Sozialgericht Speyer Urteil, 08. Sept. 2017 - S 16 AS 729/16

bei uns veröffentlicht am08.09.2017

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Tenor

1. Der Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid.

2

Der 1975 geborene Kläger war mit der Zeugin Frau S… M… L… seit dem 15.09.2011 verheiratet. Seit dem 13.01.2015 sind der Kläger und Frau L… rechtskräftig geschieden.

3

Ab dem 17.01.2012 war der Kläger in S… in der Wohnung der Frau L… gemeldet. Er war zunächst weiter in K… bei der Fa. H… beschäftigt. Zwei minderjährige Kinder der Frau L… lebten ebenfalls in der Wohnung. Frau L… bezog bereits vor Einzug des Klägers Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), war aber zugleich erwerbstätig.

4

Frau L…i hatte dem Beklagten im Oktober 2011 mitgeteilt, dass der Kläger in ihre Wohnung einziehen würde. Nach dem Einzug des Klägers legte Frau L… dem Beklagten anlässlich eines Weiterbewilligungsantrags für die Zeit ab dem 01.01.2012 zahlreiche Unterlagen betreffend den Kläger vor, darunter diverse Anlagen zu Antragsformularen. Diese waren sämtlich von Frau L… und nicht vom Kläger selbst unterzeichnet. U.a. wurde eine Anmeldebestätigung vorgelegt, ebenso Einkommensnachweise für die Zeit vom September 2011 bis Januar 2012 sowie Kopien des Personalausweises, der Krankenversichertenkarte und des Sozialversicherungsausweises. Die zum Weiterbewilligungsantrag vorgelegten Anlagen WEP, SV, EK und VM waren von Frau L… unterzeichnet.

5

Mit Bescheid vom 08.02.2012 bewilligte der Beklagte der Frau L… Leistungen nach dem SGB II („für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“) für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 30.06.2012, für den Kläger selbst ab dem 17.01.2012. Der Beklagte ging bei der Bescheiderteilung von einem monatlichen Bruttoeinkommen des Klägers von 1.700 Euro und der Frau L… von 450 Euro aus. Die Zahlungen auf Grund des Bescheides erfolgten immer auf ein Konto der Frau L…

6

Mit einem dem Bewilligungsbescheid vom 08.02.2012 entsprechend adressierten Änderungsbescheid vom 27.02.2012 erfolgte eine Erhöhung der Leistungen für den gesamten Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 30.06.2012. Hintergrund war die Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen in Höhe von zusammen 178 Euro monatlich, die der Kläger für zwei Kinder leistete. Nachweise hierfür hatte Frau L… vorgelegt, nachdem sie hierzu vom Beklagten mit Schreiben vom 08.02.2012 aufgefordert worden war. In dem Schreiben wurde mitgeteilt, dass der Kläger angegeben hätte, dass er Unterhaltsleistungen zahlen müsse. Den Verwaltungsvorgängen lässt sich jedoch nur die Nennung von Unterhaltsleistungen des Klägers in der allein von Frau L… am 02.02.2012 unterzeichneten Anlage EK entnehmen.

7

Im Juni 2012 stellte Frau L… einen Weiterbewilligungsantrag. Auch auf den hierzu vorgelegten Antragsformularen wurden Unterschriften ausschließlich durch Frau L… geleistet.

8

Laut Aktenvermerk vom 21.06.2016 teilte Frau L… dem Beklagten an diesem Tag mit, dass der Kläger am 16.06.2012 im Streit gegangen und bisher nicht zurückgekehrt sei. Anlässlich einer telefonischen Rücksprache am 25.06.2012 mit Frau L… teilte diese mit, dass ihr Ehemann (der Kläger) weiter im Haushalt lebe.

9

Mit Bescheid vom 26.06.2012 bewilligte der Beklagte der Frau L… vorläufig Leistungen nach dem SGB II („für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“) für den Zeitraum vom 01.07.2012 bis zum 31.12.2012.

10

Ein Anhörungsschreiben vom 20.06.2012 bezüglich einer möglichen Überzahlung im Monat Januar 2012 wurde an den Kläger selbst adressiert. Ein Nachweis über den Zugang des Schreibens ist in den Verwaltungsvorgängen nicht enthalten.

11

In Folge des Wegfalls der Hilfebedürftigkeit hob der Beklagte die Leistungsbewilligung mit Wirkung ab dem 01.08.2012 durch einen an Frau L… gerichteten Bescheid  vom 16.07.2012 auf.

12

Es folgten weitere Anhörungsschreiben vom 16.07.2012 für die Zeit vom 01.07.2012 bis zum 31.07.2012 sowohl an Frau L… als auch an den Kläger. Auch zu diesen Schreiben finden sich keine Zugangsnachweise in den Verwaltungsvorgängen.

13

Mit Bescheid vom 04.10.2012 erfolgte eine endgültige Bewilligung von Leistungen für den Monat Juli 2012 gegenüber Frau L… („für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“). Zeitgleich ergingen Erstattungsbescheide sowohl an Frau L… (und ihre Kinder) als auch an den Kläger. Zugangsnachweise für diese Bescheide sind in den Verwaltungsvorgängen nicht vorhanden.

14

Auf erneuten Antrag der Frau L… vom 13.09.2012 bewilligte der Beklagte der Frau L… mit einem Bescheid vom 05.10.2012 und einem Änderungsbescheid vom 09.10.2012 vorläufig Leistungen nach dem SGB II („für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“) für den Zeitraum vom 01.09.2012 bis zum 28.02.2013.

15

Der Kläger ist am 01.02.2013 aus der Wohnung der Frau L… ausgezogen.

16

Mit Schreiben vom 24.10.2014 hörte der Beklagte den Kläger unter seiner neuen Adresse wegen einer möglichen Aufhebung und Erstattung an.

17

Mit Bescheid vom 09.04.2015 hob der Beklagte die Bescheide vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 gegenüber dem Kläger für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum  31.07.2012 teilweise in Höhe von insgesamt 716,73 Euro auf und verlangte die Erstattung dieses Betrags. Hintergrund waren höhere Einnahmen der Frau L… aus Erwerbstätigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum.

18

Hiergegen erhob der Kläger am 29.04.2015 Widerspruch. Zur Begründung trug er vor, dass er im Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 31.07.2012 keine Leistungen nach dem SGB II bezogen habe. In diesem Zeitraum sei er in sozial- und lohnsteuerpflichtig abhängiger Beschäftigung gewesen. Sein Bruttogehalt habe 1.700 Euro betragen. Von der Tatsache, dass seine geschiedene Ehefrau Leistungen nach dem SGB II beantragt gehabt habe, habe der Kläger keine Kenntnis gehabt. Leistungen des Beklagten seien auch nicht auf sein Konto bei der Postbank überwiesen worden. Sie seien auf ein Konto gegangen, dass die geschiedene Ehefrau eingerichtet gehabt habe. Über dieses Konto habe der Kläger keine Verfügungsmacht gehabt. Er habe auch keine Kontoauszüge zu Gesicht bekommen. Er habe nicht gewusst, dass Leistungen beantragt worden waren, er habe auch nicht gewusst, dass Leistungen bewilligt worden waren. Er habe keine Beträge vom Beklagten erhalten. Der Rückforderungsanspruch werde zu Unrecht gegen ihn erhoben. Er selbst habe beim Beklagten keinen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt. Er habe dort auch keine persönlichen Unterlagen in Kopie abgegeben. Möglicherweise habe er bei der Agentur für Arbeit in S… Unterschriften geleistet und Unterlagen abgegeben zwecks Bewilligung von Arbeitslosengeld I. Dies sei ihm auch bewilligt worden.

19

Mit Änderungsbescheid vom 27.04.2016 korrigierte der Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbetrag auf insgesamt 701,10 Euro.

20

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2016 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die „Exfrau“ des Klägers habe tatsächlich einen höheren Lohn erhalten, als zuvor angerechnet. Die Leistungsbewilligung im streitigen Zeitraum sei somit nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufzuheben und zurückzufordern gewesen. Die Erstattungsbeträge ergäben sich, wenn man die ursprünglichen Bewilligungen den nach der Korrektur des Einkommens zustehenden Leistungen gegenüber stelle. Der Erstattungsbetrag für April 2012 sei dementsprechend zu korrigieren gewesen, da dem Kläger für April 2012 ursprünglich 102,33 Euro an Kosten der Unterkunft gewährt worden seien, tatsächlich aber 15,63 Euro zugestanden hätten. Es seien für April 2012 somit nur Unterkunftskosten in Höhe von 86,70 Euro zu erstatten. Der Vortrag, der Kläger habe nichts vom Leistungsbezug seiner „Exfrau“ gewusst und selbst keine Leistungen erhalten, überzeuge anhand der vorliegenden persönlichen Unterlagen des Klägers in der Akte nicht. Auch seien ihm mehrere Schreiben zugestellt worden. Die Kontoauszüge des Klägers lägen vor, trotz der Angabe, dass die „Exfrau“ des Klägers dessen Kontoauszüge nicht zu Gesicht bekommen hätte.

21

Der Kläger hat am 25.05.2016 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, dass er im Zeitraum seit der Heirat am 15.09.2011 bis zur rechtskräftigen Scheidung am 13.01.2015 keine Leistungen vom Beklagten bezogen habe. Auf seinem Konto bei der Postbank sei kein Cent von einem Jobcenter in den genannten Zeitraum eingegangen. Die geschiedene Ehefrau sei in S… in einem Spielcasino beschäftigt gewesen. Welche Arbeitszeit sie dort vereinbarungsgemäß einzuhalten gehabt habe, welches Einkommen sie erzielt habe, auf welches Konto das Arbeitsentgelt eingezahlt worden sei, entziehe sich der Kenntnis des Klägers. Er selbst habe keinen Antrag auf „Leistungen nach Hartz IV“ gestellt. Er habe selbst keine Unterlagen vorgelegt. Er habe auch nicht veranlasst, dass Unterlagen für ihn von einer anderen Person vorgelegt werden. In der Verwaltungsakte des Beklagten tauche kein einziges Mal die Unterschrift des Klägers auf. Kein einziger Antragsvordruck sei vom Kläger unterschrieben. Alle Antragsformulare seien durch Frau L… unterschrieben worden. Eine Vollmacht habe sie nie besessen. Leistungen des Beklagten seien ausnahmslos auf das Konto der Frau L… bei der Sparkasse S… eingegangen. Über dieses Konto habe der Kläger keinerlei Verfügungsrechte gehabt. Der Kläger sei kein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft gewesen. Er habe gearbeitet und verdient. Auf Drängen der Ehefrau habe er die Arbeitsstelle in K… gekündigt, weil diese darauf bestanden habe, dass er im Raum S… erwerbstätig sein solle. Für Frau L… sei es ein Leichtes gewesen, an Unterlagen des Klägers zu kommen, wenn dieser ortsabwesend gewesen sei. Falls sie kein Kopiergerät gehabt haben sollte, wäre es ein Leichtes gewesen, Kopien in einem Copyshop zu fertigen.

22

Der Kläger beantragt sinngemäß,

23

den Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.05.2016 aufzuheben.

24

Der Beklagte beantragt,

25

die Klage abzuweisen.

26

Zur Begründung beruft er sich auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Ergänzend trägt er vor, dass die Anträge auf Leistungen nach dem SGB II, welche nur von Frau L… unterschrieben worden seien, gemäß § 38 SGB II als für die gesamte Bedarfsgemeinschaft, zu der damals auch der Kläger gehört habe, gestellt gälten. Eine Unterschrift des Klägers auf den Anträgen sei deshalb nicht notwendig gewesen. Im Hinblick auf die Vielzahl der eingereichten persönlichen Unterlagen des Klägers sei es nicht überzeugend, dass Frau L… sämtliche Unterlagen heimlich beschafft, kopiert und eingereicht haben solle.

27

Die Kammer den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 12.05.2017 persönlich angehört und Frau S. L… in der mündlichen Verhandlung vom 08.09.2017 als Zeugin vernommen. Der Kläger erklärte, dass ihm bekannt gewesen sei, dass Frau L… Leistungen vom Beklagten bezogen hatte. Sie habe ihn auch mal um einen Lohnzettel gebeten. Sie hätten jeweils aber getrennte Konten und auch keine Verfügungsbefugnis über das Konto des jeweils anderen gehabt. Er selbst habe sein eigenes Geld verdient. Frau L… habe sich um die Finanzierung ihres Hauses gekümmert. An den Kosten für die Unterkunft habe er sich nicht beteiligt. Mit der Agentur für Arbeit habe er erst Kontakt gehabt, als er sich am 15.12.2012 arbeitslos gemeldet habe.

28

Frau L… bestätigte die getrennte Kontoführung ohne gegenseitige Verfügungsbefugnis. Dem Kläger sei ihr Leistungsbezug bekannt gewesen. Ob er gelegentlich mit ihr beim Jobcenter gewesen sei, wisse sie nicht mehr. Die Kosten für die Wohnung seien von ihrem Konto abgegangen. Der Kläger habe die allgemeinen Lebenshaltungskosten gezahlt. Sie nehme an, dass der Kläger von den Bescheiden des Beklagten Kenntnis erlangt habe, da sie offen herumgelegen hätten. Ihr sei nicht unbedingt klar gewesen, dass der Kläger auch Leistungen bekommen würde.

29

Zur weiteren Darstellung des Tatbestands, insbesondere zum weiteren Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

I.

30

Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

31

Die Klage richtet sich gegen den Aufhebungsbescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.05.2016, mit dem der Beklagte gegenüber dem Kläger Bescheide vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 31.07.2012 teilweise im Umfang von insgesamt 701,10 Euro aufhebt und die Erstattung dieses Betrages verlangt.

II.

32

Die Klage ist begründet. Der Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.05.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher aufzuheben (§ 131 Abs. 1 Satz 1 SGG).

33

1. Soweit mit den angefochtenen Bescheiden Bewilligungsbescheide mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werden, folgt die Rechtswidrigkeit aus dem Umstand, dass dem Kläger selbst mit den teilweise aufgehobenen Bescheiden vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 Leistungen nach dem SGB II nicht wirksam bewilligt wurden. Voraussetzung für eine Aufhebung nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) oder nach § 48 SGB X ist stets, dass gegenüber dem Betroffenen überhaupt ein von der Aufhebungsverfügung erfasster Verwaltungsakt wirksam geworden ist.

34

Zwar lassen sich die Bescheide des Beklagten vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 allesamt so verstehen, dass eine Leistungsbewilligung auch zu Gunsten des Klägers verfügt werden sollte. Die Formulierung „für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“ lässt jedenfalls eine Auslegung dahingehend zu, dass hiermit den mit der eigentlichen Adressatin in der Bedarfsgemeinschaft lebenden und im nachfolgenden Bescheidtext namentlich benannten Personen jeweils eigenständig Leistungen bewilligt werden, diese also nicht lediglich bei der Leistungsbewilligung an die Adressatin berücksichtigt werden und nur mittelbar von dieser profitieren sollten. Demnach hätte der Beklagte gegenüber dem Kläger mit den genannten Bescheiden diesen begünstigende Verwaltungsakte erlassen wollen.

35

Diese Bewilligungsentscheidungen sind gegenüber dem Kläger jedoch nicht wirksam geworden. Denn es fehlt an einer Bekanntgabe der Bescheide an den Kläger. Es kann daher offenbleiben, ob die Rechtsgrundlage für die teilweise Aufhebung der Bewilligungsbescheide § 45 SGB X oder § 48 SGB X wäre, oder ob in Folge des zwischenzeitlichen Erlasses von Änderungsbescheiden nach Zeitabschnitten zu differenzieren wäre.

36

Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Nach § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X kann die Bekanntgabe gegenüber einem Bevollmächtigten vorgenommen werden, wenn ein solcher bestellt ist.

37

1.1 Gegenüber dem Kläger selbst sind die Verwaltungsakte vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 nicht bekanntgegeben worden. Die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes setzt einerseits die (unter bestimmten Umständen fingierte) Kenntnisnahme durch den Adressaten voraus. Über die passive, rein tatsächliche Kenntnisnahme durch den Betroffenen hinaus, verweist der Begriff der Bekanntgabe („-gabe“ von „geben“) auch auf eine aktive Handlung des Absenders. Um als bekanntgegeben zu gelten, muss der Verwaltungsakt daher nicht nur (grundsätzlich) zur Kenntnis genommen, sondern auch mit der Zielrichtung der Kenntnisnahme durch den Adressaten übermittelt worden sein (vgl. auch BSG, Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 2/13 R –, Rn. 28; alle Entscheidungen zitiert nach juris). Diese Voraussetzung wird in Anlehnung an die Dogmatik der Willenserklärung im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) als „Bekanntgabewille“ bezeichnet (Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 25; vgl. auch die Definition der Bekanntgabe als „Eröffnung des Verwaltungsakts mit Wissen und Willen der erlassenden Behörde“, Pattar, a.a.O., Rn. 66 unter Bezugnahme auf Recht in: Hauck/Noftz, SGB X, K § 37, Rn. 5).

38

Gegenüber wem der Verwaltungsakt durch die Behörde bekanntgegeben werden soll, kommt bei einem schriftlichen Verwaltungsakt grundsätzlich im Adressfeld des Bescheides und/oder in der Anrede des Bescheides zum Ausdruck. Wenn die Behörde den Verwaltungsakt nicht an die von der Regelung betroffene, sondern an eine andere Person adressiert, ist, selbst wenn die betroffene Person von der Regelung Kenntnis erlangt, noch keine Bekanntgabe an die betroffene Person erfolgt (vgl. Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 25, und v. Wulffen/Schütze/Engelmann, SGB X, § 37 Rn. 3b, beck-online, für den Fall der zufälligen Kenntnisnahme).

39

Betrifft die Regelung eines Verwaltungsakts mehrere Personen oder sind in einem zusammengefassten Bescheid mehrere Regelungen enthalten, die verschiedene Personen betreffen, muss die Regelung beziehungsweise müssen die Regelungen daher jeder einzelnen betroffenen Person bekanntgegeben werden und damit auch zugehen, um wirksam zu werden (Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 58 m.w.N.). Dies gilt insbesondere auch bei Bescheiden über Leistungen an mehrere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), wie im vorliegenden Fall.

40

1.1.1 Die Bescheide vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 waren ausschließlich an die frühere Ehefrau des Klägers, die Zeugin Frau L…, adressiert. Nur sie wurde in der Anrede der Bescheide persönlich angesprochen. Demzufolge wurden die in den Bescheiden enthaltenen Verwaltungsakte allenfalls ihr, nicht jedoch dem Kläger gegenüber bekanntgegeben.

41

Vorliegend kann offenbleiben, ob es für den „Bekanntgabewillen“ der Behörde schon ausreichen kann, dass die Behörde bei Absendung an eine Person damit rechnet, dass auch andere Betroffene von dem Verwaltungsakt Kenntnis erlangen werden (so Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 25), denn für eine derartige Annahme fehlt es im vorliegenden Fall an einem tatsächlich Anhaltspunkt. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Beklagte seiner auch im vorliegenden Verfahren geäußerten Rechtsauffassung gemäß eine Bekanntgabe der Bescheide gegenüber Frau L… auf Grund einer angenommenen Vertretungsvermutung entsprechend § 38 Abs. 1 SGB II für ausreichend gehalten hat. Hiervon abgesehen kann nicht nachgewiesen werden, dass der Kläger entgegen seines Vortrags von den genannten Bescheiden tatsächlich Kenntnis erlangt hat. Die Zeugin Frau L… hat diesbezüglich lediglich ausgesagt, dass sie annehme, dass der Kläger von den Bescheiden Kenntnis erlangt hat.

42

Eine Bekanntgabe der Bescheide vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 ist gegenüber dem Kläger selbst mithin nicht erfolgt.

43

1.1.2 Eine Bewilligung von Leistungen durch den Beklagten an den Kläger ist auch nicht konkludent durch Zahlung der vermeintlich bewilligen Beträge an die Zeugin Frau L… erfolgt. Denn auch insoweit fehlt es jedenfalls an einer konkludenten Bekanntgabe der Bewilligungsentscheidung an den Kläger als Adressaten.

44

1.2 Die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes ist auch nicht deshalb erfolgt, weil die Zeugin Frau L… vom Kläger im Verhältnis zum Beklagten im Sinne des § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X empfangsbevollmächtigt gewesen wäre.

45

1.2.1 Der Kläger hatte Frau L… nicht im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB X für die Durchführung des Verwaltungsverfahrens bevollmächtigt. Auch eine Bestellung nach § 14 SGB X oder § 15 SGB X lag nicht vor.

46

1.2.2 Der Beklagte war auch nicht dazu berechtigt, die Bekanntgabe entsprechend der Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 SGB II gegenüber Frau L… mit Wirkung für und gegen den Kläger vorzunehmen.

47

Nach § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen. Gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 SGB II gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person, wenn mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft leben.

48

Die Vermutungsregelung erfasst demnach zwei verschiedene Handlungen: den Antrag auf Leistungen und die Entgegennahme von Leistungen.

49

a) Die Antragstellung hat in verfahrensrechtlicher Hinsicht gemäß § 18 Satz 2 SGB X zur Folge, dass hiermit ein Verwaltungsverfahren eingeleitet wird. In materiell-rechtlicher Hinsicht ist die Antragstellung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Sie bestimmt darüber hinaus den Zeitpunkt des Beginns der Leistungen (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Durch die Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird zu Gunsten der potenziell Leistungsberechtigten sichergestellt, dass die Leistungsvoraussetzungen regelmäßig ab dem Zeitpunkt erfüllt werden können, an dem eine beliebige erwerbfähige leistungsberechtigte Person der Bedarfsgemeinschaft erstmals einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II stellt. Eine (Vermutung der) Bestellung des Antragstellers zum Bevollmächtigten im Sinne der §§ 13 Abs. 1, 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist hiermit nicht verbunden.

50

b) Die Entgegennahme von Leistungen im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II bezeichnet den tatsächlichen Vorgang der Leistungsabwicklung auf Empfängerseite. Mit der Vertretungsvermutung wird für den Regelfall angeordnet, dass die Behörde mit befreiender Wirkung an den erwerbsfähigen leistungsberechtigten Antragsteller leisten kann, soweit auch den anderen Angehörigen seiner Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II bewilligt worden sind. Die Entgegennahme ist daher grundsätzlich von der Leistungsbewilligung zu unterscheiden. Sie setzt die Leistungsbewilligung vielmehr voraus. Denn durch die Leistungsbewilligung, gegebenenfalls differenziert an mehrere Bedarfsgemeinschaftsmitglieder, wird erst bestimmt, gegenüber welchen Personen der Leistungsträger durch Zahlung an den Antragsteller von seiner Leistungspflicht befreit wird. Dies schließt zwar nicht grundsätzlich aus, dass eine Leistungsbewilligung konkludent zeitgleich mit der Zahlung erfolgen kann (allerdings nur gegenüber dem Zahlungsempfänger, s.o. unter 1.1.2; vgl. zur konkludenten Bewilligung von Krankengeld durch Zahlung: SG Mainz, Urteil vom 21.03.2016 – S 3 KR 255/14 –, Rn. 63 ff.), hat aber nicht zur Folge, dass eine Vertretungsvermutung für die Entgegennahme einer Leistung eine Vertretungsvermutung für die Entgegennahme eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X mit einschließen würde (so aberAubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 38, Rn. 28, und Hessisches LSG, Urteil vom 13.11.2015 – L 9 AS 44/15 –, Rn. 33). Das gesamte für das SGB II geltende Verwaltungsverfahrensrecht des SGB X basiert vielmehr auf der Unterscheidung zwischen materiellen Ansprüchen, Verwaltungsakten über Ansprüche und Vollzug von Verwaltungsakten. Im Kontext des SGB II und des SGB X überschreitet eine Interpretation der „Entgegennahme von Leistungen“ als „Entgegennahme von Bewilligungsbescheiden“ daher die Grenzen des möglichen Wortsinns (so auch Gagel/Pilz, SGB II § 38, 41. EL März 2011, Rn. 16, beck-online, unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht des Leistungsberechtigten und unter Heranziehung eines Vergleichs mit § 36 SGB I).

51

c) Eine Erweiterung der Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 SGB II „über den Wortlaut der Norm hinaus“ auf alle Verfahrenshandlungen, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Antrags dienen, einschließlich der Einlegung eines Widerspruchs und der Entgegennahme eines Widerspruchsbescheides (so BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 28; BSG, Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 2/13 R –, Rn. 25; BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 155/10 R –, Rn. 22; Sächsisches LSG, Urteil vom 14.03.2013 – L 3 AS 748/11 –, Rn. 56) lässt sich nicht rechtfertigen. Hierbei handelte es sich um eine mit dem Gesetzesbindungsgebot, dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Gesetzesvorbehalt des § 31 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht zu vereinbarende Rechtsfortbildungcontra legem.

52

Der 7b. Senat des BSG hat hierzu ausgeführt (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 28):

53

„Über den Wortlaut der Norm hinaus, der von einer vermuteten Vertretung aller Bedarfsgemeinschaftsmitglieder (nur) für die Antragstellung und die Entgegennahme von Leistungen spricht, muss die Norm aus Gründen der vom Gesetzgeber gewollten Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie (vgl zu dieser Zielsetzung BT-Drucks 1516, S 63 zu § 38) dahin ausgelegt werden, dass die vermutete Bevollmächtigung alle Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Antrags dienen, also insbesondere die Einlegung eines Widerspruchs (…). Zwar ist die Regelung der Bedarfsgemeinschaft, wie oben ausgeführt, insgesamt objektiv der Verwaltungspraktikabilität und Verfahrensökonomie nicht dienlich; jedoch liegt dies weniger an § 38 SGB II, als an der Bedarfsgemeinschaft als solcher. Hält man sie, wie der Gesetzgeber, für sinnvoll, muss sie jedenfalls durch eine Verfahrensregelung flankiert werden, die es zumindest im Verfahren über die Bewilligung der Leistung verhindert, dass die Verwaltung sich gleichwohl und zwangsläufig an jeden Einzelnen wenden muss. Der Widerspruchsbescheid wird aus diesem Grunde auch mit dem Zugang (§ 37 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB X) an den vermuteten Vertreter wirksam gegenüber allen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft. (…)“

54

Der Sache nach stellt die Erweiterung der Vertretungsvermutungen des § 38 Abs. 1 SGB II auf andere Verfahrenshandlungen und auf das Widerspruchsverfahren einschließlich der Empfangsbevollmächtigung für Verwaltungsakte eine Analogiebildung dar. Denn sie geht – erklärtermaßen auch nach Auffassung des BSG – über die Grenzen der semantischen Auslegung der Vorschrift hinaus und überträgt die Rechtsfolge der Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 SGB II für Antragstellung und Entgegennahme von Leistungen auf den hier nicht geregelten Fall der Bekanntgabe von Verwaltungsakten.

55

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt jedoch die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 300 ff., zum Ganzen S. 294 ff. und S. 538 ff., 10. Auflage 2009). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser schriftlich fixierte Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt daher sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 373; SG Mainz, Urteil vom 25.07.2016 – S 3 KR 428/15 –, Rn. 90; SG Mainz, Urteil vom 24.09.2013 – S 17 KR 247/12 –, Rn. 51; SG Speyer, Urteil vom 23.01.2017 – S 19 KR 521/16 –, Rn. 31; SG Speyer, Beschluss vom 25.01.2017 – S 16 R 917/16 ER –, Rn. 35). Die Tatsache, dass sie argumentativ erarbeitet werden muss und kontrovers diskutiert werden kann, macht die Annahme einer Wortlautgrenze nicht überflüssig. Sie widerlegt nicht die Idee der Wortlautbindung (eingehend Hochhuth, Rechtstheorie 2011, S. 229; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 434).

56

Eine analoge Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte ist allenfalls dann zulässig, wenn eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 –, Rn. 29 ff.; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 374 ff). Hiermit wird dem Dilemma Rechnung getragen, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind. Sie müssen auch in den Fällen, in denen eine einschlägige gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen. In einem funktionierenden Rechtsstaat muss es auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). In Folge des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gesetzesbindung darf allerdings von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht methodisch korrekt zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die analoge Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot. Dies gilt in besonderem Maße für weitgehend kodifizierte Rechtsgebiete, wie dem in den Sozialgesetzbüchern geregelten Sozialrecht. Für das Sozialgesetzbuch gilt in Folge Vorschriften des § 2 Abs. 2 SGB I (Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte) und § 31 SGB I (Vorbehalt des Gesetzes) zudem auch einfachrechtlich ein Analogieverbot sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der potenziell Sozialleistungsberechtigten (zu geringe Anforderungen an den Analogieschluss stellt daherBecker, SGb 2009, S. 341 f.).

57

Deshalb ist eine Analogiebildung nicht bereits dann zulässig, wenn die (vermeintliche) Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nichtgeregelten Fall hätte einbeziehen müssen (so aber BSG, Urteil vom 24.10.1984 – 6 RKa 36/83 –, Rn. 6; BSG, Urteil vom 06.10.2011 – B 14 AS 171/10 R –, Rn. 22), wenn der (vermeintliche) Zweck der Vorschrift auch nicht geregelte Fälle erfasst (so aber BSG, Urteil vom 12.12.1996 – 11 RAr 31/96 –, Rn. 16; BSG, Urteil vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R –, Rn. 14), oder wenn der Gesetzgeber bestimmte Möglichkeiten von Geschehensabläufen (mutmaßlich) nicht erkannt hat (so aber BSG, Urteil vom 16.04.2002 – B 9 VG 1/01 R –, Rn. 24). Das Bestehen einer Regelungslücke darf auch nicht allein aus der Gleichartigkeit der Sachverhalte und der Vergleichbarkeit der Interessenlage gefolgert werden (so aber BSG, Urteil vom 26.06.2013 – B 7 AY 6/12 R –, Rn. 18). Ebensowenig vermögen die vom 4. Senat des BSG im Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 29) für die Erweiterung des § 38 Abs. 1 SGB II „über den Wortlaut hinaus“ herangezogenen Gründe der „vom Gesetzgeber gewollten Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie“ einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot zu rechtfertigen.

58

Eine Regelungslücke im oben beschriebenen Sinne ist hinsichtlich einer Vertretungsvermutung für weitere aktive und passive Verfahrenshandlungen entsprechend § 38 Abs. 1 SGB II nicht gegeben. Sachverhaltskonstellationen wie die vorliegende, in denen sich die Frage nach einer Vertretung durch ein anderes Bedarfsgemeinschaftsmitglied stellt, können ohne weiteres mit der Vorgabe gelöst werden, dass es eine Vertretungsvermutung nicht gibt. Eine Analogiebildung ist mangels Regelungslücke daher nicht zulässig. Die Rechtsauffassung des 4. Senats des BSG (Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 29) ist deshalb rechtswissenschaftlich nicht vertretbar. Dass der Senat seine Rechtsauffassung nicht ausdrücklich mit einer Analogiebildung begründet, vermag hieran nichts zu ändern. Es mangelt vielmehr bereits an einer Darlegung der theoretischen Prämissen, nach denen sich der Senat für eine Erweiterung der Vorschrift „über den Wortlaut der Norm hinaus“ legitimiert fühlt.

59

Unabhängig davon, dass die Rechtsauffassung des BSG aus methodischen (unausgesprochene Analogiebildung ohne Beachtung ihrer Voraussetzungen), verfassungsrechtlichen (Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot) und systematischen (Nichtbeachtung des § 31 SGB I; Übergehung der Differenzierungen des Verwaltungsverfahrensrechts) Gründen nicht zutrifft, birgt sie erhebliche Nachteile und Gefahren für die Betroffenen. So könnte bei ablehnenden Entscheidungen oder bei zu geringer Leistungsbewilligung Bestandskraft zu Lasten der Vertretenen eintreten, ohne dass sie vom Bescheid überhaupt Kenntnis erlangen müssten oder könnten und ohne dass ein (nicht nur vermutetes) gewillkürtes oder gesetzliches Vertretungsverhältnis besteht. Insbesondere beim Übergang vom Widerspruchsverfahren zur Klageerhebung, für die eine Vertretungsvermutung auch nach Auffassung des BSG nicht mehr angenommen wird, führt dies in der Praxis häufig zu Rechtsverlusten. Der vorliegende Fall zeigt zudem exemplarisch, dass eine Vertretungsvermutung die neben der Entgegennahme von Leistungen auch die Entgegennahme von Bewilligungsbescheiden erfasst, dazu führen könnte, dass Personen mit Erstattungsforderungen konfrontiert werden, die keinerlei Kenntnisse über das Verwaltungsverfahren und deren Verfahrensschritte (Antragstellung, Bewilligung und Auszahlung) hatten und denen die Leistung auch nicht tatsächlich zur Verfügung gestanden haben müsste. Dies könnte auf Grund der Vorschrift des § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II auch Personen treffen, die in keiner unterhaltsrechtlichen Beziehung zum Antragsteller stehen.

60

Vorteilhafte Wirkungen hat die Vertretungsvermutung für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten für die Vertretenen im Vergleich zu einem individuell bekanntgegebenen Verwaltungsakt hingegen nicht. Die Erweiterung ist nicht erforderlich und geeignet, die sozialen Rechte der Betroffenen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB I zu stärken. Mit der Antragsfiktion wird bereits sichergestellt, dass die wesentliche Anspruchsvoraussetzung für den Beginn des Anspruchs erfüllt wird. Solange über den Antrag nicht durch Verwaltungsakt wirksam entschieden ist, bestehen auch keine zeitlichen Grenzen für die Durchsetzung des Anspruchs. Eine Bestandskraft bei Ablehnung der Leistung oder Bewilligung von zu geringen Leistungen kann zu Lasten des Berechtigten nicht eintreten. Für die Rückabwicklung überzahlter Leistungen gäbe eine Vertretungsvermutung dem Vertretenen keine wesentlich bessere Position. Auch wenn der an den antragstellenden erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ergangene Bewilligungsbescheid nicht zu Gunsten des vermeintlich Vertretenen wirkt, kann dieser sich im Falle einer nach § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X gegen ihn gerichteten Erstattungsforderung gemäß § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X auf die Vertrauensschutztatbestände der §§ 45, 48 SGB X berufen.

61

2. Soweit mit dem angefochtenen Bescheid in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 die Erstattung eines Betrages von 701,10 Euro verlangt wird, folgt die Rechtswidrigkeit daraus, dass der die bewilligenden Verwaltungsakte teilweise aufhebende Aufhebungsverwaltungsakt vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 durch das vorliegende Urteil aufgehoben wurde (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X) und dem Kläger keine Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind (§ 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X).

62

2.1 Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Die mit den Bescheiden vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 ergangenen bewilligenden Verwaltungsakte wurden durch den angefochtenen Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 zwar teilweise aufgehoben. Diese Aufhebung, die angesichts des Fehlens wirksamer an den Kläger gerichteter Bewilligungsbescheide ohnehin ins Leere ging, wurde mit dem vorliegenden Urteil beseitigt, so dass die aus der Aufhebung potenziell resultierende Erstattungspflicht entfällt. Dies gilt unabhängig von der Rechtskraft der vorliegenden Entscheidung, da eine Berufung des Beklagten keine aufschiebende Wirkung hätte (vgl. § 154 Abs. 1 SGG).

63

2.2 Nach § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X sind Leistungen auch zu erstatten, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind. Letztere Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt, weil der Kläger vom Beklagten für den streitgegenständlichen Zeitraum keine Leistungen erhalten hat. Nach Auswertung der insoweit übereinstimmenden und glaubwürdigen Angaben des Klägers und der Zeugin Frau L… hat der Beklagte die von ihm (vermeintlich) bewilligten Leistungen vollständig auf das Konto der Zeugin überwiesen. Weder lässt sich den Verwaltungsvorgängen Gegenteiliges Entnehmen, noch ist der Beklagte diesem Vortrag entgegengetreten. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Zeugin dem Kläger Leistungen des Beklagten weitergeleitet haben könnte. Nach den übereinstimmenden Angaben des Klägers und der Zeugin hatte der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum mit seinen Einnahmen aus Erwerbstätigkeit zum allgemeinen Lebensunterhalt der Familie beigetragen, während die Zeugin ihre Einnahmen primär für die Unterkunftskosten aufgewandt hat. Zwar kann angenommen werden, dass der Kläger hierdurch mittelbar von den Leistungen des Beklagten profitiert hat, da er zu den Aufwendungen für die Unterkunft nichts beisteuern musste. Die Erstattungspflicht des § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X trifft aber nur denjenigen, der die Leistung unmittelbar von der Behörde erlangt hat. Anders als im Falle des § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X kann im Falle des § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X mangels Verwaltungsakt der Schuldnerkreis für den Erstattungsanspruch nur anhand der tatsächlichen Leistungsbeziehung und nicht anhand des Adressatenkreises eines Bewilligungsbescheides (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 07.07.2011 – B 14 AS 153/10 R –, Rn. 39) bestimmt werden.

64

Die Zeugin Frau L… hat die Leistungen des Beklagten auch nicht gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II mit Wirkung gegen den Kläger entgegengenommen, so dass fingiert werden könnte, dass dieser selbst die Leistungen erhalten hat. Unabhängig von der Frage, ob im vorliegenden Fall die Vertretungsvermutung als widerlegt gelten müsste, bezieht sich die Vermutungsregelung des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II nur auf wirksam bewilligte Leistungen. Denn nur durch eine Bewilligungsentscheidung wird mit Außenwirkung geregelt, für wen die Leistung erfolgt, auf deren Entgegennahme die Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II Anwendung findet

III.

65

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Sie entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

IV.

66

Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Urteilsbesprechung zu Sozialgericht Speyer Urteil, 08. Sept. 2017 - S 16 AS 729/16

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(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hier

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(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltun

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(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen de

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 50 Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen


(1) Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Sach- und Dienstleistungen sind in Geld zu erstatten. (2) Soweit Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, sind sie zu erstatt

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(1) Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird.

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 37 Bekanntgabe des Verwaltungsaktes


(1) Ein Verwaltungsakt ist demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden. (2) Ein schriftlicher Verwaltun

Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954) - SGB 2 | § 41 Berechnung der Leistungen und Bewilligungszeitraum


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Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954) - SGB 2 | § 37 Antragserfordernis


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(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen u

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Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 15 Bestellung eines Vertreters von Amts wegen


(1) Ist ein Vertreter nicht vorhanden, hat das Gericht auf Ersuchen der Behörde einen geeigneten Vertreter zu bestellen1.für einen Beteiligten, dessen Person unbekannt ist,2.für einen abwesenden Beteiligten, dessen Aufenthalt unbekannt ist oder der a

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 14 Bestellung eines Empfangsbevollmächtigten


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(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.

(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.

(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

(1) Wird ein Verwaltungsakt oder ein Widerspruchsbescheid, der bereits vollzogen ist, aufgehoben, so kann das Gericht aussprechen, daß und in welcher Weise die Vollziehung des Verwaltungsakts rückgängig zu machen ist. Dies ist nur zulässig, wenn die Verwaltungsstelle rechtlich dazu in der Lage und diese Frage ohne weiteres in jeder Beziehung spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Hält das Gericht die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts für begründet und diese Frage in jeder Beziehung für spruchreif, so ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen. Im Übrigen gilt Absatz 3 entsprechend.

(3) Hält das Gericht die Unterlassung eines Verwaltungsakts für rechtswidrig, so ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(4) Hält das Gericht eine Wahl im Sinne des § 57b oder eine Wahl zu den Selbstverwaltungsorganen der Kassenärztlichen Vereinigungen oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen ganz oder teilweise oder eine Ergänzung der Selbstverwaltungsorgane für ungültig, so spricht es dies im Urteil aus und bestimmt die Folgerungen, die sich aus der Ungültigkeit ergeben.

(5) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts und bei Klagen nach § 54 Abs. 4; Absatz 3 ist entsprechend anzuwenden. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(2) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

1.
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2.
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3.
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

(3) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Satz 1 gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen. Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn

1.
die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind oder
2.
der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.
In den Fällen des Satzes 3 kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Frist von zehn Jahren am 15. April 1998 bereits abgelaufen, gilt Satz 4 mit der Maßgabe, dass der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird.

(4) Nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

(5) § 44 Abs. 3 gilt entsprechend.

(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.

(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.

(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(2) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

1.
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2.
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3.
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

(3) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Satz 1 gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen. Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn

1.
die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind oder
2.
der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.
In den Fällen des Satzes 3 kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Frist von zehn Jahren am 15. April 1998 bereits abgelaufen, gilt Satz 4 mit der Maßgabe, dass der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird.

(4) Nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

(5) § 44 Abs. 3 gilt entsprechend.

(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.

(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.

(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

(1) Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird.

(2) Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.

(3) Ein nichtiger Verwaltungsakt ist unwirksam.

(1) Ein Verwaltungsakt ist demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden.

(2) Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Ein Verwaltungsakt, der im Inland oder Ausland elektronisch übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

(2a) Mit Einwilligung des Beteiligten können elektronische Verwaltungsakte bekannt gegeben werden, indem sie dem Beteiligten zum Abruf über öffentlich zugängliche Netze bereitgestellt werden. Die Einwilligung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Die Behörde hat zu gewährleisten, dass der Abruf nur nach Authentifizierung der berechtigten Person möglich ist und der elektronische Verwaltungsakt von ihr gespeichert werden kann. Ein zum Abruf bereitgestellter Verwaltungsakt gilt am dritten Tag nach Absendung der elektronischen Benachrichtigung über die Bereitstellung des Verwaltungsaktes an die abrufberechtigte Person als bekannt gegeben. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang der Benachrichtigung nachzuweisen. Kann die Behörde den von der abrufberechtigten Person bestrittenen Zugang der Benachrichtigung nicht nachweisen, gilt der Verwaltungsakt an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die abrufberechtigte Person den Verwaltungsakt abgerufen hat. Das Gleiche gilt, wenn die abrufberechtigte Person unwiderlegbar vorträgt, die Benachrichtigung nicht innerhalb von drei Tagen nach der Absendung erhalten zu haben. Die Möglichkeit einer erneuten Bereitstellung zum Abruf oder der Bekanntgabe auf andere Weise bleibt unberührt.

(2b) In Angelegenheiten nach dem Abschnitt 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes gilt abweichend von Absatz 2a für die Bekanntgabe von elektronischen Verwaltungsakten § 9 des Onlinezugangsgesetzes.

(3) Ein Verwaltungsakt darf öffentlich bekannt gegeben werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Eine Allgemeinverfügung darf auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist.

(4) Die öffentliche Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsaktes wird dadurch bewirkt, dass sein verfügender Teil in der jeweils vorgeschriebenen Weise entweder ortsüblich oder in der sonst für amtliche Veröffentlichungen vorgeschriebenen Art bekannt gemacht wird. In der Bekanntmachung ist anzugeben, wo der Verwaltungsakt und seine Begründung eingesehen werden können. Der Verwaltungsakt gilt zwei Wochen nach der Bekanntmachung als bekannt gegeben. In einer Allgemeinverfügung kann ein hiervon abweichender Tag, jedoch frühestens der auf die Bekanntmachung folgende Tag bestimmt werden.

