.

(4) Der Richter ordnet in den Fällen der Absätze 1 bis 3 den Vollzug des Haftbefehls an, wenn

1.
der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt,
2.
der Beschuldigte Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt oder sich auf andere Weise zeigt, daß das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder
3.
neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen.

(1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 ist der Haftbefehl nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben, wenn nicht der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt wird oder das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnet.

(3) Werden die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist vorgelegt, so ruht der Fristenlauf bis zu dessen Entscheidung. Hat die Hauptverhandlung begonnen, bevor die Frist abgelaufen ist, so ruht der Fristenlauf auch bis zur Verkündung des Urteils. Wird die Hauptverhandlung ausgesetzt und werden die Akten unverzüglich nach der Aussetzung dem Oberlandesgericht vorgelegt, so ruht der Fristenlauf ebenfalls bis zu dessen Entscheidung.

(4) In den Sachen, in denen eine Strafkammer nach § 74a des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, entscheidet das nach § 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Oberlandesgericht. In den Sachen, in denen ein Oberlandesgericht nach den §§ 120 oder 120b des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, tritt an dessen Stelle der Bundesgerichtshof.

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 16. November 2010 - 3 Ws 884/10 H - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fortdauer von Untersuchungshaft.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer befand sich vom 14. Januar 2010 bis 7. Februar 2011 in Untersuchungshaft. Ihm wird zur Last gelegt, gemeinschaftlich handelnd Umsatzsteuer in Höhe von gut einer Million Euro hinterzogen zu haben. Am 28. Juni 2010 erhob die Staatsanwaltschaft deshalb Anklage vor dem Landgericht Augsburg. Die Vorsitzende der zuständigen 10. Strafkammer verfügte am darauffolgenden Tag die Zustellung der Anklageschrift verbunden mit der Aufforderung zur Stellungnahme binnen vier Wochen. Innerhalb dieser Frist wurden weder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens erhoben noch Beweisanträge gestellt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ die Kammer am 5. Juli 2010 außerdem einen neuen, an die Anklage angepassten Haftbefehl. Im Rahmen der ersten Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO ordnete das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 30. Juli 2010 die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot sei bislang entsprochen worden. Da die Strafkammer am 5. Juli 2010 einen neuen Haftbefehl erlassen und damit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts geprüft habe, sei mit einem weiterhin zügigen Fortgang des Verfahrens und seinem Abschluss innerhalb angemessener Frist zu rechnen.

3

2. Mit Beschluss vom 6. Oktober 2010 legte die Kammer die Akten dem Oberlandesgericht zur zweiten besonderen Haftprüfung erneut vor. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens sei noch nicht entschieden, ein Termin zur Hauptverhandlung habe noch nicht bestimmt werden können. Mit Schreiben vom gleichen Tag zeigte die Vorsitzende dem Präsidium des Landgerichts eine Überlastung der Kammer an. Diese sei nur noch mit ihr und einer Beisitzerin besetzt, nachdem die andere Beisitzerin Mitte September 2010 in Mutterschutz gegangen sei. Derzeit würden mehrmals wöchentlich zwei Strafverfahren verhandelt. In einem dieser Verfahren seien bislang 57 Zeugen vernommen worden. Mindestens die gleiche Anzahl sei noch geladen. Diese Verfahren seien derzeit bis zum 26. November 2010 beziehungsweise bis einschließlich 13. Dezember 2010 terminiert. Es sei davon auszugehen, dass weitere Verhandlungstage erforderlich würden. Ab dem 10. November 2010 verhandele die Kammer außerdem ein drittes Verfahren. Da die Verteidiger in allen Verfahren zahlreiche Beweisanträge angekündigt hätten, würden diese mindestens noch bis Ende des Jahres 2010, voraussichtlich bis Anfang des Jahres 2011 andauern. Soweit der Kammer ab dem 1. November 2010 eine weitere Richterin mit der Hälfte ihrer Arbeitskraft zugewiesen sei, sei davon auszugehen, dass diese im Jahr 2010 allenfalls die anhängigen Berufungen verhandeln könne, und dass möglicherweise noch Urteile nach Absprachen gefällt werden könnten. Die Kammer sei nicht in der Lage, vier weitere Strafverfahren, zu denen auch das des Beschwerdeführers zähle, noch im Jahr 2010 oder zu Beginn des Jahres 2011 vorzubereiten, zu terminieren und zu verhandeln. Sie, die Vorsitzende, gehe davon aus, dass Verständnis dafür bestehe, dass die Kapazität mehr als ausgeschöpft sei, wenn drei Wirtschaftsstrafsachen an drei verschiedenen Tagen pro Woche über Monate hinweg verhandelt würden. Im Übrigen seien noch weitere Haftsachen sowie zahlreiche andere Verfahren anhängig, die auch deshalb in der Vergangenheit nicht hätten verhandelt werden können, weil der Kammer ab dem Geschäftsjahr 2009 zusätzlich Verfahren der 8. und der 9. Strafkammer übertragen worden seien. Die außergewöhnliche Belastung in den Jahren 2009 und 2010 und die zahlreichen, zum Teil sehr schwierigen Verfahren hätten dazu geführt, dass sowohl die Beisitzerin als auch sie, die Vorsitzende, noch sehr viele Tage Resturlaub hätten, die nicht hätten eingebracht werden können.