(5) Vorschriften über die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes mittels Zustellung bleiben unberührt.

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 26. April 2012 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist die Aufhebung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) hinsichtlich des Zeitabschnitts vom 1.1.2006 bis 30.4.2006.

2

Der Kläger zu 1 und seine im Februar 2004 und im Februar 2006 geborenen Kinder, die Klägerin zu 2 und die frühere Klägerin zu 3, bilden zusammen mit seiner früheren Partnerin und jetzigen Ehefrau, der Mutter der Kinder und früheren Klägerin (im Folgenden: E.), eine Bedarfsgemeinschaft, die seit dem Jahr 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom beklagten Jobcenter bezieht. Aufgrund eines Fortzahlungsantrags der E. wurden der Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 17.10.2005 für den Zeitraum von November 2005 bis April 2006 Leistungen bewilligt, die sich der Höhe nach zwischen 678,12 Euro und 923,86 Euro bewegten. Mit einem mit "Änderung" überschriebenen Bescheid vom 17.11.2005 wurden für Januar 2006 923,86 Euro, für Februar 2006 910,26 Euro und für März bis April 2006 jeweils 797,36 Euro bewilligt. Mit "Änderungsbescheiden" vom 3.5.2006, 21.9.2006 und 29.3.2007 wurden der Bedarfsgemeinschaft für die Monate Januar bis April 2006 jeweils niedrigere Leistungen als zuvor, der zweiten Tochter jedoch mit Bescheid vom 3.5.2006 erstmals Leistungen bewilligt, die sich dann jeweils erhöhten. Die höchsten Zahlungen wurden allen Klägern zuerkannt durch den zuletzt genannten Bescheid vom 29.3.2007 in Höhe von 482,98 Euro für Januar 2006, von 353,64 Euro für Februar, von 175,09 Euro für März 2006 und von 606,46 Euro für April 2006. Die Bescheide waren an die E. adressiert, die auch mit Schreiben vom 3.5.2006 zu einer Überzahlung infolge der Anrechnung von Einkommen angehört wurde. Sie habe vom 1.1.2006 bis 30.4.2006 Arbeitslosengeld II in Höhe von 1988,19 Euro zu Unrecht bezogen. Die E. erhob am 19.5.2006 Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom 3.5.2006, "woraus eine Nachzahlung von 1988,18 Euro resultiere". Auf den Widerspruch folgten die beiden Änderungsbescheide vom 21.9.2006 und vom 29.3.2007, die jeweils eine teilweise Abhilfe enthielten. Der Widerspruch der E. wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21.5.2007 "nach Erteilung der Änderungsbescheide vom 21.9.2006 und vom 29.3.2007" zurückgewiesen.

3

Mit einem an die E., den Kläger zu 1 sowie an die E. als gesetzliche Vertreterin der Klägerin zu 2 gerichteten Erstattungsbescheid vom 21.4.2008 forderte der Beklagte unter Bezugnahme auf die Änderungsbescheide von der E. überzahlte Leistungen in Höhe von 742,76 Euro, von dem Kläger zu 1 in Höhe von 707,35 Euro und von der Klägerin zu 2 in Höhe von 360,58 Euro zurück. Über die Widersprüche dagegen ist noch nicht entschieden.

4

Das Sozialgericht (SG) hat im anschließenden Klageverfahren, das von den Eltern und den beiden Kindern geführt wurde, durch Urteil vom 26.11.2008 unter Abänderung der genannten Änderungsbescheide und des Widerspruchbescheids den Beklagten verurteilt, der E. sowie den Klägern unter Anrechnung der bisher gezahlten Leistungen höhere, aber unter dem Bescheid vom 17.11.2005 liegende Leistungen zu zahlen. Im Übrigen ist die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen worden. Die E. hat ihre Berufung zurückgenommen und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Kläger, in der diese - nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 1.6.2010 (B 4 AS 89/09 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 29) zur Berücksichtigung von Zuschlägen als Einkommen - nur noch die Feststellung der Unwirksamkeit der Änderungsbescheide in der Gestalt des Widerspruchbescheids beantragt haben, zurückgewiesen (Urteil vom 26.4.2012). Zwar seien die angefochtenen Bescheide nur an die E. adressiert gewesen, da diese aber eine der gesetzlichen Vertreter der minderjährigen Kinder sei, genüge dies für eine Bekanntgabe diesen gegenüber (§§ 37, 39 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch). Gegenüber dem Kläger zu 1 sei, auch wenn die Vermutungswirkung des § 38 SGB II nicht greifen sollte, ein etwaiger Bekanntgabemangel zumindest geheilt worden. Nach § 9 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) gelte ein Schriftstück als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen sei. Der Kläger zu 1 habe die Änderungsbescheide in diesem Sinne tatsächlich erhalten.

5

Gegen dieses Urteil wenden sich die Kläger mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision. Sie rügen ihre unterlassene Anhörung nach § 24 SGB X, die mangelnde Bekanntgabe(§ 37 SGB X)der Bescheide, insbesondere gegenüber dem Kläger zu 1, sowie deren fehlende Bestimmtheit nach § 33 Abs 1 SGB X.

6

Die Revision der - früheren - Klägerin zu 3 ist in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zurückgenommen worden.

7

Die Kläger beantragen,
das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 26. April 2012 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 26. November 2008 zu ändern sowie den Änderungsbescheid des Beklagten vom 29. März 2007 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 21. Mai 2007 aufzuheben.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Der Beklagte hält das Urteil des LSG für zutreffend, alle Bescheide seien hinsichtlich der Anhörung, der Bekanntgabe sowie der Bestimmtheit rechtmäßig, etwaige Mängel seien jedenfalls geheilt worden.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision der Kläger ist zulässig (§§ 160, 164 Sozialgerichtsgesetz) und im Sinne der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das LSG auch begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide kann nicht abschließend entschieden werden, weil es dazu an ausreichenden Feststellungen seitens des LSG bezüglich einer Anhörung fehlt. Zudem ist eine Zurückverweisung auch in Bezug auf die Klägerin zu 2 notwendig, weil das LSG - aus seiner Sicht zu Recht - Feststellungen zu den Ansprüchen der Kläger der Höhe nach unterlassen hat.

11

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die von den Klägern begehrte Aufhebung des Urteils des LSG bzw Änderung des Urteils des Sozialgerichts (SG) sowie die Aufhebung des letzten, günstigsten Abhilfe-(Änderungsbescheids) vom 29.3.2007 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 21.5.2007. Die vorangegangenen Änderungsbescheide vom 3.5.2006 und vom 21.9.2006 sind durch diesen letzten Änderungsbescheid vom 29.3.2007, der den Klägern die jeweils höchsten Leistungen bewilligt hat, ersetzt worden und sind damit erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X).

12

Gegen diesen Bescheid haben sich die Kläger nach dem wahren Kern ihres Begehrens (vgl § 106 Abs 1 SGG) mit einer Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG)als statthafter Klageart gewandt. Die Aufhebung der angefochtenen Bescheide hatten die Kläger auch bereits vor dem SG beantragt und lediglich vor dem LSG auf dessen Anraten ihren Antrag auf die (unzulässige) Feststellung der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide umgestellt. Da gemäß § 123 SGG das Gericht über die von einem Kläger erhobenen Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein, muss nach dem tatsächlichen Begehren der Kläger, das diese in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben, von der Fortgeltung des ursprünglich gestellten Anfechtungsantrags ausgegangen werden. Im Rahmen dieses Antrags ist die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht zu prüfen. Aufgrund fehlender Feststellungen des LSG kann jedoch nicht beurteilt werden, ob der Kläger zu 1 vom beklagten Jobcenter anzuhören war (dazu unter 2.). Allerdings ist der Bescheid weder wegen fehlender Bekanntgabe (dazu unter 3.) noch mangender Bestimmtheit (dazu unter 4.) rechtswidrig.

13

2. Es kann nicht abschließend entschieden werden, ob der Kläger zu 1 neben der E. gesondert anzuhören war. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Bei belastenden Verwaltungsakten, also solchen, die gegenüber dem vorherigen Zustand eine ungünstigere Regelung enthalten, ist grundsätzlich anzuhören, denn die Anhörungsvorschriften sollen nach ihrem Sinn und Zweck vor Überraschungsentscheidungen schützen und das Vertrauen in die Verwaltung stärken (vgl BT-Drucks 7/868, S 28). Als eingreifender Verwaltungsakt in dem genannten Sinne sind auch Bescheide zu verstehen, die neben einer Begünstigung im Vergleich zum vorherigen Rechtszustand weniger günstigere Regelungen enthalten (vgl Siefert in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 24 RdNr 9).

14

Da die Änderungsbescheide vom 3.5.2006, vom 21.9.2006 sowie im hier maßgeblichen Bescheid vom 29.3.2007 im Vergleich zum ursprünglichen Bescheid vom 17.11.2005 jeweils ungünstigere, wenn auch sich kontinuierlich verbessernde Leistungsbewilligungen enthielten, ist grundsätzlich von einer Anhörungspflicht auszugehen.

15

a) Hinsichtlich der Klägerin zu 2 ist ein Anhörungserfordernis jedenfalls dadurch gewahrt worden, dass die E. im Ergebnis mit dem Schreiben vom 3.5.2006 nicht nur zu der beabsichtigten Rückforderung, sondern inzident auch zu den Änderungen im Vergleich zum Ausgangsbescheid angehört worden ist. Sie hat dementsprechend Widerspruch eingelegt und dieser hat in den nachfolgenden Änderungsbescheiden seinen Niederschlag gefunden. Da die minderjährige Klägerin zu 2 zumindest auch durch die E., ihre Mutter, gesetzlich vertreten wird, reichte das an die E. gerichtete Schreiben als Anhörung der Klägerin zu 2 aus (BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289, 293 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 24).

16

b) Ob der Kläger zu 1 nach den genannten Grundsätzen hier anzuhören war oder ob eine der in § 24 Abs 2 SGB X ausdrücklich normierten Ausnahmen von der grundsätzlichen Anhörungspflicht greift, kann wegen mangelnder tatsächlicher Angaben im Urteil des LSG nicht festgestellt werden.

17

aa) In Betracht kommt die Ausnahmevorschrift des § 24 Abs 2 Nr 3 SGB X, wonach von einer Anhörung abgesehen werden kann, wenn von den tatsächlichen Angaben eines Beteiligten, die dieser in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, nicht zu seinen Ungunsten abgewichen werden soll. In diesem Fall ist der Zweck des rechtlichen Gehörs durch die eigenen Angaben des Betroffenen erfüllt, ob die beabsichtigte Entscheidung der Behörde den Beteiligten im Ergebnis belastet oder begünstigt, ist im Rahmen von § 24 Abs 2 Nr 3 SGB X unerheblich(s Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 24 RdNr 27). Dass der Kläger zu 1 in dem genannten Sinne selbst tatsächliche Angaben gegenüber dem Beklagten gemacht hat, ist nicht erkennbar. Die Angabe durch den Betroffenen ist aber grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen der genannten Ausnahmevorschrift (vgl BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 12: Ausnahme von der Anhörungspflicht bei Rückforderung überzahlter Vorschüsse nach Maßgabe der Einkommensangaben eines Betroffenen). Hierzu werden im wieder aufgenommenen Berufungsverfahren weitere Feststellungen zu treffen sein.

18

Soweit der Kläger zu 1 sich gegenüber dem Beklagten tatsächlich nicht selbst geäußert hat, kommt eine Zurechnung der Mitteilung durch die E. zu den aufgetretenen Änderungen, insbesondere der Geburt der früheren Klägerin zu 3, des Einkommens des Klägers zu 1 oder des Zuflusses von Mutterschaftsgeld nur in Betracht, wenn sie die Erklärungen zur Überzeugung des LSG mit dem ausdrücklichen Willen und Wissen für den Kläger zu 1 so gemacht hat, als habe er die Erklärungen iS von § 24 Abs 2 Nr 3 SGB X selbst abgegeben. Hierzu bedarf es aber ebenfalls weiterer Feststellungen des LSG. Keine Zurechnungswirkung entfaltet dagegen insoweit die Vertretungsfiktion nach § 38 Abs 1 SGB II(dazu sogleich unter cc).

19

bb) Ebenfalls einschlägig kann die in § 24 Abs 2 Nr 5 SGB X geregelte Ausnahme von der Anhörungspflicht sein. Danach kann eine Anhörung entfallen, wenn lediglich einkommensabhängige Leistungen den geänderten Verhältnissen angepasst werden sollen. Dies setzt jedoch voraus, dass es sich um Einkommen des Klägers zu 1 handelt; soweit solches Einkommen ihm gegenüber die angefochtene Aufhebungsentscheidung trägt, bedurfte es einer zusätzlichen Anhörung durch den Beklagten dazu nicht, weil der Kläger zu 1 über diesen Zufluss in eigener Person Kenntnis hatte. Feststellungen dazu fehlen jedoch.

20

cc) Sollte das LSG zu dem Ergebnis kommen, dass der Beklagte unter keinem der genannten Gesichtspunkte von der Anhörung des Klägers zu 1 absehen konnte, ist jedenfalls die Heilung eines etwa bestehenden Anhörungsmangels im Widerspruchsverfahren gemäß § 41 Abs 1 Nr 3 iVm Abs 2 SGB X vorliegend nicht ersichtlich. Das Widerspruchsverfahren ersetzt die förmliche Anhörung, wenn den bis dahin nicht ausreichend angehörten Beteiligten Gelegenheit gegeben wird, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen sachgerecht zu äußern (vgl Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 41 RdNr 15 mwN). Das würde voraussetzen, dass dem Kläger zu 1 selbst Gelegenheit gegeben wurde, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern, was vorliegend nicht erkennbar ist.

21

Die Heilung eines etwaigen Anhörungsmangels über § 38 Abs 1 SGB II kann grundsätzlich ebenfalls nicht angenommen werden. Zwar wird die in der genannten Vorschrift geregelte Bevollmächtigung eines Leistungsberechtigten, Leistungen für die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen, dahingehend ausgelegt, dass diese vermutete Bevollmächtigung alle Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Anspruchs dienen (grundlegend BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 29). Zu diesen Verfahrenshandlungen zählt auch die Einlegung eines Widerspruchs (vgl dazu nur Link in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 38 RdNr 23 und 25), jedoch kann die angenommene Bevollmächtigung in § 38 Abs 1 SGB II sich nur auf die Vornahme im Grundsatz begünstigender Handlungen beziehen ("Leistungen … zu beantragen und entgegenzunehmen"). Im Hinblick auf das Widerspruchsverfahren ist durch § 38 Abs 1 SGB II daher grundsätzlich nur die Einlegung des Widerspruchs zur Verhinderung der Rechtskraft eines Bescheids gedeckt. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der Kläger zu 1 sich die Ausführungen der E. im Widerspruchsschreiben ausdrücklich zu eigen und deutlich gemacht hätte, dass das Vorbringen der E. auch in seinem Sinne umfassend und abschließend war und aus seiner Sicht Ergänzungen nicht notwendig waren.

22

3. Die angegriffenen Bescheide sind aber ungeachtet der Frage einer erforderlichen Anhörung insofern rechtmäßig, als das Erfordernis der ordnungsgemäßen Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gemäß § 37 SGB X als formelle Voraussetzung für das Wirksamwerden des Bescheids vorliegend gewahrt ist. Eine wirksame Bekanntgabe ist zu bejahen, wenn die Behörde willentlich dem Adressaten vom Inhalt des Verwaltungsakts Kenntnis verschafft und der Adressat zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat. Die Bekanntgabe setzt somit eine zielgerichtete Mitteilung des Verwaltungsakts durch die Behörde voraus (siehe nur Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 37 RdNr 3a, 9). Richtet sich ein Verwaltungsakt an mehrere Beteiligte oder sind mehrere von ihm betroffen, so wird er jedem Einzelnen gegenüber erst zu dem Zeitpunkt wirksam, zu dem er ihm bekannt gegeben wird (BSG Urteil vom 21.7.1988 - 7 RAr 51/86 - BSGE 64, 17, 22 = SozR 1200 § 54 Nr 13),wobei die Möglichkeit der Kenntnisnahme zwingend, aber auch ausreichend ist (vgl Engelmann, aaO, § 37 RdNr 4 und 9 mwN). Daraus folgt, dass weder die zufällige Kenntnisnahme der Beteiligten vom Inhalt des Verwaltungsakts, etwa durch Mitteilung seitens eines Dritten, noch durch eine spätere Akteneinsicht im Gerichtsverfahren für eine wirksame Bekanntgabe ausreichen (vgl BSG Urteil vom 14.4.2011 - B 8 SO 12/09 R - BSGE 108, 123 = SozR 4-3500 § 82 Nr 7, RdNr 12).

23

a) Die genannten Wirksamkeitsvoraussetzungen sind hinsichtlich der Klägerin zu 2 erfüllt. Selbst wenn man von einer gemeinschaftlichen Vertretungsberechtigung der minderjährigen Klägerin durch den Kläger zu 1 und ihre Mutter, der E., ausgeht, konnte die Bekanntgabe der streitgegenständlichen Bescheide in zulässiger Weise allein an E. erfolgen. Im Hinblick auf die Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber Minderjährigen hat der Senat unter Heranziehung des Zustellungsrechts des Bundes (§ 6 Abs 3 VwZG)bereits entschieden, dass die Bekanntgabe gegenüber einem gesetzlichen Vertreter genügt (BSG Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R - BSGE 102, 76 = SozR 4-4200 § 9 Nr 7, RdNr 21). Dass die Bekanntgabe an lediglich einen Elternteil ausreichend ist, wurde in der Folgezeit auch in einer weiteren Entscheidung des Senats bestätigt (BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 25).

24

b) Soweit von der Bekanntgabe andere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs 3 SGB II) betroffen sind, ergeben sich Besonderheiten, die auch für die Bekanntgabevoraussetzungen von Bedeutung sind. Vorliegend ist im Ergebnis von einer wirksamen Bekanntgabe auch gegenüber dem Kläger zu 1 auszugehen, auch wenn die Vermutungsregelung des § 38 SGB II für die Zurechnung von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden nicht greift.

25

aa) Nach § 38 Abs 1 Satz 1 SGB II wird vermutet, dass ein Leistungsberechtigter, der einen Antrag auf Leistungen stellt(§ 37 Abs 1 SGB II), bevollmächtigt ist, Leistungen nach dem SGB II auch für die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Daraus folgt, dass der auf Antrag eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten erteilte Bescheid diesem für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II bekannt gegeben werden kann. § 38 Abs 1 SGB II ist dahingehend auszulegen, dass die vermutete Bevollmächtigung alle Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Anspruchs dienen(vgl oben unter 2 b) cc)). Aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsprozessökonomie soll verhindert werden, dass die Verwaltung sich bei der Bewilligung von Leistungen trotz des Einzelanspruchs jedes Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft (stRspr seit BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 12) stets an jeden einzelnen wenden muss.

26

Die Grenze der Wirkung des § 38 Abs 1 SGB II wird aber bei Verwaltungsakten gesehen, die eine belastende Entscheidung beinhalten, insbesondere also bei Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden(vgl Link in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 38 RdNr 46; Kallert in Gagel, SGB II, 52. Ergänzungslieferung 2014, § 38 RdNr 19; Aubel in jurisPK-SGB II, 3. Aufl 2012, § 38 RdNr 31). Da § 38 Abs 1 SGB II nichts an der materiellen Leistungsberechtigung ändert, stellt die Frage, wem gegenüber die Aufhebung eines Bewilligungsbescheids in welchem Umfang erfolgen kann und von wem die Erstattung von zu Unrecht gewährten Leistungen verlangt werden kann, eine Frage des materiellen Rechts dar(s Aubel, aaO, § 38 RdNr 31). Daher muss grundsätzlich die Bekanntgabe eines inhaltlich auch an die übrigen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft gerichteten Aufhebungs- und Erstattungsbescheids gegenüber dem jeweils betroffenen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft erfolgen. Die Bekanntgabe gegenüber dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der die Leistungen beantragt hat, wirkt also nicht automatisch auch gegenüber den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft (es sei denn, es handelt sich um die minderjährigen Kinder des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, vgl oben 3a), denn der Vorschrift des § 38 SGB II kann die Vermutung für die Existenz einer generellen und uneingeschränkten Vollmacht nicht entnommen werden(Udsching/Link, Aufhebung von Leistungsbescheiden im SGB II, SGb 2007, 513, 516).

27

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass E. zwar für die gesamte Bedarfsgemeinschaft Leistungen beantragen und entgegennehmen sowie auch Widerspruch einlegen konnte. Soweit aber der streitgegenständliche Änderungsbescheid auch belastende Anteile enthielt und insoweit eine Aufhebung vorheriger Leistungsbewilligungen erfolgt ist, konnte eine Bekanntgabe ihr gegenüber nicht automatisch auch gegenüber den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft wirken, es sei denn, es handelte sich - wie bei der Klägerin zu 2 - um eines ihrer minderjährigen Kinder. Im Grundsatz mussten die Änderungsbescheide neben der E. auch dem Kläger zu 1 gesondert bekannt gegeben werden.

28

bb) Auch wenn § 38 SGB II für die Zurechnung von belastenden Verwaltungsakten im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich nicht gilt, schließt dies nicht aus, dass eine Bekanntgabe nach allgemeinen Grundsätzen erfolgen kann. Eine Bekanntgabe an ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, das nicht als Vertreter derselben nach § 38 SGB II auftritt, erfordert nach den oben dargestellten Voraussetzungen einen Bekanntgabewillen der Behörde ihm gegenüber sowie zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme dieses anderen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft von dem Verwaltungsakt. Der Bekanntgabewille der Behörde ist anzunehmen, wenn die Behörde zielgerichtet den Bescheid dem Regelungsadressaten über den vermuteten Vertreter nach § 38 SGB II als (vermeintlichen) Empfangsbevollmächtigten bekanntgibt und sich aus dem Inhalt des Bescheids eindeutig schließen lässt, wer Adressat und von der Entscheidung betroffen sein soll(Udsching/Link, Aufhebung von Leistungsbescheiden im SGB II, SGb 2007, 513, 516). Weitere Voraussetzung für eine Bekanntgabe ist, dass das von der Regelung betroffene Mitglied der Bedarfsgemeinschaft die Möglichkeit der Kenntnisnahme dadurch erlangt hat, dass der Verwaltungsakt so in seinen Machtbereich gelangt ist, dass es von dem Schriftstück Kenntnis nehmen und diese Kenntnisnahme nach den allgemeinen Gepflogenheiten auch von ihm erwartet werden kann (so bereits Bundesverwaltungsgericht , Urteil vom 11.5.1960 - V C 320.58 -, BVerwGE 10, 293; Fortführung in Beschluss vom 22.2.1994 - 4 B 212/93 -; vgl auch Bundesfinanzhof , Urteil vom 9.12.1999 - III R 37/97 -, BFHE 190, 292; s dazu Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 37 RdNr 4 ff mwN). Dann liegt kein Fall einer unwirksamen zufälligen Kenntnisnahme vor. Erst recht gilt der Zugang als erfolgt, wenn er tatsächlich stattgefunden hat.

29

Dem Kläger zu 1 sind die Änderungsbescheide nach den vorgenannten Grundsätzen bekannt gegeben worden. Zum einen ist der Wille des Beklagten, die geänderten Leistungsbescheide über die E. auch zielgerichtet dem Kläger zu 1 bekannt geben zu wollen, daraus ersichtlich, dass bereits im Verfügungssatz alle Adressaten mit Namen und Geburtsdaten aufgeführt sind, sodass es keine Zweifel geben kann, wer inhaltlich von der Entscheidung betroffen sein sollte. Eine Bekanntgabe ist im Übrigen - offenkundig durch die Weiterleitung durch die E. - gegenüber dem Kläger zu 1 jedenfalls spätestens zu dem Zeitpunkt erfolgt, zu dem er seinen Rechtsanwalt konsultierte und nach den Feststellungen des LSG die hier in Streit stehenden Änderungsbescheide Gegenstand der Unterredung gewesen sind, die schließlich in die Beauftragung zur Führung des vorliegenden Rechtsstreits mündete. Aufgrund dieser wirksamen Bekanntgabe der umstrittenen Bescheide auch gegenüber dem Kläger zu 1 kann es vorliegend dahingestellt bleiben, ob und in welcher Weise eine Heilung eines etwaigen Bekanntgabemangels erfolgen kann (vgl dazu Udsching/Link, Aufhebung von Leistungsbescheiden im SGB II, in SGb 2007, 513 ff).

30

4. Der angefochtene Änderungsbescheid ist auch inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs 1 SGB X). Das Bestimmtheitserfordernis bezieht sich sowohl auf den Verfügungssatz (BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 2/09 R - SozR 4-5910 § 92c Nr 1 RdNr 11) als auch auf den Adressaten eines Verwaltungsakts (BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 154/11 R - SozR 4-1300 § 33 Nr 1 RdNr 16). Es verlangt, dass der Verfügungssatz eines Verwaltungsakts nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzt, sein Verhalten daran auszurichten (näher BSG Urteil vom 17.12.2009 - B 4 AS 20/09 R - BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13 mwN). Zur Erfüllung der genannten Voraussetzungen genügt es, wenn aus dem gesamten Inhalt eines Bescheids einschließlich der von der Behörde gegebenen Begründung hinreichende Klarheit über die Regelung gewonnen werden kann. Ausreichende Klarheit besteht selbst dann, wenn zur Auslegung des Verfügungssatzes auf die Begründung des Verwaltungsakts, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlagen zurückgegriffen werden muss (BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 26).

31

a) Das Bestimmtheitserfordernis hinsichtlich des Adressaten der Verwaltungsakte ist hier gewahrt. Den jeweiligen Änderungsbescheiden lässt sich eindeutig entnehmen, welche Adressaten betroffen sind. Dafür ist nicht nur das Adressfeld maßgeblich, in dem die E. genannt wird, sondern die Bestimmung des oder der Adressaten kann sowohl durch den Text im Verfügungssatz als auch durch die Begründung des angefochtenen Bescheids erfolgen (so BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 154/11 R - SozR 4-1300 § 33 Nr 1 RdNr 17). Vorliegend ergibt sich - wie ausgeführt - bereits aus dem Verfügungssatz, dass neben der E. der Kläger zu 1, die Klägerin zu 2 und die zweite Tochter, die frühere Klägerin zu 3, von den Bescheiden betroffen und damit Adressaten dieser sind.

32

b) Ebenso ergeben sich keine Bedenken gegen die Bestimmtheit der Verfügungssätze in dem Änderungsbescheid, weil sich daraus und aus den vorangegangenen Änderungsbescheiden klar und unzweideutig erkennen lässt, dass sämtliche Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft angesprochen und mit Ausnahme der früheren Klägerin zu 3 ihnen gegenüber Leistungsbewilligungen teilweise aufgehoben werden. Nicht nur sind alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft bereits im Verfügungssatz namentlich benannt, vielmehr werden auch die eingetretenen Änderungen jeweils in bestimmter, zahlenmäßig benannter Höhe geregelt. Aus der gegebenen Begründung war für die Empfänger ohne Weiteres zu erkennen, dass Einkommen angerechnet wurde und sich damit der monatliche individuelle Leistungsanspruch auf einen konkreten Betrag verringerte. Es kommt insoweit nach den dargelegten Grundsätzen nicht allein auf die Überschrift "Änderung" an, sondern auf den Gesamtzusammenhang der Änderungsbescheide mit Bezug auf die ursprüngliche Leistungsbewilligung vom 17.10.2005 und den Änderungsbescheid vom 17.11.2005 sowie auf die in den Änderungsbescheiden vom 3.5.2006, vom 21.9.2006 und vom 29.3.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.5.2007 gegebene Begründung und durchgeführte Berechnung. Insoweit ist auch der allgemeine Hinweis dahingehend, dass für den Fall, dass Leistungen zu Unrecht erbracht worden seien, noch geprüft werde, inwieweit diese zurückzuzahlen seien, nicht zu beanstanden. Damit wird lediglich angekündigt, dass ggf noch ein Erstattungsbescheid folgen wird, dessen Rechtmäßigkeit dann wiederum gesondert zu prüfen ist.

33

5. Ob der Änderungsbescheid vom 29.3.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.5.2007 im Übrigen materiell-rechtlich rechtmäßig ist, kann mangels weiterer Feststellungen zu den Ansprüchen der Kläger, insbesondere der Feststellung der Bedarfe und der Frage, ob und ggf bei wem Einkommen oder Vermögen zu berücksichtigen ist, nicht beurteilt werden, weil das LSG seine Prüfung allein auf die formelle Rechtmäßigkeit beschränkt und aus seiner Sicht folgerichtig zu den materiellen Voraussetzungen eines Leistungsanspruchs nichts ausgeführt hat.

34

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

(1) Ein Verwaltungsakt ist demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden.

(2) Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Ein Verwaltungsakt, der im Inland oder Ausland elektronisch übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

(2a) Mit Einwilligung des Beteiligten können elektronische Verwaltungsakte bekannt gegeben werden, indem sie dem Beteiligten zum Abruf über öffentlich zugängliche Netze bereitgestellt werden. Die Einwilligung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Die Behörde hat zu gewährleisten, dass der Abruf nur nach Authentifizierung der berechtigten Person möglich ist und der elektronische Verwaltungsakt von ihr gespeichert werden kann. Ein zum Abruf bereitgestellter Verwaltungsakt gilt am dritten Tag nach Absendung der elektronischen Benachrichtigung über die Bereitstellung des Verwaltungsaktes an die abrufberechtigte Person als bekannt gegeben. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang der Benachrichtigung nachzuweisen. Kann die Behörde den von der abrufberechtigten Person bestrittenen Zugang der Benachrichtigung nicht nachweisen, gilt der Verwaltungsakt an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die abrufberechtigte Person den Verwaltungsakt abgerufen hat. Das Gleiche gilt, wenn die abrufberechtigte Person unwiderlegbar vorträgt, die Benachrichtigung nicht innerhalb von drei Tagen nach der Absendung erhalten zu haben. Die Möglichkeit einer erneuten Bereitstellung zum Abruf oder der Bekanntgabe auf andere Weise bleibt unberührt.

(2b) In Angelegenheiten nach dem Abschnitt 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes gilt abweichend von Absatz 2a für die Bekanntgabe von elektronischen Verwaltungsakten § 9 des Onlinezugangsgesetzes.

(3) Ein Verwaltungsakt darf öffentlich bekannt gegeben werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Eine Allgemeinverfügung darf auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist.

(4) Die öffentliche Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsaktes wird dadurch bewirkt, dass sein verfügender Teil in der jeweils vorgeschriebenen Weise entweder ortsüblich oder in der sonst für amtliche Veröffentlichungen vorgeschriebenen Art bekannt gemacht wird. In der Bekanntmachung ist anzugeben, wo der Verwaltungsakt und seine Begründung eingesehen werden können. Der Verwaltungsakt gilt zwei Wochen nach der Bekanntmachung als bekannt gegeben. In einer Allgemeinverfügung kann ein hiervon abweichender Tag, jedoch frühestens der auf die Bekanntmachung folgende Tag bestimmt werden.

(5) Vorschriften über die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes mittels Zustellung bleiben unberührt.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

(1) Ein Verwaltungsakt ist demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden.

(2) Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Ein Verwaltungsakt, der im Inland oder Ausland elektronisch übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

(2a) Mit Einwilligung des Beteiligten können elektronische Verwaltungsakte bekannt gegeben werden, indem sie dem Beteiligten zum Abruf über öffentlich zugängliche Netze bereitgestellt werden. Die Einwilligung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Die Behörde hat zu gewährleisten, dass der Abruf nur nach Authentifizierung der berechtigten Person möglich ist und der elektronische Verwaltungsakt von ihr gespeichert werden kann. Ein zum Abruf bereitgestellter Verwaltungsakt gilt am dritten Tag nach Absendung der elektronischen Benachrichtigung über die Bereitstellung des Verwaltungsaktes an die abrufberechtigte Person als bekannt gegeben. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang der Benachrichtigung nachzuweisen. Kann die Behörde den von der abrufberechtigten Person bestrittenen Zugang der Benachrichtigung nicht nachweisen, gilt der Verwaltungsakt an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die abrufberechtigte Person den Verwaltungsakt abgerufen hat. Das Gleiche gilt, wenn die abrufberechtigte Person unwiderlegbar vorträgt, die Benachrichtigung nicht innerhalb von drei Tagen nach der Absendung erhalten zu haben. Die Möglichkeit einer erneuten Bereitstellung zum Abruf oder der Bekanntgabe auf andere Weise bleibt unberührt.

(2b) In Angelegenheiten nach dem Abschnitt 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes gilt abweichend von Absatz 2a für die Bekanntgabe von elektronischen Verwaltungsakten § 9 des Onlinezugangsgesetzes.

(3) Ein Verwaltungsakt darf öffentlich bekannt gegeben werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Eine Allgemeinverfügung darf auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist.

(4) Die öffentliche Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsaktes wird dadurch bewirkt, dass sein verfügender Teil in der jeweils vorgeschriebenen Weise entweder ortsüblich oder in der sonst für amtliche Veröffentlichungen vorgeschriebenen Art bekannt gemacht wird. In der Bekanntmachung ist anzugeben, wo der Verwaltungsakt und seine Begründung eingesehen werden können. Der Verwaltungsakt gilt zwei Wochen nach der Bekanntmachung als bekannt gegeben. In einer Allgemeinverfügung kann ein hiervon abweichender Tag, jedoch frühestens der auf die Bekanntmachung folgende Tag bestimmt werden.

(5) Vorschriften über die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes mittels Zustellung bleiben unberührt.

(1) Ein Beteiligter kann sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Vollmacht ermächtigt zu allen das Verwaltungsverfahren betreffenden Verfahrenshandlungen, sofern sich aus ihrem Inhalt nicht etwas anderes ergibt. Der Bevollmächtigte hat auf Verlangen seine Vollmacht schriftlich nachzuweisen. Ein Widerruf der Vollmacht wird der Behörde gegenüber erst wirksam, wenn er ihr zugeht.

(2) Die Vollmacht wird weder durch den Tod des Vollmachtgebers noch durch eine Veränderung in seiner Handlungsfähigkeit oder seiner gesetzlichen Vertretung aufgehoben; der Bevollmächtigte hat jedoch, wenn er für den Rechtsnachfolger im Verwaltungsverfahren auftritt, dessen Vollmacht auf Verlangen schriftlich beizubringen.

(3) Ist für das Verfahren ein Bevollmächtigter bestellt, muss sich die Behörde an ihn wenden. Sie kann sich an den Beteiligten selbst wenden, soweit er zur Mitwirkung verpflichtet ist. Wendet sich die Behörde an den Beteiligten, muss der Bevollmächtigte verständigt werden. Vorschriften über die Zustellung an Bevollmächtigte bleiben unberührt.

(4) Ein Beteiligter kann zu Verhandlungen und Besprechungen mit einem Beistand erscheinen. Das von dem Beistand Vorgetragene gilt als von dem Beteiligten vorgebracht, soweit dieser nicht unverzüglich widerspricht.

(5) Bevollmächtigte und Beistände sind zurückzuweisen, wenn sie entgegen § 3 des Rechtsdienstleistungsgesetzes Rechtsdienstleistungen erbringen.

(6) Bevollmächtigte und Beistände können vom Vortrag zurückgewiesen werden, wenn sie hierzu ungeeignet sind; vom mündlichen Vortrag können sie nur zurückgewiesen werden, wenn sie zum sachgemäßen Vortrag nicht fähig sind. Nicht zurückgewiesen werden können Personen, die nach § 73 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 3 bis 9 des Sozialgerichtsgesetzes zur Vertretung im sozialgerichtlichen Verfahren befugt sind.

(7) Die Zurückweisung nach den Absätzen 5 und 6 ist auch dem Beteiligten, dessen Bevollmächtigter oder Beistand zurückgewiesen wird, schriftlich mitzuteilen. Verfahrenshandlungen des zurückgewiesenen Bevollmächtigten oder Beistandes, die dieser nach der Zurückweisung vornimmt, sind unwirksam.

Ein Beteiligter ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt, Sitz oder Geschäftsleitung im Inland hat der Behörde auf Verlangen innerhalb einer angemessenen Frist einen Empfangsbevollmächtigten im Inland zu benennen. Unterlässt er dies, gilt ein an ihn gerichtetes Schriftstück am siebenten Tage nach der Aufgabe zur Post und ein elektronisch übermitteltes Dokument am dritten Tage nach der Absendung als zugegangen. Dies gilt nicht, wenn feststeht, dass das Dokument den Empfänger nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt erreicht hat. Auf die Rechtsfolgen der Unterlassung ist der Beteiligte hinzuweisen.

(1) Ist ein Vertreter nicht vorhanden, hat das Gericht auf Ersuchen der Behörde einen geeigneten Vertreter zu bestellen

1.
für einen Beteiligten, dessen Person unbekannt ist,
2.
für einen abwesenden Beteiligten, dessen Aufenthalt unbekannt ist oder der an der Besorgung seiner Angelegenheiten verhindert ist,
3.
für einen Beteiligten ohne Aufenthalt im Inland, wenn er der Aufforderung der Behörde, einen Vertreter zu bestellen, innerhalb der ihm gesetzten Frist nicht nachgekommen ist,
4.
für einen Beteiligten, der infolge einer psychischen Krankheit oder körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, in dem Verwaltungsverfahren selbst tätig zu werden.

(2) Für die Bestellung des Vertreters ist in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 4 das Betreuungsgericht zuständig, in dessen Bezirk der Beteiligte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; im Übrigen ist das Betreuungsgericht zuständig, in dessen Bezirk die ersuchende Behörde ihren Sitz hat.Ist der Beteiligte minderjährig, tritt an die Stelle des Betreuungsgerichts das Familiengericht.

(3) Der Vertreter hat gegen den Rechtsträger der Behörde, die um seine Bestellung ersucht hat, Anspruch auf eine angemessene Vergütung und auf die Erstattung seiner baren Auslagen. Die Behörde kann von dem Vertretenen Ersatz ihrer Aufwendungen verlangen. Sie bestimmt die Vergütung und stellt die Auslagen und Aufwendungen fest.

(4) Im Übrigen gelten für die Bestellung und für das Amt des Vertreters in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 4 die Vorschriften über die Betreuung, in den übrigen Fällen die Vorschriften über die sonstige Pflegschaft entsprechend.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

Die Behörde entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob und wann sie ein Verwaltungsverfahren durchführt. Dies gilt nicht, wenn die Behörde auf Grund von Rechtsvorschriften

1.
von Amts wegen oder auf Antrag tätig werden muss,
2.
nur auf Antrag tätig werden darf und ein Antrag nicht vorliegt.

(1) Leistungen nach diesem Buch werden auf Antrag erbracht. Leistungen nach § 24 Absatz 1 und 3 und Leistungen für die Bedarfe nach § 28 Absatz 5 sind gesondert zu beantragen.

(2) Leistungen nach diesem Buch werden nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht. Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wirkt auf den Ersten des Monats zurück. Wird ein Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für einen einzelnen Monat gestellt, in dem aus Jahresabrechnungen von Heizenergiekosten oder aus der angemessenen Bevorratung mit Heizmitteln resultierende Aufwendungen für die Heizung fällig sind, wirkt dieser Antrag, wenn er bis zum Ablauf des dritten Monats nach dem Fälligkeitsmonat gestellt wird, auf den Ersten des Fälligkeitsmonats zurück. Satz 3 gilt nur für Anträge, die bis zum 31. Dezember 2023 gestellt werden.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

(1) Ein Beteiligter kann sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Vollmacht ermächtigt zu allen das Verwaltungsverfahren betreffenden Verfahrenshandlungen, sofern sich aus ihrem Inhalt nicht etwas anderes ergibt. Der Bevollmächtigte hat auf Verlangen seine Vollmacht schriftlich nachzuweisen. Ein Widerruf der Vollmacht wird der Behörde gegenüber erst wirksam, wenn er ihr zugeht.

(2) Die Vollmacht wird weder durch den Tod des Vollmachtgebers noch durch eine Veränderung in seiner Handlungsfähigkeit oder seiner gesetzlichen Vertretung aufgehoben; der Bevollmächtigte hat jedoch, wenn er für den Rechtsnachfolger im Verwaltungsverfahren auftritt, dessen Vollmacht auf Verlangen schriftlich beizubringen.

(3) Ist für das Verfahren ein Bevollmächtigter bestellt, muss sich die Behörde an ihn wenden. Sie kann sich an den Beteiligten selbst wenden, soweit er zur Mitwirkung verpflichtet ist. Wendet sich die Behörde an den Beteiligten, muss der Bevollmächtigte verständigt werden. Vorschriften über die Zustellung an Bevollmächtigte bleiben unberührt.

(4) Ein Beteiligter kann zu Verhandlungen und Besprechungen mit einem Beistand erscheinen. Das von dem Beistand Vorgetragene gilt als von dem Beteiligten vorgebracht, soweit dieser nicht unverzüglich widerspricht.

(5) Bevollmächtigte und Beistände sind zurückzuweisen, wenn sie entgegen § 3 des Rechtsdienstleistungsgesetzes Rechtsdienstleistungen erbringen.

(6) Bevollmächtigte und Beistände können vom Vortrag zurückgewiesen werden, wenn sie hierzu ungeeignet sind; vom mündlichen Vortrag können sie nur zurückgewiesen werden, wenn sie zum sachgemäßen Vortrag nicht fähig sind. Nicht zurückgewiesen werden können Personen, die nach § 73 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 3 bis 9 des Sozialgerichtsgesetzes zur Vertretung im sozialgerichtlichen Verfahren befugt sind.

(7) Die Zurückweisung nach den Absätzen 5 und 6 ist auch dem Beteiligten, dessen Bevollmächtigter oder Beistand zurückgewiesen wird, schriftlich mitzuteilen. Verfahrenshandlungen des zurückgewiesenen Bevollmächtigten oder Beistandes, die dieser nach der Zurückweisung vornimmt, sind unwirksam.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

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Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 24.01.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.05.2014 verurteilt, der Klägerin Krankengeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 20.01.2014 bis zum 09.05.2014 zu zahlen, soweit der Anspruch nicht durch Auszahlung von Leistungen durch den Beigeladenen für den gleichen Zeitraum gemäß § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt gilt.

2. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Zahlung von Krankengeld.

2

Die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte, 1985 geborene Klägerin war als Service- und Thekenkraft in einem Eiscafé abhängig beschäftigt. Zum 30.09.2013 wurde das Arbeitsverhältnis arbeitgeberseitig gekündigt.

3

Am 30.09.2013 wurde bei der Klägerin durch die Gemeinschaftspraxis Dres…, Ärzte für Allgemeinmedizin, unter Verwendung des von den Krankenkassen hierfür vorgesehenen Formulars im Wege einer so genannten Erstbescheinigung Arbeitsunfähigkeit festgestellt. Als maßgebliche Diagnose wurde der ICD-10-Code N39.0 (Harnwegsinfektion, Lokalisation nicht näher bezeichnet) genannt. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 06.10.2013 arbeitsunfähig sein werde.

4

Am 06.10.2013 wurde durch die Gemeinschaftspraxis Dr. … eine „Folgebescheinigung“ ausgestellt. Als maßgebliche Diagnose wurde der ICD-10-Code G56.0 V (Verdacht auf Karpaltunnel-Syndrom) genannt. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 11.10.2013 arbeitsunfähig sein werde.

5

Am 11.10.2013 wurde durch die Gemeinschaftspraxis Dr. … bei gleichbleibender Diagnose eine weitere Folgebescheinigung ausgestellt. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 28.10.2013 arbeitsunfähig sein werde.

6

Am 29.10.2013 wurde durch die Gemeinschaftspraxis Dr. … bei gleichbleibender Diagnose eine weitere Folgebescheinigung ausgestellt. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 04.11.2013 arbeitsunfähig sein werde.

7

In einem „Auszahlschein“ vom 04.11.2013 bestätigte die Praxis Dr. …, dass noch Arbeitsunfähigkeit gegeben sei. Neben der bereits bekannten Diagnose G56.0 V wurde die Diagnose M54.4 G (Lumboischialgie, gesichert) angegeben. Die Frage, bis wann voraussichtlich Arbeitsunfähigkeit bestehen werde, wurde nicht beantwortet. Der nächste geplante Praxisbesuch wurde für den 08.11.2013 angegeben.

8

Eine weitere Folgebescheinigung wurde am 07.11.2013 durch die Praxis Dres. auf Grund der Diagnose M15.9 (Polyarthrose, nicht näher bezeichnet) ausgestellt. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde mit dem 30.09.2013 angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 15.11.2013 arbeitsunfähig sein werde.

9

Die Klägerin befand sich vom 11.11.2013 bis zum 15.11.2013 in akutstationärer Behandlung im Krankenhaus …, vom 03.12.2013 bis zum 06.12.2013 sowie vom 23.12.2013 bis zum 24.12.2013 in akutstationärer Behandlung im Krankenhaus der und vom 25.12.2013 bis zum 29.12.2013 in akutstationärer Behandlung im Diakonie-Krankenhaus ….

10

Eine weitere Erstbescheinigung wurde am 15.11.2013 durch den Arzt für Urologie Dr. … auf Grund der Diagnose N20.1 (Ureterstein) ausgestellt. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde mit dem 11.11.2013 angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 17.11.2013 arbeitsunfähig sein werde.

11

Dr. ... stellte am 18.11.2013 eine Folgebescheinigung auf Grund der Diagnose R10.4 G (Sonstige und nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen, gesichert) aus. Hierbei wurde der Beginn der Arbeitsunfähigkeit (wohl versehentlich) auf den 18.11.2013 datiert und als Feststellungsdatum der 11.11.2013 genannt. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 22.11.2013 arbeitsunfähig sein werde.

12

Mit Schreiben vom 18.11.2013 beabsichtigte die Beklagte der Klägerin mitzuteilen, dass sie seit dem 30.09.2013 arbeitsunfähig erkrankt sei und von der Beklagten Krankengeld erhalte. Da das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin zum 30.09.2013 geendet habe, werde ihre Mitgliedschaft in der Kranken- und Pflegeversicherung auf Grund des Krankengeldbezugs aufrechterhalten. Für das Weiterbestehen der Mitgliedschaft sei es unerlässlich, dass die Arbeitsunfähigkeit durchgehend attestiert und nachgewiesen werde. Eine Nachweislücke würde zum Verlust Krankenversicherungsschutzes bzw. zur Notwendigkeit einer Weiterversicherung ohne Krankengeldanspruch nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) führen. Der Gesetzgeber sehe vor, dass der Arzt spätestens am letzten Tag der aktuellen Arbeitsunfähigkeit deren weitere Dauer bescheinigt. Sollte die Arbeitsunfähigkeit erst später ärztlich festgestellt werden, entfalle die Mitgliedschaft und damit auch der Krankengeldanspruch. Wenn auf dem Auszahlschein im Feld „voraussichtlich bis“ ein konkretes Datum angegeben sei, sei ein Nachweis der lückenlosen Arbeitsunfähigkeit möglich und der Versicherungsschutz bestehe unverändert mit allen Vorteilen für die Klägerin fort. Die Klägerin wird abschließend darum gebeten, beim Ausfüllen durch ihren Arzt darauf zu achten, „damit eine reibungslose Krankengeldzahlung möglich“ sei.

13

Die Klägerin bestreitet den Zugang dieses Schreibens.

14

Mit Schreiben vom 19.11.2013 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie der Klägerin Krankengeld in Höhe von 1.183,88 Euro für die Zeit bis zum 04.11.2013 überweisen habe. Das Schreiben war mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen, nach der gegen diesen Bescheid Widerspruch erhoben werden könne. Entsprechende Schreiben erfolgten am 02.12.2013 bezogen auf den Zeitraum vom 05.11.2013 bis zum 02.12.2013 in Höhe von 942,10 Euro, am 06.01.2014 bezogen auf den Zeitraum vom 03.12.2013 bis zum 30.12.2013 in Höhe von 960,12 Euro und am 29.01.2014 bezogen auf den Zeitraum vom 31.12.2013 bis zum 19.01.2014 in Höhe von 651,51 Euro.

15

Dr. … stellte am 21.11.2013 eine weitere Folgebescheinigung auf Grund der Diagnose N20.0 (Nierenstein) aus. Hierbei datierte er den Beginn der Arbeitsunfähigkeit auf den 11.11.2013. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 29.11.2013 arbeitsunfähig sein werde.

16

Dr. … stellte am 28.11.2013 eine weitere Folgebescheinigung auf Grund der Diagnose N20.0 G (Nierenstein, gesichert) aus. Hierbei datierte er den Beginn der Arbeitsunfähigkeit auf den 21.11.2013. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 03.12.2013 arbeitsunfähig sein werde.

17

In einem Auszahlschein vom 02.12.2013 gab Dr. … an, dass die Klägerin sich zuletzt am 21.11.2013 vorgestellt habe, weiterhin voraussichtlich bis zum 03.12.2013 arbeitsunfähig sei. Als Diagnose gab er Nieren- und Ureterstein an.

18

Am 06.12.2013 stellte das Krankenhaus der … eine weitere Erstbescheinigung aus. Hierbei wurde angegeben, dass die Klägerin seit dem 03.12.2013 arbeitsunfähig sei. An Stelle der vorgesehenen Angabe eines Datums für das voraussichtliche Ende der Arbeitsunfähigkeit wurde lediglich der Begriff „stationär“ eingetragen.

19

Dr. … stellte am 09.12.2013 eine weitere Folgebescheinigung auf Grund der Diagnose N20.0 (Nierenstein) aus. Hierbei datierte er den Beginn der Arbeitsunfähigkeit auf den 11.11.2013. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 22.12.2013 arbeitsunfähig sein werde.

20

Am 26.12.2013 stellte das Urologische Zentrum … eine Folgebescheinigung auf Grund der Diagnosen N20.1 (Ureterstein) und N39.0 (Harnwegsinfektion, Lokalisation nicht näher bezeichnet) aus. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 31.12.2013 arbeitsunfähig sein werde.

21

In einem weiteren Auszahlschein vom 30.12.2013 gab Dr. … an, dass die Klägerin sich zuletzt am 30.12.2013 vorgestellt habe, weiterhin voraussichtlich bis zum 13.01.2014 arbeitsunfähig sei. Als Diagnose gab er N20.0 (Nierenstein) an.

22

Eine weitere Erstbescheinigung wurde am 30.12.2013 durch die Praxis Dres. ausgestellt. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde mit dem 30.12.2013 angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 13.01.2014 arbeitsunfähig sein werde.

23

Eine weitere Erstbescheinigung wurde am 13.01.2014 durch die Praxis … auf Grund der Diagnosen I73.0 V B (Verdacht auf Raynaud-Syndrom, beidseits), L40.9 V B(Verdacht auf Psoriasis, nicht näher bezeichnet, beidseits), M13.0 V B(Verdacht auf Polyarthritis, nicht näher bezeichnet, beidseits), F48.0 G (Neurasthenie, gesichert) und N20.0 Z R (Zustand nach Nierenstein rechts) ausgestellt. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde mit dem 13.01.2014 angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 19.01.2014 arbeitsunfähig sein werde.

24

Am 20.01.2014 stellte die Praxis … eine Folgebescheinigung auf Grund der gleichen Diagnosen aus. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 31.01.2014 arbeitsunfähig sein werde.

25

Am 28.01.2014 stellte die Praxis … einen Auszahlschein aus und teilte hierin mit, dass Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich bis auf weiteres bestehe. Der nächste Praxisbesuch sei für den 30.01.2014 geplant. Als maßgebliche Diagnosen werden Zustand nach Nierenstein rechts, Verdacht auf Raynaud-Syndrom, Verdacht auf Psoriasis, Verdacht auf Polyarthritis und Erschöpfungssyndrom genannt.

26

Die Beklagte holte eine Stellungnahme beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Rheinland-Pfalz ein. Diese wurde am 28.01.2014 durch die beratende Ärztin Frau Dr. … nach telefonischer Rücksprache mit Dr. … abgegeben. Nach Einschätzung von Frau Dr. … sei die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nachvollziehbar. Die Handgelenke schmerzten, Gegenstände würden aus den Händen fallen gelassen, es bestehe Morgensteifheit. Es bestehe nicht der Eindruck, dass die Klägerin aggravieren würde.

27

Mit Bescheid vom 24.01.2014 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass Krankengeld nur bis zum 19.01.2014 gezahlt werden könne. Voraussetzung für den Bezug von Krankengeld sei, dass die Klägerin sich regelmäßig in ärztlicher Behandlung befinde und die Arbeitsunfähigkeit nahtlos nachgewiesen werde und eine Versicherung mit Anspruch auf Krankengeld bestehe. Schriftlich sei die Klägerin hierüber am 18.11.2013 aufgeklärt worden. Die der Beklagten vorliegenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen wiesen eine zeitliche Lücke auf. Es liege eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis 19.01.2014 vor. Die neue Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei jedoch erst am 20.01.2014 von Dr. … ausgestellt worden. Somit sei die Arbeitsunfähigkeit lediglich bis 19.01.2014 durchgehend nachgewiesen. Damit der Anspruch auf Krankengeld fortbestehe, hätte die Klägerin sich bis spätestens am 19.01.2014 wieder beim Arzt vorstellen und die weitere Arbeitsunfähigkeit nachweisen müssen. Da der 19.01.2014 ein Sonntag gewesen sei, hätte dies am letzten Arbeitstag vor dem 19.01.2014 geschehen müssen. Dies sei nicht geschehen.

28

Mit Bescheid vom 29.01.2014 bewilligte das beigeladene Jobcenter Bad Kreuznach der Klägerin Arbeitslosengeld II in Höhe von 161,78 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.01.2014 bis zum 30.06.2014. Dem Ehemann der Klägerin wurde mit dem gleichen Bescheid ebenfalls Arbeitslosengeld II bewilligt.

29

Die Praxis … stellte am 31.01.2014 eine Folgebescheinigung der Arbeitsunfähigkeit auf Grund der Diagnosen I73.0 V B (Verdacht auf Raynaud-Syndrom, beidseits), L40.9 V B(Verdacht auf Psoriasis, nicht näher bezeichnet, beidseits), M13.0 V B(Verdacht auf Polyarthritis, nicht näher bezeichnet, beidseits), F48.0 G (Neurasthenie, gesichert) und N20.0 Z R (Zustand nach Nierenstein rechts), F41.1 G (Generalisierte Angststörung, gesichert) und F41.9 V (Verdacht auf Angststörung, nicht näher bezeichnet) aus. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 10.02.2014 arbeitsunfähig sein werde.

30

Ebenfalls mit Datum vom 31.01.2014 attestierte die Praxis … dass die Klägerin sich seit dem 13.01.20014 in ärztlicher Behandlung in der Praxis befinde. Sie sei wegen der Diagnosen Raynaud-Syndrom, Psoriasis, Polyarthritis (nicht näher bezeichnet), Psychovegetative Erschöpfung und Nierenstein fortlaufend krankgeschrieben. Aus Sicht des Arztes bestehe seit dem 13.01.2014 eine lückenlos dokumentierte Arbeitsunfähigkeit.

31

Mit Schreiben vom 07.02.2014 (Eingang 10.02.2014) wandte sich die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten gegen die Ablehnung der weiteren Gewährung von Krankengeld durch die Beklagte. Zur Begründung führte sie aus, dass sie durchgehend krankgeschrieben gewesen sei. Ein Arztbesuch am 19.01.2014 wäre überhaupt nicht möglich gewesen, da dies ein Sonntag gewesen sei. Es sei daher völlig ausreichend, dass sie erst am darauffolgenden ersten Werktag der folgenden Woche den Arzt aufgesucht habe. Es handele sich immerhin um exakt die gleiche Erkrankung, wegen der die Klägerin schon längere Zeit krankgeschrieben gewesen sei.

32

Vom 10.02.2014 bis zum 21.02.2014 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung im … Rheumazentrum ….

33

Mit Schreiben vom 20.02.2014 teilte die Beklagte dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass sie die durchgehende Arbeitsunfähigkeit nicht angezweifelt habe. Vielmehr gehe es hier um den Anspruch auf Krankengeld. Ab wann der Anspruch auf Krankgengeld bestehe sei im § 46 SGB V in Verbindung mit § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V geregelt. Dazu sei bereits mehrfach Rechtsprechung ergangen (Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 10.05.2012 – B 1 KR 19/11 R). Entscheidend sei, dass der Krankengeldanspruch immer von der Feststellung der (weiteren) Arbeitsunfähigkeit abhängig sei.

34

Die Praxis … stellte am 21.02.2014 eine „Folgebescheinigung“ aus. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde mit dem 21.02.2014 angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 05.03.2014 arbeitsunfähig sein werde.

35

Die Praxis … stellte am 13.03.2014 eine weitere Folgebescheinigung der Arbeitsunfähigkeit auf Grund der Diagnosen F41.9 V (Verdacht auf Angststörung, nicht näher bezeichnet), M13.0 V B (Verdacht auf Polyarthritis, nicht näher bezeichnet, beidseits) und F48.0 G (Neurasthenie, gesichert) aus. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde hier nicht angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 01.04.2014 arbeitsunfähig sein werde.

36

Die Praxis … stellte am 01.04.2014 auf Grund der Diagnosen F43.2 G (Anpassungsstörungen, gesichert), G56.0 G B (Karpaltunnelsyndrom beidseits, gesichert) und I73.0 (Raynaud-Syndrom, gesichert) eine weitere Folgebescheinigung aus. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde hier nicht angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 14.04.2014 arbeitsunfähig sein werde.

37

Mit Änderungsbescheid vom 07.04.2014 erhöhte der Beigeladene die Leistung von Arbeitslosengeld II u.a. auf Grund der Beendigung der Krankengeldzahlungen durch die Beklagte für den Zeitraum vom 01.01.2014 bis zum 31.01.2014 auf insgesamt 350,37 Euro, für die Zeit vom 01.02.2014 bis zum 31.03.2014 auf 646,12 Euro monatlich, für die Zeit vom 01.04.2014 bis zum 30.04.2014 auf 616,12 Euro und für die Zeit vom 01.05.2014 bis zum 30.06.2014 auf 221,12 Euro monatlich.

38

Die Praxis … stellte am 14.04.2014 auf Grund der Diagnosen F43.2 G (Anpassungsstörungen, gesichert), G56.0 G B (Karpaltunnelsyndrom beidseits, gesichert) und I73.0 (Raynaud-Syndrom, gesichert) eine weitere Folgebescheinigung aus. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde auch hier nicht angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 23.04.2014 arbeitsunfähig sein werde.

39

Die Praxis … stellte am 22.04.2014 auf Grund der gleichen Diagnosen eine weitere Folgebescheinigung aus. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde auch hier nicht angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 28.04.2014 arbeitsunfähig sein werde.

40

Die Praxis … stellte am 28.04.2014 auf Grund der gleichen Diagnosen eine weitere Folgebescheinigung aus. Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit wurde auch hier nicht angegeben. In dem hierfür vorgesehenen Feld wurde angegeben, dass die Klägerin voraussichtlich bis zum 09.05.2014 arbeitsunfähig sein werde.

41

Die Beklagte holte eine weitere Stellungnahme beim MDK Rheinland-Pfalz ein. Die Stellungnahme erfolgte am 28.04.2014 durch die beratende Ärztin Frau Dr. … nach telefonischer Rücksprache mit Dr. ... . Frau Dr. … teilte mit, dass sie die Arbeitsunfähigkeit nachvollziehen und akzeptieren könne. Die Klägerin habe viele Schmerzen und keine Kraft in den Händen. Die Diagnose und auch die Kündigung hätten den seelischen Zustand der Klägerin schon massiv belastet. Die Klägerin könne die Arbeit als Servicekraft auf keinen Fall weiterhin ausüben. Auch eine Arbeit als „Putzfrau“ seit mit diesen Erkrankungen nicht möglich. Für die Zeit ab dem 10.05.2014 habe die Klägerin ein positives Leistungsbild für leichte körperliche Arbeit ohne schweres Heben und Tragen, ohne besondere Belastungen für die Hände, ohne Arbeiten in Kälte, Nässe und Zugluft, ohne Arbeiten mit hautreizenden Stoffen.

42

Mit einem mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Schreiben vom 05.05.2014 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass der MDK in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 28.04.2014 zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Klägerin ab dem 10.05.2014 dazu in der Lage sei, leichte körperliche Tätigkeiten ohne schweres Heben und Tragen, ohne besondere Belastungen für die Hände, ohne Arbeiten in Kälte, Zugluft oder Nässe und ohne Arbeit mit hautreizenden Stoffen auszuüben. Mit diesem Leistungsbild stehe die Klägerin der Arbeitsvermittlung zur Verfügung. Ihre Arbeitsunfähigkeit ende daher am 09.05.2014. Arbeitsunfähigkeit sei Voraussetzung für den Anspruch auf Krankengeld. Für den Fall, dass im Rahmen des laufenden Widerspruchsverfahrens Krankengeld über den 19.01.2014 hinaus zu zahlen sei, endete der Anspruch auf Krankengeld mit dem 09.05.2014.

43

Gegen das Schreiben vom 05.05.2014 erhob die Klägerin keinen Widerspruch.

44

Mit einem Änderungsbescheid vom 13.05.2014 erhöhte der Beigeladene die Leistung von Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 01.04.bis zum 30.04.2014 auf 646,12 Euro.

45

Mit Bescheid vom 19.05.2014 hob der Beigeladene die Leistungsbewilligung gegenüber der Klägerin mit Wirkung zum 01.06.2014 auf.

46

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.05.2014 wies die Beklagte den Widerspruch sinngemäß zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass Versicherte nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Krankengeld hätten, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig mache oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung behandelt würden. Der Anspruch auf Krankengeld entstehe nach § 46 SGB V bei Krankenhausbehandlung oder Behandlung in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung von ihrem Beginn an, im Übrigen von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folge. Voraussetzung für die Zahlung von Krankengeld sei weiterhin, dass ein Krankenversicherungsschutz mit Anspruch auf Krankengeld bestehe. Ende die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger (hier durch Abmeldung wegen Endes des Arbeitsverhältnisses), bleibe die Mitgliedschaft solange erhalten, wie Anspruch auf Krankengeld bestehe oder Krankengeld bezogen werde. Dazu sei bereits mehrfach Rechtsprechung ergangen, zuletzt am 10.05.2012 durch das Bundessozialgericht (BSG). Das Arbeitsverhältnis der Klägerin habe am 30.09.2013 geendet. Damit habe grundsätzlich auch die Mitgliedschaft und der Krankenversicherungsschutz geendet. Dieser sei durch die bis zum 19.01.2014 nachgewiesene Arbeitsunfähigkeit und dem hiermit verbundenen Krankengeldanspruch aufrechterhalten worden. Die weitere Arbeitsunfähigkeit sei erst am 20.01.2014 erneut festgestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt habe kein Krankenversicherungsschutz nach § 192 SGB V mehr bestanden. Ein Anspruch aus Krankengeld aus dem beendeten Arbeitsverhältnis habe ab dem 20.01.2014 nicht mehr bestanden. Dazu hätte die weitere Arbeitsunfähigkeit bis spätestens 19.01.2014 festgestellt und nachgewiesen werden müssen. Das sei hier jedoch nicht der Fall gewesen. Ein Anspruch auf Krankengeld im Rahmen des so genannten nachgehenden Leistungsanspruchs nach § 19 Abs. 1 SGB V bestehe nicht, da die Klägerin ab dem 01.01.2014 durch den Bezug von Arbeitslosengeld II krankenversichert sei. Dieser Versicherungsschutz beinhalte keinen Krankengeldanspruch.

47

Die Klägerin hat am 05.06.2014 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, dass sie seit dem 30.09.2013 arbeitsunfähig gewesen sei und dies derzeit immer noch sei. Sie sei demzufolge dauerhaft krankgeschrieben und habe auch fortlaufend Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt. Der 19.01.2014 sei ein Sonntag gewesen. Es sei der Klägerin nicht bekannt gewesen, dass sie spätestens am letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit einen Arzt aufsuchen müsse, um eine Folgebescheinigung zu erlangen. Sie sei der Annahme gewesen, dass es genüge, wenn sie dies am folgenden Werktag tue, da Arztpraxen in der Regel an Wochenenden nicht geöffnet seien. Das von der Beklagten erwähnte Schreiben vom 18.11.2013 habe die Klägerin nicht erhalten, weshalb sie auch nicht gewusst habe, dass sie noch am letzten Tag der Erstbescheinigung, der ausgerechnet ein Sonntag gewesen sei, noch einen Arzt bzw. ein Krankenhaus hätte aufsuchen müssen. Sie sei der Auffassung, dass die Beklagte angesichts der gegebenen Umstände dazu verpflichtet sei, Krankengeld auch über den 19.01.2014 hinaus zu zahlen.

48

Die Klägerin beantragt,

49

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24.01.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.05.2014 zu verurteilen, der Klägerin Krankengeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 20.01.2014 bis zum 09.05.2014 zu zahlen.

50

Die Beklagte beantragt,

51

die Klage abzuweisen.

52

Zur Begründung verweist sie auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

53

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

54

Auf Frage des Gerichts teilte die Beklagte mit, dass das kalendertägliche Krankengeld brutto 39,11 Euro und netto 34,29 Euro betragen würde.

55

Zur weiteren Darstellung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

I.

56

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

57

Die Klage richtet sich gegen den Bescheid vom 24.01.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.05.2014. Streitgegenstand ist ein Anspruch der Klägerin auf Krankengeld für den Zeitraum vom 20.01.2014 bis zum 09.05.2014.

58

Das Gericht konnte gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG zur Leistung dem Grunde nach verurteilen. Nach dieser Regelung ist Voraussetzung für den Erlass eines Grundurteils, dass gemäß § 54 Abs. 4 SGG oder § 54 Abs. 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Diese Voraussetzung ist bei dem streitgegenständlichen Anspruch auf Krankengeld aus § 44 SGB V erfüllt. Da die Klägerin im vorliegenden Fall lediglich den Erlass eines Grundurteils beantragt hat, durfte das Gericht hierüber gemäß § 123 SGG nicht hinausgehen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 130 Rn. 2e, 11. Auflage 2014).

II.

59

Die Klage ist begründet.

60

Der Bescheid vom 24.01.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.05.2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

61

Die Klägerin hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld für den Zeitraum vom 20.01.2014 bis zum 09.05.2014 gegen die Beklagte.

62

Die Klägerin kann die Zahlung von Krankengeld für den streitigen Zeitraum schon auf Grund einer Dauerbewilligung von Krankengeld verlangen. Die unbefristete Dauerbewilligung ist bestandskräftig geworden und daher zwischen den Beteiligten bindend (1). Sie wurde für die hier streitige Zeit weder wirksam zurückgenommen noch aufgehoben. Von einer wesentlichen Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse ist für die hier streitige Zeit nicht auszugehen, da ein Ende der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin zum 20.01.2014 nicht nachgewiesen werden kann (2).

63

1. In der Auszahlung von Krankengeld an die Klägerin zunächst für den Zeitraum bis zum 04.11.2013 (mitgeteilt mit Schreiben vom 19.11.2013) liegt ein Dauerverwaltungsakt, der die Gewährung von Krankengeld auch für die Folgezeit regelt (vgl. SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 32). Die Leistungsbewilligung ist durch die Leistungsauszahlung konkludent „auf andere Weise“ im Sinne des § 33 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erfolgt.

64

Die Zahlungsmitteilungen der Beklagten vom 19.11.2013, 02.12.2013, 06.01.2014 und 29.01.2014 stellen hingegen trotz der Rechtsbehelfsbelehrungen keine Verwaltungsakte dar. Den Schreiben lässt sich kein Verfügungssatz entnehmen, der einen Regelungscharakter besäße. Die Beklagte teilte der Klägerin jeweils lediglich mit, dass ein bestimmter Betrag von Krankengeld überwiesen wurde.

65

In Fällen, in denen die Krankenkasse keine förmliche Verwaltungsentscheidung erlassen hat, kommt in der für den Versicherten erkennbaren Auszahlung von Krankengeld zugleich auch dessen Bewilligung zum Ausdruck. Die Auszahlung erfüllt die Voraussetzungen für einen Verwaltungsakt nach § 31 Satz 1 SGB X. Es liegt eine Entscheidung einer Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zu Grunde, die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Mit der Überweisung des Krankengeldes an den Versicherten erfolgt eine ausreichende Bekanntgabe dieser Entscheidung (§ 37 SGB X). Der Verwaltungsakt wird auf andere Weise – durch konkludentes Handeln – erlassen (§ 33 Abs. 2 SGB X; BSG, Urteil vom 16.09.1986 – 3 RK 37/85 – Rn. 15).

66

Derartige Krankengeldauszahlungen sind entgegen der vom BSG erstmals im Urteil vom 16.09.1986 (3 RK 37/85) vertretenen Auffassung regelmäßig nicht als befristete Bewilligungsentscheidungen auszulegen (vgl. eingehend SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 37 ff.). Ungeprüft bleibt in dieser und allen späteren Entscheidung des BSG (BSG, Urteil vom 08.02.2000 – B 1 KR 11/99 R – Rn. 12; Urteil vom 13.07.2004 – B 1 KR 39/02 R – Rn. 15; Urteil vom 22.03.2005 – B 1 KR 22/04 R – Rn. 29; Urteil vom 10.05.2012 – B 1 KR 20/11 R – Rn. 13 f.; Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 31/13 R – Rn. 10; Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 35/14 R – Rn. 15 ff., hier insbesondere Rn. 24) die Frage, ob und unter welchen Maßgaben eine Krankenkasse überhaupt berechtigt wäre, die Gewährung von Krankengeld, auf das bei Vorliegen der Voraussetzungen ein Anspruch besteht (§ 38 Erstes Buch SozialgesetzbuchSGB I), mit einer Nebenbestimmung im Sinne einer Befristung zu verbinden (§ 32 Abs. 1 SGB X; SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 41).

67

Richtigerweise ist bei der Auslegung einer (nur) konkludenten Bewilligungsentscheidung davon auszugehen, dass die Behörde – sofern möglich – eine rechtlich zulässige Entscheidung getroffen hat. In eine durch schlichtes Verwaltungshandeln zum Ausdruck kommende Entscheidung mehr hineinzulesen als die Bewilligung der Leistung, insbesondere Nebenbestimmungen wie eine Befristung oder eine auflösende Bedingung zu konstruieren, die zum einen in einem förmlichen Verwaltungsakt wegen der rechtlichen Konsequenz einer Beendigung der Wirksamkeit durch Erledigung des Verwaltungsaktes – ohne klarstellenden „actus contrarius“ – so bestimmt wie möglich, verständlich und widerspruchsfrei verfügt sein müssten (vgl. Korte, NZS 2014, S. 853; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 32 Rn. 13 m.w.N.) und zum anderen bei einer gebundenen Entscheidung nur ausnahmsweise zulässig sind und ihrerseits eine Ermessensbetätigung der Behörde erfordern, verbietet sich (SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 43). Wenn also ein Versicherter bei der Krankenkasse Krankengeld beantragt hat, eine förmliche Entscheidung hierüber zwar nicht ergeht, er aber nach einiger Zeit eine erste Zahlung erhält, kann der Versicherte dem zunächst entnehmen, dass er tatsächlich einen bestimmten Betrag erhalten hat, möglicherweise anhand des Überweisungsträgers auch noch, für welchen Zeitraum die Zahlung erfolgt. Als zu Grunde liegende Entscheidung der Krankenkasse kann er dieser Auszahlung zugleich entnehmen, dass die Krankenkasse seinen Anspruch auf Krankengeld offenbar bejaht hat. Hierin liegt die Bewilligung von Krankengeld (SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 43). Dies gilt gleichermaßen, wenn der Versicherte – wie vorliegend die Klägerin – lediglich die Mitteilung über eine Zahlung von Krankengeld erhält, ohne dass eine ausdrückliche Leistungsbewilligung für einen bestimmten Zeitraum erfolgt.

68

Eine Befristung der Bewilligung von Krankengeld ist nach Maßgabe der anzuwendenden gesetzlichen Regelungen nicht zulässig. Denn gemäß § 32 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist, oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden. Die Gewährung von Krankengeld steht bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 44 ff. SGB V nicht im Ermessen der Krankenkasse, ist also eine gebundene Entscheidung. Eine der beiden Alternativen des § 32 Abs. 1 SGB X (Ermächtigung oder Sicherstellungsfunktion) müsste daher erfüllt sein, damit eine Nebenbestimmung zur Krankengeldbewilligung zulässig wäre. In den einschlägigen Vorschriften des SGB V findet sich, anders als in anderen Leistungsgesetzen, die laufende Geldleistungen vorsehen (vgl. etwa § 44 Abs. 3 Satz 1 SGB XII, 102 Abs. 2 bis 4 SGB VI, § 41 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II), keine Rechtsvorschrift im Sinne des § 32 Abs. 1 1. Alt. SGB X, die eine Befristung zulässt. Die Vorschrift des § 48 Abs. 1 SGB V enthält keine gesetzlich vorgesehene Befristungsmöglichkeit im Sinne des § 32 Abs. 1 1. Alt. SGB X, sondern legt die mögliche Leistungshöchstdauer fest. Ein Hinweis hierauf wäre daher ebenfalls keine Befristung der Leistung, sondern hätte lediglich deklaratorische Wirkung (SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 44).

69

Ob anlässlich der Bewilligung von Krankengeld Nebenbestimmungen denkbar sind, die im Sinne des § 32 Abs. 1 2. Alt. SGB X sicherstellen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden, ist äußerst zweifelhaft. § 32 Abs. 1 2. Alt. SGB X räumt die Möglichkeit einer Nebenbestimmung ausdrücklich nur ein, wenn diese sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt „werden“, nicht auch dafür, dass diese erfüllt „bleiben“. Im Fall einer Krankengeldbewilligung kann jedenfalls eine Befristung erkennbar nicht der Sicherstellung der gesetzlichen Voraussetzungen für den Krankengeldanspruch (Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit und Aufrechterhaltung des Versichertenstatus) dienen. Ziel und Zweck der Befristung wäre hier allein die Vermeidung des nach § 48 SGB X vorgesehenen Verfahrens der Aufhebung der Bewilligungsentscheidung bei Änderung der Verhältnisse. Eine Überprüfung hinsichtlich des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen und erforderlichenfalls Korrektur der Entscheidung ist auch in diesem gesetzlich vorgesehenen Verfahren möglich und muss daher nicht durch eine Befristung sichergestellt werden (SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 45 f.).

70

Demnach ist auch im vorliegenden Fall von einer konkludenten, unbefristeten Bewilligung von Krankengeld durch Auszahlung der Leistung auszugehen, der die Gewährung von Krankengeld auch für die Folgezeit bis auf Weiteres regelt. Diese Bewilligungsentscheidung ist bestandskräftig geworden und daher zwischen den Beteiligten bindend (§ 77 SGG).

71

Weder wird die Krankengeldbewilligung generell, noch wurde sie im vorliegenden Fall „abschnittsweise“ vorgenommen. Die Bewilligung von Krankengeld nur für einen bestimmten Zeitabschnitt könnte im Einzelfall nur angenommen werden, wenn in der konkreten Bewilligungsentscheidung eine entsprechende Befristung der Leistung auch tatsächlich erfolgt wäre. Das Schreiben vom 19.11.2013 ebenso wie die im Wesentlichen gleichlautenden Mitteilungen der Beklagten in der Folgezeit enthalten eine derartige Befristung nicht. Ein Verfügungssatz über die Bewilligung von Krankengeld ist in den Schreiben nicht enthalten. Es wird lediglich mitgeteilt, dass Krankengeld für einen bestimmten Zeitraum ausgezahlt wurde. Für den Adressaten des Bescheids ist auf Grund der verwendeten Formulierung nicht erkennbar, dass hiermit eine Befristung der (konkludenten) Krankengeldbewilligung erfolgt sein könnte.

72

2. Der vorliegend angefochtene Bescheid vom 24.01.2014 lässt sich als Aufhebungsverfügung gegenüber der konkludenten Bewilligungsentscheidung interpretieren. Die Beklagte ging zwar wohl davon aus, dass es einer Aufhebungsentscheidung vorliegend nicht bedurfte, hat aber mit der Äußerung, dass Krankengeld nur bis zum 19.01.2014 gezahlt werde, hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass an der Krankengeldbewilligung ab diesem Zeitpunkt nicht festgehalten wird. Diese Aufhebungsentscheidung ist allerdings rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligungsentscheidung für die Vergangenheit gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht vorlagen. Offenbleiben kann vor diesem Hintergrund, ob die vor Erlass des Bescheids unterbliebene Anhörung nach § 24 Abs. 1 SGB X im Rahmen des Widerspruchsverfahrens nachgeholt und der Verfahrensfehler somit nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt wurde.

73

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

74

1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

75

Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung der Bewilligungsentscheidung sind hier bereits deshalb nicht erfüllt, weil eine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage zum 20.01.2014 nicht nachgewiesen werden kann. Die Klägerin hatte über den 19.01.2014 hinaus aller Wahrscheinlichkeit nach auch materiell-rechtlich einen Anspruch auf Krankengeld.

76

Gemäß § 44 Abs. 1 SGB V haben Versicherte (2.1) Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht (2.2) oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung behandelt werden und wenn sie nicht zu den in § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten ausgeschlossenen Versichertengruppen gehören (2.3). Gemäß § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V in der hier maßgeblichen bis zum 22.07.2015 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) entsteht der Anspruch auf Krankengeld von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt (2.4). Ein durchsetzbarer Anspruch auf Krankengeld besteht nicht für Zeiten des Ruhens wegen des Bezugs von beitragspflichtigem Arbeitsentgelt oder unterlassener Meldung der Arbeitsunfähigkeit (2.5).

77

2.1 Die Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum mit Anspruch auf Krankengeld bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Die Versicherungspflicht der Klägerin ergibt sich aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, da die Klägerin zum Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit am 30.09.2013 gegen Arbeitsentgelt beschäftigt war.

78

Anschließend blieb die Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten auf Grund der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V jedoch gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V auch über den 30.09.2013 hinaus bestehen. Nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V bleibt die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger erhalten, solange Anspruch auf Krankengeld oder Mutterschaftsgeld besteht oder eine dieser Leistungen oder nach gesetzlichen Vorschriften Erziehungsgeld oder Elterngeld bezogen oder Elternzeit in Anspruch genommen wird. Das Ende des Beschäftigungsverhältnisses lässt bei fortdauerndem Anspruch auf Krankengeld oder Bezug von Krankengeld die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf die Leistung somit nicht entfallen. Die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V ist daher zugleich Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Krankengeldanspruchs und Rechtsfolge des Krankengeldanspruchs. Für die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Krankengeld reicht es demnach aus, wenn der Versicherte zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs versicherungspflichtig ist, ohne nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB V vom Krankengeldanspruch ausgeschlossen zu sein. Es genügt hierbei allerdings, dass die Entstehung des Krankengeldanspruchs nach § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. – wie vorliegend – auf den ersten Tag der Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V fällt (vgl. BSG, Urteil vom 10.05.2012 – B 1 KR 19/11 R – Rn. 11 ff.). Hiervon abgesehen wurde die Mitgliedschaft der Klägerin über den 30.09.2013 aber auch bereits gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V auf Grund des tatsächlichen Krankengeldbezugs für die Zeit ab dem 01.10.2013 aufrechterhalten.

79

2.2 Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin am 20.01.2014 und darüber hinaus jedenfalls bis zum 09.05.2014 arbeitsunfähig war. Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB V liegt vor, wenn der Versicherte wegen Krankheit nicht mehr oder nur auf die Gefahr hin, seinen Zustand zu verschlimmern, fähig ist, seine bisherige Erwerbstätigkeit auszuüben. Bei Verlust des Arbeitsplatzes nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit ist Maßstab für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit abstrakt die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung (BSG, Urteil vom 14.02.2001 – B 1 KR 30/00 R – Rn. 13). Die Klägerin war zuletzt bis zum 30.09.2013 als Service- und Thekenkraft in einem Eiscafé abhängig beschäftigt und war seitdem bis zum vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum durchgehend arbeitsunfähig bzw. hat Krankengeld bezogen. Das Beschäftigungsverhältnis wurde zum 30.09.2013 beendet, so dass als Maßstab für die Arbeitsfähigkeit generell eine Tätigkeit als Service- und Thekenkraft in der Gastronomie heranzuziehen ist.

80

Dass die Klägerin an diesem Maßstab gemessen am 20.01.2014 und im folgenden streitgegenständlichen Zeitraum aller Wahrscheinlichkeit nach arbeitsunfähig war, ergibt sich für die Kammer zunächst aus den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Auszahlscheinen der Praxis …/Dr. … vom 13.01.2014, 20.01.2014, 28.01.2014, 31.01.2014, 21.02.2014, 13.03.2014, 10.02.2014, 14.04.2014, 22.04.2014 und 28.04.2014. Hierbei wurden die Diagnosen I73.0 V B (Verdacht auf Raynaud-Syndrom, beidseits), L40.9 V B(Verdacht auf Psoriasis, nicht näher bezeichnet, beidseits), M13.0 V B(Verdacht auf Polyarthritis, nicht näher bezeichnet, beidseits), F48.0 G (Neurasthenie, gesichert), N20.0 Z R (Zustand nach Nierenstein rechts) und (später) Erschöpfungssyndrom, psychovegetative Erschöpfung sowie F41.1 G (Generalisierte Angststörung, gesichert) und F 41.9 V (Verdacht auf Angststörung, nicht näher bezeichnet), F43.2 G (Anpassungsstörungen, gesichert) und G56.0 G B (Karpaltunnelsyndrom beidseits, gesichert) gestellt und Arbeitsunfähigkeit festgestellt. Der Hauptgrund für die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit lag in den Beschwerden in den Händen unklarer Diagnose, was sich auch in den Arztbriefen des Chirurgen und Orthopäden Dr. … vom 01.10.2013, des Medizinischen Versorgungszentrums … vom 31.10.2013, der Radiologie … vom 04.11.2013 und vom Krankenhaus der vom 08.01.2014 zeigt.

81

Dass die Klägerin bei diesem Krankheitsbild ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Servicekraft weder an ihrem früheren noch an einem vergleichbaren Arbeitsplatz hätte ausüben können, ist nachvollziehbar. Im Servicebereich der Gastronomie wird praktisch ständig mit den Händen gearbeitet, es müssen Speisen per Hand zubereitet und mit den Händen serviert werden.

82

Dass die Klägerin aller Wahrscheinlichkeit nach am 20.01.2014 und im folgenden streitgegenständlichen Zeitraum arbeitsunfähig war, wird auch bestätigt durch die gutachterlichen Stellungnahmen des MDK Rheinland-Pfalz vom 28.01.2014 durch Frau Dr. … und vom 28.04.2014 durch Frau Dr. …, die beide im Ergebnis die Arbeitsunfähigkeit nicht bezweifeln. Die beratende Ärztin Frau Dr. … führt in ihrer Stellungnahme aus, dass sie die Arbeitsunfähigkeit nachvollziehen und akzeptieren könne. Die Klägerin habe viele Schmerzen und keine Kraft in den Händen. Die Diagnose und auch die Kündigung hätten den seelischen Zustand der Klägerin schon massiv belastet. Die Klägerin könne die Arbeit als Servicekraft auf keinen Fall weiterhin ausüben. Auch eine Arbeit als „Putzfrau“ seit mit diesen Erkrankungen nicht möglich. Für die Zeit ab dem 10.05.2014 habe die Klägerin ein positives Leistungsbild für leichte körperliche Arbeit ohne schweres Heben und Tragen, ohne besondere Belastungen für die Hände, ohne Arbeiten in Kälte, Nässe und Zugluft, ohne Arbeiten mit hautreizenden Stoffen.

83

Selbst für den Fall, dass die ärztlichen Befunde und das MDK-Gutachten nicht für zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit ausreichend gehalten würde, änderte dies nichts an der Rechtswidrigkeit der im Bescheid vom 24.01.2014 enthaltenen Aufhebungsverfügung. Denn die Beklagte trägt die objektive Beweislast für die Frage, ob eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetreten ist. Dass die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ab dem 20.01.2014 nicht mehr bestand, lässt sich angesichts der ärztlichen Bescheinigungen und Stellungnahmen des MDK auf Grund des Zeitablaufs nicht nachweisen.

84

2.3 Die Klägerin fällt nicht unter die nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB V ausgeschlossenen Versichertengruppen.

85

2.4 Der Anspruch auf Krankengeld ist entstanden. Der Anspruch auf Krankengeld entsteht nach § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt.

86

Die ärztliche Feststellung in diesem Sinne ist die Schlussfolgerung aus einer persönlichen ärztlichen Untersuchung, also der aus der Wahrnehmung des tatsächlichen Zustands des Patienten durch den Arzt gezogene Schluss auf die Arbeitsunfähigkeit (SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 38). Formelle oder verfahrensrechtliche Anforderungen an die ärztliche Feststellung ergeben sich aus dem Gesetz nicht. Dass diese in der Praxis in der Regel auf formularmäßigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen dokumentiert wird, ist lediglich eine tatsächliche Nebenfolge der Vorschriften zum arbeitsrechtlichen Entgeltfortzahlungsanspruch. Soweit an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 SGB V zur Ausstellung von Bescheinigungen über die Arbeitsunfähigkeit verpflichtet sind und dies auch in den Regelungen der §§ 74, 275 Abs. 1a Satz 1, 277 Abs. 2 Satz 1, § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V Niederschlag findet, hat dies keine Auswirkungen auf den Begriff der ärztlichen Feststellung im Sinne des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. Diese Regelungen gehören nicht zur für den Anspruch auf Krankengeld einschlägigen Normtextmenge, da sie nicht die Rechtsposition des Versicherten gegen die Krankenkasse betreffen. Dasselbe gilt für die Vorschrift des § 275 Abs. 1a Satz 2 SGB V, wonach eine Prüfung durch den MDK unverzüglich „nach Vorlage der ärztlichen Feststellung über die Arbeitsunfähigkeit“ zu erfolgen hat. Die Verkörperung der ärztlichen Feststellung wird hier zwar semantisch vorausgesetzt, da nur ein körperlicher Gegenstand „vorgelegt“ werden kann, jedoch nicht als Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Krankengeld normiert. Voraussetzung für das Vorliegen (nicht: „Vorlage“) einer ärztlichen Feststellung ist mithin lediglich die Erhebung medizinisch relevanter Tatsachen durch einen Arzt sowie eine tatsächliche Beurteilung von deren Auswirkungen auf das aktuelle Leistungsvermögen des Versicherten durch den Arzt (SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 38; a.A. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.07.2013 – L 11 KR 2003/13 B – Rn. 7).