4

Mit Beschluss vom 16. November 2010 ordnete das Oberlandesgericht die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft an. Gegen das Beschleunigungsgebot werde auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterhin "nicht so erheblich verstoßen", dass der Haftbefehl aufgehoben werden müsse. Allerdings habe der Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers, der sich seit rund zehn Monaten in Untersuchungshaft befinde, gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung an Gewicht gewonnen. Zwar sei das Verfahren nach Zustellung der Anklageschrift und Ablauf der vierwöchigen Stellungnahmefrist ins Stocken geraten. Insbesondere habe die Strafkammer noch nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden. Trotz der dadurch bedingten Verzögerung sei die Fortdauer der Untersuchungshaft aber noch zu rechtfertigen. Die Vorsitzende habe die hierfür ursächliche Überlastung am 6. Oktober 2010 dem Präsidium angezeigt. Dieses habe mittlerweile Abhilfe durch Bildung einer weiteren Wirtschaftsstrafkammer mit zusätzlichen Kräften in Aussicht gestellt, so dass erwartet werden könne, dass das Verfahren noch innerhalb angemessener Frist erledigt werden könne. Der Senat rechne damit, dass nunmehr alsbald über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden werde, zumal sich die Kammer bereits vor Erlass des an die Anklageschrift angepassten Haftbefehls vom 5. Juli 2010 mit dem äußerst umfangreichen Verfahrensstoff befasst haben müsse. Auch wenn sie aufgrund der derzeitigen Belastungssituation nicht in der Lage sei, das komplexe Verfahren, das sich gegen vier Personen richte, noch im Jahr 2010 oder zu Beginn des Jahres 2011 zu verhandeln, sei jedenfalls davon auszugehen, dass sie sich noch im Jahr 2010 um eine Abstimmung von Hauptverhandlungsterminen mit den Verfahrensbeteiligten bemühen werde. Um den Fortgang des Verfahrens besser überwachen zu können, werde die weitere Haftprüfung dem Landgericht nicht für drei, sondern nur für die Dauer von zwei Monaten übertragen.

II.

5

1. Nach Ergehen der zweiten Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt eine Verletzung des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgenden Beschleunigungsgrundsatzes. Die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens sei in sachlich nicht gerechtfertigter Weise verzögert worden. Für die Zeitspanne zwischen Eröffnungsbeschluss und Beginn der Hauptverhandlung sei anerkannt, dass diese grundsätzlich nicht länger als drei Monate betragen dürfe. Dieser Zeitraum sei auch zu beachten, wenn zwar der Eröffnungsbeschluss noch nicht gefasst worden, das Verfahren aber eröffnungsreif sei, denn mit dem Beschleunigungsgebot sei es nicht vereinbar, wenn ein Gericht trotz bestehender Eröffnungsreife den Eröffnungsbeschluss aufschiebe, um einen größeren zeitlichen Spielraum für die nachfolgende Terminierung zu erlangen. Im vorliegenden Fall sei das Verfahren spätestens mit Ablauf der vierwöchigen Stellungnahmefrist am 4. August 2010 eröffnungsreif gewesen, weil Einwendungen nicht erhoben und die Erhebung von Beweisen weder beantragt noch von der Kammer selbst für erforderlich erachtet worden seien. Hinzu komme, dass das Bestehen eines dringenden Tatverdachts im Rahmen des Erlasses des Haftbefehls am 5. Juli 2010 auf der Grundlage der Anklage bereits bejaht worden sei, was die Feststellung einschließe, dass auch ein hinreichender, die Eröffnung rechtfertigender Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO vorliege. Dennoch habe die Kammer - auch über vier Monate nach Eintritt der Entscheidungsreife - keinen Eröffnungsbeschluss gefasst. Ihre Überlastung rechtfertige dies nicht. Ebenso wenig könne der darin liegende Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot durch die in Aussicht gestellte Bildung einer neuen Strafkammer geheilt werden.