87

Die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin wurde erstmals am 30.09.2013 festgestellt. Der Anspruch auf Krankengeld ist gemäß § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. dem Grunde nach daher am 01.10.2013 entstanden.

88

Solange eine Arbeitsunfähigkeit fortbesteht, genügt für die Aufrechterhaltung des materiellen Krankengeldanspruchs bis zum Ende der Anspruchshöchstdauer (§ 48 Abs. 1 SGB V) oder bis zum Ausschluss (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB V) bzw. Wegfall (§ 51 Abs. 3 Satz 1 SGB V) des Anspruchs eine erste ärztliche Feststellung. Denn § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V regelt nur den Beginn des Krankengeldanspruchs (so bereits LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 02.11.1999 – L 4 KR 10/98 – Rn. 27; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.08.2002 – L 4 KR 144/00 – Rn. 36). Wenn auf dem Formular, auf dem die ärztliche Feststellung dokumentiert ist, zugleich eine Prognose für ein voraussichtliches Ende der Arbeitsunfähigkeit getroffen wird, folgt hieraus – entgegen der Auffassung des 1. Senats des BSG (zuletzt mit Urteilen vom 16.12.2014 – B 1 KR 31/14 R; B 1 KR 35/14 R; B 1 KR 37/14 R) – keine zeitliche Begrenzung des Krankengeldanspruchs (SG Trier, Urteil vom 24.04.2013 – S 5 KR 77/12 – Rn. 21 ff.; SG Mainz, Urteil vom 24.09.2013 – S 17 KR 247/12 – Rn. 32 ff., SG Speyer, Urteile vom 22.11.2013 – S 19 KR 600/11 – Rn. 39 ff. und vom 07.04.2014 – S 19 KR 10/13 – Rn. 43 ff.; SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 – S 3 KR 298/12 – Rn. 48 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 17.07.2014 – L 16 KR 146/14 – Rn. 22 ff., L 16 KR 429/13 – Rn. 26 ff., L 16 KR 160/13 – Rn. 25 ff., L 16 KR 208/13 – Rn. 24 ff.; SG Speyer, Beschlüsse vom 08.09.2014 – S 19 KR 519/14 ER – Rn. 31 ff. und vom 03.03.2015 – S 19 KR 10/15 ER – Rn. 33 ff.; SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 41 ff.;SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 61 ff.; SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 409/14 – Rn. 56 ff.; Knispel, NZS 2014, S. 561 ff.; Schröder, ASR 2015, S. 160 f.).

89

Dies folgt zwingend aus einer semantischen Auslegung des Gesetzestextes unter Berücksichtigung der auf dem Gesetzesbindungsgebot beruhenden Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts.

90

§ 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V in der vorliegend einschlägigen, bis zum 22.07.2015 gültigen Fassung lautet:

91

"Der Anspruch auf Krankengeld entsteht (…) im übrigen von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt."

92

Demzufolge markiert der Tag der ärztlichen Feststellung den Entstehungszeitpunkt des Krankengeldanspruchs für den folgenden Tag. Ab dem Folgetag besteht ein Anspruch auf Krankengeld, soweit und solange die sonstigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind. Maßgeblich für die Entstehung des Krankengeldanspruchs ist (bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen) mithin nur, dass am Vortag ein Arzt die Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat, nicht welche Angaben der Arzt hinsichtlich einer möglichen Dauer oder ggf. im Hinblick auf einen früheren Beginn der Arbeitsunfähigkeit gemacht hat. Über das Ende des Krankengeldanspruchs enthält § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. keine Aussage. In § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. ist auch nicht von mehreren „Arbeitsunfähigkeiten“ oder „Feststellungen von Arbeitsunfähigkeit“ die Rede; die Begriffe werden im Singular verwendet.

93

Aus § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. geht des Weiteren nicht hervor, dass sich die „ärztliche Feststellung“ auf einen bestimmten Zeitraum beziehen kann oder muss. Dass der Vertragsarzt eine Prognose über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit abzugeben hat, ergibt sich lediglich aus der auf Grund von § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) erlassenen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-Richtlinie) sowie im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG (vgl. SG Speyer, Urteil vom 22.11.2013 – S 19 KR 600/11 – Rn. 37). In § 1 Abs. 1 der AU-Richtlinie wird terminologisch zwischen der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und der Bescheinigung über ihre voraussichtliche Dauer differenziert. Diese Differenzierung steht im Einklang mit der gesetzlichen Regelung des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. und entspricht der Sachlogik. Ein Arzt kann zu einem bestimmten Zeitpunkt feststellen, dass Arbeitsunfähigkeit vorliegt; im Hinblick auf die Zukunft kann er anhand eines gegenwärtigen Zustands nur Aussagen über die Wahrscheinlichkeit treffen, dass noch Arbeitsunfähigkeit vorliegen wird, d.h. eine Prognose abgeben. Ob eine Prognose sich als zutreffend erweist, kann nur im Nachhinein festgestellt werden. Dieser Logik folgt weitgehend auch die AU-Richtlinie, wenn unabhängig von der in § 5 Abs. 1 AU-Richtlinie geregelten Erstfeststellung eine Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit zum Zwecke der Krankengeldzahlung ("Auszahlschein") in der Regel nicht für einen mehr als sieben Tag zurückliegenden und nicht mehr als für einen zwei Tage im Voraus liegenden Zeitraum erfolgen soll.

94

Es ist begrifflich mithin streng zu unterscheiden zwischen der von § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. geforderten „ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit“, der nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geforderten Prognose der Dauer der Arbeitsunfähigkeit und einer ärztlichen Bescheinigung sowohl über das Datum der Feststellung als auch über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit. Dass ein Vertragsarzt gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 SGB V dazu verpflichtet ist, eine Bescheinigung über die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit auszustellen, berührt die Entstehung des Krankengeldanspruchs nach § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. nicht. Die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ist nicht mit der hierüber ausgestellten Bescheinigung (Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder Auszahlschein) gleichzusetzen (SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 39). Auch das BSG hat noch in einem Urteil vom 10.05.2012 (B 1 KR 19/11 R – Rn. 26) die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen ärztlicher Feststellung, Bescheinigung der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit und Meldung der Arbeitsunfähigkeit (§ 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V) hervorgehoben. Eine ärztliche Bescheinigung ist – anders als beim Anspruch auf Entgeltfortzahlung gegen den Arbeitgeber (§ 5 Abs. 1 EFZG) – demnach weder eine Voraussetzung für die Entstehung noch für den Fortbestand des Anspruchs auf Krankengeld nach dem SGB V. Demzufolge ist auch die auf den formularmäßigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgesehene Abgabe einer Prognose über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit für den Anspruch auf Krankengeld nach dem SGB V gänzlich irrelevant (vgl. ausführlich SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 41 m.w.N.).

95

Aus dem Wortlaut des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. ergibt sich somit ausschließlich eine Regelung für den Entstehungszeitpunkt des Krankengeldanspruchs, nicht für dessen zeitliche Begrenzung. Weitere materielle Wirkungen der ärztlichen Feststellung lassen sich anhand des Gesetzes nicht begründen. Dies wird bestätigt durch die amtliche Überschrift der Regelung: „Entstehen des Anspruchs auf Krankengeld“. Es handelt sich hierbei um eine Spezialvorschrift zu § 40 Abs. 1 SGB I, wonach Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen, sobald ihre im Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen (vgl. SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 38).

96

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 310, zum Ganzen Rn. 304 ff., 10. Auflage 2009). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Deshalb verstößt das BSG gegen Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG, wenn es seine Rechtsauffassung auf eine „ergänzende Auslegung des Gesetzes“ stützt (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 37/14 R – Rn. 15) und postuliert, dass „das SGB V die Tatbestände der Beendigung eines Krg-Anspruchs nicht ausdrücklich vollständig in allen denkmöglichen Verästelungen“ regle und diese „geringere Normdichte (…) ihren sachlichen Grund in der Vielgestaltigkeit der Möglichkeiten der Beendigung“ habe (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 37/14 R – Rn. 13).

97

Aus den gleichen Gründen scheitert auch Dreher (jurisPR-SozR 3/2015 Anm. 2 zum Urteil des BSG vom 04.03.2014 – B 1 KR 17/13 R) mit dem Versuch, für die Rechtsauffassung des BSG eine kohärente Begründung zu entwickeln. Er räumt zunächst ein, dass der Gesetzeswortlaut das Erfordernis einer ärztlichen Feststellung auf den Fall der Entstehung des Krankengeldanspruchs beschränkt und § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. zum Anspruchsende oder -wegfall keine eigene Aussage trifft. Dennoch vertritt er die Auffassung, dass der Krankengeldanspruch von vornherein zeitlich begrenzt entstehe, wenn und soweit das ihn begründende „Beweissicherungsverfahren“ (gemeint ist der in § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. vorausgesetzte „Gang zum Arzt“) nur eine zeitlich begrenzte Aussage ermögliche. Damit werde nicht die Entscheidungsbefugnis über den Anspruch auf den Arzt übertragen, sondern lediglich die Beweissicherung „dem Gesetzeswortlaut entsprechend“ in vollem Umfang dem Versicherten überantwortet. Die nach und nach entstehenden zeitlich begrenzten Ansprüche seien als Teile eines einheitlichen, aber „gestückelten“ Anspruchs aufzufassen.

98

Für diese Theorie fehlt es an jeglichem Anhaltspunkt im Gesetzestext des SGB V. Zeitliche Beschränkungen des Krankengeldanspruchs ergeben sich ausschließlich aus § 48 SGB V. Soweit Dreher meint, diese Einschränkung mittels einer Auslegung des Begriffs des „Entstehens“ begründen zu können, geht dies fehl. Das Wort „entstehen“ hat in keiner denkbaren Verwendungsweise die Bedeutung von „Begrenzung“, „Untergang“ oder „Wegfall“. Es bedeutet schlicht das Gegenteil. Dass die Beweissicherung „dem Gesetzeswortlaut entsprechend“ dem Versicherten überantwortet werde, ist daher eine unsinnige Behauptung, die deshalb auch ohne Bezugnahme auf einen konkreten Gesetzeswortlaut auskommen muss.

99

Ebenso haltlos ist die nicht weiter begründete These des LSG Rheinland-Pfalz im Urteil vom 02.10.2014 (L 5 KR 30/14 – nicht veröffentlicht), es sei mit dem Wortlaut des Gesetzes ohne weiteres vereinbar, dass nicht nur die Entstehung, sondern auch der Fortbestand des Anspruchs auf Krankengeld von der vorherigen ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit abhängig sei. Gerade hierfür gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt im Gesetzeswortlaut des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F.

100

Soweit das BSG sogar meint, der Gesetzeswortlaut des § 46 SGB V (a.F.) trage die Auffassung nicht, dass die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur für die Entstehung des Krankengeldanspruchs Bedeutung habe (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 37/14 R – Rn. 13), trifft dies offensichtlich nicht zu. Diese für jedermann erkennbar falsche Behauptung ist umso erstaunlicher, als eine unbefangene Gesetzeslektüre genügt, um sie zu widerlegen. Die entsprechende Vorschrift regelt ausdrücklich nichts anderes, als die Entstehung des Anspruchs.

101

Die Annahme, dass das Fortbestehen eines Krankengeldanspruchs nach Ablauf eines Bewilligungsabschnitts oder nach Ablauf des auf einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angegebenen voraussichtlichen Enddatums einer erneuten ärztlichen Feststellung spätestens am letzten Tag vor Ablauf bedürfe, verstößt gegen das Gesetzesbindungsgebot und ist deshalb unter Geltung des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V sowohl in der bis zum 22.07.2015 geltenden als auch in der neuen Fassung keine rechtswissenschaftlich vertretbare Position.

102

Darüber hinaus wird die hier vertretene Auffassung gestützt durch die Gesetzessystematik (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 75 ff.) und durch den Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 81 ff.). Sie wird zudem bestätigt durch die historische Entwicklung des Gesetzes (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 86 ff.) und die Gesetzesbegründung (vgl. SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 90 ff.). Auf hiervon unabhängige Erwägungen zu „Sinn und Zweck“ der Regelung kommt es daher nicht an, wobei auch anhand dieses Maßstabs keine Argumente für die Auffassung des 1. Senats des BSG sprechen (vgl. SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 94 ff.). Letztere resultiert aus einer fehlerbehafteten Entwicklung der Rechtsdogmatik und führt zu abwegigen Ergebnissen (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 98 ff.). Durch die Neuregelung des § 46 Satz 2 SGB V mit dem Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) mit Wirkung zum 23.07.2015 hat sich diesbezüglich weder für die Zukunft noch für die Vergangenheit Wesentliches geändert (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 153 ff.).

103

2.5 Die Arbeitsunfähigkeit wurde der Beklagten fristgerecht gemeldet, sodass der Anspruch seit dem 20.01.2014 nicht gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ruhte.

104

Nach dieser Regelung ruht der Anspruch auf Krankengeld, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird. Dies gilt nach dem zweiten Halbsatz der Regelung nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt.

105

Die Meldung der Arbeitsunfähigkeit ist eine Tatsachenmitteilung. Diese muss der Krankenkasse zugehen. Hierfür ist weder eine bestimmte Form vorgeschrieben, noch muss die Meldung durch eine bestimmte Person erfolgen (so bereits BSG, Urteil vom 12.11.1985 – 3 RK 35/84 – Rn. 12 bezüglich der Vorgängerregelung des § 216 Abs. 3 RVO). Erforderlich ist lediglich, dass die Identität des Versicherten erkennbar ist und die Arbeitsunfähigkeit dieses Versicherten behauptet wird. Nicht erforderlich ist ein Hinweis auf die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (a. A. BSG, Urteil vom 12.11.1985 – 3 RK 35/84 – Rn. 12). Diese stellt lediglich eine Tatbestandsvoraussetzung für den Anspruch auf Krankengeld dar, deren Vorliegen von der Krankenkasse nach Antragstellung von Amts wegen zu ermitteln ist. Im vorliegenden Fall lässt sich den Verwaltungsvorgängen der Beklagten zwar nicht entnehmen, wann genau die Arbeitsunfähigkeit gemeldet wurde. Dass dies vor dem hier streitgegenständlichen Zeitraum der Fall gewesen sein muss, ergibt sich jedoch zwanglos aus der Tatsache, dass die Beklagte der Klägerin für die vorherigen Zeiträume Krankengeld ausgezahlt und mehrere Auszahlscheine zur Akte genommen hat. Da von einer durchgehenden Arbeitsunfähigkeit auszugehen ist, war keine weitere Meldung der Arbeitsunfähigkeit mehr notwendig, um das Eintreten des Ruhens nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu verhindern (so bereits LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 02.11.1999 – L 4 KR 10/98 – Rn. 30; SG Mainz, Urteil vom 24.09.2013 – S 17 KR 247/12 – Rn. 45 ff.; SG Speyer, Urteil vom 22.11.2013 – S 19 KR 600/11 – Rn. 42 ff.; SG Trier, Urteil vom 21.11.2013 – S 1 KR 44/13 – Rn. 29).

106

Das BSG vertritt demgegenüber die Rechtsauffassung, dass die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse vor jeder erneuten Inanspruchnahme des Krankengelds erneut gemeldet werden muss, auch wenn die Arbeitsunfähigkeit seit ihrem Beginn ununterbrochen bestanden hat (BSG, Urteil vom 08.02.2000 – B 1 KR 11/99 R – Rn. 17; BSG, Urteil vom 10.05.2012 – B 1 KR 20/11 R – Rn. 18; offen gelassen noch BSG, Urteil vom 20.04.1999 – B 1 KR 15/98 R – Rn. 14). Diese Auffassung widerspricht dem Wortlaut des § 49 Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 2 SGB V, in dem nur der Beginn der Arbeitsunfähigkeit als Bezugspunkt für die Meldeobliegenheit genannt wird, nicht der Beginn eines Krankengeldbewilligungsabschnitts oder eines Feststellungszeitraumes. Dass hier zu Lasten der Versicherten über den Wortlaut hinweggegangen wird, deutet das BSG selbst in der Begründung zum Urteil vom 08.02.2000 an: "Anders als es der Wortlaut des § 49 Abs.1 Nr 5 Halbs 2 SGB V nahezulegen scheint (...)" (BSG, Urteil vom 08.02.2000 – B 1 KR 11/99 R – Rn. 17). Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip, so dass der Auffassung des BSG nicht gefolgt werden darf. Unausgesprochen vollzieht das BSG hier einen Analogieschluss, dessen Voraussetzungen jedoch nicht gegeben sind und vom BSG auch nicht dargelegt werden (vgl. bereits SG Mainz, Urteil vom 24.09.2013 – S 17 KR 247/12 – Rn. 45 ff.). Auch vor dem Hintergrund des Optimierungsgebots des § 2 Abs. 2 SGB I und des Gesetzesvorbehalts des § 31 SGB I ist die durch das BSG vorgenommene Vervielfältigung der Meldeobliegenheit des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V nicht vertretbar (SG Speyer, Urteil vom 22.11.2013 – S 19 KR 600/11 – Rn. 42 ff.).

107

2.6 Die Klägerin hatte demnach auch über den 19.01.2014 hinaus aller Wahrscheinlichkeit nach einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Krankengeld, so dass eine wesentliche Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen zum 20.01.2014 oder zu einem früheren Zeitpunkt nicht nachgewiesen ist. Die Voraussetzung für eine Aufhebung der Bewilligung von Krankengeld zum 20.01.2014 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X lagen demnach nicht vor.

108

2.7 Im Übrigen liegen auch die sonstigen Voraussetzungen für die durch den Bescheid vom 24.01.2014 rückwirkend zum 20.01.2014 verfügte Aufhebung der Leistungsbewilligung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht vor. Die Änderung erfolgte nicht zu Gunsten der Klägerin (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X).

109

Die Klägerin ist auch nicht einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse nicht nachgekommen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X).

110

Sie hat auch nicht nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X).

111

Zuletzt gibt es auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Klägerin wusste oder nicht wusste, weil sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X). Es ist bereits nicht nachzuweisen, dass sich hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin zum 20.01.2014 eine Änderung ergeben hat, so dass erst recht kein Anhaltspunkt dafür vorliegt, dass die Klägerin selbst Kenntnis (oder grob fahrlässige Unkenntnis) von der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und damit vom Wegfall des materiell-rechtlichen Anspruchs auf Krankengeld gehabt haben könnte. Die „nicht fristgerechte“ Erstellung einer „Folgebescheinigung“ der Arbeitsunfähigkeit bzw. die „Lückenlosigkeit“ von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist wiederum kein Ausschlussgrund für den Anspruch auf Krankengeld, so dass es vorliegend nicht darauf ankommt, ob die Klägerin über die diesbezügliche Rechtsauffassung der Beklagten bzw. des BSG informiert war. Somit ist vorliegend auch nicht entscheidungserheblich, ob die Klägerin das Hinweisschreiben der Beklagten vom 18.11.2013 tatsächlich erhalten hat.

112

3. Der Bescheid vom 24.01.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.05.2014 ist daher rechtswidrig und war aufzuheben.

113

4. Die Beklagte war darüber hinaus gemäß § 54 Abs. 4 SGG antragsgemäß (vgl. § 123 SGG) dem Grunde nach zur Zahlung von Krankengeld für den Zeitraum vom 20.01.2014 bis zum 09.05.2014 zu verurteilen.

114

Der Anspruch der Klägerin auf Krankengeld ist jedoch erloschen, soweit er auf Grund der für den gleichen Zeitraum erbrachten Leistung von Arbeitslosengeld II durch den Beigeladenen als erfüllt gilt.

115

Nach § 107 Abs. 1 SGB X gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht. Hiermit wird Bezug genommen auf die in den §§ 102 bis 106 SGB X geregelten Erstattungsansprüche zwischen Leistungsträgern.

116

Im vorliegenden Fall hat der Beigeladene einen Erstattungsanspruch aus § 104 Abs. 1 SGB X. Nach dieser Vorschrift ist derjenige Leistungsträger gegenüber einem nachrangig verpflichteten Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat, soweit der vorrangig verpflichtete Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat. Nachrangig verpflichtet ist nach § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre.

117

Der Beigeladene ist in diesem Sinne nachrangig verpflichteter Leistungsträger. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen die (neben anderen Voraussetzungen) hilfebedürftig sind. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind Einnahmen in Geld oder Geldeswert nach näherer Bestimmung der §§ 11a, 11b SGB II als Einkommen zu berücksichtigen. Zu den anzurechnenden Einnahmen zählt auch das Krankengeld nach §§ 44 ff. SGB V. Hieraus folgt, dass ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II gegenüber einem Anspruch auf Krankengeld grundsätzlich nachrangig ist, da im Falle der Leistung von Krankengeld ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II ganz oder teilweise entfällt. Hätte die Beklagte ihre Leistungsverpflichtung zur Gewährung von Krankengeld im Zeitraum vom 20.01.2014 bis zum 09.05.2014 rechtzeitig erfüllt, wäre der Beigeladene auf Grund der Anrechnung des Einkommens aus Krankengeld gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II nicht bzw. nicht im bewilligten Umfang zur Leistung verpflichtet gewesen.

118

Die Beklagte war im vorliegenden Verfahren deshalb nur zur Leistung von Krankengeld dem Grunde nach zu verurteilen, soweit die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X nicht reicht.

119

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

(1) Ein Verwaltungsakt ist demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden.

(2) Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Ein Verwaltungsakt, der im Inland oder Ausland elektronisch übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

(2a) Mit Einwilligung des Beteiligten können elektronische Verwaltungsakte bekannt gegeben werden, indem sie dem Beteiligten zum Abruf über öffentlich zugängliche Netze bereitgestellt werden. Die Einwilligung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Die Behörde hat zu gewährleisten, dass der Abruf nur nach Authentifizierung der berechtigten Person möglich ist und der elektronische Verwaltungsakt von ihr gespeichert werden kann. Ein zum Abruf bereitgestellter Verwaltungsakt gilt am dritten Tag nach Absendung der elektronischen Benachrichtigung über die Bereitstellung des Verwaltungsaktes an die abrufberechtigte Person als bekannt gegeben. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang der Benachrichtigung nachzuweisen. Kann die Behörde den von der abrufberechtigten Person bestrittenen Zugang der Benachrichtigung nicht nachweisen, gilt der Verwaltungsakt an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die abrufberechtigte Person den Verwaltungsakt abgerufen hat. Das Gleiche gilt, wenn die abrufberechtigte Person unwiderlegbar vorträgt, die Benachrichtigung nicht innerhalb von drei Tagen nach der Absendung erhalten zu haben. Die Möglichkeit einer erneuten Bereitstellung zum Abruf oder der Bekanntgabe auf andere Weise bleibt unberührt.

(2b) In Angelegenheiten nach dem Abschnitt 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes gilt abweichend von Absatz 2a für die Bekanntgabe von elektronischen Verwaltungsakten § 9 des Onlinezugangsgesetzes.

(3) Ein Verwaltungsakt darf öffentlich bekannt gegeben werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Eine Allgemeinverfügung darf auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist.

(4) Die öffentliche Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsaktes wird dadurch bewirkt, dass sein verfügender Teil in der jeweils vorgeschriebenen Weise entweder ortsüblich oder in der sonst für amtliche Veröffentlichungen vorgeschriebenen Art bekannt gemacht wird. In der Bekanntmachung ist anzugeben, wo der Verwaltungsakt und seine Begründung eingesehen werden können. Der Verwaltungsakt gilt zwei Wochen nach der Bekanntmachung als bekannt gegeben. In einer Allgemeinverfügung kann ein hiervon abweichender Tag, jedoch frühestens der auf die Bekanntmachung folgende Tag bestimmt werden.

(5) Vorschriften über die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes mittels Zustellung bleiben unberührt.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

(1) Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts besteht für jeden Kalendertag. Der Monat wird mit 30 Tagen berechnet. Stehen die Leistungen nicht für einen vollen Monat zu, wird die Leistung anteilig erbracht.

(2) Berechnungen werden auf zwei Dezimalstellen durchgeführt, wenn nichts Abweichendes bestimmt ist. Bei einer auf Dezimalstellen durchgeführten Berechnung wird die letzte Dezimalstelle um eins erhöht, wenn sich in der folgenden Dezimalstelle eine der Ziffern 5 bis 9 ergeben würde.

(3) Über den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist in der Regel für ein Jahr zu entscheiden (Bewilligungszeitraum). Der Bewilligungszeitraum soll insbesondere in den Fällen regelmäßig auf sechs Monate verkürzt werden, in denen

1.
über den Leistungsanspruch vorläufig entschieden wird (§ 41a) oder
2.
die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung unangemessen sind.
Die Festlegung des Bewilligungszeitraums erfolgt einheitlich für die Entscheidung über die Leistungsansprüche aller Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft. Wird mit dem Bescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht auch über die Leistungen zur Deckung der Bedarfe nach § 28 Absatz 2, 4, 6 und 7 entschieden, ist die oder der Leistungsberechtigte in dem Bescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung über Leistungen zur Deckung der Bedarfe nach § 28 Absatz 2, 4, 6 und 7 gesondert erfolgt.

(1) Wer das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hat, kann Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen. Der Leistungsträger soll den gesetzlichen Vertreter über die Antragstellung und die erbrachten Sozialleistungen unterrichten.

(2) Die Handlungsfähigkeit nach Absatz 1 Satz 1 kann vom gesetzlichen Vertreter durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger eingeschränkt werden. Die Rücknahme von Anträgen, der Verzicht auf Sozialleistungen und die Entgegennahme von Darlehen bedürfen der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 26. April 2012 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist die Aufhebung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) hinsichtlich des Zeitabschnitts vom 1.1.2006 bis 30.4.2006.

2

Der Kläger zu 1 und seine im Februar 2004 und im Februar 2006 geborenen Kinder, die Klägerin zu 2 und die frühere Klägerin zu 3, bilden zusammen mit seiner früheren Partnerin und jetzigen Ehefrau, der Mutter der Kinder und früheren Klägerin (im Folgenden: E.), eine Bedarfsgemeinschaft, die seit dem Jahr 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom beklagten Jobcenter bezieht. Aufgrund eines Fortzahlungsantrags der E. wurden der Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 17.10.2005 für den Zeitraum von November 2005 bis April 2006 Leistungen bewilligt, die sich der Höhe nach zwischen 678,12 Euro und 923,86 Euro bewegten. Mit einem mit "Änderung" überschriebenen Bescheid vom 17.11.2005 wurden für Januar 2006 923,86 Euro, für Februar 2006 910,26 Euro und für März bis April 2006 jeweils 797,36 Euro bewilligt. Mit "Änderungsbescheiden" vom 3.5.2006, 21.9.2006 und 29.3.2007 wurden der Bedarfsgemeinschaft für die Monate Januar bis April 2006 jeweils niedrigere Leistungen als zuvor, der zweiten Tochter jedoch mit Bescheid vom 3.5.2006 erstmals Leistungen bewilligt, die sich dann jeweils erhöhten. Die höchsten Zahlungen wurden allen Klägern zuerkannt durch den zuletzt genannten Bescheid vom 29.3.2007 in Höhe von 482,98 Euro für Januar 2006, von 353,64 Euro für Februar, von 175,09 Euro für März 2006 und von 606,46 Euro für April 2006. Die Bescheide waren an die E. adressiert, die auch mit Schreiben vom 3.5.2006 zu einer Überzahlung infolge der Anrechnung von Einkommen angehört wurde. Sie habe vom 1.1.2006 bis 30.4.2006 Arbeitslosengeld II in Höhe von 1988,19 Euro zu Unrecht bezogen. Die E. erhob am 19.5.2006 Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom 3.5.2006, "woraus eine Nachzahlung von 1988,18 Euro resultiere". Auf den Widerspruch folgten die beiden Änderungsbescheide vom 21.9.2006 und vom 29.3.2007, die jeweils eine teilweise Abhilfe enthielten. Der Widerspruch der E. wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21.5.2007 "nach Erteilung der Änderungsbescheide vom 21.9.2006 und vom 29.3.2007" zurückgewiesen.

3

Mit einem an die E., den Kläger zu 1 sowie an die E. als gesetzliche Vertreterin der Klägerin zu 2 gerichteten Erstattungsbescheid vom 21.4.2008 forderte der Beklagte unter Bezugnahme auf die Änderungsbescheide von der E. überzahlte Leistungen in Höhe von 742,76 Euro, von dem Kläger zu 1 in Höhe von 707,35 Euro und von der Klägerin zu 2 in Höhe von 360,58 Euro zurück. Über die Widersprüche dagegen ist noch nicht entschieden.

4

Das Sozialgericht (SG) hat im anschließenden Klageverfahren, das von den Eltern und den beiden Kindern geführt wurde, durch Urteil vom 26.11.2008 unter Abänderung der genannten Änderungsbescheide und des Widerspruchbescheids den Beklagten verurteilt, der E. sowie den Klägern unter Anrechnung der bisher gezahlten Leistungen höhere, aber unter dem Bescheid vom 17.11.2005 liegende Leistungen zu zahlen. Im Übrigen ist die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen worden. Die E. hat ihre Berufung zurückgenommen und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Kläger, in der diese - nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 1.6.2010 (B 4 AS 89/09 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 29) zur Berücksichtigung von Zuschlägen als Einkommen - nur noch die Feststellung der Unwirksamkeit der Änderungsbescheide in der Gestalt des Widerspruchbescheids beantragt haben, zurückgewiesen (Urteil vom 26.4.2012). Zwar seien die angefochtenen Bescheide nur an die E. adressiert gewesen, da diese aber eine der gesetzlichen Vertreter der minderjährigen Kinder sei, genüge dies für eine Bekanntgabe diesen gegenüber (§§ 37, 39 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch). Gegenüber dem Kläger zu 1 sei, auch wenn die Vermutungswirkung des § 38 SGB II nicht greifen sollte, ein etwaiger Bekanntgabemangel zumindest geheilt worden. Nach § 9 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) gelte ein Schriftstück als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen sei. Der Kläger zu 1 habe die Änderungsbescheide in diesem Sinne tatsächlich erhalten.

5

Gegen dieses Urteil wenden sich die Kläger mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision. Sie rügen ihre unterlassene Anhörung nach § 24 SGB X, die mangelnde Bekanntgabe(§ 37 SGB X)der Bescheide, insbesondere gegenüber dem Kläger zu 1, sowie deren fehlende Bestimmtheit nach § 33 Abs 1 SGB X.

6

Die Revision der - früheren - Klägerin zu 3 ist in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zurückgenommen worden.

7

Die Kläger beantragen,
das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 26. April 2012 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 26. November 2008 zu ändern sowie den Änderungsbescheid des Beklagten vom 29. März 2007 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 21. Mai 2007 aufzuheben.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Der Beklagte hält das Urteil des LSG für zutreffend, alle Bescheide seien hinsichtlich der Anhörung, der Bekanntgabe sowie der Bestimmtheit rechtmäßig, etwaige Mängel seien jedenfalls geheilt worden.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision der Kläger ist zulässig (§§ 160, 164 Sozialgerichtsgesetz) und im Sinne der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das LSG auch begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide kann nicht abschließend entschieden werden, weil es dazu an ausreichenden Feststellungen seitens des LSG bezüglich einer Anhörung fehlt. Zudem ist eine Zurückverweisung auch in Bezug auf die Klägerin zu 2 notwendig, weil das LSG - aus seiner Sicht zu Recht - Feststellungen zu den Ansprüchen der Kläger der Höhe nach unterlassen hat.

11

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die von den Klägern begehrte Aufhebung des Urteils des LSG bzw Änderung des Urteils des Sozialgerichts (SG) sowie die Aufhebung des letzten, günstigsten Abhilfe-(Änderungsbescheids) vom 29.3.2007 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 21.5.2007. Die vorangegangenen Änderungsbescheide vom 3.5.2006 und vom 21.9.2006 sind durch diesen letzten Änderungsbescheid vom 29.3.2007, der den Klägern die jeweils höchsten Leistungen bewilligt hat, ersetzt worden und sind damit erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X).

12

Gegen diesen Bescheid haben sich die Kläger nach dem wahren Kern ihres Begehrens (vgl § 106 Abs 1 SGG) mit einer Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG)als statthafter Klageart gewandt. Die Aufhebung der angefochtenen Bescheide hatten die Kläger auch bereits vor dem SG beantragt und lediglich vor dem LSG auf dessen Anraten ihren Antrag auf die (unzulässige) Feststellung der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide umgestellt. Da gemäß § 123 SGG das Gericht über die von einem Kläger erhobenen Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein, muss nach dem tatsächlichen Begehren der Kläger, das diese in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben, von der Fortgeltung des ursprünglich gestellten Anfechtungsantrags ausgegangen werden. Im Rahmen dieses Antrags ist die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht zu prüfen. Aufgrund fehlender Feststellungen des LSG kann jedoch nicht beurteilt werden, ob der Kläger zu 1 vom beklagten Jobcenter anzuhören war (dazu unter 2.). Allerdings ist der Bescheid weder wegen fehlender Bekanntgabe (dazu unter 3.) noch mangender Bestimmtheit (dazu unter 4.) rechtswidrig.

13

2. Es kann nicht abschließend entschieden werden, ob der Kläger zu 1 neben der E. gesondert anzuhören war. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Bei belastenden Verwaltungsakten, also solchen, die gegenüber dem vorherigen Zustand eine ungünstigere Regelung enthalten, ist grundsätzlich anzuhören, denn die Anhörungsvorschriften sollen nach ihrem Sinn und Zweck vor Überraschungsentscheidungen schützen und das Vertrauen in die Verwaltung stärken (vgl BT-Drucks 7/868, S 28). Als eingreifender Verwaltungsakt in dem genannten Sinne sind auch Bescheide zu verstehen, die neben einer Begünstigung im Vergleich zum vorherigen Rechtszustand weniger günstigere Regelungen enthalten (vgl Siefert in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 24 RdNr 9).

14

Da die Änderungsbescheide vom 3.5.2006, vom 21.9.2006 sowie im hier maßgeblichen Bescheid vom 29.3.2007 im Vergleich zum ursprünglichen Bescheid vom 17.11.2005 jeweils ungünstigere, wenn auch sich kontinuierlich verbessernde Leistungsbewilligungen enthielten, ist grundsätzlich von einer Anhörungspflicht auszugehen.

15

a) Hinsichtlich der Klägerin zu 2 ist ein Anhörungserfordernis jedenfalls dadurch gewahrt worden, dass die E. im Ergebnis mit dem Schreiben vom 3.5.2006 nicht nur zu der beabsichtigten Rückforderung, sondern inzident auch zu den Änderungen im Vergleich zum Ausgangsbescheid angehört worden ist. Sie hat dementsprechend Widerspruch eingelegt und dieser hat in den nachfolgenden Änderungsbescheiden seinen Niederschlag gefunden. Da die minderjährige Klägerin zu 2 zumindest auch durch die E., ihre Mutter, gesetzlich vertreten wird, reichte das an die E. gerichtete Schreiben als Anhörung der Klägerin zu 2 aus (BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289, 293 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 24).

16

b) Ob der Kläger zu 1 nach den genannten Grundsätzen hier anzuhören war oder ob eine der in § 24 Abs 2 SGB X ausdrücklich normierten Ausnahmen von der grundsätzlichen Anhörungspflicht greift, kann wegen mangelnder tatsächlicher Angaben im Urteil des LSG nicht festgestellt werden.

17

aa) In Betracht kommt die Ausnahmevorschrift des § 24 Abs 2 Nr 3 SGB X, wonach von einer Anhörung abgesehen werden kann, wenn von den tatsächlichen Angaben eines Beteiligten, die dieser in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, nicht zu seinen Ungunsten abgewichen werden soll. In diesem Fall ist der Zweck des rechtlichen Gehörs durch die eigenen Angaben des Betroffenen erfüllt, ob die beabsichtigte Entscheidung der Behörde den Beteiligten im Ergebnis belastet oder begünstigt, ist im Rahmen von § 24 Abs 2 Nr 3 SGB X unerheblich(s Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 24 RdNr 27). Dass der Kläger zu 1 in dem genannten Sinne selbst tatsächliche Angaben gegenüber dem Beklagten gemacht hat, ist nicht erkennbar. Die Angabe durch den Betroffenen ist aber grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen der genannten Ausnahmevorschrift (vgl BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 12: Ausnahme von der Anhörungspflicht bei Rückforderung überzahlter Vorschüsse nach Maßgabe der Einkommensangaben eines Betroffenen). Hierzu werden im wieder aufgenommenen Berufungsverfahren weitere Feststellungen zu treffen sein.

18

Soweit der Kläger zu 1 sich gegenüber dem Beklagten tatsächlich nicht selbst geäußert hat, kommt eine Zurechnung der Mitteilung durch die E. zu den aufgetretenen Änderungen, insbesondere der Geburt der früheren Klägerin zu 3, des Einkommens des Klägers zu 1 oder des Zuflusses von Mutterschaftsgeld nur in Betracht, wenn sie die Erklärungen zur Überzeugung des LSG mit dem ausdrücklichen Willen und Wissen für den Kläger zu 1 so gemacht hat, als habe er die Erklärungen iS von § 24 Abs 2 Nr 3 SGB X selbst abgegeben. Hierzu bedarf es aber ebenfalls weiterer Feststellungen des LSG. Keine Zurechnungswirkung entfaltet dagegen insoweit die Vertretungsfiktion nach § 38 Abs 1 SGB II(dazu sogleich unter cc).

19

bb) Ebenfalls einschlägig kann die in § 24 Abs 2 Nr 5 SGB X geregelte Ausnahme von der Anhörungspflicht sein. Danach kann eine Anhörung entfallen, wenn lediglich einkommensabhängige Leistungen den geänderten Verhältnissen angepasst werden sollen. Dies setzt jedoch voraus, dass es sich um Einkommen des Klägers zu 1 handelt; soweit solches Einkommen ihm gegenüber die angefochtene Aufhebungsentscheidung trägt, bedurfte es einer zusätzlichen Anhörung durch den Beklagten dazu nicht, weil der Kläger zu 1 über diesen Zufluss in eigener Person Kenntnis hatte. Feststellungen dazu fehlen jedoch.

20

cc) Sollte das LSG zu dem Ergebnis kommen, dass der Beklagte unter keinem der genannten Gesichtspunkte von der Anhörung des Klägers zu 1 absehen konnte, ist jedenfalls die Heilung eines etwa bestehenden Anhörungsmangels im Widerspruchsverfahren gemäß § 41 Abs 1 Nr 3 iVm Abs 2 SGB X vorliegend nicht ersichtlich. Das Widerspruchsverfahren ersetzt die förmliche Anhörung, wenn den bis dahin nicht ausreichend angehörten Beteiligten Gelegenheit gegeben wird, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen sachgerecht zu äußern (vgl Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 41 RdNr 15 mwN). Das würde voraussetzen, dass dem Kläger zu 1 selbst Gelegenheit gegeben wurde, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern, was vorliegend nicht erkennbar ist.

21

Die Heilung eines etwaigen Anhörungsmangels über § 38 Abs 1 SGB II kann grundsätzlich ebenfalls nicht angenommen werden. Zwar wird die in der genannten Vorschrift geregelte Bevollmächtigung eines Leistungsberechtigten, Leistungen für die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen, dahingehend ausgelegt, dass diese vermutete Bevollmächtigung alle Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Anspruchs dienen (grundlegend BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 29). Zu diesen Verfahrenshandlungen zählt auch die Einlegung eines Widerspruchs (vgl dazu nur Link in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 38 RdNr 23 und 25), jedoch kann die angenommene Bevollmächtigung in § 38 Abs 1 SGB II sich nur auf die Vornahme im Grundsatz begünstigender Handlungen beziehen ("Leistungen … zu beantragen und entgegenzunehmen"). Im Hinblick auf das Widerspruchsverfahren ist durch § 38 Abs 1 SGB II daher grundsätzlich nur die Einlegung des Widerspruchs zur Verhinderung der Rechtskraft eines Bescheids gedeckt. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der Kläger zu 1 sich die Ausführungen der E. im Widerspruchsschreiben ausdrücklich zu eigen und deutlich gemacht hätte, dass das Vorbringen der E. auch in seinem Sinne umfassend und abschließend war und aus seiner Sicht Ergänzungen nicht notwendig waren.

22

3. Die angegriffenen Bescheide sind aber ungeachtet der Frage einer erforderlichen Anhörung insofern rechtmäßig, als das Erfordernis der ordnungsgemäßen Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gemäß § 37 SGB X als formelle Voraussetzung für das Wirksamwerden des Bescheids vorliegend gewahrt ist. Eine wirksame Bekanntgabe ist zu bejahen, wenn die Behörde willentlich dem Adressaten vom Inhalt des Verwaltungsakts Kenntnis verschafft und der Adressat zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat. Die Bekanntgabe setzt somit eine zielgerichtete Mitteilung des Verwaltungsakts durch die Behörde voraus (siehe nur Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 37 RdNr 3a, 9). Richtet sich ein Verwaltungsakt an mehrere Beteiligte oder sind mehrere von ihm betroffen, so wird er jedem Einzelnen gegenüber erst zu dem Zeitpunkt wirksam, zu dem er ihm bekannt gegeben wird (BSG Urteil vom 21.7.1988 - 7 RAr 51/86 - BSGE 64, 17, 22 = SozR 1200 § 54 Nr 13),wobei die Möglichkeit der Kenntnisnahme zwingend, aber auch ausreichend ist (vgl Engelmann, aaO, § 37 RdNr 4 und 9 mwN). Daraus folgt, dass weder die zufällige Kenntnisnahme der Beteiligten vom Inhalt des Verwaltungsakts, etwa durch Mitteilung seitens eines Dritten, noch durch eine spätere Akteneinsicht im Gerichtsverfahren für eine wirksame Bekanntgabe ausreichen (vgl BSG Urteil vom 14.4.2011 - B 8 SO 12/09 R - BSGE 108, 123 = SozR 4-3500 § 82 Nr 7, RdNr 12).