6

2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die für die Verzögerung des Verfahrens ursächliche Überlastung sei kurzfristig eingetreten und nicht vermeidbar gewesen. In den letzten Jahren habe es beim Landgericht Augsburg insgesamt zwei Strafkammern gegeben, die insbesondere für sämtliche Wirtschaftsstrafsachen sowie wirtschaftsnahe Strafsachen zuständig gewesen seien, wobei jeweils ein Beisitzer zusätzlich mit einem Arbeitskraftanteil von einem Zehntel Mitglied der Strafvollstreckungskammer gewesen sei. Zu Überlastungsanzeigen sei es dabei nicht gekommen. Wegen eines außerordentlich umfangreichen anderen Verfahrens hätten beide Wirtschaftsstrafkammern im Geschäftsjahr 2009 zusätzliche Zuständigkeiten aus dem Bereich der allgemeinen Strafsachen übernommen. In Bezug auf die Wirtschaftsstrafsachen sei die 10. Strafkammer außerdem gegenüber der 9. Strafkammer mit einem leichten Übergewicht belastet worden, weil diese durch ein anderes Verfahren außerordentlich beansprucht gewesen sei. Zugleich sei aber die mit Strafvollstreckungskammeraufgaben belastete Beisitzerin von diesen entlastet worden. Nach den Erfahrungen der Vorjahre sei davon auszugehen gewesen, dass unter diesen Rahmenbedingungen dem Beschleunigungsgrundsatz habe entsprochen werden können, zumal die 10. Strafkammer nach Beendigung der anderen Verfahren im Laufe des Jahres 2010 von den zusätzlichen Zuständigkeiten wie von Anfang an geplant wieder entlastet worden sei. Ab dem 1. Juni 2010 sei diese damit - wie im Jahr 2008 - für etwa die Hälfte der Wirtschaftsstrafsachen zuständig gewesen, allerdings ohne die ursprüngliche Zuständigkeit für wirtschaftsnahe Strafsachen und ohne die Zusatzbelastung des Einsatzes einer Beisitzerin in der Strafvollstreckungskammer. Die in der Überlastungsanzeige dargelegten Begleitumstände seien daher nicht vorhersehbar gewesen. Ursächlich sei vor allem ein drastisch und unerwartet gestiegener Eingang an Wirtschaftsstrafsachen im Jahr 2010 gewesen. Dieser habe nach dem ersten Halbjahr bei 26 und nach den ersten drei Quartalen bei 49 gelegen, während in den Jahren 2008 und 2009 jeweils nur insgesamt 43 beziehungsweise 40 Wirtschaftsstrafsachen eingegangen seien. Hinzugekommen sei der Ausfall einer der Beisitzerinnen, die der Kammer mit der Hälfte ihrer Arbeitskraft zugewiesen gewesen sei. Diese habe ihre Schwangerschaft am 13. Juli 2010 angezeigt und sei zum 18. September 2010 in Mutterschutz mit anschließender Elternzeit gegangen. Dieser Ausfall habe erst zum 1. November 2010 durch die Rückkehr einer anderen, in Wirtschaftsstrafsachen erfahrenen Richterin aus der Elternzeit kompensiert werden können. Auf die Überlastungsanzeige vom 6. Oktober 2010 habe das Präsidium des Landgerichts umgehend reagiert und zunächst die Übertragung des Verfahrens auf die 9. Strafkammer erwogen, was wegen deren eigener Belastung aber nicht möglich gewesen sei. Am 15. Oktober 2010 sei daraufhin die Bildung einer weiteren Strafkammer zum Jahreswechsel beschlossen worden, nachdem ab diesem Zeitpunkt ein in Wirtschaftsstrafsachen besonders erfahrener Vorsitzender wieder zur Verfügung gestanden habe.

7

3. Ausweislich einer vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vorgelegten Stellungnahme des Präsidenten des Landgerichts Augsburg hat die neu eingerichtete Kammer einen Teil des Bestandes der 10. Strafkammer übernommen. Am 21. Dezember 2010 hat diese den Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens gefasst und am 11. Januar 2011 - nach vorheriger Abstimmung mit den Verteidigern - Hauptverhandlungstermine einmal wöchentlich ab dem 2. März 2011 festgesetzt.

8

4. Nach Zustellung der Verfassungsbeschwerde hat das Oberlandesgericht im Rahmen der dritten besonderen Haftprüfung den Haftbefehl des Landgerichts mit Beschluss vom 7. Februar 2011 aufgehoben. Schon die späte Fassung des Eröffnungsbeschlusses am 21. Dezember 2010 erscheine im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt fast ein Jahr andauernde Untersuchungshaft bedenklich. Zumindest aber sei die nunmehr feststehende Hauptverhandlungsplanung mit dem Beschleunigungsgebot nicht zu vereinbaren. Obwohl die Untersuchungshaft bei Beginn der Hauptverhandlung am 2. März 2011 bereits 14 Monate andauern würde, seien bis Ende April 2011 lediglich sieben Sitzungstage vorgesehen. Mit einem Abschluss des Verfahrens innerhalb angemessener Frist könne daher nicht mehr gerechnet werden.

9

5. Der Beschwerdeführer hält trotz der Aufhebung des Haftbefehls an seiner gegen die zweite Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts und den Haftbefehl des Landgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde fest. Er verweist auf die besondere Bedeutung, insbesondere die Dauer der Freiheitsentziehung und das damit verbundene Gewicht des Grundrechtseingriffs.

B.

10

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG) und auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG vorliegen.

I.

11

Die Verfassungsbeschwerde ist trotz der zwischenzeitlichen Aufhebung des Haftbefehls weiter zulässig, soweit sie sich gegen die zweite Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts richtet. Der Beschwerdeführer ist durch diese Entscheidung zwar nicht mehr gegenwärtig beschwert. Im Hinblick auf das mit einer Freiheitsentziehung verbundene Rehabilitierungsinteresse besteht aber zumindest unter den hier gegebenen Umständen ein Rechtsschutzbedürfnis für die - auch nachträgliche - Feststellung der Verfassungswidrigkeit fort (vgl. für die verfassungsrechtliche Gebotenheit eines nachträglichen fachgerichtlichen Rechtsschutzes BVerfGE 104, 220 <234 ff.>; BVerfGK 6, 303 <309>; für das verfassungsgerichtliche Verfahren BVerfGE 10, 302 <308>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Februar 2000 - 2 BvR 453/99 -, NJW 2000, S. 1401 <1401>). Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Haftbefehl des Landgerichts richtet, ist sie dagegen nach dessen Aufhebung durch das Oberlandesgericht mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.

II.

12

Die zweite Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

13

1. Der im Recht auf Freiheit der Person verankerte Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. An dessen zügigen Fortgang sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Dieser Gedanke liegt auch der Regelung des § 121 StPO zugrunde, der bestimmt, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Wie sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte ergibt, handelt es sich dabei um eng begrenzte Ausnahmetatbestände (vgl. BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 20, 144 <148 f.>; 36, 264 <270 ff.>; 53, 152 <158 ff.>; BVerfGK 7, 421 <427 f.>; 9, 339 <347 f.>; 10, 294 <301 ff.>; zuletzt BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. August 2010 - 2 BvR 1113/10 -, EuGRZ 2010, S. 674 <676>).

14

2. Damit steht die zweite Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts nicht in Einklang, denn obwohl die Sache bereits seit geraumer Zeit entscheidungsreif war, hat die Strafkammer die Eröffnung des Hauptverfahrens erst am 20. Dezember 2010 beschlossen und Termin zur Hauptverhandlung nicht vor dem 2. März 2011 anberaumt. Darin liegt eine vom Beschwerdeführer nicht zu vertretende Verfahrensverzögerung, die der Fortdauer der Untersuchungshaft unter Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schon zum Zeitpunkt der zweiten Haftfortdauerentscheidung entgegenstand.

15

a) Der Beschleunigungsgrundsatz beansprucht auch für das Zwischenverfahren nach den §§ 199 ff. StPO Geltung. Auch in diesem Stadium muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um eine Entscheidung über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung herbeizuführen. Dass das Verfahren im vorliegenden Fall in Anbetracht der Komplexität der im Raum stehenden wirtschaftlichen Vorgänge eine erhebliche Schwierigkeit aufweist, rechtfertigte das Zuwarten nicht. Die Kammer hat sich hierauf in ihren Vorlagebeschlüssen an das Oberlandesgericht im Rahmen der Haftprüfung auch nicht berufen. Nachdem innerhalb der Stellungnahmefrist Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens nicht erhoben und die Erhebung von Beweisen weder beantragt noch von der Strafkammer für erforderlich erachtet worden waren, stellte sich die Prozesslage gegenüber dem Zeitpunkt der Anklageerhebung am 28. Juni 2010 unverändert dar. Auf dieser Grundlage hatte sie bereits mehrfach, zunächst bei Erlass des Haftbefehls am 5. Juli 2010, zuletzt gelegentlich der Fassung des zweiten Vorlagebeschlusses am 6. Oktober 2010, das Bestehen eines dringenden Tatverdachts bejaht. Es ist kein tragfähiger Grund dafür erkennbar, warum sie gleichwohl von einer Eröffnung des Hauptverfahrens abgesehen hat. Die Feststellung eines dringenden Tatverdachts schließt bei dieser Verfahrenslage nach der gebotenen objektivierten Betrachtung notwendig das Bestehen des für die Eröffnung nach § 203 StPO vorausgesetzten hinreichenden Tatverdachts ein, weil diese Begriffe hinsichtlich des Verdachtsgrades in einem Stufenverhältnis stehen. Ein Unterschied besteht nur insofern, als die Feststellung eines dringenden Tatverdachts auf den gegenwärtigen Stand der Ermittlungen bezogen ist, der sich ändern kann, während die Prüfung des hinreichenden Tatverdachts auf der Grundlage des Ergebnisses abgeschlossener Ermittlungen erfolgt (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 112 Rn. 6). Dieser Unterschied wirkt sich jedoch nicht aus, wenn - wie im vorliegenden Fall - nicht ersichtlich ist, dass noch weitere Ermittlungen, insbesondere die Erhebung weiterer Beweise nach § 202 StPO, erforderlich waren. Mit der Bejahung des dringenden Tatverdachts war daher hier zugleich Entscheidungsreife hinsichtlich der Eröffnung des Hauptverfahrens eingetreten. Dann gebietet der Beschleunigungsgrundsatz im Regelfall auch die Fassung des Eröffnungsbeschlusses (vgl. auch OLG Nürnberg, Beschluss vom 11. Februar 2009 - 1 Ws 28/09 H u.a. -, StV 2009, S. 367 f.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 30. November 2001 - 1 HPL 77/01 -, StV 2002, S. 152). Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Erhebung der Anklage schon fast ein halbes Jahr in Untersuchungshaft war, so dass an den zügigen Fortgang des Verfahrens erhöhte Anforderungen zu stellen waren.

16

b) Die (zwischenzeitliche) Überlastung der Kammer war kein zureichender Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft.

17

aa) Grundsätzlich ist durch geeignete Maßnahmen der Gerichtsorganisation Sorge dafür zu tragen, dass den Erfordernissen des Beschleunigungsgebots entsprochen werden kann. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist daher verletzt, wenn sich das Verfahren infolge vermeidbarer gerichtsorganisatorischer Fehler oder Versäumnisse erheblich verzögert (vgl. BVerfGE 36, 264 <273>; BVerfGK 9, 306 <311 f.>). Eine nicht nur kurzfristige Überlastung rechtfertigt die Fortdauer von Untersuchungshaft aber selbst dann nicht, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Der Beschuldigte hat es nicht zu vertreten, wenn seine Haftsache nicht binnen angemessener Zeit zur Verhandlung gelangt, weil dem Gericht die personellen oder sächlichen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich wären (vgl. BVerfGE 36, 264 <273 ff.>; BVerfGK 6, 384 <392>).