23

a) Die genannten Wirksamkeitsvoraussetzungen sind hinsichtlich der Klägerin zu 2 erfüllt. Selbst wenn man von einer gemeinschaftlichen Vertretungsberechtigung der minderjährigen Klägerin durch den Kläger zu 1 und ihre Mutter, der E., ausgeht, konnte die Bekanntgabe der streitgegenständlichen Bescheide in zulässiger Weise allein an E. erfolgen. Im Hinblick auf die Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber Minderjährigen hat der Senat unter Heranziehung des Zustellungsrechts des Bundes (§ 6 Abs 3 VwZG)bereits entschieden, dass die Bekanntgabe gegenüber einem gesetzlichen Vertreter genügt (BSG Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R - BSGE 102, 76 = SozR 4-4200 § 9 Nr 7, RdNr 21). Dass die Bekanntgabe an lediglich einen Elternteil ausreichend ist, wurde in der Folgezeit auch in einer weiteren Entscheidung des Senats bestätigt (BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 25).

24

b) Soweit von der Bekanntgabe andere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs 3 SGB II) betroffen sind, ergeben sich Besonderheiten, die auch für die Bekanntgabevoraussetzungen von Bedeutung sind. Vorliegend ist im Ergebnis von einer wirksamen Bekanntgabe auch gegenüber dem Kläger zu 1 auszugehen, auch wenn die Vermutungsregelung des § 38 SGB II für die Zurechnung von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden nicht greift.

25

aa) Nach § 38 Abs 1 Satz 1 SGB II wird vermutet, dass ein Leistungsberechtigter, der einen Antrag auf Leistungen stellt(§ 37 Abs 1 SGB II), bevollmächtigt ist, Leistungen nach dem SGB II auch für die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Daraus folgt, dass der auf Antrag eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten erteilte Bescheid diesem für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II bekannt gegeben werden kann. § 38 Abs 1 SGB II ist dahingehend auszulegen, dass die vermutete Bevollmächtigung alle Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Anspruchs dienen(vgl oben unter 2 b) cc)). Aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsprozessökonomie soll verhindert werden, dass die Verwaltung sich bei der Bewilligung von Leistungen trotz des Einzelanspruchs jedes Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft (stRspr seit BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 12) stets an jeden einzelnen wenden muss.

26

Die Grenze der Wirkung des § 38 Abs 1 SGB II wird aber bei Verwaltungsakten gesehen, die eine belastende Entscheidung beinhalten, insbesondere also bei Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden(vgl Link in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 38 RdNr 46; Kallert in Gagel, SGB II, 52. Ergänzungslieferung 2014, § 38 RdNr 19; Aubel in jurisPK-SGB II, 3. Aufl 2012, § 38 RdNr 31). Da § 38 Abs 1 SGB II nichts an der materiellen Leistungsberechtigung ändert, stellt die Frage, wem gegenüber die Aufhebung eines Bewilligungsbescheids in welchem Umfang erfolgen kann und von wem die Erstattung von zu Unrecht gewährten Leistungen verlangt werden kann, eine Frage des materiellen Rechts dar(s Aubel, aaO, § 38 RdNr 31). Daher muss grundsätzlich die Bekanntgabe eines inhaltlich auch an die übrigen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft gerichteten Aufhebungs- und Erstattungsbescheids gegenüber dem jeweils betroffenen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft erfolgen. Die Bekanntgabe gegenüber dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der die Leistungen beantragt hat, wirkt also nicht automatisch auch gegenüber den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft (es sei denn, es handelt sich um die minderjährigen Kinder des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, vgl oben 3a), denn der Vorschrift des § 38 SGB II kann die Vermutung für die Existenz einer generellen und uneingeschränkten Vollmacht nicht entnommen werden(Udsching/Link, Aufhebung von Leistungsbescheiden im SGB II, SGb 2007, 513, 516).

27

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass E. zwar für die gesamte Bedarfsgemeinschaft Leistungen beantragen und entgegennehmen sowie auch Widerspruch einlegen konnte. Soweit aber der streitgegenständliche Änderungsbescheid auch belastende Anteile enthielt und insoweit eine Aufhebung vorheriger Leistungsbewilligungen erfolgt ist, konnte eine Bekanntgabe ihr gegenüber nicht automatisch auch gegenüber den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft wirken, es sei denn, es handelte sich - wie bei der Klägerin zu 2 - um eines ihrer minderjährigen Kinder. Im Grundsatz mussten die Änderungsbescheide neben der E. auch dem Kläger zu 1 gesondert bekannt gegeben werden.

28

bb) Auch wenn § 38 SGB II für die Zurechnung von belastenden Verwaltungsakten im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich nicht gilt, schließt dies nicht aus, dass eine Bekanntgabe nach allgemeinen Grundsätzen erfolgen kann. Eine Bekanntgabe an ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, das nicht als Vertreter derselben nach § 38 SGB II auftritt, erfordert nach den oben dargestellten Voraussetzungen einen Bekanntgabewillen der Behörde ihm gegenüber sowie zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme dieses anderen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft von dem Verwaltungsakt. Der Bekanntgabewille der Behörde ist anzunehmen, wenn die Behörde zielgerichtet den Bescheid dem Regelungsadressaten über den vermuteten Vertreter nach § 38 SGB II als (vermeintlichen) Empfangsbevollmächtigten bekanntgibt und sich aus dem Inhalt des Bescheids eindeutig schließen lässt, wer Adressat und von der Entscheidung betroffen sein soll(Udsching/Link, Aufhebung von Leistungsbescheiden im SGB II, SGb 2007, 513, 516). Weitere Voraussetzung für eine Bekanntgabe ist, dass das von der Regelung betroffene Mitglied der Bedarfsgemeinschaft die Möglichkeit der Kenntnisnahme dadurch erlangt hat, dass der Verwaltungsakt so in seinen Machtbereich gelangt ist, dass es von dem Schriftstück Kenntnis nehmen und diese Kenntnisnahme nach den allgemeinen Gepflogenheiten auch von ihm erwartet werden kann (so bereits Bundesverwaltungsgericht , Urteil vom 11.5.1960 - V C 320.58 -, BVerwGE 10, 293; Fortführung in Beschluss vom 22.2.1994 - 4 B 212/93 -; vgl auch Bundesfinanzhof , Urteil vom 9.12.1999 - III R 37/97 -, BFHE 190, 292; s dazu Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 37 RdNr 4 ff mwN). Dann liegt kein Fall einer unwirksamen zufälligen Kenntnisnahme vor. Erst recht gilt der Zugang als erfolgt, wenn er tatsächlich stattgefunden hat.

29

Dem Kläger zu 1 sind die Änderungsbescheide nach den vorgenannten Grundsätzen bekannt gegeben worden. Zum einen ist der Wille des Beklagten, die geänderten Leistungsbescheide über die E. auch zielgerichtet dem Kläger zu 1 bekannt geben zu wollen, daraus ersichtlich, dass bereits im Verfügungssatz alle Adressaten mit Namen und Geburtsdaten aufgeführt sind, sodass es keine Zweifel geben kann, wer inhaltlich von der Entscheidung betroffen sein sollte. Eine Bekanntgabe ist im Übrigen - offenkundig durch die Weiterleitung durch die E. - gegenüber dem Kläger zu 1 jedenfalls spätestens zu dem Zeitpunkt erfolgt, zu dem er seinen Rechtsanwalt konsultierte und nach den Feststellungen des LSG die hier in Streit stehenden Änderungsbescheide Gegenstand der Unterredung gewesen sind, die schließlich in die Beauftragung zur Führung des vorliegenden Rechtsstreits mündete. Aufgrund dieser wirksamen Bekanntgabe der umstrittenen Bescheide auch gegenüber dem Kläger zu 1 kann es vorliegend dahingestellt bleiben, ob und in welcher Weise eine Heilung eines etwaigen Bekanntgabemangels erfolgen kann (vgl dazu Udsching/Link, Aufhebung von Leistungsbescheiden im SGB II, in SGb 2007, 513 ff).

30

4. Der angefochtene Änderungsbescheid ist auch inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs 1 SGB X). Das Bestimmtheitserfordernis bezieht sich sowohl auf den Verfügungssatz (BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 2/09 R - SozR 4-5910 § 92c Nr 1 RdNr 11) als auch auf den Adressaten eines Verwaltungsakts (BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 154/11 R - SozR 4-1300 § 33 Nr 1 RdNr 16). Es verlangt, dass der Verfügungssatz eines Verwaltungsakts nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzt, sein Verhalten daran auszurichten (näher BSG Urteil vom 17.12.2009 - B 4 AS 20/09 R - BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13 mwN). Zur Erfüllung der genannten Voraussetzungen genügt es, wenn aus dem gesamten Inhalt eines Bescheids einschließlich der von der Behörde gegebenen Begründung hinreichende Klarheit über die Regelung gewonnen werden kann. Ausreichende Klarheit besteht selbst dann, wenn zur Auslegung des Verfügungssatzes auf die Begründung des Verwaltungsakts, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlagen zurückgegriffen werden muss (BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 26).

31

a) Das Bestimmtheitserfordernis hinsichtlich des Adressaten der Verwaltungsakte ist hier gewahrt. Den jeweiligen Änderungsbescheiden lässt sich eindeutig entnehmen, welche Adressaten betroffen sind. Dafür ist nicht nur das Adressfeld maßgeblich, in dem die E. genannt wird, sondern die Bestimmung des oder der Adressaten kann sowohl durch den Text im Verfügungssatz als auch durch die Begründung des angefochtenen Bescheids erfolgen (so BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 154/11 R - SozR 4-1300 § 33 Nr 1 RdNr 17). Vorliegend ergibt sich - wie ausgeführt - bereits aus dem Verfügungssatz, dass neben der E. der Kläger zu 1, die Klägerin zu 2 und die zweite Tochter, die frühere Klägerin zu 3, von den Bescheiden betroffen und damit Adressaten dieser sind.

32

b) Ebenso ergeben sich keine Bedenken gegen die Bestimmtheit der Verfügungssätze in dem Änderungsbescheid, weil sich daraus und aus den vorangegangenen Änderungsbescheiden klar und unzweideutig erkennen lässt, dass sämtliche Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft angesprochen und mit Ausnahme der früheren Klägerin zu 3 ihnen gegenüber Leistungsbewilligungen teilweise aufgehoben werden. Nicht nur sind alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft bereits im Verfügungssatz namentlich benannt, vielmehr werden auch die eingetretenen Änderungen jeweils in bestimmter, zahlenmäßig benannter Höhe geregelt. Aus der gegebenen Begründung war für die Empfänger ohne Weiteres zu erkennen, dass Einkommen angerechnet wurde und sich damit der monatliche individuelle Leistungsanspruch auf einen konkreten Betrag verringerte. Es kommt insoweit nach den dargelegten Grundsätzen nicht allein auf die Überschrift "Änderung" an, sondern auf den Gesamtzusammenhang der Änderungsbescheide mit Bezug auf die ursprüngliche Leistungsbewilligung vom 17.10.2005 und den Änderungsbescheid vom 17.11.2005 sowie auf die in den Änderungsbescheiden vom 3.5.2006, vom 21.9.2006 und vom 29.3.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.5.2007 gegebene Begründung und durchgeführte Berechnung. Insoweit ist auch der allgemeine Hinweis dahingehend, dass für den Fall, dass Leistungen zu Unrecht erbracht worden seien, noch geprüft werde, inwieweit diese zurückzuzahlen seien, nicht zu beanstanden. Damit wird lediglich angekündigt, dass ggf noch ein Erstattungsbescheid folgen wird, dessen Rechtmäßigkeit dann wiederum gesondert zu prüfen ist.

33

5. Ob der Änderungsbescheid vom 29.3.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.5.2007 im Übrigen materiell-rechtlich rechtmäßig ist, kann mangels weiterer Feststellungen zu den Ansprüchen der Kläger, insbesondere der Feststellung der Bedarfe und der Frage, ob und ggf bei wem Einkommen oder Vermögen zu berücksichtigen ist, nicht beurteilt werden, weil das LSG seine Prüfung allein auf die formelle Rechtmäßigkeit beschränkt und aus seiner Sicht folgerichtig zu den materiellen Voraussetzungen eines Leistungsanspruchs nichts ausgeführt hat.

34

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 13. Januar 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte den Klägern weitere Rechtsanwaltsgebühren im Rahmen eines isolierten Vorverfahrens unter Berücksichtigung einer Erhöhungsgebühr nach Nr 1008 der Anlage 1 Vergütungsverzeichnis (VV) zum Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (RVG) zu erstatten hat.

2

Die Kläger, im Einzelnen die im Jahre 1972 geborene Klägerin zu 1, der im Jahre 1967 geborene Kläger zu 2 sowie die mit ihnen zusammenlebenden Kinder als Kläger zu 3 bis 7, beziehen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Der Beklagte bewilligte ihnen Alg II bzw Sozialgeld ua für die Monate Mai bis November 2005. Die Leistungshöhe änderte er mehrfach, ohne den jeweils vorhergehenden Bescheid insoweit aufzuheben. Dem hierauf bezogenen Widerspruch vom 26.10.2005 gab er in vollem Umfang statt und er verpflichtete sich zudem, die in dem vorangegangenen Widerspruchsverfahren zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Kosten auf Antrag zu erstatten, soweit diese notwendig und nachgewiesen seien (Bescheid vom 2.1.2007).

3

Der von der Klägerin zu 1 im Widerspruchsverfahren bevollmächtigte Rechtsanwalt erklärte das Widerspruchsverfahren für erledigt und machte mit der Kostenrechnung vom 2.4.2007 die Übernahme von Anwaltskosten in Höhe von insgesamt 680,68 Euro geltend. Der Betrag setzte sich wie folgt zusammen:

Geschäftsgebühr nach Nr 2500 VV RVG

240,00 Euro

Erhöhung für mehrere Auftraggeber nach Nr 1008 VV RVG

288,00 Euro

Auslagenpauschale

20,00 Euro

Dokumentenpauschale (48 Kopien à 0,50 Euro)

24,00 Euro

Zwischensumme

572,00 Euro

19 % Umsatzsteuer nach Nr 7008 VV RVG

108,68 Euro

Gesamtsumme

680,68 Euro

4

Der Beklagte setzte die zu erstattenden Gebühren und Auslagen auf 337,96 Euro fest. Die Erhöhungsgebühr für mehrere Auftraggeber berücksichtigte er nicht (Bescheid vom 24.5.2007; Widerspruchsbescheid vom 12.6.2007).

5

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des SG Gotha vom 22.10.2007; Urteil des Thüringer LSG vom 13.1.2010). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Erhöhungsgebühr für mehrere Auftraggeber gehöre nicht zu den zweckentsprechenden Kosten des Widerspruchsverfahrens, weil bereits zivilrechtlich ein solcher Anspruch des Bevollmächtigen gegenüber weiteren Personen neben der Klägerin zu 1 nicht entstanden sei. Der Vergütungsanspruch setze ein Vertragsverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Auftraggeber voraus, für das die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs gelten würden. Vergütungsansprüche könnten auch ohne Vertragsschluss zB aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder aus ungerechtfertigter Bereicherung entstehen. Zwischen dem Prozessbevollmächtigten und allen (anderen) Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft sei - auch ohne Vertragsschluss - für das Widerspruchsverfahren kein Vergütungsanspruch entstanden, weil nicht die Bedarfsgemeinschaft, sondern nur die Klägerin zu 1 aufgetreten und auch nur diese anwaltlich vertreten worden sei. Insofern könne für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auch kein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag angenommen werden. Dies erfordere, dass die Geschäfte für Andere wahrgenommen werden sollten. Dies sei hier nicht der Fall, weil der Anwalt nur die Geschäfte für die Klägerin zu 1 (und dies in deren Auftrag) nach außen erkennbar wahrgenommen habe und habe wahrnehmen wollen. In der zur Stützung des Klagebegehrens in Bezug genommenen Entscheidung des BSG vom 7.11.2006 (B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 24) habe sich das Gericht lediglich zur prozessrechtlichen Stellung der Bedarfsgemeinschaft bzw deren einzelner Mitglieder, die allein tätig geworden seien, geäußert. Hier gehe es jedoch nicht um die prozessuale Situation, sondern um die Frage, wer im Rahmen des Mandatsverhältnisses zivilrechtlicher Vertragspartner (Auftraggeber) des Anwaltsvertrags sei. Der Grundsatz der Meistbegünstigung, der den (prozessualen) Anspruch des Einzelnen für eine Zeit der ungewissen Rechtslage wahren solle, greife nicht im Zusammenhang mit der (zusätzlichen) Kostenentstehung durch anwaltliche Vertretung.

6

Mit ihrer Revision rügen die Kläger eine Verletzung von § 38 SGB II sowie der Nr 1008 VV RVG. Soweit das LSG meine, die Gebührenerhöhung nach der Nr 1008 VV RVG greife nicht, weil die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft keine Auftraggeber des Rechtsanwalts geworden seien, stünden diese Ausführungen im Widerspruch zur amtlichen Begründung zum RVG. Hiernach komme es nicht darauf an, ob gegenüber dem Anwalt eine oder mehrere Personen aufträten. Im Übrigen sei § 38 SGB II nach der Rechtsprechung des BSG weit auszulegen. In seinem Urteil vom 7.11.2006 (B 7 AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1) habe der 7. Senat des BSG ausgeführt, dass der vermutete Vertreter aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nicht nur zur Antragstellung und Entgegennahme der Leistungen bevollmächtigt sei, sondern darüber hinaus alle Verfahrenshandlungen umfasst würden, die hiermit zusammenhingen und der Verfolgung des Antrags dienten. Dies betreffe auch die Einlegung eines Widerspruchs. Daneben sei der Vertreter der Bedarfsgemeinschaft berechtigt, für deren Mitglieder einen Prozessbevollmächtigten zu beauftragen. Auch hier sei davon auszugehen, dass die Klägerin den Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung der Interessen der gesamten Bedarfsgemeinschaft habe beauftragen wollen. Entsprechend habe dieser zu den Ansprüchen sämtlicher Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft vorgetragen. Die Vermutung der Bevollmächtigung schließe die Beauftragung des Bevollmächtigten mit der Vertretung der gesamten Bedarfsgemeinschaft ein.

7

Die Kläger beantragen,
die Urteile des Thüringer Landessozialgerichts vom 13. Januar 2010 und des Sozialgerichts Gotha vom 22. Oktober 2007 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 24. Mai 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 2007 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Widerspruchsverfahrens in Höhe von insgesamt 680,68 Euro abzüglich gezahlter 337,96 Euro zu erstatten.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er bezieht sich auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Feststellungen des LSG lassen keine abschließende Entscheidung des Senats darüber zu, ob die Kläger einen Anspruch auf Erstattung höherer Rechtsanwaltskosten haben.

11

1. Die Revision ist zulässig. Wird - wie hier in der Hauptsache - über die Kosten eines isolierten Vorverfahrens (§§ 78 ff SGG) gestritten, handelt es sich nicht um die Kosten des Verfahrens iS von § 144 Abs 4 SGG iVm § 165 Satz 1 SGG, bei denen Berufung und Revision nicht statthaft sind(BSG Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 83/08 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 11, RdNr 11; Urteil des Senats vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R - BSGE 104, 30 ff = SozR 4-1935 § 14 Nr 2, jeweils RdNr 9).

12

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 24.5.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.6.2007, mit dem der Beklagte die Rechtsanwaltsgebühren für das Vorverfahren festgesetzt hat. Gegen diese Bescheide wenden sich die Kläger mit ihrem Begehren auf Erstattung höherer Gebühren für das Vorverfahren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage. Eine Konstellation, in welcher es einer Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) bedarf, weil es schon an einer Entscheidung des Rechtsträgers darüber fehlt, ob die Zuziehung eines Bevollmächtigen überhaupt notwendig war (BSG Urteil vom 27.1.2009 - B 7/7a AL 20/07 R - SozR 4-1935 § 14 Nr 1, RdNr 9), liegt hier nicht vor (siehe hierzu unter 2).

13

2. Rechtsgrundlage für einen Anspruch der Kläger auf Erstattung ihrer Aufwendungen ist § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X. Hiernach hat, soweit der Widerspruch erfolgreich ist, der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Nach § 63 Abs 2 SGB X sind die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts im Vorverfahren erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. Gemäß § 63 Abs 3 Satz 1 Halbs 1 SGB X setzt die Behörde, die die Kostenentscheidung getroffen hat, auf Antrag den Betrag der zu erstattenden Aufwendungen fest.

14

Mit dem Abhilfebescheid vom 2.1.2007 hat der Beklagte die Kosten des Vorverfahrens dem Grunde nach anerkannt (vgl § 63 Abs 1 Satz 1, Abs 2, Abs 3 Satz 1 SGB X). Auch hat er mit der Erstattung der Gebühren und Auslagen in Höhe von 337,96 Euro mit dem angefochtenen Bescheid vom 24.5.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.6.2007 konkludent entschieden, dass die Zuziehung eines Rechtsanwalts iS von § 63 Abs 2, Abs 3 Satz 2 SGB X notwendig war(vgl BSG Urteil vom 9.12.2010 - B 13 R 63/09 R, Juris RdNr 18; BSG Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 83/08 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 11, RdNr 13). Die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG haben auch bereits ausgeführt, dass es der Einholung eines Gutachtens des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer über die Höhe der Gebühr nach § 14 Abs 2 RVG in der Fassung von Art 3 des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (Kostenrechtsmodernisierungsgesetz) vom 5.5.2004 (BGBl I 718; in Kraft getreten am 1.7.2004) hier nicht bedarf, weil diese Regelung nur im Rechtsstreit zwischen Mandant und Rechtsanwalt, nicht hingegen im Prozess zwischen dem Gebührenschuldner, hier den Klägern, und dem Erstattungspflichtigen, hier dem beklagten Grundsicherungsträger, anwendbar ist (BSG Urteil vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R - BSGE 104, 30 ff = SozR 4-1935 § 14 Nr 2, jeweils RdNr 13; BSG Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 83/08 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 11, RdNr 14).

15

3. Gebühren und Auslagen iS von § 63 Abs 2 SGB X sind die gesetzlichen Gebühren(BSGE 78, 159 = SozR 3-1300 § 63 Nr 7 S 25 f). Aufwendungen der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung sind grundsätzlich auch die Gebühren und Auslagen, die ein Rechtsanwalt seinem Mandanten, hier den Klägern, in Rechnung stellt. Die Vergütung bemisst sich seit dem 1.7.2004 nach dem RVG (§ 1 Abs 1 Satz 1 RVG) sowie dem Vergütungsverzeichnis der Anlage 1 zum RVG (§ 2 Abs 2 Satz 1 RVG),hier in der vom 1.7.2004 bis 30.6.2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (Art 5 Abs 1 Nr 4 Buchst b und Art 8 Satz 1 KostRMoG vom 5.5.2004, BGBl I 718). Nach den Feststellungen des LSG ist der Auftrag zur Vertretung der Kläger spätestens mit dem Widerspruchsverfahren im Oktober 2005 erteilt worden (§ 60 Abs 1 RVG).

16

§ 3 RVG sieht vor, dass in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen - wie hier - das Gerichtskostengesetz nicht anzuwenden ist, Betragsrahmengebühren entstehen(Abs 1 Satz 1). Dies gilt entsprechend für eine Tätigkeit außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens (Abs 2). Nach dem eigenständigen Gebührentatbestand für sozialrechtliche Angelegenheiten erhält der Rechtsanwalt für die Vertretung im Verwaltungsverfahren in bestimmten sozialrechtlichen Angelegenheiten ua eine Geschäftsgebühr. Rechtsgrundlage der Geschäftsgebühr ist Nr 2500 VV RVG in der bis zum 30.6.2005 geltenden Fassung (aF) iVm § 14 RVG. Nach § 14 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Nr 2500 VV RVG aF umfasst einen Betragsrahmen von 40 Euro bis 520 Euro. Eine Gebühr von mehr als 240 Euro kann nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war (sog Schwellengebühr). Wird der Rechtsanwalt in derselben Angelegenheit für mehrere Auftraggeber tätig, erhält er die Gebühren nur einmal (§ 7 Abs 1 RVG). Hierzu bestimmt Nr 1008 VV RVG, dass sich die Geschäfts- oder Verfahrensgebühr bei einer Mehrheit von Auftraggebern (§ 7 RVG) erhöht, bei Betragsrahmengebühren der Mindest- und Höchstbetrag um 30% für jede weitere Person, wenn Auftraggeber in derselben Angelegenheit mehrere Personen sind. Bei Betragsrahmengebühren dürfen die Erhöhungen das Doppelte des Mindest- und Höchstbetrags nicht überschreiten (Nr 1008 <3> VV RVG). Entsprechend erhöht sich auch die Schwellengebühr nach der Zahl der Auftraggeber um jeweils 30% bis maximal zum Doppelten des Ausgangsbetrages (BSG Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 83/08 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 11, RdNr 20; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 18. Aufl 2008, Nr 1008 VV RVG RdNr 242; Dinkat in Mayer/Kroiß, RVG, 2. Aufl 2006, Nr 1008 VV RVG RdNr 8).

17

Hier kann sich ein Anspruch der Kläger auf höhere Rechtsanwaltsgebühren insbesondere daraus ergeben, dass diese eine weitere Kostenerstattung in Gestalt einer oder mehrerer Erhöhungen nach Nr 1008 VV RVG beanspruchen können (4). In welchem Umfang sich die Zuerkennung von Erhöhungsgebühren auf die Höhe der insgesamt zu erstattenden Rechtsanwaltskosten auswirkt, hängt allerdings auch davon ab, in welcher Höhe die Geschäftsgebühr nach Nr 2500 VV RVG festzusetzen ist (5). Der von dem Beklagten mit dem Bescheid vom 24.5.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.6.2007 zuerkannte Gesamtbetrag in Höhe von 337,96 Euro darf allerdings nicht unterschritten werden.

18

4. Ob der bevollmächtigte Rechtsanwalt - wie für eine Erhöhungsgebühr nach Nr 1008 VV RVG erforderlich - vorliegend für einen (allein die Klägerin) oder mehrere Auftraggeber (auch die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft) gehandelt hat, lässt sich anhand der Ausführungen des LSG nicht feststellen.

19

Zwar enthält das Urteil des LSG insofern die Feststellung, dass im Widerspruchsverfahren nicht die Bedarfsgemeinschaft, sondern nur die Klägerin zu 1 aufgetreten und auch nur diese anwaltlich vertreten worden sei. Auch hat das Berufungsgericht angenommen, es bestehe für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft kein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag, weil "der Anwalt nur die Geschäfte für die Klägerin zu 1 (und dies in deren Auftrag) nach außen erkennbar wahrgenommen habe und auch habe wahrnehmen wollen".

20

Insofern geht das LSG jedoch von unzutreffenden rechtlichen Maßstäben zu den Voraussetzungen des Erhöhungstatbestands der Nr 1008 VV RVG aus, weil es wesentlich darauf abstellt, dass nur die Klägerin (direkte) Vertragspartnerin gewesen sei. Vertragspartner und Auftraggeber iS der Nr 1008 VV RVG können jedoch auch unterschiedliche Personen sein (BGH Rechtspfleger 1987, 387; Hartmann, Kostengesetze, 40. Aufl 2010, § 7 RVG RdNr 4; Schnapp in Schneider/Wolf, Anwaltskommentar RVG, RVG VV 1008, 5. Aufl 2010, RdNr 8). Eine Mehrheit von Auftraggebern liegt nach dem weiten Anwendungsbereich dieser Regelung bereits dann vor, wenn derselbe Rechtsanwalt für verschiedene natürliche Personen tätig wird. Es kommt insoweit nicht darauf an, wer persönlich dem Anwalt den Auftrag erteilt hat (BT-Drucks 15/1971 S 205; Schnapp in Schneider/Wolf, Anwaltskommentar RVG, 5. Aufl 2010, Nr 1008 VV RVG, RdNr 7). Auch dann, wenn nur eine Person für eine von ihr vertretene Personenmehrheit Auftraggeber des Anwalts ist und mit diesem den Anwaltsvertrag abschließt, kann Nr 1008 VV RVG Anwendung finden (Teubel in Mayer/Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 2. Aufl 2006, § 7 RVG RdNr 4; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl 2010 VV RVG 1008, RdNr 38; Schnapp in Schneider/Wolf, Anwaltskommentar RVG, 5. Aufl 2010 VV RVG 1008, RdNr 6).

21

Vor diesem Hintergrund ist die Feststellung des LSG, dass der Anwalt "nur die Geschäfte für die Klägerin zu 1 wahrgenommen habe", nicht ausreichend für die Annahme, dass tatsächlich keine Auftraggeber- bzw Personenmehrheit in Gestalt weiterer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft iS der Nr 1008 VV RVG gegeben war. In dem Urteil des LSG finden sich keine Ausführungen dazu, welchen Inhalts "die Geschäfte" der Klägerin waren. Es ist noch näher zu ermitteln, ob sie neben ihrem eigenen Anspruch auch Ansprüche (weiterer) Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft verfolgt hat. Insofern ist § 38 SGB II zu berücksichtigen, der die Vertretung mehrerer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft als Vertretungsvermutung "vermittelt".

22

Zwar sind die Ansprüche nach dem SGB II Individualansprüche der einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 ff = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 13). Nach § 38 SGB II wird jedoch vermutet, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen(Satz 1). Leben mehrere erwerbsfähige Hilfebedürftige in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten desjenigen, der die Leistungen beantragt (Satz 2). Die Vermutung erfasst alle Verfahrenshandlungen, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Anspruchs dienen, mithin auch die Einlegung eines Widerspruchs (BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 29; BSG Urteil vom 2.7.2009 - B 14 AS 54/08 R - BSGE 104, 48 = SozR 4-1500 § 71 Nr 2, jeweils RdNr 22; Aubel in JurisPK-SGB II, 3. Aufl 2011, § 38 SGB II RdNr 30). Neben der Verfolgung ihres Einzelanspruchs könnte die Vertretung der Individualansprüche (weiterer) Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft also durchaus Gegenstand der "Geschäfte" der Klägerin gewesen sein. Die Konstellation einer Bedarfsgemeinschaft kann eine Erhöhungsgebühr nach Nr 1008 VV RVG auslösen (BSG Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 83/08 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 11, RdNr 21; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl 2010, Nr 1008 VV RVG RdNr 60; Enders in Hartung/Schons/Enders, RVG, 2011, Nr 1008 VV, RdNr 25; LSG Mecklenburg-Vorpommern Urteil vom 29.11.2007 - L 8 AS 39/06 - AGS 2008, 286 f).

23

Auch wenn nicht für alle Fallkonstellationen anzunehmen ist, dass bei einer Bedarfsgemeinschaft die Zahl deren Mitglieder stets die Zahl der Auftraggeber bzw der vertretenen Personen widerspiegelt, muss wegen der Vertretungsvermutung der Bedarfsgemeinschaft in einer Fallgestaltung wie der vorliegenden ausdrücklich festgestellt werden, ob das (Widerspruchs-) Vorbringen des Bevollmächtigen im Auftrag der allein gegenüber ihm auftretenden Klägerin (nur) ihren Individualanspruch oder die Ansprüche weiterer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zum Gegenstand hatte. Insofern ist auch zu berücksichtigen, dass in der Anfangszeit des SGB II durch die Formulierungen der Bewilligungsbescheide der Eindruck erweckt wurde, es müsse sich nur derjenige wehren, an den sich der Bescheid formal gerichtet hat, obwohl von dem Bewilligungsbescheid auch die Ansprüche weiterer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erfasst sind (vgl BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 26).

24

5. Sowohl für den Umfang des Erhöhungsbetrags im Falle der Feststellung einer Personenmehrheit iS der Nr 1008 VV RVG als auch des Gesamtbetrags der - über den anerkannten Betrag in Höhe von 337,96 Euro hinaus - zu erstattenden Rechtsanwaltsgebühren sind weitere Feststellungen zur Geschäftsgebühr erforderlich. Im Rahmen der Bestimmung des Umfangs des Erhöhungstatbestandes der Nr 1008 VV RVG ist die Höhe der diesem zu Grunde zu legenden Geschäftsgebühr von Amts wegen zu prüfen (vgl Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 18. Aufl 2008, Nr 1008 VV RVG RdNr 242; Dinkat in Mayer/Kroiß, RVG, 2. Aufl 2006, Nr 1008 VV RVG RdNr 8).

25

Feststellungen, die es ermöglichen, die Höhe der Geschäftsgebühr zu beurteilen, fehlen in der Entscheidung des LSG. Innerhalb des oben dargelegten Gebührenrahmens der Nr 2500 VV RVG (s unter 2) bestimmt der Rechtsanwalt die Rahmengebühr in sozialrechtlichen Angelegenheiten im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Auftraggeber nach billigem Ermessen (§ 14 Abs 1 Satz 1 RVG). Dem Rechtsanwalt ist ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist(vgl hierzu näher BSG Urteil vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R - BSGE 104, 30 = SozR 4-1935 § 14 Nr 2, jeweils RdNr 19). Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs 1 Satz 4 RVG). Sämtliche, nicht abschließend genannten Kriterien des § 14 Abs 1 Satz 1 RVG stehen dabei selbstständig und gleichwertig nebeneinander. Bei der Bestimmung der konkreten Gebühr ist diese zunächst ausgehend von der Mittelgebühr festzulegen und ggf eine Kappung in Höhe des Betrags der Schwellengebühr vorzunehmen (BSG Urteil vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R - BSGE 104, 30 ff = SozR 4-1935 § 14 Nr 2, jeweils RdNr 26; BSG Urteil vom 5.5.2010 - B 11 AL 14/09 R - AGS 2011, 27 ff, RdNr 16).

26

Das LSG wird daher ggf Feststellungen zum Umfang und zur Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie zur Bedeutung der Angelegenheit für die Kläger, zum Gegenstand des Vorverfahrens (welche Bescheide angefochten sind und welchen Inhalt diese hatten) und den sich - nach dem Widerspruchsvorbringen - stellenden rechtlichen und tatsächlichen Problemen, zur Person der Vertretenen und der Zahl sowie dem Umfang der Schriftsätze des Rechtsanwalts im Widerspruchsverfahren im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu treffen haben (vgl hierzu zB Urteil des Senats vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R - BSGE 104, 30 = SozR 4-1935 § 14 Nr 2).

27

Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs dürfen nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

(1) Ein Verwaltungsakt ist demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden.

(2) Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Ein Verwaltungsakt, der im Inland oder Ausland elektronisch übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

(2a) Mit Einwilligung des Beteiligten können elektronische Verwaltungsakte bekannt gegeben werden, indem sie dem Beteiligten zum Abruf über öffentlich zugängliche Netze bereitgestellt werden. Die Einwilligung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Die Behörde hat zu gewährleisten, dass der Abruf nur nach Authentifizierung der berechtigten Person möglich ist und der elektronische Verwaltungsakt von ihr gespeichert werden kann. Ein zum Abruf bereitgestellter Verwaltungsakt gilt am dritten Tag nach Absendung der elektronischen Benachrichtigung über die Bereitstellung des Verwaltungsaktes an die abrufberechtigte Person als bekannt gegeben. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang der Benachrichtigung nachzuweisen. Kann die Behörde den von der abrufberechtigten Person bestrittenen Zugang der Benachrichtigung nicht nachweisen, gilt der Verwaltungsakt an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die abrufberechtigte Person den Verwaltungsakt abgerufen hat. Das Gleiche gilt, wenn die abrufberechtigte Person unwiderlegbar vorträgt, die Benachrichtigung nicht innerhalb von drei Tagen nach der Absendung erhalten zu haben. Die Möglichkeit einer erneuten Bereitstellung zum Abruf oder der Bekanntgabe auf andere Weise bleibt unberührt.

(2b) In Angelegenheiten nach dem Abschnitt 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes gilt abweichend von Absatz 2a für die Bekanntgabe von elektronischen Verwaltungsakten § 9 des Onlinezugangsgesetzes.

(3) Ein Verwaltungsakt darf öffentlich bekannt gegeben werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Eine Allgemeinverfügung darf auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist.

(4) Die öffentliche Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsaktes wird dadurch bewirkt, dass sein verfügender Teil in der jeweils vorgeschriebenen Weise entweder ortsüblich oder in der sonst für amtliche Veröffentlichungen vorgeschriebenen Art bekannt gemacht wird. In der Bekanntmachung ist anzugeben, wo der Verwaltungsakt und seine Begründung eingesehen werden können. Der Verwaltungsakt gilt zwei Wochen nach der Bekanntmachung als bekannt gegeben. In einer Allgemeinverfügung kann ein hiervon abweichender Tag, jedoch frühestens der auf die Bekanntmachung folgende Tag bestimmt werden.

(5) Vorschriften über die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes mittels Zustellung bleiben unberührt.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

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Tenor

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.

2. Dem Bundesverfassungsgericht werden folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

a) Ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

b) Ist § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917), mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

Tatbestand

1

Die Kläger begehren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab dem 01.11.2015.

2

Der am …..geborene Kläger zu 1 ist usbekischer Staatsangehöriger und lebt seit mehreren Jahren in Deutschland. Er ist mit der am ……. geborenen Klägerin zu 2 verheiratet und beide sind Eltern der am …… in Deutschland geborenen Klägerin zu 3. Auch die Klägerinnen zu 2 und 3 sind usbekische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1 lebt seit dem Jahr 2006 in Deutschland, die Klägerin zu 2 seit 2011, die Klägerin zu 3 seit ihrer Geburt.

3

Der Kläger zu 1 hat von Oktober 2007 bis November 2015 ein Studium der Humanmedizin an der Universität ….. absolviert und das Studium am 18.11.2015 mit dem mündlich-praktischen Teil der Ärztlichen Prüfung (§ 30 der Approbationsordnung für Ärzte) abgeschlossen. Die Exmatrikulation erfolgte am 14.12.2015. Er verfügte während des Studiums über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und übte neben dem Studium verschiedene Erwerbstätigkeiten aus.

4

Unter dem 06.10.2011 hatte Frau …….. sich in einer Verpflichtungserklärung gemäß § 68 Abs. 1 AufenthG gegenüber der beigeladenen Stadt …. dazu verpflichtet, die Kosten für den Lebensunterhalt des Klägers zu 1 für die Dauer seines tatsächlichen Aufenthaltes zu tragen.

5

Der Kläger zu 1 ist bereits seit mehreren Jahren mit wechselnden Arbeitsverträgen beim ….Klinikum in …… im dortigen Schlaflabor in Teilzeit beschäftigt. Die Auszahlung des Nettolohnes erfolgt hierbei jeweils im Folgemonat. Der Kläger zu 1 erzielt hierbei schwankendes Einkommen auf Grundlage eines Stundenlohnes von derzeit 11,68 Euro im Umfang von derzeit regelmäßig 3,90 Wochenstunden. Der zuletzt gültige Arbeitsvertrag vom 27.11.2013 war auf den 31.12.2015 befristet. Durch Änderung des Vertrags zum 15.12.2015 wurde der Vertrag entfristet, so dass der Kläger zu 1 nunmehr in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis steht.

6

Seit dem 24.11.2015 verfügt der Kläger zu 1 über eine von der mit Beschluss vom 04.03.2016 gemäß §§ 75 Abs. 2, 106 Abs. 3 Nr. 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladenen Stadt ….. erteilte Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche nach dem Studium nach § 16 Abs. 4 AufenthG. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist ihm gestattet. Der Aufenthaltstitel ist bis zum 22.05.2017 befristet. Die Klägerin zu 2 verfügt seit dem 24.11.2015, ebenfalls befristet bis zum 22.05.2017, über eine Aufenthaltserlaubnis wegen Ehegattennachzugs nach § 30 AufenthG. Auch ihr ist eine Erwerbstätigkeit erlaubt. Die Klägerin zu 3 besitzt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG wegen ihrer Geburt im Bundesgebiet.

7

Die Kläger wohnen seit dem 01.06.2015 gemeinsam in einer 41 m² großen Wohnung zur Miete. Mietvertragspartner sind auf Mieterseite sowohl der Kläger zu 1 als auch die Klägerin zu 2. Für die Überlassung der Wohnung haben die Kläger zu 1 und 2 eine monatliche Bruttowarmmiete in Höhe von 450 Euro zu entrichten.

8

Mit Bescheid vom 22.09.2015 hatte die Familienkasse ……. der Klägerin zu 2 Kindergeld für die Klägerin zu 3 in Höhe von 188 Euro monatlich ab April 2015, befristet bis August 2032 bewilligt.

9

Mit Bescheid ebenfalls vom 22.09.2015 hatte die Beigeladene der Klägerin zu 2 Elterngeld für die Betreuung und Erziehung der Klägerin zu 3 auf Grund eines Antrags vom 08.09.2015 für den Zeitraum vom 14.05.2015 bis zum 13.10.2015 in Höhe von insgesamt 1.500 Euro bewilligt. Als Zahltermin für den Gesamtbetrag wurde der 01.10.2015 festgesetzt.

10

Am 26.11.2015 beantragten die Kläger anlässlich einer persönlichen Vorsprache des Klägers zu 1 beim Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

11

Im Antragsformular gab der Kläger zu 1 am 07.12.2015 an, über Bargeld in Höhe von ca. 1.500 Euro zu verfügen. Die Existenz von sämtlichen abgefragten weiteren Vermögenswerten verneinte er. Die Kläger gaben darüber hinaus an, dass die Klägerin zu 2 über Einkommen in Form des Kindergelds für die Klägerin zu 3 in Höhe von 188 Euro monatlich verfüge. Weitere Einnahmen wurden nicht angegeben.

12

Der Kläger zu 1 verfügt über ein Girokonto bei der ….. Bank (Kontonummer ……). Das Konto wies am 30.10.2015 einen positiven Saldo von 3.510,83 Euro auf, der bis zur nächsten Abbuchung am 02.11.2015 Bestand hatte. Am 28.10.2015 hatte der Kläger zu 1 eine Überweisung in Höhe von 3.257 Euro von Herrn ……. erhalten. Am 29.10.2015 war dem Kläger eine Vergütung von 1.050,71 Euro aus seiner Erwerbstätigkeit ausgezahlt worden. Am gleichen Tag erfolgte eine weitere Zahlung des Arbeitgebers in Höhe von 144,52 Euro. Am 30.10.2015 hatte der Kläger zu 1 einen Betrag von 1.000 Euro auf das Girokonto der Klägerin zu 2 überwiesen.

13

Die Klägerin zu 2 verfügt ebenfalls über ein Girokonto bei der Deutschen Bank (Kontonummer ………). Das Konto wies am 31.10.2015 einen positiven Saldo von 1.183,32 Euro auf, der bis zur nächsten Abbuchung am 02.11.2015 Bestand hatte. Am 28.09.2015 hatte die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit der Klägerin zu 2 einen Betrag von 1.128 Euro überwiesen. Am 01.10.2015 hatte die Klägerin zu 2 eine Zahlung von Elterngeld in Höhe von 1.500 Euro erhalten. Am 07.10.2015 hatte die Klägerin zu 2 einen Betrag von 2.500 Euro abgehoben. Am 20.10.2015 hatte sie Kindergeld in Höhe von 188 Euro erhalten. Nachdem der Kontostand am 29.10.2015 bei 183,32 Euro lag, erfolgte am 30.10.2015 die Überweisung von 1.000 Euro durch den Kläger zu 1.