18

bb) Davon ausgehend kann dahinstehen, ob die gerichtsorganisatorischen Möglichkeiten - wie der Präsident des Landgerichts im Einzelnen darlegt - im Hinblick auf die Erfordernisse des Beschleunigungsgrundsatzes optimal ausgeschöpft wurden. Es bedarf auch keiner Entscheidung, ob und wieweit kurzfristige Engpässe eine Haftfortdauer rechtfertigen können, wenn sie nicht oder kaum vorhersehbar und vermeidbar waren (dafür Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 121 Rn. 42). Ausweislich der Überlastungsanzeige war die 10. Strafkammer insbesondere aufgrund der zwischenzeitlichen Übernahme zusätzlicher Zuständigkeiten ab dem Geschäftsjahr 2009 bereits seit längerem außergewöhnlich belastet und ihre Kapazität "mehr als ausgeschöpft", was Ausdruck auch darin gefunden hat, dass sowohl die Vorsitzende als auch die Beisitzerin "sehr viele Tage Resturlaub" nicht haben einbringen können. Die Überlastungssituation bestand daher offenbar schon länger, auch wenn sie sich erst aufgrund eines deutlich erhöhten Eingangs an Wirtschaftsstrafsachen im Jahr 2010 so zugespitzt haben mag, dass eine verzögerte Behandlung endgültig unvermeidlich wurde. Jedenfalls auf dieser Grundlage ist unter Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit der Person für die Annahme eines kurzfristigen, weder vorhersehbaren noch vermeidbaren Engpasses, dessen Folgen der Beschwerdeführer hätte hinnehmen müssen, kein Raum.

19

c) Die zum Zeitpunkt der zweiten Haftfortdauerentscheidung bereits eingetretene Verzögerung hat ihr Gewicht auch nicht nachträglich dadurch verloren, dass zum 1. Januar 2011 eine weitere Strafkammer gebildet wurde, die die 10. Strafkammer durch die Übernahme von Altverfahren entlastet hat, so dass zwischenzeitlich über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden und Hauptverhandlungstermine festgesetzt werden konnten. Da eine besonders intensive Form der Bearbeitung in jeder Lage des Verfahrens geboten ist, ist schon grundsätzlich zweifelhaft, ob die zeitweilige Verzögerung eines Verfahrens dadurch ausgeglichen werden kann (vgl. BVerfGK 7, 21 <41>). Jedenfalls durch die bisherige Hauptverhandlungsplanung mit nur einem Termin pro Woche ab dem 2. März 2011 konnten die bereits eingetretenen Verzögerungen nicht kompensiert werden.

20

d) Auf das Gewicht der im Raum stehenden Straftaten - Hinterziehung von Umsatzsteuer in Höhe von gut einer Million Euro - kam es nicht an, denn die Anforderungen des Beschleunigungsgebots werden nicht grundsätzlich dadurch geringer, dass die der Strafverfolgung unterliegenden Taten von hohem Gewicht sind und eine hohe Gesamtstrafenerwartung im Raum steht. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können daher jedenfalls bei erheblichen vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur weiteren Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden (vgl. BVerfGK 7, 421 <428>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. August 2010 - 2 BvR 1113/10 -, EuGRZ 2010, S. 674 <677>).

III.

21

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und Abs. 3 BVerfGG.

(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist.

(2) Solange der Jugendliche das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er

1.
sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder
2.
im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.

(3) Über die Vollstreckung eines Haftbefehls und über die Maßnahmen zur Abwendung seiner Vollstreckung entscheidet der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, in dringenden Fällen der Jugendrichter, in dessen Bezirk die Untersuchungshaft vollzogen werden müßte.

(4) Unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, kann auch die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2) angeordnet werden. In diesem Falle kann der Richter den Unterbringungsbefehl nachträglich durch einen Haftbefehl ersetzen, wenn sich dies als notwendig erweist.

(5) Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist das Verfahren mit besonderer Beschleunigung durchzuführen.

(6) Die richterlichen Entscheidungen, welche die Untersuchungshaft betreffen, kann der zuständige Richter aus wichtigen Gründen sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen.

(1) In den Fällen des § 121 legt das zuständige Gericht die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor, wenn es die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich hält oder die Staatsanwaltschaft es beantragt.

(2) Vor der Entscheidung sind der Beschuldigte und der Verteidiger zu hören. Das Oberlandesgericht kann über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach mündlicher Verhandlung entscheiden; geschieht dies, so gilt § 118a entsprechend.

(3) Ordnet das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft an, so gilt § 114 Abs. 2 Nr. 4 entsprechend. Für die weitere Haftprüfung (§ 117 Abs. 1) ist das Oberlandesgericht zuständig, bis ein Urteil ergeht, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt. Es kann die Haftprüfung dem Gericht, das nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständig ist, für die Zeit von jeweils höchstens drei Monaten übertragen. In den Fällen des § 118 Abs. 1 entscheidet das Oberlandesgericht über einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach seinem Ermessen.

(4) Die Prüfung der Voraussetzungen nach § 121 Abs. 1 ist auch im weiteren Verfahren dem Oberlandesgericht vorbehalten. Die Prüfung muß jeweils spätestens nach drei Monaten wiederholt werden.

(5) Das Oberlandesgericht kann den Vollzug des Haftbefehls nach § 116 aussetzen.

(6) Sind in derselben Sache mehrere Beschuldigte in Untersuchungshaft, so kann das Oberlandesgericht über die Fortdauer der Untersuchungshaft auch solcher Beschuldigter entscheiden, für die es nach § 121 und den vorstehenden Vorschriften noch nicht zuständig wäre.

(7) Ist der Bundesgerichtshof zur Entscheidung zuständig, so tritt dieser an die Stelle des Oberlandesgerichts.

(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist.

(2) Solange der Jugendliche das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er

1.
sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder
2.
im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.

(3) Über die Vollstreckung eines Haftbefehls und über die Maßnahmen zur Abwendung seiner Vollstreckung entscheidet der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, in dringenden Fällen der Jugendrichter, in dessen Bezirk die Untersuchungshaft vollzogen werden müßte.