14

Am 11.11.2015 erhielt der Kläger zu 1 eine Überweisung in Höhe von 175 Euro von Frau ……… mit dem Verwendungszweck „für Interneteinkauf Danke“. Am 24.11.2015 hob der Kläger zu 1 einen Betrag von 2.100 Euro ab. Am 27.11.2015 wurde dem Kläger eine Vergütung in Höhe von 807,20 Euro aus seiner Erwerbstätigkeit ausgezahlt. Am 30.11.2015 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben von 1.271,85 Euro.

15

Mit Bescheid vom 07.12.2015 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) dem Grunde nach für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 23.09.2016 auf Basis eines kalendertäglichen Leistungssatzes von 17,46 Euro. In Folge der Verhängung einer Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitslosmeldung wurde dem Kläger zu 1 jedoch für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 30.11.2015 kein Arbeitslosengeld gezahlt. Für den Zeitraum vom 01.12.2015 bis zum 31.08.2016 wurde Nebeneinkommen in Höhe des vollen kalendertäglichen Leistungssatzes von 17,46 Euro angerechnet, so dass auch für diesen Zeitraum zunächst effektiv kein Arbeitslosengeld bewilligt wurde. Lediglich für die Zeit vom 01.09.2016 bis zum 23.09.2016 wurde die Zahlung von Arbeitslosengeld in Höhe von kalendertäglich 1,30 Euro, insgesamt 39 Euro, verfügt. Hierbei wurde auf den Leistungssatz von 17,46 Euro Nebeneinkommen in Höhe von 16,16 Euro täglich angerechnet.

16

Mit Schreiben vom 08.12.2015 forderte der Beklagte den Kläger zur Mitwirkung auf und verlangte neben der Vorlage der Bescheide über die Bewilligung von Arbeitslosengeld und Elterngeld, von Kopien der Lohnabrechnungen und von Kontoauszügen eine Stellungnahme zur Überweisung von 3.257 Euro am 28.10.2015 auf das Konto des Klägers zu 1.

17

Der Kläger zu 1 nahm mit Schreiben vom 14.12.2015 dahingehend Stellung, dass er Herrn …….. am 07.10.2015 ca. 3.300 Euro Bargeld geliehen habe. Aus den Kontoauszügen sei ersichtlich, dass an diesem Tag vom Konto seiner Ehefrau (der Klägerin zu 2) 2.500 Euro und von seinem eigenen Konto 800 Euro abgehoben worden seien. Seine Ehefrau habe kurz zuvor Elterngeld und Kindergeld rückwirkend ausgezahlt bekommen. Das geliehene Geld habe Herr …. am 28.10.2015 in voller Höhe auf das Konto des Klägers zu 1 überwiesen, wovon er wiederum 1.000 Euro auf das Konto seiner Frau überwiesen habe. Dies könne anhand der Kontoauszüge nachvollzogen werden.

18

Mit Bescheid vom 15.12.2015 lehnte der Beklagte den Antrag vom 26.11.2015 ab. Hierbei führte der Beklagte wörtlich aus:

19

„Sehr geehrter Herr ……,

20

leider muss Ihr Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch SozialgesetzbuchSGB II vom 26.11.2015 abgelehnt werden.

21

Sie haben keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, weil Sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche haben.

22

Die Entscheidung beruht auf § 7 Absatz 1 Satz 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

23

Ihr Aufenthaltstitel begründet sich auf § 16 Abs. 4 AufenthG. Demnach sind Sie und Ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

24

Beachten Sie bitte, dass Sie einen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII beim zuständigen Sozialamt stellen können.“

25

Am 18.12.2015 beantragten die Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) bei der Beigeladenen. Im Antragsformular (unterzeichnet am 04.01.2016) gaben sie unter anderem an, über Bargeld in Höhe von ca. 1.000 Euro zu verfügen.

26

Am 29.12.2015 erhielt der Kläger zu 1 zwei Gehaltszahlungen in Höhe von zusammen 203,42 Euro.

27

Am 31.12.2015 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben in Höhe von 513,38 Euro, am 04.01.2016 über ein Guthaben in Höhe von 53,38 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am 31.12.2015 über ein Guthaben von 416,59 Euro.

28

Mit Bescheid vom 06.01.2016 lehnte die Beigeladene den Antrag der Kläger auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ab. Zur Begründung führte sie aus, dass aus den vorgelegten Unterlagen hervorgehe, dass der Kläger zu 1 einen Aufenthaltstitel nach § 16 Abs. 4 AufenthG habe, der der Arbeitsplatzsuche nach dem Studium diene. Die Ablehnung ergebe sich aus § 23 Abs. 3 SGB XII. Demnach hätten Ausländer, die eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, sowie deren Angehörige keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Das Aufenthaltsrecht des Klägers zu 1 begründe sich aus § 16 Abs. 4 AufenthG und diene dem Zweck der Arbeitsplatzsuche, sodass der Kläger zu 1 und seine Angehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII hätten.

29

Gegen den Bescheid des Beklagten vom 15.12.2015 erhoben alle drei Kläger mit Schreiben vom 07.01.2016 Widerspruch. Zur Begründung führten sie aus, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht greife, da das Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG ein Annex des Aufenthaltsrechts zum Zwecke der Ausbildung darstelle. Da dieses Aufenthaltsrecht auch eine Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit umfasse, könne spätestens ab dem Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme diese nicht mehr als Aufenthaltserlaubnis allein zum Zwecke der Arbeitsplatzsuche angesehen werden. Da der Kläger zu 1 einer Erwerbstätigkeit nachgehe, sei auch dieser Gesichtspunkt vorliegend gegeben. Dies sei auch nachvollziehbar, denn Sinn und Zweck von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei es, zu verhindern, dass Personen zur Arbeitsuche einreisen und dann Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Sinn und Zweck der Norm sei gerade nicht, Menschen, die bereits seit längerer Zeit aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht haben, von den Leistungen auszuschließen. Die gesetzgeberische Intention des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II habe ferner eindeutig darauf gezielt zu verhindern, dass EU-Bürger im Wege der Freizügigkeit einreisen und sofort Sozialleistungen kassieren. Für Fälle von Drittstaatsangehörigen sei die Regelung nicht erdacht worden. Es sei auch nicht erkennbar, weshalb es notwendig sein sollte, erwerbsfähige Drittstaatsangehörige, die ansonsten unzweifelhaft einen Anspruch nach dem SGB XII hätten, anders zu behandeln, als erwerbsfähige Deutsche, denn Leistungseinsparungen könnten hierdurch nicht erzielt werden. Die Drittstaatsangehörigen könnten allenfalls weniger Pflichten bei der Integration in den Arbeitsmarkt haben.

30

Am 07.01.2016 stellten die Kläger auch einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht (SG) Mainz (Az. S 11 AS 7/16 ER).

31

Am 19.01.2016 erhoben die Kläger Widerspruch gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016. Zur Begründung führten sie aus, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.) nach der neuesten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Verweis auf den Terminsbericht Nr. 61/15 des BSG vom 16.12.2015) bei tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland, insbesondere wenn dieser rechtmäßig sei, die Bejahung eines Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB XII gebiete. Diese Rechtsprechung sei auf die Kläger anwendbar und vorliegend zu berücksichtigen. Die Kläger hätten somit einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII gegen die Beigeladene.

32

Über den Widerspruch der Kläger gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016 wurde bislang noch nicht entschieden.

33

Am 21.01.2016 zahlte die Familienkasse 566 Euro Kindergeld für die Monate November und Dezember 2015 sowie Januar 2016 an die Klägerin zu 2.

34

Mit Beschluss vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) verpflichtete die 11. Kammer des SG Mainz die auch im dortigen Verfahren beigeladene Stadt …. zur vorläufigen Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII für den Regelbedarf in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 07.01.2016 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30.06.2016.

35

Am 28.01.2016 erhielt der Kläger zu 1 Arbeitsentgelt in Höhe von 291,31 Euro für den Monat Januar 2016 ausgezahlt. Am 29.01.2016 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben von 282,09 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am gleichen Tag über ein Guthaben von 704,76 Euro auf ihrem Girokonto.

36

Die Beigeladene führte den Beschluss vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) mit einem Bescheid vom 05.02.2016 aus und bewilligte den Klägern vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt ab dem 07.01.2016 für den Monat Januar 2016 in Höhe von insgesamt 531,50 Euro und für den Monat Februar 2016 in Höhe von 571,08 Euro.

37

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.01.2016 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 15.12.2015 zurück. Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt noch aus den Unterlagen ersichtlich. Der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.

38

Am 11.02.2016 überwies die Beigeladene dem Kläger zu 1 in Ausführung des Bescheids vom 05.02.2016 und des Beschlusses des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) einen Betrag von 1.102,58 Euro.

39

Mit Änderungsbescheid vom 11.02.2016 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld für den Zeitraum vom 01.12.2015 bis zum 23.09.2016 in Höhe von monatlich 523,80 Euro bei einem täglichen Zahlbetrag von 17,46 Euro. Für die Zeit vom 01.12.2015 bis zum 31.01.2016 erfolgte eine Nachzahlung in Höhe von 1.047,60 Euro, die dem Kläger zu 1 am 16.02.2016 überwiesen wurde. Am 29.02.2016 erfolgte die Auszahlung von Arbeitslosengeld in Höhe von 523,80 Euro für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016.

40

Die Beigeladene hat am 24.02.2016 Beschwerde gegen den Beschluss vom 27.01.2016 zum Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz eingelegt (Az. L 3 AS 98/16 B ER). Das Beschwerdeverfahren ist noch anhängig.

41

Am 26.02.2016 erhielt der Kläger zu 1 eine Entgeltzahlung in Höhe von 166,35 Euro.

42

Die Kläger haben am 26.02.2016 die vorliegende Klage erhoben. Die Klageerhebung erfolgte zunächst fristwahrend. Die Kläger regten zunächst an, die Klage ruhend zu stellen, bis geklärt sei, ob das Sozialamt Leistungen nach dem SGB XII zu erbringen habe. Hintergrund sei, dass der Beklagte als Verpflichteter in Betracht komme, das Gericht aber in dem Verfahren S 11 AS 7/16 ER die vorläufige Auffassung vertreten habe, der Anspruch der Kläger richte sich nach dem SGB XII und nicht nach dem SGB II.

43

Die Kläger beantragen,

44

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 zu verurteilen, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 01.11.2015 in gesetzlicher Höhe zu zahlen,

45

hilfsweise die Beigeladene unter Aufhebung des Bescheids vom 06.01.2016 zu verurteilen, den Klägern Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII ab dem 01.11.2015 in gesetzlicher Höhe zu zahlen.

46

Der Beklagte beantragt,

47

die Klage abzuweisen.

48

Zur Begründung trägt er vor, dass die Klage ausweislich des Beschlusses des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) keine Aussicht auf Erfolg habe. Auf den Beschluss des LSG Rheinland-Pfalz vom 11.02.2016 (L 3 AS 668/15 B ER) werde verwiesen.

49

Die Beigeladene nimmt unter Verweis auf einen Hinweis des 3. Senats des LSG Rheinland-Pfalz im Verfahren L 3 AS 98/16 B ER dahingehend Stellung, dass hilfebedürftige Personen, die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien, schon nach § 21 Satz 1 SGB XII keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten könnten. Für diese Auslegung spreche der Wortlaut des Gesetzes und die den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmende gesetzgeberische Absicht. Der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz nehme auch Bezug auf die Rechtsfrage, ob eine verfassungskonforme Auslegung des SGB II einen Anspruch der Kläger auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Hilfegewährung nach § 42a SGB II begründe. Der Senat sehe diese Rechtsfrage als im Hauptsacheverfahren klärungsbedürftig an. Weiter führe der Senat aus, dass er auf Grund des bisherigen Vortrags der Kläger (im dortigen Beschwerdeverfahren) nicht feststellen könne, dass im vorliegenden Fall die gesetzlichen Voraussetzungen einer Leistung von Sozialhilfe nach Ermessen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII vorlägen. Vor diesem Hintergrund spreche Vieles dafür, dass das LSG Rheinland-Pfalz die rechtliche Einschätzung der Beigeladenen teile und diese im vorliegenden Fall daher nicht zu Leistungen von Sozialhilfe nach Ermessen verpflichtet werden könne.

50

Am 30.03.2016 erhielt der Kläger zu 1 eine Entgeltzahlung in Höhe von 166,35 Euro. An diesem Tag verfügte er auf seinem Girokonto über ein Guthaben in Höhe von 647,49 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am 30.03.2016 über ein Guthaben auf ihrem Girokonto in Höhe von 314,89 Euro. Am 31.03.2016 überwies die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld in Höhe von 523,80 Euro für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis zum 31.03.2016.

51

Mit einem Schreiben vom 04.04.2016 teilte die Beigeladene den Klägern zu 1 und 2 mit, dass in Folge der Mitteilung weiterer Einkünfte nunmehr eine Anpassung der vorläufigen Leistungen erfolge. Demnach hätten die Kläger im Februar Arbeitslosengeld I in Höhe von 1.571,40 Euro erhalten. Das Arbeitseinkommen in Höhe von 237 Euro für den Monat Februar 2016 sei abzüglich der Freibeträge genauso wie das Kindergeld bei der Ermittlung des Anspruchs in Höhe von 571,08 Euro für den Monat Februar bereits berücksichtigt worden. Das Einkommen in Höhe von 1.571,40 Euro aus dem Arbeitslosengeld I reiche daher aus, um den monatlichen Regelbedarf in gesetzlicher Höhe zu decken. Da die Leistungen für den Monat Februar 2016 zum Zeitpunkt der Mitteilung bereits an die Kläger ausgezahlt worden seien, sei eine Überzahlung in Höhe von 571,08 Euro entstanden. Der monatliche Regelbedarf für den Monat März 2016 betrage 965 Euro. Davon seien das Erwerbseinkommen abzüglich der Freibeträge nach § 82 Abs. 3 SGB XII in Höhe von 116,44 Euro, das Kindergeld in Höhe von 190 Euro sowie Arbeitslosengeld I in Höhe von monatlich 523,80 Euro in Abzug zu bringen. Damit verbleibe ein nicht durch Einkommen gedeckter Bedarf in Höhe von 134,76 Euro. Dieser Betrag werde jedoch nicht an die Kläger ausgezahlt, sondern mit der entstandenen Überzahlung im Monat Februar 2016 in Höhe von 571,08 Euro verrechnet.

52

Auf Anfrage des Gerichts teilten die Kläger mit, dass sie keinerlei rechtliche Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), zu Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) oder zur Schweiz haben. Im letzten Jahr der Studienzeit des Klägers zu 1 hätten die Kläger ihren Lebensunterhalt durch Nebenjobs des Klägers zu 1 als Mitarbeiter im Schlaflabor des …. Klinikums ….. und durch die monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 300 Euro für das Praktische Jahr, durch Kindergeld und zeitweise durch Elterngeld bestritten. Von Frau …… habe es keine Zahlungen gegeben.

53

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.04.2016 teilte der Kläger zu 1 mit, dass er für die Erteilung eines Aufenthaltstitels eine Verpflichtungserklärung benötigt habe. Diese sei durch seine Kollegin Frau ………. unterzeichnet worden. Er habe aber nie die Absicht gehabt, Geld von ihr in Anspruch zu nehmen und von ihr auch nie Geld erhalten. Er habe seinen Lebensunterhalt bislang selbst finanziert.

54

Das Gericht hat die Prozessakten zum Verfahren S 11 AS 7/16 ER bzw. L 3 AS 98/16 B ER einschließlich der dort beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Beigeladenen beigezogen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

A.

55

Der Rechtsstreit ist gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auszusetzen und es sind Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darüber einzuholen, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, soweit Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen vom Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind, und ob § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917) mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, soweit Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) oder der §§ 51, 57 und 58 SGB Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) dem Grunde nach förderungsfähig ist, über § 27 SGB II hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II haben.

56

Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG (konkrete Normenkontrolle) hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist zu begründen, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des Gerichts abhängig und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die Vorschrift unvereinbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2014 – 2 BvL 2/11 – Rn. 5 – alle Gerichtsentscheidungen zitiert nach juris, wenn nicht anders angegeben). Die Voraussetzungen für die Durchführung eines konkreten Normenkontrollverfahrens sind vorliegend erfüllt.

57

Die Überzeugung der Kammer von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II beruht darauf, dass es dem Gesetzgeber nach Maßgabe des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verwehrt ist, Personen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten, bei Vorliegen von Hilfebedürftigkeit von sämtlichen existenzsichernden Sozialleistungssystemen auszuschließen.

58

Die Überzeugung der Kammer von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II beruht darauf, dass es dem Gesetzgeber nach Maßgabe des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verwehrt ist, die Gewährung jeder Art von existenzsichernden Leistungen von Handlungen oder Unterlassungen der betroffenen Personen abhängig zu machen, die weder zur Feststellung der Leistungsvoraussetzungen erforderlich noch unmittelbar dazu führen, die Hilfebedürftigkeit der Betroffenen zu beseitigen.

I.

59

Die Zuständigkeit des BVerfG ist gegeben, da das vorlegende Gericht Vorschriften eines Bundesgesetzes für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar hält (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GG).

II.

60

Die vorlegende Kammer ist als Spruchkörper des Sozialgerichts Mainz ein vorlageberechtigtes Gericht im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG.

III.

61

Bei den als verfassungswidrig gerügten Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II handelt es sich um Vorschiften eines formellen, nachkonstitutionellen Bundesgesetzes. Sie sind daher vorlagefähig.

IV.

62

Die Vorlagefragen sind für das dem Beschluss zu Grunde liegende Klageverfahren entscheidungserheblich.

63

Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist ein Vorlageverfahren nur dann zulässig, wenn es für die Entscheidung auf die Gültigkeit des für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes ankommt.

64

Dies setzt – wenn nicht die Zulässigkeitsvoraussetzungen selbst Gegenstand der Vorlage sind – zunächst voraus, dass die dem Vorlagebeschluss zu Grunde liegende Klage zulässig ist (1) und dass im Falle der – hier vorliegenden – Leistungsklage die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen (2). Ferner muss es für die Entscheidung des Gerichts auf die Gültigkeit der zur Prüfung vorgelegten Normen ankommen. Dies setzt voraus, dass bei Gültigkeit der Regelungen ein anderes Entscheidungsspektrum eröffnet wird, als bei deren Nichtigkeit (3). Der Klage dürfte auch nicht aus einem anderen Rechtsgrund stattzugeben sein (4).

65

1. Die Klage ist zulässig. Das Gericht ist zur Sachentscheidung berufen.

66

1.1 Die Kläger haben ihre Klage frist- und formgerecht erhoben. Das Widerspruchsverfahren gegen den in erster Linie streitgegenständlichen Bescheid des Beklagten vom 15.12.2015 ist durchgeführt und abgeschlossen worden.

67

1.2 Obwohl dem Gericht bislang keine schriftliche Vollmacht vorliegt, ist gemäß § 73 Abs. 6 Satz 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einstweilen von einer wirksamen Bevollmächtigung des die Kläger vertretenden Rechtsanwalts auszugehen. Das Gericht hat einen Mangel der Vollmacht nur dann von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn als Bevollmächtigter kein Rechtsanwalt auftritt.

68

1.3 Die Kläger sind klagebefugt im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 SGG, da sie geltend machen, durch den angefochtenen Verwaltungsakt in ihren Rechten verletzt zu sein.

69

1.4 Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage, mit der die Kläger die Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 und die Zahlung von Geldleistungen nach dem SGB II verlangen, ist nach §§ 54 Abs. 4, 56 SGG statthaft. Der Streitgegenstand wurde im Sinne des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG hinreichend bestimmt. Eine exakte Bezifferung des geltend gemachten Anspruchs ist nicht erforderlich. § 92 Abs. 1 Satz 3 SGG enthält hinsichtlich der Bestimmtheit des Antrags lediglich eine Sollvorschrift. Aus dem systematischen Zusammenhang mit der Regelung zum Grundurteil in § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG ergibt sich zudem, dass bei Geldleistungen keine Bezifferung des Antrags erfolgen muss. Nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG kann zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt werden, wenn gemäß § 54 Abs. 4 SGG oder § 54 Abs. 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Aus der Befugnis des Gerichts, ein Grundurteil zu erlassen, folgt die Statthaftigkeit einer entsprechenden unbezifferten Antragstellung. Im Übrigen lässt sich das klägerische Begehren in hinreichender Bestimmtheit dem Vorbringen in der Klageschrift, in dem vorangegangenen Widerspruchsverfahren und im vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entnehmen.

70

1.5 Der für die Zulässigkeit der gegenüber der reinen Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG vorrangigen Anfechtungs- und Leistungsklage erforderliche Ausgangsverwaltungsakt (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2006 – B 2 U 24/04 R – Rn. 24) liegt auch bezüglich der Klägerinnen zu 2 und 3 vor. Der angefochtene Verwaltungsakt vom 15.12.2015 ist bei verständiger Würdigung an alle drei Kläger gerichtet. Zwar wird sowohl in der Anrede als auch im weiteren Text nur der Kläger zu 1 direkt angesprochen, auch soweit auf seinen Antrag Bezug genommen wird. Allerdings lässt sich dem Satz „Demnach sind Sie und Ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen“ mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass der Leistungsantrag für alle drei Kläger abgelehnt wurde. Der nur abstrakt umschriebene, abgesehen vom Kläger zu 1 nicht namentlich genannte Adressatenkreis erschließt sich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 Zehntes Buch SozialgesetzbuchSGB X) aus der vorangegangenen Antragstellung aller drei Kläger und aus deren Lebensumständen.

71

Der Bescheid ist auch gegenüber allen Klägern wirksam bekanntgegeben worden (§ 37 Abs. 1 SGB X). Auch diesbezüglich ist es unschädlich, dass der Bescheid in der Anrede nur an den Kläger zu 1 gerichtet war, da der Bescheid an die gemeinsame Wohnadresse übersandt wurde, der Verwaltungsakt aus dem Bescheidtext hinreichend deutlich erkennbar auch an die Klägerin zu 2 gerichtet war und zudem in Folge der Umstände der Antragstellung und der nachfolgenden Widerspruchs- und Klageerhebung auch durch die Klägerin zu 2 von einer Bevollmächtigung des Klägers zu 1 durch die Klägerin zu 2 ausgegangen werden kann (vgl.Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 38 Rn. 40, Stand 10.03.2015). Auf eine gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II nur für die Antragstellung und die Entgegennahme von Leistungen geltende Vertretungsvermutung kommt es daher nicht an (für die Erstreckung der Vermutungswirkung u.a. auch auf die Entgegennahme von ablehnenden Bescheiden z.B. Schoch in: LPK-SGB II, § 38 Rn. 19, 5. Auflage 2013).

72

Selbst wenn jedoch angenommen würde, dass gegenüber den Klägerinnen zu 2 und 3 noch keine Entscheidung über den Leistungsantrag durch den Beklagten vorliegt und die kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen der Klägerinnen in Folge dessen als unzulässig angesehen würden, führte dies nicht zu einem Wegfall der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen, weil beide jedenfalls auch für die vom Kläger zu 1 gestellten Klageanträge von entscheidungserheblicher Bedeutung sind.

73

1.6 Zulässiger Streitgegenstand ist zunächst der Bescheid vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 (§ 95 SGG). In zeitlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand vorerst und vorbehaltlich einer zukünftigen Begrenzung des Antrags auf den letzten mündlichen Verhandlungstag der Tatsacheninstanzen begrenzt (BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 4 AS 99/11 R – Rn. 11). Zum Zeitpunkt des Vorlagebeschlusses der Kammer ist dies der 18.04.2016. Dass für den zukunftsoffenen streitgegenständlichen Zeitraum der Sachverhalt naturgemäß noch nicht abschließend aufgeklärt ist, stellt kein Zulässigkeitshindernis für das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dar, weil sich die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der entscheidungserheblichen Normen jedenfalls für den bereits zurückliegenden Zeitraum stellt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 129).

74

1.7 Gemäß § 75 Abs. 5 SGG kommt auch eine Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers zur Zahlung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII in Betracht (vgl. BSG Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R; BSG, Urteil vom 17.03.2016 – B 4 AS 32/15 R). Insoweit wäre auch der Ablehnungsbescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016 Gegenstand des Verfahrens. Auf Grund der fristgerechten Erhebung des Widerspruchs durch die Kläger am 19.01.2016 ist bislang keine Bestandskraft eingetreten. Der Abschluss des Vorverfahrens ist insoweit keine Sachurteilsvoraussetzung (vgl. Groß in Lüdtke, SGG, § 75 Rn. 16, 4. Auflage 2012).

75

2. Die Kläger erfüllen abgesehen von den den Gegenstand der Vorlagefragen bildenden Ausschlussregelungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (für die Zeit ab dem 24.11.2015) und § 7 Abs. 5 SGB II (bei dem Kläger zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015) alle Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II.

76

2.1 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind – vorbehaltlich der hier verfahrensgegenständlichen Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Beide sind älter als 15 Jahre und haben die für beide Kläger nach § 7a Satz 2 SGB II maßgebliche Altersgrenze von 67 Jahren noch nicht erreicht. Die Klägerin zu 3 hat das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet und kann deshalb nur in Abhängigkeit einer grundsätzlichen Leistungsberechtigung ihrer Eltern einen Anspruch auf Sozialgeld nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 SGB II haben.

77

2.2 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Kläger leben in Mainz. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kläger nur vorübergehend in Deutschland aufhalten könnten, sind nicht erkennbar. Die aktuellen Aufenthaltstitel sind bis zum 22.05.2017 befristet. Für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts kommt es auf aufenthaltsrechtliche Aspekte im Übrigen nicht an (BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R – Rn. 18 f.).

78

2.3 Der Kläger zu 1 hat den nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II erforderlichen Antrag gestellt. Der Antrag vom 26.11.2015 wirkt gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 SGB II im Hinblick auf die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den 01.11.2015 zurück. Die Antragstellung wirkt gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II auch zu Gunsten der Klägerinnen zu 2 und 3.

79

2.4 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II, insbesondere ist beiden die Aufnahme einer Beschäftigung als Nebenbestimmung zur Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bzw. § 30 AufenthG erlaubt (§ 8 Abs. 2 Satz 1 SGB II).

80

2.5 Die Kläger sind für den größeren Teil des bisherigen streitgegenständlichen Zeitraums hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Hilfebedürftigkeit liegt gemäß § 9 Abs. 1 SGB II vor, wenn jemand seinen eigenen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus dem zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen, sichern kann und die nötige Hilfe nicht von anderen erhält. In Folge der Einkommens- und Vermögenszurechnungsregelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II, nach der jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig gilt, sofern der gesamte Bedarf nicht aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist („horizontale Berechnungsmethode“), kommt es für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nur darauf an, dass der Gesamtbedarf der Kläger durch Einkommen oder Vermögen der Kläger zu irgendeinem Zeitpunkt in den streiterheblichen Zeiträumen nicht vollständig gedeckt war.

81

Im Hinblick auf die erste Vorlagefrage ist diesbezüglich der Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 18.04.2016 relevant, weil der Kläger zu 1 seit dem 24.11.2015 über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügt. Für die zweite Vorlagefrage ist der Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 von Bedeutung, weil der Kläger zu 1 am 18.11.2015 sein Studium abgeschlossen hat.

82

Die Voraussetzung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II ist im vorliegenden Fall zeitweise erfüllt, weil dem Gesamtbedarf der Kläger zum Lebensunterhalt jedenfalls in der Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.01.2016 und vom 01.03.2016 bis zum 31.03.2016 kein Einkommen oder Vermögen gegenüberstand, das den Bedarf vollständig hätte decken können.

83

2.5.1 Bei dem Kläger zu 1 und bei der Klägerin zu 2 ist jeweils für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 360 Euro monatlich (§ 20 Abs. 4 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2015 vom 15.10.2014 (BGBl. Teil I S. 1620) auszugehen, für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Regelbedarf in Höhe von 364 Euro monatlich (§ 20 Abs. 4 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2016 vom 22.10.2015 (BGBl. Teil I S. 1792)), da sie als Partner miteinander in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 a) SGB II leben und das 18. Lebensjahr vollendet haben.

84

Bei der Klägerin zu 3 ist für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 234 Euro monatlich (§ 23 Nr. 1 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2015 vom 15.10.2014 (BGBl. Teil I S. 1620)) auszugehen, für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Regelbedarf in Höhe von 237 Euro monatlich (§ 23 Nr. 1 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2016 vom 22.10.2015 (BGBl. Teil I S. 1792)), da sie das 6. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

85

Darüber hinaus ist von einem Gesamtbedarf für Unterkunft und Heizung nach §§ 19 Abs. 1 Satz 3, 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 450 Euro – nachgewiesen durch Mietvertrag, Mietbescheinigung und Abbuchungen auf Kontoauszügen – monatlich auszugehen. Ob der Unterkunfts- und Heizungsbedarf richtigerweise nach Maßgabe der mietvertraglichen gesamtschuldnerischen Verpflichtung hälftig (je 225 Euro) zwischen dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 (so SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 289 ff.) oder nach dem Kopfteilprinzip zu je einem Drittel (je 150 Euro) zwischen allen Bedarfsgemeinschaftsmitgliedern aufzuteilen ist (so z.B. BSG, Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 1/06 R – Rn. 28 f.; BSG, Urteil vom 31.10.2007 – B 14/11b AS 7/07AS 7/07 R – Rn. 19; BSG, Urteil vom 23.05.2013 – B 4 AS 67/12 R – Rn. 19), spielt für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen keine Rolle, weil sich der Gesamtbedarf hierdurch nicht ändert. Die Frage, ob die Aufwendungen der Kläger für Unterkunft und Heizung angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II sind, kann vorliegend offenbleiben, da die Kläger mangels Kostensenkungsaufforderung jedenfalls keine Kostensenkungsobliegenheit trifft und daher die Kosten nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II bis auf Weiteres unabhängig von ihrer Angemessenheit in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen sind. Die Frage, ob § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II verfassungswidrig ist (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschlüsse vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 und S 3 AS 370/14), ist daher im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich.

86

Bei dem Kläger zu 1 ist somit für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 ein monatlicher Gesamtbedarf in Höhe von 585 Euro und für die Zeit ab dem 01.01.2016 in Höhe von 589 Euro auszugehen. Bei einer Berücksichtigung der Unterkunftsbedarfe nach Kopfteilen läge der Gesamtbedarf bei 510 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 und bei 514 Euro ab dem 01.01.2016. Entsprechendes gilt für die Klägerin zu 2.

87

Bei der Klägerin zu 3 ist der individuelle Gesamtbedarf mit dem Regelbedarf identisch, so dass für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Bedarf von 234 Euro monatlich und für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Bedarf von 237 Euro auszugehen ist. Bei Zugrundelegung der „Kopfteilmethode“ ergäbe sich allerdings ein weiterer Bedarf nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 150 Euro monatlich, somit ein monatlicher individueller Gesamtbedarf von 384 Euro bzw. 387 Euro.

88

Für die aus dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 (§ 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II und § 7 Abs. 3 Nr. 3 a) SGB II) sowie der Klägerin zu 3 (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) bestehende Bedarfsgemeinschaft ist somit für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 ein Gesamtbedarf in Höhe von 1.404 Euro monatlich, für die Zeit ab dem 01.01.2016 in Höhe von 1.415 Euro zu Grunde zu legen.

89

2.5.2 Vermögen haben die Kläger zur Bedarfsdeckung nicht einzusetzen.

90

Nach § 12 Abs. 1 SGB II sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Gemäß § 12 Abs. 2 SGB II sind vom verwertbaren Vermögen jedoch Freibeträge abzusetzen.

91

Zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums am 01.11.2015 verfügte der Kläger zu 1 über einen positiven Saldo von 3.510,83 Euro auf seinem Girokonto. Die Klägerin zu 2 verfügte auf ihrem Girokonto über einen positiven Saldo von 1.183,32 Euro. Hinzu kommt nach den Angaben des Klägers zu 1 zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Bargeldbetrag von ca. 1.500 Euro, so dass für den maßgeblichen Zeitpunkt des Beginns des potenziellen Bewilligungszeitraums (vgl. Radüge in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 12 Rn. 41, Stand 08.09.2015) am 01.11.2015 von einem Gesamtvermögen der Kläger in Höhe von ca. 4.700 Euro auszugehen ist.

92

Die kurz vor Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums erfolgten größeren Vermögensverschiebungen sind anhand der Erklärungen des Klägers zu 1 nachvollziehbar. Durch die Nachzahlung von Kindergeld in Höhe von 1.128 Euro am 28.09.2015 und von Elterngeld in Höhe von 1.500 Euro am 01.10.2015 war der Kläger zu 1 im Oktober 2015 dazu in der Lage, Herrn …kurzfristig einen Geldbetrag in Höhe von ca. 3.250 Euro zu leihen, den er noch im gleichen Monat zurückerhielt. Der Vorgang lässt sich anhand der Kontoauszüge des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 und der Erläuterungen des Klägers zu 1 nachvollziehen.

93

Als Vermögensfreibetrag ist gemeinsam für den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 ein Betrag von 9.900 Euro, ab Februar 2016 von 10.050 Euro zu berücksichtigen. Dieser errechnet sich aus dem Grundfreibetrag für den Kläger zu 1 von 4.650 Euro bzw. 4.800 Euro gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II (31 bzw. 32 Lebensjahre x 150 Euro), aus dem Grundfreibetrag für die Klägerin zu 2 in Höhe von 3.750 Euro (25 Lebensjahre x 150 Euro) und dem jeweiligen Anschaffungsfreibetrag von 750 Euro gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB II, zusammen 1.500 Euro.

94

Das Vermögen des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 lag demnach zu Beginn des Bewilligungszeitraums am 01.11.2015 deutlich unter der maßgeblichen Vermögensfreigrenze. Daher kann vorliegend offenbleiben, ob der Anschaffungsfreibetrag für die Klägerin zu 3 in Höhe von weiteren 750 Euro ebenfalls bei dem Vermögen des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 zu berücksichtigen ist (so Geiger in LPK-SGB II, § 12 Rn. 35, 5. Auflage 2013), da das Gesamtvermögen der Kläger am 01.11.2015 und in der Folgezeit stets unter dem jedenfalls anzusetzenden Freibetrag von 9.900 Euro bzw. 10.050 Euro lag. Der Grundfreibetrag der Klägerin zu 3 nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a SGB II in Höhe von weiteren 3.100 Euro spielt mangels eigenem Vermögen der Klägerin zu 3 keine Rolle.

95

In Folge der Rückwirkung des Antrags auf den 01.11.2015 sind nach diesem Zeitpunkt durch die Kläger erzielte Vermögenszuwächse im jeweiligen Zuflussmonat als Einkommen im Sinne des § 11 SGB II zu behandeln. Der kumulierte Vermögensfreibetrag des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 wurde durchgehend seit dem 01.11.2015 bis mindestens zum 31.03.2016 deutlich unterschritten.

96

2.5.3 Die Kläger verfügen jedoch über anzurechnendes Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, das den Bedarf mindert und zeitweilig vollständig deckt.

97

Als Einkommen zu berücksichtigen ist für den Monat November 2015 das Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung des Klägers zu 1 in Höhe von 807,20 Euro. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 141,44 Euro, mithin ein Gesamtfreibetrag von 241,44 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 665,76 Euro. Hinzu kommt – vorbehaltlich einer abweichenden abschließenden rechtlichen Würdigung – die Zahlung von 175 Euro durch Frau …. am 11.11.2015, so dass sich für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 30.11.2015 ein anzurechnendes Gesamteinkommen des Klägers zu 1 von 840,76 Euro errechnet. Das Einkommen der Klägerin zu 2 aus Kindergeld ist nach § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II in Höhe von 188 Euro vollständig bei der Klägerin zu 3 anzurechnen, da es zur Sicherung des Lebensunterhalts der Klägerin zu 3 benötigt wird. Das insgesamt somit maximal zu berücksichtigende Einkommen von 1.028,76 Euro reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.404 Euro nicht aus.

98

Im Monat Dezember 2015 ist als Einkommen die an den Kläger zu 1 gezahlte Vergütung in Höhe von 203,42 Euro zu berücksichtigen. Nach Abzug des Freibetrags nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro und des Freibetrags nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Höhe von 20,68 Euro verbleibt ein anzurechnendes Einkommen von 82,74 Euro. Weitere Einnahmen hatten die Kläger in diesem Monat nicht, insbesondere wurde in diesem Monat kein Kindergeld ausgezahlt. Das Einkommen reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.404 Euro nicht aus.

99

Als Einkommen des Klägers zu 1 für den Monat Januar 2016 ist zunächst die Vergütung in Höhe von 291,31 Euro zu berücksichtigen. Nach Abzug des Freibetrags nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro und des Freibetrags nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Höhe von 38,26 Euro verbleibt ein anzurechnendes Einkommen von 153,05 Euro. Im Monat Januar 2016 ist darüber hinaus die Zahlung von Kindergeld in Höhe von 566 Euro als Einkommen zu berücksichtigen. Der Bedarf der Klägerin zu 3 (237 Euro bzw. 387 Euro) wird hierdurch gemäß der Zuordnungsregel des § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II vollständig gedeckt, so dass die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 31.01.2016 keinen Anspruch auf Sozialgeld hat. Der Differenzbetrag von 329 Euro (179 Euro) ist als Einkommen der Klägerin zu 2 nach Abzug der Versicherungspauschale von 30 Euro nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) in Höhe von 299 Euro (149 Euro) zu berücksichtigen. Das zur Anrechnung bei dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 insgesamt zu berücksichtigende Einkommen in Höhe von 452,05 (302,05 Euro) reicht zur Deckung des Bedarfs des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 in Höhe von zusammen 1.178 Euro (1.028 Euro) nicht aus.

100

Im Monat Februar 2016 ist als Einkommen des Klägers zu 1 Arbeitslosengeld I in Höhe von 1.571,40 Euro als laufende Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen. Für die Qualifizierung einer Einnahme als laufende Einnahme reicht es aus, wenn sie in einem Gesamtbetrag erbracht wird, aber nach dem zu Grunde liegenden Rechtsgrund regelmäßig zu erbringen gewesen wäre (BSG, Urteil vom 24.04.2015 – B 4 AS 32/14 R – Rn. 16). Dies ist vorliegend der Fall, weil dem Kläger zu 1 im Februar 2016 Arbeitslosengeld für insgesamt drei Monate ausgezahlt wurde. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist das im Februar 2016 ausgezahlte Arbeitslosengeld daher vollständig und ausschließlich im Februar 2016 als Einkommen auf den Bedarf der Kläger anzurechnen. Eine Versicherungspauschale nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V ist nicht abzusetzen, weil bei dem Kläger zu 1 im Februar 2016 auch Einnahmen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 166,35 Euro zu berücksichtigen sind. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 13,27 Euro, folglich ein Gesamtfreibetrag von 113,27 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 53,08 Euro. Der Erwerbstätigenfreibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II enthält bereits den Absetzbetrag für Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II, so dass für eine zusätzliche Heranziehung der Versicherungspauschale nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V bei den Einnahmen aus Arbeitslosengeld kein Raum bleibt. Des Weiteren ist im Februar 2016 bei der Klägerin zu 3 Einkommen aus Kindergeld in Höhe von 190 Euro zu berücksichtigen. Die Auszahlung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt durch die Beigeladene in Höhe von 1.102,58 Euro im Februar 2016 ist bei der Einkommensanrechnung nicht zu berücksichtigen, da diese in Ausführung der Verpflichtung zur vorläufigen Leistung durch den Beschluss des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) erfolgte. Das anzurechnende Gesamteinkommen beträgt somit 1.814,48 Euro. Der Gesamtbedarf der Kläger in Höhe von 1.415 Euro ist durch das Einkommen der Kläger im Februar 2016 daher gedeckt. Da es sich bei sämtlichen im Monat Februar 2016 zufließenden Einnahmen (Arbeitslosengeld, Arbeitsentgelt, Kindergeld) um laufende Einnahmen im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II handelt, ist das Einkommen trotz Bedarfsdeckung nicht nach § 11 Abs. 3 Satz 3 SGB II über einen Zeitraum von sechs Monaten gleichmäßig zu verteilen (vgl. Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 11, Rn. 70.2, Stand 28.12.2015). Die rechnerische Bedarfsdeckung führt vielmehr dazu, dass die Kläger für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016 mangels Hilfebedürftigkeit unabhängig von der ersten Vorlagefrage keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben.

101

Im Monat März 2016 ist als Einkommen des Klägers zu 1 Arbeitslosengeld I in Höhe von 523,80 Euro zu berücksichtigen. Weiter erhielt der Kläger eine Vergütung in Höhe von 166,35 Euro. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 13,27 Euro, folglich ein Gesamtfreibetrag von 113,27 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 53,08 Euro. Die Klägerin zu 2 erhielt eine Kindergeldzahlung in Höhe von 190 Euro. Das anzurechnende Gesamteinkommen von 766,88 Euro reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.415 Euro nicht aus.

102

2.5.4 Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger entgegen ihrer Erklärung seit dem 01.11.2015 weitere Einnahmen aus anderen Quellen gehabt haben könnten.

103

Der Kläger zu 1 hat insbesondere glaubhaft versichert, dass er zu keinem Zeitpunkt Zahlungen von Frau ….. erhalten hat. Darauf, ob die Verpflichtungserklärung vom 06.10.2011 – die sich ohnehin nur auf den Kläger zu 1 bezieht – weiterhin Bestand hat oder beispielsweise auf Grund des Wechsels des Aufenthaltszwecks mit dem Ende des Studiums zwischenzeitlich entfallen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 – 1 C 33/97 – Rn. 34), kommt es daher vorliegend nicht an. Im Übrigen verschafft eine Verpflichtungserklärung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG lediglich eine Regressmöglichkeit für die öffentliche Hand, nicht jedoch einen unmittelbaren Unterhaltsanspruch des Aufenthaltsberechtigten gegen den Erklärenden (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09.10.2015 – L 5 AS 643/15 B ER – Rn. 30), so dass auch kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich ist, dass der Kläger zu 1 einen zivilrechtlichen Anspruch auf Unterhaltsleistungen gegen Frau …..haben könnte.

104

Die Kläger haben neben den bei der Einkommensanrechnung berücksichtigten keine weiteren Sozialleistungen erhalten. Einen Anspruch auf Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz (BKGG) hatten die Kläger jedenfalls bis zum 31.03.2016 nicht, da selbst bei Gewährung des Höchstbetrags nach § 6a Abs. 2 Satz 1 BKGG von 140 Euro die Hilfebedürftigkeit in den Monaten, in denen sie vorlag, nicht nach dem Maßstab des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BKGG vermieden worden wäre.

105

2.6 Abgesehen von den als verfassungswidrig gerügten Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II sind die Kläger nicht aus anderen Gründen von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

106

2.6.1 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II von der Leistungsberechtigung ausgenommen, da sie sich bereits länger als drei Monate in Deutschland aufhalten.