(4) Unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, kann auch die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2) angeordnet werden. In diesem Falle kann der Richter den Unterbringungsbefehl nachträglich durch einen Haftbefehl ersetzen, wenn sich dies als notwendig erweist.

(5) Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist das Verfahren mit besonderer Beschleunigung durchzuführen.

(6) Die richterlichen Entscheidungen, welche die Untersuchungshaft betreffen, kann der zuständige Richter aus wichtigen Gründen sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen.

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 29. September 2010 - 1 Ws 421/10 - und der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 30. Juli 2010 - 31 KLs 3171 Js 30705/06 (68/06) - sowie die Ladung zum Haftantritt des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge vom 6. Juli 2010 - 60 VRJs 12/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse und die Ladung werden aufgehoben.

Die Sache wird an das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge zurückverwiesen.

...

Gründe

1

Der zu einer mehrjährigen Jugendstrafe verurteilte Beschwerdeführer wendet sich gegen eine erst 22 Monate nach Eintritt der Rechtskraft erfolgte Ladung zum Haftantritt.

I.

2

Mit Urteil vom 24. Oktober 2007 verurteilte das Landgericht Hannover den im Tatzeitpunkt 17 Jahre alten Beschwerdeführer wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung aufgrund der Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2 2. Alt. JGG zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten; eine Anrechnung der Zeiten in Untersuchungshaft und sonstiger Freiheitsentziehung wurde nicht nach § 52a Abs. 1 Satz 2 JGG ausgeschlossen. Das Urteil ist seit dem 22. April 2008 rechtskräftig; zu diesem Zeitpunkt war der Beschwerdeführer 19 Jahre alt.

3

Der Beschwerdeführer befand sich nach seiner vorläufigen Festnahme am 16. April 2006 aufgrund eines am 17. April 2006 ergangenen Haftbefehls bis 29. Mai 2006 in Untersuchungshaft und war anschließend - nach der Außervollzugsetzung des Haftbefehls - zum Zwecke der Untersuchungshaftvermeidung bis zum 24. Oktober 2007 in einer entsprechenden Einrichtung untergebracht.

4

Nach seiner Entlassung holte der Beschwerdeführer einen Schulabschluss nach und absolvierte in der Zeit vom 3. September 2007 bis zum 9. Juni 2009 eine Ausbildung zum Fachlageristen, die er mit dem Gesellenbrief abschloss. Im Anschluss daran ging er mehrere Beschäftigungsverhältnisse ein. Eine bereits während der Unterbringung aufgenommene psychologische Betreuung mit dem Ziel der Aufarbeitung des begangenen Unrechts setzte er nach seiner Entlassung fort.

5

Die erste Ladung zum Haftantritt wurde dem Beschwerdeführer am 22. Februar 2010 zugestellt. Eine erneute Ladung durch das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge erfolgte am 6. Juli 2010, nachdem die Vollstreckung des Urteils wegen eines letztlich erfolglosen Gnadengesuchs zurückgestellt worden war.

6

Gegen die zweite Ladung erhob der Beschwerdeführer Einwendungen gemäß § 458 StPO, weil eine Strafvollstreckung beinahe zwei Jahre nach eingetretener Rechtskraft weder unter Erziehungsaspekten notwendig noch im Hinblick auf den Vertrauensschutz wie auch die beeinträchtigende Wirkung der Vollstreckung zumutbar sei. Er habe zwischenzeitlich eine psychologisch betreute Aufarbeitung seiner Tat durchlaufen und bedürfe insbesondere keiner erzieherischen Einwirkung mehr. Außerdem habe er in der Zeit nach der Hauptverhandlung seine Ausbildung fortgesetzt und ein befristetes Arbeitsverhältnis eingehen können, an dessen Fortführung er durch den Vollzug der Strafe gehindert wäre.

7

Das Landgericht Hannover wies die Einwendungen mit Beschluss vom 30. Juli 2010 zurück. Allein der zeitliche Abstand von 22 Monaten zwischen Rechtskraft des Urteils und erstmaliger Ladung zum Strafantritt könne noch kein schutzwürdiges Vertrauen in die Nichtvollstreckung des Urteils begründen. Auch die positive Entwicklung des Beschwerdeführers stehe der Strafvollstreckung nicht entgegen. Dieser unterliege andernfalls der Vorstellung, dass sein Fehlverhalten - von den Maßnahmen der Untersuchungshaftvermeidung abgesehen - zu keinerlei Sanktionen geführt habe und er ein unbehindertes Leben fortführen könne. Neben dem fortbestehenden Erziehungsbedarf des Beschwerdeführers erforderten sowohl der Schuldausgleich als auch der Sühnegedanke die Strafvollstreckung.

8

In seiner hiergegen erhobenen sofortigen Beschwerde betonte der Beschwerdeführer erneut seine positive Entwicklung unter Bezugnahme auf die bereits dem Landgericht vorgelegten Gutachten, machte mögliche schädliche Einwirkungen des Strafvollzugs geltend und wandte sich gegen die Heranziehung der allgemeinen Verjährungsvorschrift des § 79 Abs. 3 Nr. 3 StGB, nach der die Vollstreckungsverjährung nach zehn Jahren eintritt.