107

Sie sind auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ausgeschlossen, da sie nicht Leistungsberechtigte nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sind. Insbesondere sind sie nicht vollziehbar ausreisepflichtig im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG und waren dies zu keinem Zeitpunkt seit dem 01.11.2015, da sie stets über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG, nach § 16 Abs. 4 AufenthG (Kläger zu 1) oder nach § 30 AufenthG (Klägerin zu 2) verfügten.

108

Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ergibt sich auch nicht daraus, dass die Kläger einen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG in analoger Anwendung haben könnten. Selbst wenn man eine analoge Heranziehung entgegen der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung der erkennenden Kammer zur der Leistungsansprüche des AsylbLG zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für möglich hielte (so z.B. Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, S. 117 f., 3. Auflage 2012), würde hieraus nicht folgen, dass der auf diese Weise berechtigte Personenkreis im regelungstechnischen Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG wäre. Denn die Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung nach § 1 AsylbLG lägen gerade nicht vor. Um einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II auch für diesen Personenkreis anzunehmen, bedürfte es daher einer weiteren analogen Anwendung dieser Vorschrift für Personen, die nach dem AsylbLG analog leistungsberechtigt wären. Für eine solche doppelte Analogie ist kein Sachgrund erkennbar, weil der betroffene Personenkreis gerade wegen eines ohnehin schon vorhandenen Leistungsausschlussgrundes auf Leistungen nach dem AsylbLG analog verwiesen würde.

109

2.6.2 Die Kläger sind auch nicht nach § 7 Abs. 4 SGB II oder § 77 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 7 Abs. 4a SGB II a.F. von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.

110

2.6.3 Seit dem 19.11.2015 ist der Kläger zu 1 auch nicht mehr gemäß § 7 Abs. 5 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Bis zum 23.11.2015 waren die Kläger wiederum nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil der Kläger zu 1 über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck des Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG und die Klägerinnen zu 2 und 3 über hieraus abgeleitete Aufenthaltsrechte verfügten.

111

3. Die Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist für die durch das Gericht zu treffende Sachentscheidung über die Ansprüche der Kläger entscheidungserheblich. Das Gleiche gilt für die Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II.

112

3.1 Entscheidungserheblichkeit im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG liegt vor, wenn bei Gültigkeit der Vorschrift ein Entscheidungsspektrum eröffnet wird, das eine Abweichung von der Entscheidung bei Nichtigkeit der Vorschrift (3.2) ermöglicht (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 127).

113

3.1.1 Im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wäre die Klage für die Zeit ab dem 24.11.2015 hinsichtlich des Hauptantrags (Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Leistungen nach dem SGB II an die Kläger) abzuweisen.

114

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

115

a) Der Kläger zu 1 wäre seit dem 24.11.2015 nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

116

Die Ausschlussregelung erfasst auch Ausländer, die – wie der Kläger zu 1 – über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügen (so auchWolff-Dellen in Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 11, 3. Auflage 2011; Thie in LPK-SGB II, § 7 Rn. 27, 5. Auflage 2013¸ Hänlein in: Gagel, SGB II, § 7 Rn. 71, beck-online; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 93, Stand 14.03.2016; SG Mainz, Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht; in diesem Sinne auch die Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales: BT-Drucks. 16/688, S. 13).

117

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom 29.08.2013 kann einem Ausländer zum Zweck des Studiums an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule oder vergleichbaren Ausbildungseinrichtung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AufenthG umfasst der Aufenthaltszweck des Studiums auch studienvorbereitende Maßnahmen. Nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Abschluss des Studiums für bis zu 18 Monate zur Suche eines diesem Abschluss angemessenen Arbeitsplatzes, sofern er nach den Bestimmungen der §§ 18, 19, 19a und 21 AufenthG von Ausländern besetzt werden darf, verlängert werden. Gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 AufenthG berechtigt die Aufenthaltserlaubnis während dieses Zeitraums zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Aus dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geht mithin hervor, dass der nach dieser Vorschrift verliehene Aufenthaltstitel zum Zwecke der Suche eines Arbeitsplatzes erteilt wird.

118

Die Auffassung von Brühl/Schoch (in: LPK-SGB II, 3. Auflage 2009, § 7 Rn. 34; implizit aufgegeben in der Folgeauflage durch Thie/Schoch in: LPK-SGB II, 4. Auflage 2011, § 7 Rn. 27), dass es bei den genannten Drittstaatsangehörigen kein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche gebe (Verweis auf §§ 4-6, 16-38a AufenthG) und dies auch für die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Studienabschluss nach § 16 Abs. 4 AufenthG, die einen Annex des Aufenthaltsrechts zum Zweck der Ausbildung darstelle, gelten dürfte, trifft nicht zu. Dass das vorherige Vorliegen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG ist, führt nicht dazu, dass Letztere weiterhin zum Zwecke des Studiums erteilt wird. Die Verlängerung des Aufenthaltsrechts nach erfolgreichem Studium gemäß § 16 Abs. 4 AufenthG dient gerade nicht mehr der Ausbildung, sondern der Arbeitsplatzsuche. Für andere bzw. weitere Zwecksetzungen gibt der Wortlaut des § 16 Abs. 4 AufenthG keine Anhaltspunkte. Dass hierbei eine Erwerbstätigkeit gestattet wird, führt nicht dazu, dass die Ausübung einer Erwerbstätigkeit selbst zum Zweck dieses Aufenthaltsrechts wird. Auch wirkt der Aufenthaltszweck der Durchführung eines Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG nicht im Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG fort. Dieser Zweck wurde in diesen Fällen bereits erreicht und hat sich erledigt, weshalb zur anschließenden Arbeitsplatzsuche ein anderer Aufenthaltstitel erforderlich wird. Mit der Möglichkeit, die Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche um bis zu 18 Monate zu verlängern ist mithin ein Wechsel des Aufenthaltszwecks verbunden (Christ in Kluth/Heusch, BeckOK-AuslR, § 16 AufenthG Rn. 51, beck-online, Stand 01.11.2015).

119

Auch der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Ausschluss nicht greifen soll, wenn zu einem früheren Zeitpunkt oder auch unmittelbar vor Erlangung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht zu anderen Zwecken bestand. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem betroffenen Personenkreis weder um EU-Bürger handelt, auf die die Ausschlussmöglichkeit der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38/EG), abzielt, noch eine Einreise zum Zwecke der Arbeitssuche vorgelegen haben muss (vgl. Brandmayer in: BeckOK-SGB II, § 7 Rn. 9, beck-online, Stand: 01.12.2015).

120

Ob der Kläger zu 1 die materiellen Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht erfüllt, das nicht dem Zweck der Arbeitsuche dient – wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt –, ist vorliegend unerheblich. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der EU oder durch Rechtsverordnung etwas Anderes bestimmt ist oder auf Grund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht. Dementsprechend besteht ein Aufenthaltsrecht außer in den zuletzt genannten Fällen erst dann, wenn ein Aufenthaltstitel erteilt wurde und nicht bereits ab dem Zeitpunkt, an dem die tatsächlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen.

121

Anders als potenziell bei Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer sich bei unfreiwilliger, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) verlängern kann (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.10.2015 – L 20 AS 2197/15 B ER – Rn. 8 ff.), ändert die Arbeitslosigkeit und der Arbeitslosengeldbezug des Klägers zu 1 nichts an dem Zweck des ihm erteilten Aufenthaltstitels.

122

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind im Falle des Klägers zu 1 ab dem 24.11.2015 mithin erfüllt.

123

b) Die Klägerin zu 2 wäre als Familienangehörige des Klägers zu 1 ebenfalls gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II seit dem 24.11.2015 von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

124

Familienangehörige im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Personen, die zu der Person, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt, in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen und über ein Aufenthaltsrecht allein auf Grund des Verwandtschaftsverhältnisses zu der Person mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche verfügen. Sofern die erste Person ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 2a FreizügG/EU verfügt, ergibt sich der vom Leistungsausschluss mitbetroffene Kreis der Familienangehörigen aus einzelnen Tatbeständen des § 3 FreizügG/EU. Sofern die erste Person über eine Aufenthaltserlaubnis aus § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG verfügt, ergibt sich der Kreis der mitbetroffenen Familienangehörigen aus den Regelungen zum Familiennachzug gemäß §§ 27, 30, 32, 33 AufenthG. Ausgenommen sind wiederum diejenigen Familienangehörigen, die über ein eigenständiges, d.h. nicht dem Aufenthaltsrecht der ersten Person gemäß § 27 Abs. 4 Satz 1 AufenthG akzessorisches Aufenthaltsrecht beispielsweise nach den §§ 31, 34 Abs. 2 oder 35 AufenthG verfügen.

125

Die Klägerin zu 2 verfügt als Ehefrau des Klägers zu 1 über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG in Abhängigkeit vom Aufenthaltstitel des Klägers zu 1. Ob die Klägerin zu 2 die materiellen Voraussetzungen für ein vom Aufenthaltstitel des Klägers zu 1 unabhängiges Aufenthaltsrecht erfüllt, das seinerseits nicht dem Zweck der Arbeitsuche dient – wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt –, ist vorliegend wiederum unerheblich (s.o. unter a).

126

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind im Falle der Klägerin zu 2 ab dem 24.11.2015 mithin ebenfalls erfüllt.

127

c) Die Klägerin zu 3 wäre im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie in diesem Fall nicht als Angehörige mindestens eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II leben würde.

128

d) Den Klägern kommt der Umstand nicht zu Gute, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf Grund des Verstoßes gegen zwingendes und unmittelbar geltendes Recht der Europäischen Union bei Unionsbürgern nicht anzuwenden ist. Die Regelung verstößt zwar gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen System der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) gerechtfertigt werden (SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 41 ff.; a.A. ohne nähere Begründung: EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63, dem die meisten Spruchkörper der Sozialgerichtsbarkeit ohne weitere sachliche Auseinandersetzung folgen). Die Kläger unterfallen, da sie nicht Staatsangehörige eines (anderen) EU-Mitgliedstaates (bzw. eines der übrigen EWR-Staaten oder der Schweiz, vgl.Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 27.1, Stand 26.01.2015) sind, gemäß Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 jedoch nicht dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung.

129

e) Die VO (EG) 883/2004 findet bei den Klägern auch nicht auf Grund von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 Anwendung. Nach dieser Vorschrift gilt u.a. die VO (EG) 883/2004 auch für Drittstaatsangehörige, die ausschließlich auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die genannte Verordnung fallen, sowie für ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich „in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft“. Unbeschadet der Unbestimmtheit der Regelung im Hinblick auf die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betreffenden Lage (vgl. Bokeloh, ZESAR 2016, S. 71), sind die Voraussetzungen des Art. 1 VO (EG) 1231/2010 im Fall der Kläger nicht gegeben, da diese über keinerlei rechtliche Beziehungen zu anderen EU-Mitgliedstaaten (bzw. zu den anderen EWR-Staaten oder der Schweiz) verfügen.

130

3.1.2 Im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II wäre die Klage des Klägers zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 abzuweisen.

131

a) Nach § 7 Abs. 5 SGB II in der seit dem 01.04.2012 geltenden Fassung haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) oder der §§ 51, 57 und 58 des SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, über die Leistungen nach § 27 SGB II hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

132

Auf Grund dessen, dass das Bezugswort zum Terminus „dem Grunde nach förderungsfähig“ in § 7 Abs. 5 SGB II „Ausbildung“ und nicht etwa „Auszubildende“ ist, kommt es für das Eingreifen des Ausschlusstatbestands nicht darauf an, ob im Einzelfall tatsächlich eine Förderung nach dem BAföG oder dem SGB III erfolgt (so im Ergebnis auch BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R – Rn. 17 m.w.N.). Das Fehlen individueller Voraussetzungen für eine Förderung ist unerheblich und ändert nichts an der Förderungsfähigkeit dem Grunde nach, auch wenn Auszubildende keine Leistungen nach dem BAföG erhalten, z.B. wegen mangelnder Eignung (§ 9 BAföG), wegen Überschreitens der Altersgrenze (§ 10 BAföG), bei Überschreiten der Förderungshöchstdauer (§ 15a BAföG) oder wegen des Fehlens der Voraussetzungen für die Förderung einer weiteren Ausbildung bei einem nach Maßgabe des Gesetzes unbegründeten Ausbildungs- und Fachrichtungswechsel (§ 7 Abs. 2, 3 BAföG). Die Ausbildung eines ausländischen Studenten ist dem Grunde nach förderungsfähig, auch wenn er tatsächlich keine Ausbildungsförderung erhält, weil er – wie der Kläger zu 1 – die in § 8 BAföG aufgeführten aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 297, Stand 14.03.2016).

133

b) Bei dem Kläger zu 1 liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für diesen Leistungsausschluss für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 vor.

134

Das Studium der Humanmedizin an der Universität …., einer staatlichen Hochschule im Inland, gehört nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BAföG zu den nach dem BAföG förderungsfähigen Ausbildungen.

135

Nach § 15b Abs. 3 Satz 1 BAföG endet die Ausbildung mit dem Bestehen der Abschlussprüfung des Ausbildungsabschnitts oder, wenn eine solche nicht vorgesehen ist, mit der tatsächlichen planmäßigen Beendigung des Ausbildungsabschnitts. Hiervon abweichend ist nach § 15b Abs. 3 Satz 2 BAföG, sofern ein Prüfungs- oder Abgangszeugnis erteilt wird, das Datum dieses Zeugnisses maßgebend; für den Abschluss einer Hochschulausbildung ist stets der Zeitpunkt des letzten Prüfungsteils maßgebend. Auf den Zeitpunkt der Exmatrikulation (vorliegend der 14.12.2015) kommt es demnach nicht an.

136

Die dem Grunde nach durch Leistungen des BAföG förderungsfähige Ausbildung des Klägers zu 1 ist demnach seit dem 18.11.2015 beendet und der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II bis zu diesem Zeitpunkt begrenzt.

137

c) Eine Rückausnahme nach § 7 Abs. 6 SGB II liegt im Falle des Klägers zu 1 nicht vor. Der Kläger hat insbesondere nicht im Sinne des § 7 Abs. 6 Nr. 1 SGB II auf Grund des § 2 Abs. 1a BAföG keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung, weil er keine Ausbildungsstätte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BAföG (weiterführende allgemeinbildenden Schulen und Berufsfachschulen) besucht hat. Der Bedarf des Klägers würde sich nicht entsprechend § 7 Abs. 6 Nr. 2 SGB II nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 BAföG bemessen, weil der Kläger keine Berufsfachschule oder Fachschulklasse besucht hat. Auch § 7 Abs. 6 Nr. 3 SGB II greift nicht, weil der Kläger zu 1 keine der dort genannten Abendschultypen besucht hat. Die an nach dem SGB III förderungsfähige Ausbildungen anknüpfenden Rückausnahmen in § 7 Abs. 6 SGB II sind für das Hochschulstudium des Klägers zu 1 ebenfalls nicht einschlägig.

138

d) Der Kläger zu 1 hat weder einen Anspruch auf Leistungen in Höhe der Mehrbedarfe nach § 27 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 21 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 oder Abs. 6 SGB II noch gegenwärtig auf Erstausstattungsleistungen nach § 27 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II.

139

Ergänzende Leistungen gemäß § 27 Abs. 3 SGB II kommen ebenfalls nicht in Betracht, weil der Kläger zu 1 in der Zeit vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 weder Berufsausbildungsbeihilfe oder Ausbildungsgeld nach dem SGB III oder Leistungen nach dem BAföG erhalten hat, noch diese Leistungen nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten hat.

140

e) Der Kläger zu 1 begehrt im vorliegenden Verfahren die zuschussweise Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II, so dass auch die theoretische Möglichkeit, Darlehensleistungen nach § 27 Abs. 4 Satz 1 SGB II für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auf Grund einer Ermessensentscheidung zu erhalten, sofern der Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 5 SGB II eine besondere Härte bedeuten würde, an der (teilweisen) Klageabweisung für den Fall der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II nichts ändern würde. Im Übrigen wäre hier wohl das Vorliegen einer besonderen Härte zu verneinen, weil der Kläger zu 1 zum Zeitpunkt der Wirkung der Antragstellung am 01.11.2015 noch über ausreichendes Vermögen verfügte, um sein Studium erfolgreich abschließen zu können (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.08.2008 – L 34 B 1550/08 AS ER – Rn. 8; BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 R – Rn. 46). Die begehrte Verurteilung zur Leistung könnte selbst bei Annahme eines besonderen Härtefalls nur unter der Voraussetzung einer Ermessensreduzierung auf Null erfolgen, die bereits auf Grund des noch vorhandenen Schonvermögens nicht in Betracht kommt.

141

3.2 Der Kläger zu 1 hätte für den Fall, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II für nichtig erklärt würde einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015. Für die Zeit vom 19.11.2015 bis zum 23.11.2015 hat er unabhängig von den Vorlagefragen einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 hätte er für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, ebenfalls einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II.

142

Die Klägerin zu 2 hat für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, hätte sie für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 ebenfalls einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II.

143

Die Klägerin zu 3 hat für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 einen Anspruch auf Sozialgeld gemäß §§ 7 Abs. 2, 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, hätte sie für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und für die Zeit vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 ebenfalls einen Anspruch auf Sozialgeld.

144

4. Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen wird ferner nicht dadurch beseitigt, dass der streitgegenständliche Bescheid aus einem anderen Rechtsgrund aufzuheben wäre und/oder den Klägern aus anderen Rechtsgründen Leistungen nach dem SGB II seit dem 01.11.2015 zustehen könnten. Insbesondere liegen weder wirksame Bewilligungsbescheide noch Zusicherungen im Sinne des § 34 SGB X vor, die den Beklagten unabhängig von der materiellen Rechtslage zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an die Kläger verpflichten könnten.

145

5. Die im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit relevante Frage, ob nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II oder nach § 7 Abs. 5 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossene Personen – insbesondere auch die Kläger – Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG haben können, berührt die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nicht. Denn in einem solchen Fall hätte die durch das Gericht zu treffende Entscheidung einen anderen Inhalt. An Stelle des Beklagten wäre die Beigeladene zu einer anderen als der im Hauptantrag begehrten Leistung zu verurteilen. Insbesondere im Hinblick auf unterschiedliche Einkommens- und Vermögensanrechnungsvorschriften wären Leistungen in insgesamt niedrigerer Höhe und unter abweichender Verteilung zwischen den Klägern zu gewähren.

146

6. Im Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wäre der Beklagte daher unter (Teil-)Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 sowie zur Zahlung von Sozialgeld an die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 zu verurteilen, da die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen gegeben sind.

147

Im Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit auch des § 7 Abs. 5 SGB II wäre der Beklagte unter (Teil-)Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 dem Grunde nach zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an den Kläger zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 zu verurteilen.

148

Unabhängig vom Ausgang des Vorlageverfahrens wird der Beklagte unter (Teil-) Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2015 dem Grunde nach zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an die Klägerin zu 2 und zur Zahlung von Sozialgeld an die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 zu verurteilen sein. Denn in diesem Zeitraum verfügte der Kläger zu 1 noch über ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke des Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG, so dass die Klägerin zu 2 nicht als dessen Familienangehörige nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen war. Der Leistungsausschluss des Klägers zu 1 nach § 7 Abs. 5 SGB II gilt anders als der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht auch für Familienangehörige. Die Klägerin zu 3 hat für diese Zeit einen Anspruch auf Sozialgeld jedenfalls auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Bedarfsgemeinschaft der Klägerin zu 2 nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II.

149

Unabhängig vom Ausgang des Vorlageverfahrens wird die Klage abzuweisen sein, soweit die Klägerin zu 3 die Zahlung von Sozialgeld für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 31.01.2016 begehrt und soweit alle Kläger Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016 begehren.

150

7. Die erste Vorlagefrage ist somit entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, da die Klage im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II für den Zeitraum ab dem 24.11.2015 für alle Kläger abzuweisen wäre, bei Nichtigkeit der Vorschrift der Klage für den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 jedenfalls für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.03.2016 und für die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 31.03.2016 hingegen stattzugeben wäre.

151

Die zweite Vorlagefrage ist entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, da die Klage im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 abzuweisen wäre, bei Nichtigkeit der Vorschrift der Klage jedoch auch für diesen Zeitraum stattzugeben wäre.

V.

152

Die Kammer ist von der Verfassungswidrigkeit der genannten Vorschriften überzeugt.

153

Die Kammer hat sich mit der Frage der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (1.) und des § 7 Abs. 5 SGB II (2.) einschließlich der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung und der zu dieser Thematik veröffentlichten Rechtsprechung und Literatur auseinandergesetzt.

154

1. Nachdem der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zunächst vor allem im Hinblick auf dessen mögliche Europarechtswidrigkeit Gegenstand zahlreicher Gerichtsentscheidungen und rechtswissenschaftlicher Diskussionen war, steht seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15.09.2015 (C-67/14) die Frage der Verfassungswidrigkeit der Regelung stärker im Fokus. Hierbei wurden bislang – soweit ersichtlich – ausschließlich Entscheidungen veröffentlicht, die ausländische Staatsangehörige aus Staaten der EU oder deren Familienangehörige betreffen. In der Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig oder zumindest verfassungsrechtlich bedenklich sei (1.1). Des Weiteren wird in verschiedenen Varianten die Auffassung vertreten, dass ein vollständiger Leistungsausschluss von ausländischen Staatsangehörigen wohl gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstieße, ein derartiger Verstoß aber durch „verfassungskonforme Auslegung“ und/oder Heranziehung anderer Normen vermieden werden könne (1.2). Eine dritte Auffassung hält mit unterschiedlichen Begründungen den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unabhängig von anderen existenzsichernden Ansprüchen gegen inländische Leistungsträger für verfassungsgemäß (1.3). In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Verfassungsmäßigkeit eines vollständigen Leistungsausschlusses von ausländischen Staatsangehörigen wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überwiegend bezweifelt, jedenfalls aber für klärungsbedürftig gehalten (1.4).

155

1.1 Die Auffassung, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist, wird in dieser Klarheit – soweit anhand veröffentlichter Entscheidungen ersichtlich – bislang nur von der erkennenden Kammer und der 22. Kammer des SG Hamburg vertreten. Bereits zuvor wurden in der Rechtsprechung allerdings deutliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung geäußert.

156

1.1.1 Der 2. Senat des LSG Sachsen-Anhalt hat im Rahmen einer Folgenabwägung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU (bis zur Feststellung der Ausländerbehörde, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht bestehe) nicht ausreisepflichtigen Antragstellern rumänischer Staatsangehörigkeit festgestellt, dass das Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums greife, solange sie sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und damit im Geltungsbereich des GG aufhielten. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schütze und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden könne (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Die Antragsteller (des dortigen Verfahrens) könnten zur Deckung ihres menschenwürdigen Existenzminimums nicht auf Leistungen nach § 23 SGB XII oder Leistungen nach dem AsylbLG zurückgreifen. Denn nach § 23 Abs. 3 Satz 1 XII hätten Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, und ihre Familienangehörigen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Das AsylbLG gelte für die Antragsteller nicht, weil sie nicht zu dem in § 1 Abs. 1 AsylbLG genannten Personenkreis gehörten. Ob die Antragsteller möglicherweise Ansprüche auf Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII hätten, weil § 21 Satz 1 SGB XII gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen sein könnte, dass für betroffene Unionsbürger ein Leistungsanspruch nach dem SGB II "dem Grunde nach" gerade nicht bestehe und damit der Leistungsausschluss des § 21 Satz 1 SGB XII nicht greife (Bezugnahme auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.10.2012 – 19 AS 1393/12 B ER u.a. – Rn. 71) sei zweifelhaft, wenn sich der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 23 Abs. 3 Satz 1 XII dafür entschieden habe, Versuche, den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durch Rückgriff auf § 23 SGB XII zu umgehen, zu unterbinden (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 01.11.2013 – L 2 AS 841/13 B ER – Rn. 36 f.; ausdrücklich aufgegeben allerdings mit Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40).

157

1.1.2 Im Urteil vom 27.11.2013 weist der 6. Senat des Hessischen LSG (L 6 AS 378/12 – Rn. 63) ergänzend darauf hin, dass ein Totalausschluss von Leistungen zur Sicherung der Menschenwürde allein auf Grund einer Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit am Maßstab der Entscheidungen des BVerfG vom 07.02.2012 (1 BvL 14/07) und vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) verfassungswidrig sein dürfte.

158

In einem Beschluss vom 07.04.2015 (L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 54) hat der 6. Senat des Hessischen LSG das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums der Ausdehnung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Wege einer Analogie auf Personen, deren Aufenthalt allein auf Grund der Freizügigkeitsvermutung legal ist, entgegengehalten. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlange bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger dürfe nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet sei. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthalte (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 31 BvL 3/09, 1 BvL 41 BvL 4/09 – Rn. 136).

159

1.1.3 Auch der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen hält in einem im Wesentlichen zusprechenden Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter Bezugnahme auf das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) fest, dass der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in die Erwägungen einzubeziehen sei, wonach das Existenzminimum eines Ausländers auch bei kurzer Aufenthaltsdauer oder kurzer Aufenthaltsperspektive in Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein müsse. Dieser Anspruch könne weder auf Grund migrationspolitischer Erwägungen – zur Minimierung von Anreizen sozialleistungsmotivierter Wanderbewegungen – verringert, noch könne pauschal nach Aufenthaltstiteln differenziert werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.03.2015 – L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 27).

160

1.1.4 Die vorlegende 3. Kammer des SG Mainz vertritt im Beschluss vom 02.09.2015 die Auffassung, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen das Grundrecht auf Gewährleistungen eines menschenwürdigen Existenzminimums verstößt (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER – Rn. 38 ff. mit Anmerkung Blischke, jurisPR-SozR 4/2016 Anm. 2). Die Begründung fußt im Wesentlichen darauf, dass Leistungsausschlüsse dem Grunde nach, die trotz bestehender Hilfebedürftigkeit eintreten und durch kein anderes existenzsicherndes Leistungssystem (z.B. durch Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG) aufgefangen werden, per se verfassungswidrig seien, da sie evident die Gewähr dafür entzögen, ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sei (Verweis auf SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 219). Das Grundrecht sei – unbeschadet der Beschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) – dem Grunde nach unverfügbar und insoweit – wie es der überkommenen Dogmatik der Menschenwürdegarantie entspreche – abwägungsfest (Bezugnahme auf Baer, NZS 2014, S. 3). Als Menschenrecht stehe das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Ein völliger Ausschluss von Leistungen lasse sich nicht mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG vereinbaren. Ein Rückgriff auf die Auffangregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII sei auf Grund deren systematischer Stellung ausgeschlossen. Eine verfassungskonforme Auslegung sei nur unter Beachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlautes und unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik zulässig. Andernfalls würde die Verfassungskonformität der "ausgelegten" Vorschrift durch einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG und zugleich gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz erkauft. Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums könne nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden.

161

1.1.5 Dieser Auffassung hat sich die (seinerzeit mit der 3. Kammer personalidentische) 12. Kammer des SG Mainz mit Beschluss vom 12.11.2015 (S 12 AS 946/15 ER – Rn. 61 ff.; vgl. auch Krämer, SozSich plus 2016, S. 12) unter Auseinandersetzung mit dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) und der hierzu wiederum ergangenen sozialgerichtlichen Rechtsprechung angeschlossen.

162

1.1.6 Auch die 22. Kammer des SG Hamburg vertritt die Auffassung, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren ist (SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER –Rn. 20 f.). Nach der maßgeblichen Rechtsprechung des BVerfG hänge der individuelle Leistungsanspruch gegen den Staat auf Sicherung des Existenzminimums nicht vom Aufenthaltsstatus, sondern lediglich vom tatsächlichen Aufenthalt im Staatsgebiet ab. Insofern könne der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) auch nicht auf die Inanspruchnahme von existenzsichernden Sozialleistungen in dessen Herkunftsstaat Bulgarien verwiesen werden, etwa weil in allen EU-Staaten ein hinreichendes Mindestsicherungsniveau garantiert sein sollte. Denn auch eine prognostiziert kurze Aufenthaltsdauer rechtfertige keine Einschränkung des Grundrechts. Ein gegenüber dem Existenzsicherungsniveau deutscher Staatsbürger abgesenktes Leistungsniveau könne nicht durch migrationspolitische Erwägungen gerechtfertigt werden. Umso weniger könne ein einfachgesetzlicher vollständiger Entzug notwendiger Leistungen gerechtfertigt werden. Sofern den durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen keine den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechende andere Leistung zustehe, liege ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums vor. Schließlich sei hervorzuheben, dass dem Einzelnen aus verfassungsrechtlichen Gründen einfachgesetzlich ein Leistungsanspruch einzuräumen sei. Die Einräumung einer bloßen Leistungsmöglichkeit ohne Normierung der Leistungsinhalte, beispielsweise im Rahmen einer nicht näher konkretisierten Ermessensvorschrift, sei unzureichend und damit verfassungswidrig. Dem könne nicht durchgreifend entgegengehalten werden, dass das BVerfG in einem Nichtannahmebeschluss vom 09.02.2001 (1 BvR 781/98 – Rn. 25) es unter bestimmten Bedingungen für in der Regel ausreichend gehalten habe, unabweisbare Hilfe in Form von Reise- und Verpflegungskosten zu leisten. Zum einen habe den dort betroffenen Ausländern jedenfalls andernorts im Inland ein Leistungsanspruch zugestanden. Zum anderen könne nicht davon ausgegangen werden, dass die genannte Entscheidung nach den Entscheidungen des BVerfG zur Regelleistung und zum AsylbLG noch den Stand der verfassungsrechtlichen Dogmatik wiedergebe. Vor der Entscheidung zur Regelleistung im Jahr 2010 sei noch nicht einmal geklärt gewesen, ob die Sicherung des Existenzminimums als subjektive Grundrechtsposition des Einzelnen anzusehen sei.

163

1.1.7 Der 6. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen betont im Beschluss vom 30.11.2015 (L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 16 ff.), dass auch nach der Entscheidung des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) die mitgliedsstaatlichen Grundrechte trotz der Einschlägigkeit des Unionsrechts ihre eigenständige Funktion behielten (Hinweis auf Kingreen, NVwZ 2015, S. 1506). Auf der Grundlage gerade auch der Rechtsprechung des BVerfG bestünden berechtigte Bedenken, ob die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der geltenden Form verfassungsgemäß sei. Denn das BVerfG habe in seiner Entscheidung zum AsylbLG (Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10,1 BvL 2/11) ausgeführt, Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG begründe einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zustehe. Insofern müsse ein Leistungsanspruch eingeräumt werden. Soweit diesem Anspruch entgegengehalten werde, es stehe dem Antragsteller frei, in sein Heimatland zurückzukehren, habe dieser Einwand seine sozialpolitische Bedeutung, aber keinen inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Denn der Gewährleistungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG entspreche deshalb ein Leistungsanspruch des Grundrechts-/Menschenrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde des Einzelnen schütze und diese Würde in solchen Notlagen nur oder doch zumindest in erster Linie durch materielle Unterstützung gesichert werden könne. Der Einwand beantworte schlicht die Frage nicht, auf welche Weise und in welchem Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur Ausreise sichergestellt werde, wenn der Betroffene nicht zur Ausreise verpflichtet sei – erst die (vollziehbare) Verpflichtung zur Ausreise würde diese Ausländer dem AsylbLG als Sicherungssystem zuweisen (Hinweis auf § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG).

164

1.2 Die für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG und andere Sozialgerichte halten die Gewährung von existenzsichernden Leistungen trotz der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II an die betroffenen Personen für möglich und gehen aus diesem Grund implizit oder ausdrücklich von der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II aus.

165

1.2.1 Der 16. Senat des Bayerischen LSG hält den zeitlich unbeschränkten völligen Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, der durch den gleich formulierten Ausschluss von Sozialhilfe in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII flankiert werde, im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das vom BVerfG aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet werde, für bedenklich (Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 59 f.). Da es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um kein Grundrecht nur für Deutsche, sondern um ein Menschenrecht handele, gelte es auch für Ausländer, die sich in Deutschland aufhielten, vor allem wenn dieser Aufenthalt rechtmäßig sei. Zwar gestehe das BVerfG dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der zur Gewährleistung dieses Existenzminimums zu erbringenden Leistungen einen Gestaltungsspielraum zu. Es frage sich aber, ob nicht der zeitlich unbegrenzte Ausschluss jeglicher Leistungen für Ausländer, die sich rechtmäßig zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, in den von Art. 19 Abs. 2 GG für unantastbar erklärten Wesensgehalt dieses Grundrechts eingreife. Ob der zeitlich unbefristete Ausschluss von Leistungen an arbeitsuchende Unionsbürger mit der Begründung gerechtfertigt werden könne, dass diese auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen werden könnten (Hinweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30), dürfe zumindest zweifelhaft sein. Ferner sei im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zweifelhaft, ob eine durch sachliche Gründe zu rechtfertigende Ungleichbehandlung darin liege, dass Ausländer, die vollziehbar ausreisepflichtig seien, wenigstens gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG das "reduzierte" Existenzminimum nach dem AsylbLG erhielten, dagegen Ausländer, die die Unionsbürgerschaft besäßen und sich legal in Deutschland aufhielten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ohne zeitliche Begrenzung von jeglichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen seien. Ohne sich endgültig auf eine Rechtsgrundlage festzulegen, verpflichtete der Senat den dortigen Antragsgegner zur Gewährung vorläufiger Leistungen in der nach dem AsylbLG vorgesehenen Höhe (Bayerisches LSG, Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 69).

166

1.2.2 Der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 14) weist darauf hin, dass in der Literatur mit überzeugenden Argumenten die Auffassung vertreten werde, dass selbst hilfebedürftigen Ausländern, bei denen ein Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 SGB XII bzw. eine Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 8 Abs. 2 SGB II vorliege, zumindest Leistungen analog § 1a AsylbLG vom Leistungsträger nach dem SGB XII zur Verfügung gestellt werden müssten, wenn sie nicht Mittel zur Ausreise erhielten. Darüber hinaus gehende Leistungen stünden im Ermessen der Sozialhilfeträger.

167

In einer späteren Entscheidung hält der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für klärungsbedürftig, jedoch im Falle des Eingreifens dieses Leistungsausschlusses in Übereinstimmung mit seiner früheren Entscheidung einen Anspruch auf Sozialhilfe im Ermessenswege für möglich, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.09.2015 – L 19 AS 1260/15 B ER – Rn. 27 und 29; ähnlich derselbe Senat mit Beschluss vom 30.09.2015 – L 19 AS 1491/15 B ER – Rn. 27 unter Hinweis auf den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG. i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG, wonach das Existenzminimum eines Ausländers auch bei kurzer Aufenthaltsdauer oder kurzer Aufenthaltsperspektive in Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein müsse).

168

1.2.3 Der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14) hält es im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für möglich, den beigeladenden Sozialhilfeträger im Rahmen der Folgenabwägung zu verpflichten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossenen Personen Regelbedarfe nach § 27a SGB XII zu gewähren. Zwar hätten Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe (§ 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII). Es begegne jedoch rechtlichen Bedenken, Neu-EU-Bürger bei einem rechtmäßigen Aufenthalt in der BRD von jeglicher staatlicher Unterstützung selbst bei untragbaren Verhältnissen auszuschließen. Solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU festzustellen, entspreche es der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen (Verweis auf BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R – Rn. 4). Erst mit der Verlustfeststellung sei die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU begründet. Auch würde sich eine Schlechterstellung der Unionsbürger aus den Beitrittsgebieten gegenüber aus entfernteren Ländern stammenden Antragstellern nach dem AsylbLG ergeben. Zur Überzeugung des Senats komme bei untragbaren Verhältnissen unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Wertungen nach Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG eine Mindestsicherung nach dem SGB XII bzw. AsylbLG im Wege einer Rechtsfolgenanwendung in Betracht.

169

1.2.4 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f.; vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 – L 15 AS 202/14 B ER – Rn. 21 ff.) erklärt, dass er die in Rechtsprechung und Literatur verschiedentlich geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Ausschluss von arbeitsuchenden Unionsbürgern von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowohl nach dem SGB II als auch nach dem SGB XII nicht teile. Dabei übersehe er nicht, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG dem Grunde nach unverfügbar sei und durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden müsse. Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlten, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen seien, sei der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben könne aber dadurch Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf Mindestsicherung nach dem SGB XII eingeräumt werde. Es sei – soweit ersichtlich – in der sozialhilferechtlichen Literatur unumstritten, dass auch bei Vorliegen von Leistungsausschlussgründen Ausländern, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, ein Anspruch auf die nach den Umständen des Einzelfalls unabweisbar gebotenen Leistungen erhalten bleibe (Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 4). Welche Leistungen unabweisbar seien, hänge von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland komme in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht (Überbrückungsleistungen). Sei die Rückkehr im Einzelfall vorerst nicht möglich, seien längerfristige Leistungen zu erbringen, die das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum sicherten. Diese könnten sich an den Leistungen nach dem AsylbLG orientieren. Einem solchen Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe stehe nicht § 21 Satz 1 SGB XII entgegen, wonach Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt seien, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten. Der verfassungsrechtlich gebotene Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums lasse sich bei Unionsbürgern, die dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterlägen, im Rahmen des Regelungsgefüges des SGB II nicht verwirklichen. Im Rahmen des SGB XII werde dieser Anspruch aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, des § 1 a AsylbLG oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitet. Nach Auffassung des Senats bestehe bei arbeitsuchenden Unionsbürgern, die ohne ausreichende Existenzmittel in die Bundesrepublik eingereist seien und auf dem Arbeitsmarkt bislang weder als Arbeitnehmer noch als Selbstständige Fuß gefasst hätten, eine atypische Bedarfslage, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) rechtfertige. § 21 Satz 1 SGB II stehe der Anwendung dieser Norm, die sich nicht im 3. Kapitel des SGB XII über die Hilfe zum Lebensunterhalt finde, nicht entgegen.

170

1.2.5 Auch der 7. Senat des Hessischen LSG hält grundsätzlich einen Anspruch auf Gewährung von Hilfen in sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII gegen den Sozialhilfeträger für möglich, weil das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dem Grunde nach unverfügbar sei und durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden müsse (Hessisches LSG, Beschluss vom 18.09.2015 – L 7 AS 431/15 B ER – Rn. 21).

171

1.2.6 Der 4. Senat des LSG Hamburg vertritt unter Anschluss an den 7. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER) die Auffassung, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem nationalen Verfassungsrecht vereinbar sei. Den verfassungsrechtlichen Vorgaben könne aus Sicht des Senats dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen eingeräumt werde (Bezugnahme auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER). Welche Leistungen unabweisbar seien, hänge dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland komme in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht. Es könne dahingestellt bleiben, ob ein solcher Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, des § 1a AsylbLG oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG herzuleiten sei oder ob in entsprechenden Fällen von einer atypischen Bedarfslage auszugehen sei, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII rechtfertige. Aus der Entscheidung des BVerfG zum AsylblG (Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 2/11) folge nichts Anderes. In jener Entscheidung sei es um die Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs nach § 3 AsylbLG gegangen. Nur in diesem Zusammenhang habe das BVerfG ausgeführt, dass Leistungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren begründet werden müssten und die Höhe der Leistungsansprüche nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenziert werden dürfe. Hier jedoch gehe es um einen Leistungsausschluss, der seine Rechtfertigung in dem europäischen Konzept einer Freizügigkeit finde, ohne dass zugleich (schon) eine so genannte Sozialunion hergestellt sei. Dieses Konzept sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wobei der Senat davon ausgehe, dass in sämtlichen Mitgliedsstaaten der EU deren grundlegende, in Art. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgelegten Werte, wozu Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte gehörten, gewährleistet seien. Weiter habe das BVerfG in jener Entscheidung ausgesprochen, dass die Hilfebedürftigen nicht auf freiwillige Leistungen verwiesen werden dürften, sondern der Gesetzgeber ihnen ein entsprechendes subjektives Recht einräumen müsse. Dem genüge der oben beschriebene Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen, der – wie etwa auch der Anspruch nach § 1a oder § 11 Abs. 2 AsylbLG bzw. nach § 23 SGB XII – ein gesetzlicher Anspruch sei, selbst wenn seine konkrete Ausgestaltung im Einzelfall nicht direkt aus dem Gesetz ablesbar sei. Anders als bei der Bemessung der Leistungen nach § 3 AsylbLG stoße der Gesetzgeber wegen der Individualität und Situationsbezogenheit dieses Anspruchs an sachbezogene Grenzen. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Vielmehr beruhe er auf sachgerechten Gründen, nämlich dem bereits erwähnten europäischen Konzept der Freizügigkeit einerseits und dem grundsicherungsrechtlichen Grundsatz der Selbsthilfe andererseits. EU-Bürger seien nämlich typischerweise ohne weiteres im Stande, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren und dort unter adäquaten, menschenwürdigen Umständen zu leben. Insoweit sei ihre Situation mit der in § 11 Abs. 2 AsylbLG geregelten Lage derjenigen Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG vergleichbar, denen bei Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung im Bundesgebiet nur die unabweisbar gebotene Hilfe zu leisten sei. Zwar möge es im Hinblick auf § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG Fälle geben, in denen ausländische Nicht-EU-Bürger Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, obwohl sie ebenfalls ohne weiteres in ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten. Darin liege aber – abgesehen von der politischen Diskussion über Rechtsänderungen in diesem Bereich – kein relevanter Gleichheitsverstoß, weil der Gesetzgeber bei der ihm nur möglichen typisierenden Betrachtung nicht von der gleichmäßigen Gewähr adäquater, menschenwürdiger Umstände außerhalb der EU ausgehen müsse (LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9 ff.).

172

1.2.7 Der 4. Senat des BSG vertritt in zwei Urteilen vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R und B 4 AS 44/15 R) die Auffassung, dass Personen, die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen sind, ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII zustehen kann. Hierbei hat er zu Grunde gelegt, dass der Ausschluss arbeitsuchender Unionsbürger von SGB II-Leistungen auch für diejenigen Unionsbürger greife („erst-recht“), die über kein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügigG/EU oder dem AufenthG verfügen. Auch bei fehlender Freizügigkeitsberechtigung seien aber zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen. Im Falle eines verfestigten Aufenthalts, den das BSG bei einem Aufenthaltszeitraum von mehr als sechs Monaten annimmt, sei dieses Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen sei (BSG, Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.). Die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist, hat der 4. Senat des BSG in diesen Entscheidungen nicht ausdrücklich erörtert.

173

Der 4. Senat des BSG hat seine Rechtsprechung mit Urteilen vom 17.02.2016 (B 4 AS 24/14 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht) und vom 17.03.2016 (B 4 AS 32/15 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht), in der letzten Entscheidung allerdings von einer Nichtanwendung der Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 SGB XII bei einem Angehörigen eines EFA-Signatarstaates ausgehend, aufrechterhalten.