9

Mit Beschluss vom 29. September 2010 verwarf das Oberlandesgericht die sofortige Beschwerde als unbegründet. Es würdigte die Situation des Beschwerdeführers, insbesondere seine positive Entwicklung seit Urteilserlass und die etwaigen Einschnitte einer nunmehrigen Strafvollstreckung, sowie den bis zur Vollstreckungseinleitung verstrichenen Zeitraum. Dennoch kam es zu dem Schluss, dass dem staatlichen Vollstreckungsanspruch Vorrang einzuräumen sei. Es sei weder eine verfassungskonforme Auslegung des § 79 StGB für die Vollstreckungsverjährung von Jugendstrafen im Allgemeinen geboten, noch lägen im Falle des Beschwerdeführers, unbeschadet der vorgelegten psychologischen Gutachten, außergewöhnliche Umstände vor, die eine grundrechtswidrige Härte der Vollstreckung der gerade wegen der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 2. Alt. JGG verhängten Jugendstrafe begründen könnten.

II.

10

Der bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde 22 Jahre alte Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i. V. m. Art. 104 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch die Ladung zum Haftantritt und die Entscheidung über die sofortige Beschwerde. Sein Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) sei insbesondere dadurch verletzt, dass der im Jugendstrafrecht geltende Erziehungsgedanke durch den unzumutbar langen Abstand zwischen dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils und der erstmaligen Ladung zum Haftantritt unterlaufen werde und es somit an einem verfassungsrechtlich zulässigen Eingriff in dieses Grundrecht fehle. Infolge des von ihm entwickelten Vertrauens in die nicht mehr erfolgende Vollstreckung habe er zudem von sich aus einen gefestigten Lebenswandel entwickelt, der eine weitere erzieherische Einwirkung des Staates nicht mehr erfordere und durch eine dennoch erfolgende Vollstreckung der mehrjährigen Freiheitsstrafe massiv beeinträchtigt würde. Auch lasse die Entscheidung die Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes, der gerade im Jugendstrafrecht verstärkt Anwendung finde, außer Acht. Zudem enthalte § 79 StGB eine verfassungswidrige Lücke insoweit, als er die Eigenheiten des Jugendstrafrechts nicht berücksichtige und keine spezifischen Fristen für die Vollstreckungsverjährung normiere. Zumindest müsse die Vorschrift verfassungskonform dergestalt ausgelegt werden, dass für die Verjährung von Jugendstrafen deutlich geringere Verjährungsfristen gälten, als dies bei erwachsenen Straftätern der Fall sei.

III.

11

Das Niedersächsische Justizministerium, das Bundesministerium der Justiz und der Generalbundesanwalt haben Stellungnahmen abgeben. Dem Bundesverfassungsgericht haben Teile der Akten des Strafverfahrens sowie das Vollstreckungsheft vorgelegen.

IV.

12

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 in Verbindung mit § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

13

Die Ladung zum Strafantritt durch das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge und die diese bestätigenden Beschlüsse des Landgerichts Hannover - die Verfassungsbeschwerde ist dahin auszulegen, dass auch dieser Beschluss angegriffen ist - und des Oberlandesgerichts Celle verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie dem Rechtsstaatsprinzip.

14

1. Die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützte Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 29, 312 <316>; 35, 185 <190>; 45, 187 <223>; 130, 372 <388>; stRspr). Belange von ausreichendem Gewicht sind insbesondere die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 20, 45 <49>; 20, 144 <147>; 32, 87 <93>; 35, 185 <190>) und der Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 30, 47 <53>; 45, 187 <223>; 58, 208 <224 f.>; 70, 297 <307>; 130, 372 <388>). Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, umfasst auch die Pflicht, die Durchführung eingeleiteter Strafverfahren und die Vollstreckung rechtskräftig erkannter (Freiheits-)Strafen sicherzustellen. Dass der Strafanspruch durchgesetzt, also auch eingeleitete Verfahren fortgesetzt und rechtskräftig verhängte Strafen vollstreckt werden müssen, ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (BVerfGE 46, 214 <222 f.>; 49, 24 <54>; 51, 324 <344>).

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Nach dem sich ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Beschleunigungsgrundsatz in Strafsachen erfordert eine funktionstüchtige Strafrechtspflege darüber hinaus die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs innerhalb eines so bemessenen Zeitraums, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann (vgl. BVerfGE 122, 248 <273>). Dies gilt auch für die Vollstreckung verhängter (Freiheits-)Strafen. Im Jugendstrafrecht kommt dem Beschleunigungsgrundsatz eine weitere, besondere Bedeutung zu, weil dort Freiheitsstrafen mit dem Ziel der Erziehung und sozialen Integration, einem Vollzugsziel mit Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 116, 69 <85>), vollzogen werden.

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Im Falle einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sind die Strafverfolgungsbehörden gehalten, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die Bestrafung noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem erreichbaren Rechtsgüterschutz steht (vgl. BVerfGK 2, 239 <247> m.w.N.). Dies gilt nicht nur für das Erkenntnisverfahren, sondern auch für die Vollstreckung, weil die von einer Strafe ausgehenden Wirkungen für das Leben des Verurteilten sich durch die Veränderung von Lebensumständen in Folge des Zeitablaufs seit Rechtskraft der Verurteilung verstärken können.

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Entscheidungen, die auf einen Entzug der persönlichen Freiheit abzielen, müssen ferner auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>; 70, 297 <308>; 109, 190 <223>). Die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.> m.w.N.) sind nicht nur im Erkenntnisverfahren, sondern auch im Vollstreckungsverfahren zu beachten (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>; 70, 297 <308>; 86, 288 <317>; 109, 133 <162>; 117, 71 <105>).

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2. Die Ladung zum Strafantritt wird diesen Anforderungen nicht gerecht und verkennt die Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechtes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

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Bei der Ladung zum Strafantritt vom 22. Februar 2010 war das zu voll-streckende Urteil bereits seit beinahe zwei Jahren, bei der - im Anschluss an das erfolglose Gnadenverfahren ergangenen - Ladung vom 6. Juli 2010 mehr als zwei Jahre rechtskräftig. Die Verzögerung bis zum Februar 2010 ist nicht auf ein Verhalten des Beschwerdeführers zurückzuführen, sondern, soweit ersichtlich, allein von staatlichen Stellen verursacht worden.

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Bereits im Hinblick auf diese Verzögerung hätte das Amtsgericht die aktuellen Lebensumstände des Beschwerdeführers aufklären müssen, um sicherzustellen, dass die Strafzwecke noch erreichbar sind und die Verhältnismäßigkeit der Einwirkung auf den Beschwerdeführer durch den Vollzug der Jugendstrafe gewahrt ist. Gerade im Jugendstrafrecht können Verfahrensverzögerungen den Strafzweck, insbesondere den Erziehungsgedanken, konterkarieren. Veränderte Lebensumstände können die Notwendigkeit einer erzieherischen Einwirkung in anderem Licht als zum Zeitpunkt der Verurteilung oder des Eintritts der Rechtskraft erscheinen lassen, was von Verfassungs wegen im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfGK 2, 239 <247>). Abweichendes gilt hier nicht deshalb, weil eine Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld im Raum steht; denn auch bei dieser tritt die erzieherische Grundausrichtung des Jugendstrafrechts nicht vollständig zurück (vgl. BGHSt 15, 224).

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Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer bereits 18 Monate, mithin weit mehr als ein Drittel der verhängten Strafe, in Untersuchungshaft und einer sonstigen freiheitsentziehenden Maßnahme im Sinne des § 52a Abs. 1 Satz 1 JGG verbracht hatte, ohne dass eine Anrechnung auf die verhängte Strafe nach § 52a Abs. 1 Satz 2 JGG ausgeschlossen worden war. Insofern drängte sich die Prüfung einer Reststrafenaussetzung nach § 88 JGG unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Entwicklung des Beschwerdeführers geradezu auf. Die Reststrafenaussetzung nach § 88 JGG ist ohne Antrag des Verurteilten von Amts wegen möglich und setzt nicht voraus, dass sich dieser im Strafvollzug befindet (vgl. Eisenberg JGG, 16. Aufl. 2013, § 88 Rn. 7). Für die Entscheidung nach § 88 JGG spielen die Vorschriften über die Vollstreckungsverjährung (§ 79 StGB) keine Rolle, so dass deren - vom Beschwerdeführer in Frage gestellte - Anwendbarkeit im Bereich des Jugendstrafrechts hier nicht erörtert werden muss.

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3. Die die Ladung bestätigenden Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen ebenfalls nicht. Sie lassen die im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebotene Aufklärung des Sachverhalts (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>) und die notwendige Begründungstiefe für eine die persönliche Freiheit entziehende Entscheidung (vgl. etwa BVerfGE 57, 250 <274 f.>; 63, 380 <390>; 70, 297 <308>; 103, 21 <35 f.>; BVerfGK 10, 294 <304>; 10, 544 <548>) vermissen. Es fehlt bereits eine auf den Einzelfall bezogene Überprüfung des Verfahrensablaufs im Hinblick auf mögliche Verletzungen des Beschleunigungsgrundsatzes (vgl. BVerfGK 7, 421 <428>; 17, 517 <524>). Die Beschlüsse verhalten sich in keiner Weise zu den Ursachen der entstandenen Verfahrensverzögerung.

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Vor allem aber haben die Gerichte das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützte Freiheitsinteresse des noch als Heranwachsender zu einer mehrjährigen Jugendstrafe verurteilten Beschwerdeführers nicht im Hinblick auf das im Jugendstrafrecht verankerte Erziehungsziel ausreichend berücksichtigt. Zwar haben sie die positive Entwicklung des Beschwerdeführers seit Urteilserlass und den ihm drohenden Arbeitsplatzverlust gewürdigt. Nicht erörtert worden ist hingegen, ob das Erziehungs- und Vollzugsziel der sozialen Integration nicht bereits erreicht worden ist, und ob für den Fall, dass weiterhin ein Erziehungsbedürfnis besteht, diesem durch Auflagen und Weisungen nach § 23 JGG Rechnung getragen werden kann. Die Annahme, der Verfahrensablauf habe beim Beschwerdeführer die - dem Erziehungsgedanken zuwiderlaufende - Vorstellung erweckt, man könne sich den Folgen einer Straftat entziehen, bleibt abstrakt und geht nicht auf die konkreten Umstände ein. In diesem Zusammenhang wird zwar erwähnt, aber nicht gewichtet, dass der Beschwerdeführer anlässlich der abgeurteilten Tat eine nicht unerhebliche Freiheitsentziehung hinzunehmen hatte und dass daher mit einer Nichtvollstreckung der Jugendstrafe kein vollständiger Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch verbunden ist. Der von den Gerichten als entscheidend angesehene Aspekt, dass der Zweck der Jugendstrafe, das Unrecht zu sühnen, noch nicht entfallen sei, steht der Berücksichtigung der vorgenannten Abwägungsgesichtspunkte nicht zwingend entgegen.

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4. Die Ladung zum Strafantritt des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge und die Beschlüsse des Landgerichts Hannover und des Oberlandesgerichts Celle werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

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Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.