174

1.2.8 Der 14. Senat des BSG hat sich dem 4. Senat mit Urteilen vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R) und vom 20.01.2016 (B 14 AS 15/15 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht – und B 14 AS 35/15 R) angeschlossen und hierbei auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II angesprochen, allerdings keine verfassungsrechtlichen Bedenken gesehen. Der Leistungsausschluss zu Lasten der Klägerinnen und Kläger der dortigen Verfahren sei insbesondere schon deshalb mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar, weil den jeweiligen Klägerinnen und Klägern existenzsichernde Leistungen durch den beigeladenen bzw. beizuladenden Sozialhilfeträger nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu gewähren seien (BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R – Rn. 36; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 18/14 R – Rn. 34; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 33; BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 32). Der 14. Senat des BSG führt zur Begründung des sozialhilferechtlichen Anspruchs an, dass es auf die Möglichkeit einer Heimkehr des Ausländers in sein Herkunftsland in diesem Zusammenhang nicht ankomme. Diese Möglichkeit sei im Hinblick auf die Ausgestaltung des genannten Grundrechts als Menschenrecht schon verfassungsrechtlich jedenfalls solange unbeachtlich, wie der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland von den zuständigen Behörden faktisch geduldet werde. Ungeachtet dessen finde der Verweis auf eine so verstandene Selbsthilfe in dieser Lage nach dem derzeit geltenden Recht auch sozialhilferechtlich keine Grundlage. Zwar erhalte Sozialhilfe nach dem Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XII nicht, wer sich – vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens – selbst helfen könne oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhalte. Diese Vorschrift sei jedoch nach der Rechtsprechung des Sozialhilfesenats des BSG keine eigenständige Ausschlussnorm, sondern ihr komme regelmäßig nur im Zusammenhang mit ergänzenden bzw. konkretisierenden sonstigen Vorschriften des SGB XII Bedeutung zu; ein Leistungsausschluss ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII sei mithin allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließe und Ansprüche ohne Weiteres realisierbar seien (Hinweis auf BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R – Rn. 25). Für die Annahme einer solchen Ausnahmelage fehle indes – nachdem eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für einen Verweis auf die Rückkehr in das Heimatland nach geltendem Recht im SGB XII nicht bestehe – ohne Begründung einer Ausreisepflicht des Ausländers als Ergebnis eines ausländerbehördlichen Verfahrens schon im Ansatz jeder Anhaltspunkt (BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 42).

175

1.2.9 Dem BSG haben sich inzwischen – jeweils im Rahmen von Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und vorbehaltlich einer Prüfung im Hauptsacheverfahren – die 17. Kammer des SG Darmstadt (Beschluss vom 04.12.2015 – S 17 SO 211/15 ER – Rn. 28 ff.), der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschlüsse vom 16.12.2015 – L 7 AS 1466/15 B ER – Rn. 14, vom 17.12.2015 – L 7 AS 1711/15 B ER – Rn. 12, vom 04.03.2016 – L 7 AS 2143/15 B ER – Rn. 14, vom 22.03.2016 – L 7 AS 354/16 B ER, L 7 AS L 7 AS 355/16 B – Rn. 10und vom 07.04.2016 – L 7 AS 288/16 B ER – Rn. 20 f.), der 25. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 21.12.2015 – L 25 AS 3035/15 B ER – Rn. 8), die 128. Kammer des SG Berlin (Beschluss vom 04.01.2016 – S 128 AS 25271/15 – Rn. 32 ff.), der 28. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 15.01.2016 – L 28 AS 3053/15 B ER – Rn. 8), die 3. Kammer des SG Kassel (Beschluss vom 21.01.2016 – S 3 AS 217/15 ER – Rn. 46), die 11. Kammer des SG Mainz (Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht), die 62. Kammer des SG Dortmund (Beschluss vom 11.02.2016 – S 62 SO 43/16 ER – Rn. 23 ff.), der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschlüsse vom 24.02.2016 – L 19 AS 1834/15 B ER, L 19 ASL 19 AS 1835/15 B – Rn. 18,vom 24.03.2016 – L 19 AS 289/16 B ER – Rn. 28 und vom 14.04.2016 – L 19 AS 576/16 B ER – Rn. 2), die 26. Kammer des SG Neuruppin (Beschluss vom 22.03.2016 – S 26 AS 378/16 ER – Rn. 20 ff.) und der 6. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.04.2016 – L 6 AS 2249/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 21/16 B – Rn. 20) angeschlossen (grundsätzlich dem BSG folgend, eine Ermessensreduzierung auf Null jedoch ablehnend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 23 SO 46/16 B ER, L 23 SOL 23 SO 47/16 B ER PKH –, Rn. 21 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 15 SO 53/16 B ER – Rn. 23 ff. und LSG Hamburg, Beschluss vom 14.04.2016 – L 4 AS 76/16 B ER – Rn. 8 ff.).

176

1.2.10 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen geht zwar im Beschluss vom 07.03.2016 (L 15 AS 185/15 B ER – Rn. 16 f.) mit dem BSG davon aus, dass Hilfe zum Lebensunterhalt als Ermessensleistung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII erbracht werden kann, hält die vom BSG vorgesehene Differenzierung zwischen einem Aufenthalt von bis zu sechs Monaten und einem darüberhinausgehenden Aufenthalt nicht für zulässig. Das BVerfG habe im Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) festgestellt, dass der Anspruch auf Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen gleichermaßen zustehe, er seinem Umfang nach zwischen unterschiedlichen Gruppen Hilfebedürftiger nur dann differenzierend zu bemessen sei, wenn und soweit sich eine verschiedene Bedürfnislage feststellen lasse und er im Übrigen der Konkretisierung durch vom Gesetzgeber auszugestaltende Normen bedürfe. Soweit sich hieraus Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des grundsätzlichen Anspruchsausschlusses nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII und seiner Ergänzung durch die auf Einzelfälle beschränkte Ermächtigung zu einer Leistungsgewährung nach Ermessen in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ergeben würden, wären diese nicht auf EU-Bürger mit einem Aufenthalt von mehr als sechs Monaten beschränkt. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG seien die Anforderungen der Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG an die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums vom Beginn eines Aufenthalts im Bundesgebiet an durchgängig zu verwirklichen. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines dem Wortlaut von § 23 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 1 Satz 3 SGB XII folgenden Normverständnisses, das von der Geltung eines allgemeinen Anspruchsausschlusses für arbeitssuchende und ihnen gleichzustellende Ausländer sowie einer nur im Einzelfall eröffneten Möglichkeit zu einer Leistungsbewilligung im Ermessenswege ausgehe, wären damit ganz genereller Art und angesichts des nach seinem eindeutigen Wortlaut klaren Ausnahmecharakters von § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII nur durch eine Richtervorlage nach Art. 100 GG zu klären. Der Senat halte allerdings den Anspruchsausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII und die auf Einzelfälle begrenzte Ermächtigung zu Ermessensleistungen in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII für verfassungsrechtlich unbedenklich. Gerade die Ausübung von Ermessen erlaube es nämlich dem zuständigen Sozialhilfeträger, der individuellen Lebenssituation hilfebedürftiger Ausländer Rechnung zu tragen. An ihr habe sich auch nach der Rechtsprechung des BVerfG die Hilfegewährung auszurichten (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 66, 69). Daran, dass das soziokulturelle Existenzminimum gewährleistet werden müsse, bleibe der Sozialhilfeträger auch im Rahmen einer ihm eröffneten Ermessensentscheidung gebunden.

177

1.2.11 Die 32. Kammer des SG Halle (Saale) (Beschluss vom 14.04.2016 – S 32 AS 1109/16 ER – Rn. 37 ff.) folgt zwar dem BSG dahingehend, dass Ermessensleistungen nach § 21 Abs. 1 Satz 3 SGB XII für den vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis grundsätzlich möglich seien, sieht aber das Ermessen erst eröffnet, wenn die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht besteht.

178

1.3 Insbesondere seit Bekanntgabe des Urteils des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) und verstärkt seit Bekanntwerden der Urteile des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 43/15 R und B 4 AS 44/15 R) wird von zahlreichen Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit vertreten, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei verfassungsgemäß und es sei entgegen der Auffassung der beiden für das SGB II zuständigen Senate des BSG weder nach geltendem Recht möglich noch verfassungsrechtlich geboten, hiervon betroffenen Personen Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII oder sonstige existenzsichernde Leistungen zu gewähren.

179

1.3.1 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen vertrat bereits mit Beschluss vom 26.02.2010 (L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30) die Auffassung, dass Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 3 GG durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verletzt werde. Der Staat sei zwar verpflichtet, dem mittellosen Bürger die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern. Dabei sei dem Gesetzgeber allerdings im Rahmen der Entscheidung, in welchem Umfang Fürsorgeleistungen unter Berücksichtigung vorhandener Mittel gewährt werden könnten, ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet (Hinweis auf Beschluss des BVerfG vom 29.05.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86). Danach sei nicht zu beanstanden, wenn Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für arbeitsuchende Unionsbürger europarechtskonform nicht gewährt und diese damit auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen würden.

180

1.3.2 Der 2. Senat des LSG Sachsen-Anhalt kam in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren unter Aufgabe der im Beschluss vom 01.11.2013 (L 2 AS 841/13 B ER – Rn. 36 f., s.o. unter 1.1.1) geäußerten Auffassung zu dem Ergebnis, dass die gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossene Antragstellerin des dortigen Verfahrens einen Leistungsanspruch, solange sie noch in der BRD lebe, auch nicht aus dem Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 GG herleiten könne. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schütze und diese in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden könne (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Allerdings bestehe hier die Besonderheit, dass die Unionsbürgerin ihren Existenzsicherungsanspruch auch in ihrem Herkunftsland geltend machen könne, da in der EU gewisse soziale Mindeststandards bestünden, auf die sich die Mitgliedstaaten geeinigt hätten. Nach Art. 13 der Europäischen Sozialcharta vom 18.10.1961 (ESCh) verpflichteten sich die Vertragsparteien sicherzustellen, dass jedem der nicht über ausreichende Mittel verfüge und sich diese auch nicht selbst oder von anderen verschaffen könne, ausreichende Unterstützung gewährt werde. Die Tschechische Republik (Herkunftsstaat der Antragstellerin des dortigen Verfahrens) habe dieses Abkommen und diesen Artikel am 03.11.1999 ratifiziert. Die Antragstellerin habe damit einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen innerhalb der EU. Ein Anspruch darauf, ihre existenzsichernden Leistungen in einem bestimmten EU-Mitgliedstaat erhalten zu müssen, bestehe nicht. Gegebenenfalls müsse der Antragstellerin ermöglicht werden nach Tschechien zurückkehren zu können, um ihre Rechte dort wahrnehmen zu können. Anders als bei einem Asylsuchenden, der sich auf das Grundrecht aus Art. 16 GG stütze, gebe es auch keinen rechtlich beachtlichen Hinderungsgrund für eine Rückkehr in dieses Heimatland (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40).

181

1.3.3 Der 1. Senat des LSG Baden-Württemberg vertritt in einem Beschluss vom 29.06.2015 (L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39) die Auffassung, dass der dortige Antragsteller slowakischer Staatsangehörigkeit einen Leistungsanspruch nicht unmittelbar aus dem Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 GG herleiten könne. Dieses Grundrecht stehe als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsbürgern, die sich in der BRD aufhalten, gleichermaßen zu. Ein von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung daraus abgeleiteter individueller Leistungsanspruch bedürfe der Ausgestaltung durch ein Gesetz; sein Umfang könne nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden; vielmehr stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (Hinweis auf Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62-66). Darüber hinaus gelte auch das Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht schrankenlos: Anders als ein vollziehbar ausreisepflichtiger ehemaliger Asylbewerber, dessen Rückkehr in das (eventuell von Seiten der Behörden gar nicht sicher zu ermittelnde) Herkunftsland sowohl erhebliche tatsächliche als auch rechtliche Probleme (Abschiebungshindernisse) entgegen stehen könnten, sei der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) als Unionsbürger nicht gehindert, sich innerhalb des so genannten Schengen-Raumes frei zu bewegen, weshalb einer sofortigen Rückkehr in sein Heimatland nichts entgegen stehe.

182

1.3.4 Der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz lehnte mit Beschluss vom 31.08.2015 (L 3 AS 430/15 B – nicht veröffentlicht) bezogen auf nach seiner Auffassung vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit der Begründung ab, dass die von den dortigen Klägern angeführte Rechtsprechung des BVerfG zur Höhe der Leistungen nach dem AsylbLG auf den dem Gericht vorliegenden Fall nicht übertragbar sei, da die betroffenen Personengruppen, einerseits Asylbewerber, andererseits freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger, sich nicht in vergleichbaren Notlagen befänden. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers, unterschieds- und voraussetzungslos Sozialleistungen auch an Ausländer ohne Recht zum Aufenthalt zu erbringen, bestehe auch nach dieser Rechtsprechung nicht.

183

Mit einem Beschluss vom 05.11.2015 (L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 21 ff.) hat der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz unter Aufhebung des Beschlusses der vorlegenden Kammer vom 02.09.2015 (S 3 AS 599/15 ER) seine Auffassung bekräftigt, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verfassungswidrig sei. Das Grundgesetz gebiete nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13). Vielmehr liege es in der politischen Verantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums zu bestimmen, welche Leistungen in welcher Höhe zur Existenzsicherung gewährt werden und die hierbei erforderlichen Wertungen vorzunehmen. In Ausübung seines Gestaltungsspielraums habe der parlamentarische Gesetzgeber – nach Auffassung des Senats ausreichende – Regelungen bezüglich der Gewährung von Leistungen zur Existenzsicherung getroffen. Nach der Willensbildung des parlamentarischen Gesetzgebers könnten solche heute nach dem SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG beansprucht werden. Der gemeinsame verfassungsrechtliche Kern aller drei heutigen Existenzsicherungssysteme sei das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Die erfolgten Differenzierungen hinsichtlich der Leistungshöhe in Abhängigkeit von den Besonderheiten bestimmter Personengruppen seien zulässig (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73) und schlössen die strukturelle Gleichwertigkeit der drei Leistungssysteme nicht aus. Unter Berücksichtigung der bestehenden Regelungen zur Gewährung von Leistungen zur Existenzsicherung sei das Grundrecht des (kolumbianischen) Antragstellers des dortigen Verfahrens auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht verletzt. Er könne darauf verwiesen werden, Leistungen seines Heimatlandes zur Sicherung seines Lebensunterhaltes in Anspruch zu nehmen oder von seinem Freizügigkeitsrecht innerhalb des Hoheitsgebiets der EU Gebrauch zu machen. Mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, habe der Gesetzgeber den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch der aus dem gesetzlichen Leistungsausschluss resultierende faktische Zwang ins Herkunftsland zurückkehren oder in einen anderen Mitgliedstaat reisen zu müssen, weil es dem Antragsteller nicht möglich sei, seinen Lebensunterhalt in der BRD sicherzustellen, stelle keine Verletzung seines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dar. Er sei vergleichbar mit der Situation von Auszubildenden und Studenten, die ihre Arbeitskraft für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssten (Hinweis auf BVerfG, Beschlüsse vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 und vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11). Der dem GG verpflichtete Gesetzgeber habe auch keine aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG resultierende verfassungsrechtliche Pflicht über die bereits getroffenen Regelungen hinaus jedem Menschen, der sich – aus welchen Gründen auch immer, also legal oder illegal – in der BRD aufhalte, voraussetzungslose Sozialleistungen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13) zu gewähren und die drei heutigen Existenzsicherungssysteme um eine weitere Regelung zu ergänzen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den Grundsätzen, die der 1. Senat in seiner Entscheidung vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) für die nach dem AsylbLG zu gewährenden Leistungen aufgestellt habe. Insbesondere sei hieraus nicht der Schluss zu ziehen, das BVerfG habe hier grundlegend entschieden, dass jeder Mensch, der – aus welchen Gründen auch immer – in die BRD einreise und sich hier aufhalte, generell und voraussetzungslos über die bereits bestehenden Existenzsicherungssysteme Anspruch auf (dauerhafte) staatliche Leistungen zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums unmittelbar aus der Verfassung habe. Abgesehen davon, dass ausdrücklich nur über § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und § 3 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 AsylbLG sowie § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 und § 3 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG (jeweils in der Fassung der Bekanntmachung vom 05.08.1997, BGBl. Teil I S. 2022) zu entscheiden gewesen sei, ergebe sich insbesondere aus der Begründung, dass diese Erwägungen nicht allgemein in dem vom SG (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER) angenommenen Sinne zu verstehen seien, sondern mit Blick auf die konkrete Fragestellung, nämlich ob die nach dem AsylblG für diesen Personenkreis zu gewährenden Leistungen unter Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG ausreichten, die entsprechenden Regeln also verfassungsgemäß seien.

184

Diese Rechtsauffassung hat der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz mit Beschlüssen vom 11.02.2016 (L 3 AS 668/15 B ER – Rn. 18 ff. unter Aufhebung von SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER) und vom 18.02.2016 (L 3 AS 19/16 B ER – nicht veröffentlicht) aufrechterhalten.

185

1.3.5 Auch nach Auffassung des 20. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22 f.) begegnet der Leistungsausschluss keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere könne der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) einen Leistungsanspruch nicht aus dem Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1, 20 GG herleiten. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum eingeräumt sei. Dies schließe es jedenfalls nicht aus, die Leistungen nur insoweit vorzuhalten, wie es erforderlich sei, um einen Betroffenen in die Lage zu versetzen, dass er existenzsichernde Leistungen seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen könne. Sei ein Unionsbürger in der Lage, ohne weiteres in sein Herkunftsland zu reisen, um dort existenzsichernde Leistungen in Anspruch zu nehmen, sei der Staat im Rahmen seiner Gewährleistungsverpflichtung allenfalls gehalten, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung (Hinweis auf BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09.02.2001 – 1 BvR 781/98 – zu § 120 Abs. 5 BSHG), vorzuhalten. Soweit angenommen werde, dass der vollständige Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II „ohne anderweitige Kompensationsmöglichkeit eine Sicherung des Existenzminimums dem Grunde nach“ ausschließe (Hinweis auf SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER), werde verkannt, dass bei einem Unionsbürger, der sich ohne Aufenthaltsrecht im Sinne des Art. 7 RL 2004/38/EG im Inland aufhalte und der nicht aus anerkennenswerten, schwerwiegenden Gründen an der Rückreise gehindert sei, gerade eine „Kompensationsmöglichkeit“ durch Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen im Herkunftsland bestehe. Im der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall bestehe dabei in Polen ein System der Fürsorgeleistungen, welches einen Anspruch für Personen vermittle, deren Nettoeinkommen 542 PLN monatlich nicht erreiche. Diese Personen erhielten Sozialhilfe in Form von Geld- und Sachleistungen. Anders als der Personenkreis, für den das AsylbLG einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen vermittle, seien Personen aus Mitgliedstaaten der EU in der Regel in der Lage, kurzfristig in ihren Herkunftsstaat zu reisen. Daher könne die Gewährleistungsverpflichtung aus Art. 1, 20 GG für den Personenkreis der Anspruchsberechtigten nach dem AsylbLG, die gerade nicht in jedem Fall kurzfristig in ein anderes Land ausreisen könnten, um dort ihre Existenz zu sichern, auch höhere und länger andauernde Leistungen zur Existenzsicherung umfassen, als für ausländische Staatsbürger, die ihrer Notlage kurzfristig selbst begegnen könnten. Bei diesem Personenkreis könne sich die Gewährleistungsverpflichtung darin erschöpfen, sie bei den Bemühungen der Selbsthilfe durch reine Nothilfemaßnahmen zu unterstützen. Über solche Leistungen (Reise- und Verpflegungskosten) sei hier nicht zu entscheiden gewesen, da der Antragsteller diese nicht geltend gemacht habe (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22).

186

1.3.6 Der 2. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen unternimmt in seinem Beschluss vom 29.09.2015 (L 2 AS 1582/15 B ER – Rn. 5; ähnlich derselbe Senat mit Beschluss vom 09.11.2015 – L 2 AS 1714/15 B ER – Rn. 4 und der 6. Senat des LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 13.10.2015 – L 6 AS 454/15 B ER – nicht veröffentlicht) keine verfassungsrechtliche Prüfung, sondern stellt lediglich fest, dass mit dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) nunmehr abschließend geklärt sei, dass der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II enthaltene Leistungsausschluss für Ausländer nicht europarechtswidrig und damit als geltendes Bundesrecht anwendbar sei.

187

1.3.7 Der 7. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 31 ff.) ist der Auffassung, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Das BVerfG habe in den Beschlüssen vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) den Ausschluss von Leistungen nach SGB II für Auszubildende gemäß § 7 Abs. 5 SGB II gebilligt. Der Leistungsausschluss sei – nach Auffassung des BVerfG – schon deswegen nicht zu beanstanden, weil während eines Studiums die Arbeitskraft nicht, wie von § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II verlangt, zur Beschaffung des Lebensunterhalts eingesetzt werde. Im Übrigen verweise das BVerfG auf eine vorrangige Förderung durch das BAföG, das in den betreffenden Fällen aber nicht zum Tragen gekommen sei. Dem entnehme der Senat, dass ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen in bestimmten Lebenssituationen grundsätzlich möglich sei. Soweit das BVerfG in diesen Beschlüssen annehme, dass Betroffene gezwungen sein könnten, ihre Lebensumstände gravierend zu ändern ("Der faktische Zwang, eine Ausbildung abbrechen zu müssen ..."), sei das vergleichbar mit dem faktischen Zwang, dass vom SGB II-Bezug ausgeschlossene Ausländer in ihr Heimatland zurückkehren und wie alle anderen dortigen Bewohner mit den Sozialleistungen bzw. Erwerbsmöglichkeiten im Heimatland zurechtkommen müssten bis sie ein neues Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat begründen könnten. Hierin unterscheide sich auch die Situation der hier Betroffenen grundlegend von der Situation der Asylsuchenden, die nicht auf diese Möglichkeit verwiesen werden könnten (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).

188

1.3.8 Der 16. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 31 ff.) hat ebenfalls keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums stehe als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsbürgern, die sich in der BRD aufhielten, grundsätzlich gleichermaßen zu (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Der Staat sei im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, die materiellen Voraussetzungen für Hilfebedürftige zur Verfügung zu stellen. Migrationspolitische Erwägungen seien nicht geeignet, die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde zu relativieren. Ein daraus abgeleiteter individueller Leistungsanspruch bedürfe allerdings der Ausgestaltung durch ein Gesetz. Hinsichtlich dessen Umfang stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Auch inländischen Staatsangehörigen gewährleiste die Verfassung nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09). Der Umfang des Leistungsanspruches ergebe sich weder aus Artikel 1 Abs. 1 GG noch aus der Verfassung. Er hänge von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation sowie den wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab. Dieses Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sei nicht verletzt. Die Antragstellerin (des dem Senat vorliegenden Verfahrens) könne darauf verwiesen werden, Leistungen ihres Heimatlandes zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes in Anspruch zu nehmen. Mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus der Arbeitsuche ableiteten, habe der Gesetzgeber den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert. Dies sei nicht zu beanstanden. Der faktische Zwang ins Herkunftsland zurückkehren zu müssen, weil es der Antragstellerin nicht möglich sei, ihren Lebensunterhalt in der BRD sicherzustellen, stelle keine Verletzung der Art. 1 Abs. 2, 20 Abs. 1 GG dar. Er sei vergleichbar mit der Situation von Auszubildenden und Studenten, die ihre Arbeitskraft für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssten. Das BVerfG habe die Leistungsausschlüsse für Studenten und Auszubildende gemäß § 7 Abs. 5 SGB II gebilligt (Hinweis auf Beschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 und vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11), mit der Folge, dass die Betroffenen letztlich gezwungen seien, ihre Ausbildung abzubrechen und ihre Arbeitskraft zur Beschaffung Ihres Lebensunterhaltes einzusetzen. Hierin unterscheide sich auch die Situation der Antragstellerin (des dortigen Verfahrens) grundlegend von der Situation der in den Anwendungsbereich des AsylbLG fallenden Asylsuchenden. Die Antragstellerin sei als Unionsbürgerin anders als Asylsuchende nicht daran gehindert, sich innerhalb des so genannten "Schengen-Raumes" frei zu bewegen oder in ihr Herkunftsland Portugal zurückzukehren. Soweit sie vortrage, auf Grund einer Erkrankung derzeit nicht arbeitsfähig zu sein, sei festzustellen, dass auch ihr Heimatstaat Portugal die ESCh unterzeichnet und ratifiziert habe. Portugal habe sich damit verpflichtet sicherzustellen, dass jedem, der nicht über ausreichende Mittel verfüge und sich diese auch nicht selbst oder von anderen, insbesondere durch Leistungen aus einem System der sozialen Sicherheit verschaffen könne, ausreichende Unterstützung und Krankenbehandlung gewährt werden (Verweis auf Artikel 13 ESCh – „Das Recht auf Fürsorge“). Auch tatsächlich verfüge Portugal über steuerfinanzierte und beitragsunabhängige Systeme für alle Einwohner, die sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befinden (Verweis auf die Quelle: www.sozialkompass.eu). Unberührt vom Leistungsausschluss blieben Ansprüche auf Hilfen zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII. Solche seien aber nicht Gegenstand des Eilverfahrens. Die Antragstellerin müsse also in Konsequenz der Entscheidung des Senats damit rechnen, ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik (vorübergehend) aufgeben und sich an das Fürsorgesystem ihres Herkunftsstaates Portugal wenden zu müssen, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichern könne. Dass die Verweisung der Antragstellerin auf die Inanspruchnahme dieser Leistungen in ihrem Heimatstaat gegen Art. 1 GG oder Art. 20 GG verstoßen würde, vermöge der Senat nicht zu erkennen.

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1.3.9 Auch der 6. Senat des LSG Rheinland-Pfalz sieht in einem Beschluss vom 02.11.2015 (L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht) im Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II keinen Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht, das der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfe, gelte nicht schrankenlos. Der Gesetzgeber habe daher bei der Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes II berücksichtigen dürfen, dass Unionsbürger regelmäßig in der Lage seien, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und die dortigen Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Da der Senat keine Hinweise darauf habe, dass die (bulgarische) Beschwerdeführerin des dortigen Verfahrens aus gesundheitlichen oder anderen schwerwiegenden Gründen gehindert wäre, nach Bulgarien zurückzukehren, müsse nicht entschieden werden, ob in diesem Falle ausnahmeweise ein konkreter Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet werden könne.

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1.3.10 Seither hat eine große Anzahl von Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit Entscheidungen veröffentlicht, in denen die Verfassungswidrigkeit ebenso wie die Europarechtswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verneint wird und – insbesondere nach den Urteilen des 4. Senats des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 43/15 R und B 4 AS 44/15 R) und in kritischer Auseinandersetzung mit diesen – die Möglichkeit der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII abgelehnt wird (SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 – S 30 AS 3827/15 ER – Rn. 30 ff.; SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 26 ff.; SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 –Rn. 89 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.01.2016 – L 29 AS 20/16 B ER, L 29 ASL 29 AS 21/16 B ER PKH – Rn. 22 ff.; SG Halle (Saale), Beschluss vom 22.01.2016 – S 5 AS 4299/15 ER – Rn. 20 ff.; SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 22 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 – L 9 AS 1335/15 B ER – Rn. 56 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 22.02.2016 – S 95 SO 3345/15 ER – Rn. 42 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 02.03.2016 – S 205 AS 1365/16 ER – Rn. 22 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 17 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.03.2016 – L 9 AS 1580/15 B ER – Rn. 50 ff.; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 28 ff.; SG Speyer, Urteil vom 29.03.2016 – S 5 AS 493/14 – Rn. 49 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 07.04.2016 – S 92 AS 359/16 ER – Rn. 15 ff.; SG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER –, Rn. 33 ff.; SG Dortmund, Beschluss vom 18.04.2016 – S 32 AS 380/16 ER – Rn. 76 ff.; SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 3966/12 – Rn. 42 ff.; SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 46 ff.; differenzierter: SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 82 ff.).

191

Das Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) wird hierbei regelmäßig unkritisch quasi als „geltende Rechtslage“ hingenommen, während dem 4. und dem 14. Senat des BSG nahezu durchgängig unter Verweis auf einen behaupteten Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot und/oder des Gewaltenteilungsprinzips auch rhetorisch massiv entgegengetreten wird – bei ebenso durchgängiger Erweiterung des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII auf Personen ohne materielles Aufenthaltsrechts über den Gesetzeswortlaut hinaus (in diesem Punkt in Übereinstimmung mit dem BSG). In verfassungsrechtlicher Hinsicht werden hierbei die aus den vorstehend wiedergegebenen Entscheidungen bekannten Begründungsansätze variiert. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wird hierbei ausdrücklich nicht in Frage gestellt.

192

Dass hierbei selbst Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz und gelegentlich auch auf Prozesskostenhilfe entgegen der mehrfach bekräftigten Rechtsauffassung des für entsprechende Hauptsacheverfahren zuständigen Revisionsgerichts abgelehnt werden, wird mitunter deutlich kritisiert, weil hierdurch effektiver Rechtsschutz im Bereich existenzieller Bedürfnisse vereitelt wird (vgl. Wenner, SozSich 2016, S. 44; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 SGB XII, Stand 08.04.2016; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.04.2016 – L 6 AS 2249/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 21/16 B – Rn. 23 ff., SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 94 ff.).

193

1.4 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Verfassungsmäßigkeit eines vollständigen Leistungsausschlusses von ausländischen Staatsangehörigen wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überwiegend bezweifelt, jedenfalls aber für klärungsbedürftig gehalten.

194

1.4.1 Pattar stellt nach Erörterung europarechtlicher und völkerrechtlicher Zusammenhänge fest, dass sich ein weiterer Einwand gegen den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aus dem in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG wurzelnden Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums herleiten lasse. Wer von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen sei, erhalte auf dem ersten Blick keinerlei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Daneben liege im vollständigen Ausschluss von Leistungen eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG, die sich in das Inland begeben hätten, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erhalten. Diese Personen erhielten trotz ihres rechtswidrigen Aufenthalts nach § 1a AsylbLG immerhin unabweisbar gebotene Leistungen. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses müssten deshalb auch die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossenen Personen mindestens analog § 1a AsylbLG Leistungen erhalten. Zuständig hierfür seien aber nicht die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sondern die Träger der Sozialhilfe als Träger des letzten Auffangsystems (Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, S. 117 f., 3. Auflage 2012).

195

1.4.2 Palsherm vertritt Bezug nehmend auf die Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII die Auffassung, dass, falls ein nach dieser Vorschrift ausgeschlossener Ausländer auch nicht unter das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) falle, ihm wegen des Teilhabemoments von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG jedenfalls dasjenige gewährt werden müsse, was den Kern eines menschenwürdigen Existenzminimums ausmache (Palsherm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, § 28 SGB I, Rn. 20, Stand 20.02.2012).

196

1.4.3 Kingreen stellt fest, dass der generelle Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verstoße, dass aber auch Differenzierungen hinsichtlich des Leistungszeitraums und -umfangs bei einem nicht nur kurzfristigen Aufenthalt nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar wären Statt oder vor einer Vorlage an den EuGH sei daher in einem geeigneten Fall auch die Vorlage an das BVerfG in Betracht zu ziehen (Kingreen, SGb 2013, S. 139).

197

Im Nachgang zum Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) führt Kingreen aus, dass das BVerfG in einer Reihe von Entscheidungen klargestellt habe, dass Ungleichbehandlungen wegen der Staatsangehörigkeit beim Sozialleistungsbezug an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen und die Rechtfertigungsanforderungen insoweit besonders hoch seien, weil die Staatsangehörigkeit von Umständen abhänge, die der Einzelne nicht beeinflussen könne. Daher dürfe der Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung sei nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Dies werde sich insbesondere bei Personen, die sich nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhielten, kaum begründen lassen (Kingreen, NVwZ 2015, S. 1506).

198

1.4.4 Frerichs vertritt unter Berufung auf das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 95) die Auffassung, dass der Gesetzgeber nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet sei, für alle Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten, vom ersten Tage an gesetzliche Regelungen vorzusehen, die nach einem inhaltlich transparenten und folgerichtigen Verfahren ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherstellen und gegen den Staat einen Rechtsanspruch auf die entsprechenden materiellen Leistungen einräumen. Dabei dürfe er – abweichend vom allgemeinen Grundsicherungsrecht – für bestimmte Personengruppen eigenständige Regelungen treffen, die sich allerdings an den prozeduralen Vorgaben zur Ermittlung des Leistungsumfangs messen lassen müssten, die im Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 aufgestellt worden seien (Frerichs, ZESAR 2014, S. 283). Hinsichtlich des nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB II und § 23 Ab. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossenen Personenkreises dränge sich die Frage auf, ob der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Pflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hinreichend nachkomme. Er habe für diese Personen keinen gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums normiert. Dies sei aber verfassungsrechtlich geboten. Dieser verfassungsrechtlichen Fragestellung durch richterliche Rechtsfortbildung zu begegnen, sei sehr problematisch. Die bisherigen Lösungsansätze, den Betroffenen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger auf eine „Mindestsicherung“ nach Maßgabe des § 23 Abs. 5 SGB XII, § 73 SGB XII oder § 1a AsylbLG zuzuerkennen (Verweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14 und vom 28.11.2012 – L 7 AS 2109/11 B ER – Rn. 14; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f.; SG Darmstadt, Beschluss vom 29. 10. 2013 – S 16 AS 534/13 ER – Rn. 83; Mangold/Pattar, VSSR 2008, S. 243, 267), seien nicht überzeugend. Eine Anlehnung an das Leistungsniveau eines für diese Personengruppe an sich nicht vorgesehenen Existenzsicherungssystems (SGB XII, AsylbLG) sei methodisch im Wege der Analogie nicht möglich. Es fehle schon an einer sich aus Systematik und Sinn und des Gesetzes ergebenden Lücke, weil der Gesetzgeber mit den Leistungsausschlüssen bewusst die nach Unionsrecht nur in engen Grenzen zulässigen Möglichkeiten habe nutzen wollen, um die Zahlung von Sozialleistungen an Unionsbürger zu beschränken (Hinweis auf BT-Drucks. 16/5065, S. 234 und BT-Drucks. 17/13322, S. 30). Auch sei der Rückgriff auf § 73 SGB XII, nach dem Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden könnten, rechtlich heikel. Eine „sonstige“ Lebenslage setze nämlich eine atypische Bedarfslage voraus, die nicht bejaht werden könne, wenn der Gesetzgeber sie gesehen und im Sinne eines Leistungsausschlusses geregelt habe (Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

199

1.4.5 Löbich konstatiert, dass es äußerst fraglich erscheine, ob ein absoluter Leistungsausschluss von Sozialleistungen für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger noch im Einklang mit den vom BVerfG gemachten Ausführungen zum Anspruch auf ein menschenwürdesicherndes Existenzminimum stehe. Verfassungsrechtlich gelte jedenfalls, dass solange nicht festgestellt sei, dass eine Person ausreisen könne, ihr ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten sei und sie gerade nicht darauf verwiesen werden dürfe, dieses im Ausland zu suchen. Ein vollständiger Leistungsausschluss komme auch bei Unionsbürgern mit Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche verfassungsrechtlich nicht in Betracht (Löbich, ZESAR 2015, S. 426 f.).

200

1.4.6 Thym hält in Auseinandersetzung mit dem Urteil des EuGH vom 11.11.2014 (C-333/13) fest, dass früher oder später das BVerfG darüber zu befinden haben werde, ob der Klägerin des dortigen Verfahrens ein Grundsicherungsanspruch nach dem GG zustehe, obgleich sie im europäischen Freiheitsraum jederzeit in den Heimatstaat reisen könne und mithin strukturell nicht im gleichen Maße von deutscher Unterstützung abhänge wie etwa Asylbewerber (Thym, NJW 2015, S. 134).

201

1.4.7 Wilksch (JuWissBlog, https://www.juwiss.de/90-2015/) bezeichnet in Auseinandersetzung mit den Urteilen des BSG vom 03.12.2015 die von diesem unter Verweis auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII eingeräumte Ermessensentscheidung als unzulässige migrationspolitische Relativierung des Existenzminimums und vertritt die Auffassung, dass das BSG zur Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII hätte kommen müssen.

202

1.4.8 Wunder hält einen Leistungsausschluss für EU-Bürger bis zu Ausreise zwar für europarechtskonform aber nicht für mit dem GG vereinbar. Sie hält es allerdings wohl für möglich, einen Leistungsanspruch unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG abzuleiten und bis zur Verabschiedung einer einfachgesetzlichen Regelung den Leistungsumfang an vergleichbare existenzsichernde Leistungen anzulehnen (Wunder, SGb 2015, S. 622).

203

1.4.9 Farahat weist in einer Besprechung des Urteils des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) darauf hin, dass die Mitgliedstaaten Arbeitsuchende wegen Art. 14 Abs. 4 b) RL 2004/38/EG weiterhin auch dann nicht ausweisen dürften, wenn sie im Aufenthaltsstaat noch nicht gearbeitet hätten oder länger als sechs Monate arbeitslos seien, ein Aufenthaltsrecht ihnen also zustehe. Allerdings dürften ihnen in diesem Fall nach dem Urteil des EuGH jegliche Sozialleistungen im Aufenthaltsstaat verweigert werden. Es liege auf der Hand, dass diese Lösung die Gefahr einer dauerhaften sozialen Exklusion im Aufenthalts-Mitgliedsstaat produziere. Unionsrechtlich sei es nun nämlich möglich, dass Unionsbürger in ihrem Aufenthalts-Mitgliedstaat zwar nicht ausgewiesen werden dürften, allerdings keinen Anspruch auf soziale Inklusion hätten. Diese Lücke werde in Deutschland künftig verfassungsrechtlich zu schließen sein. Das BVerfG habe in seiner Entscheidung zum AsylbLG bereits klargestellt, dass „migrationspolitische Erwägungen (…) von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das (…) Existenzminimum rechtfertigen“ könnten. Vor diesem Hintergrund erscheine es unwahrscheinlich, dass sich der automatische Leistungsausschluss arbeitssuchender Unionsbürger mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbaren lasse. Zu denken sei etwa an einen Anspruch auf Leistungen analog AsylbLG oder aber die Finanzierung einer „Rückreise“ in den Anwendungsbereich eines Leistungsanspruchs (Farahat, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de).

204

1.4.10 Sokołowski stellt im Rahmen einer europarechtlichen Abhandlung fest, dass die Auslegung (des § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II), die den Anspruch der Unionsbürger auf das Arbeitslosengeld II anerkenne, sich auch auf Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG stütze. Das Sozialstaatsprinzip und der Schutz der Menschenwürde verpflichteten den Staat, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein auch den Unionsbürgern zu sichern. Diese Grundrechte und Staatsprinzipien gälten nach herrschender Meinung nicht nur für Deutsche. Das BVerfG habe bereits entschieden, dass eine grundlose Ungleichbehandlung von Ausländern und Deutschen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07). Wenn der Ausschluss von Ausländern, die Nichtunionsbürger sind, vom Kindergeld und Landeserziehungsgeld für verfassungswidrig erklärt worden sei, verstoße der Ausschluss der Unionsbürger auf Arbeitsuche aus dem Arbeitslosengeld-II-System gegen Art. 3. Abs. 3 GG. Durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II würden Letztere schlechter gestellt als illegal eingereiste Asylbewerber in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts, die Leistungen nach § 1a AyslbLG erhielten. Daraus ergebe sich unabhängig vom Anwendungsvorrang des Europarechts das Gebot, das SGB II und das FreizügG/EU so auszulegen, dass die notwendige Konformität mit dem GG erreicht werde (verfassungskonforme Auslegung), d.h. hilfebedürftigen Unionsbürgern das Arbeitslosengeld II unter denselben Voraussetzungen wie den Deutschen zu gewähren. Hervorzuheben sei auch, dass es verfassungsrechtlich zweifelhaft erscheine, potenzielle „Sozialtouristen“ von der Einreise nach Deutschland abzuschrecken, indem denjenigen, die bereits eingereist seien, Leistungen verwehrt würden (Sokołowski, ZESAR 2015, S. 483; ähnlich bereits ders., ZESAR 2011, S. 377).

205

1.4.11 Leopold konstatiert, dass auf Grund der Rechtsprechung des BVerfG bestehende verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Leistungsausschluss von Ausländerinnen und Ausländern durch die Klärung unionsrechtlicher sowie staatsvertragsrechtlicher Aspekte noch nicht beseitigt würden. Ungeachtet unionsrechtlicher Gleichbehandlungsansprüche stelle sich die Frage, ob der in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgesehene Leistungsausschluss mit dem Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 GG zu vereinbaren sei (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7, Rn. 102, Stand: 14.03.2016).

206

1.4.12 Kanalan hält der u.a. von der 149. Kammer des SG Berlin vertretenen Auffassung, dass die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, da es Unionsbürgern anders als Asylbewerbern regelmäßig möglich sei, ohne drohende Gefahren für hochrangige Rechtsgüter in ihr Heimatland zurückzukehren und dort staatliche Unterstützungshandlungen zu erlangen (SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 36) entgegen, dass sie mit der dargestellten Begründung ein grundsätzlich defizitäres Verständnis des Menschenrechts auf das Existenzminimum enthalte. Das BVerfG habe unmissverständlich in seinem Urteil zum AsylbLG zum Ausdruck gebracht, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht aus Art. 1 Abs. 1 (i.V.m. Art. 20 Abs. 1) GG auch ausländischen Staatsangehörigen, die sich in Deutschland aufhalten, unabhängig von einem materiellen Aufenthaltsrecht zustehe. Es sei insbesondere ohne Relevanz, dass das Sozialrechtssystem eine Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus vornehme und mit dem AsylbLG ein Sonderregime für bestimmte Personengruppen geschaffen habe. Das verfassungsrechtlich garantierte Menschenrecht auf Existenzminimum ergebe sich dem Grunde nach aus der Verfassung und sei insoweit unabhängig vom Recht auf Aufenthalt oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe. Es gelte für alle Menschen und habe somit einen universellen Charakter. Wenn der Gesetzgeber diesen Anspruch nicht gesetzlich sichere, was unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG voraussetze, liege ein Verfassungsverstoß vor. In diesem Fall ergebe sich der Anspruch (dem Grunde nach) aus der Verfassung (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 66). Indem aber das SG Berlin anführe, dass die Unionsbürger, die nicht einmal über ein materielles Aufenthaltsrecht verfügten, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben könnten, verdeutliche dies, dass es das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht durchdrungen habe. Ein weiterer entscheidender Punkt, der demonstriere, dass weder das SG Berlin noch andere ähnlich argumentierende Gerichte den Kern des Menschenrechts auf das Existenzminimum erfasst hätten, sei der Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat und die Inanspruchnahme der Sozialleistungen des Herkunftsstaates. Dieser Argumentationsansatz sei die Folge eines grundlegend defizitären Verständnisses. Denn der Leistungsanspruch auf das Existenzminimum ergebe sich aus Art. 1 Abs. 1 GG, welcher dem Grunde nach unverfügbar sei (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62). Hieraus folge, dass der Anspruch unabhängig von einem bestimmten Verhalten der Betroffenen bestehe und somit jegliche Versagung der Leistungen mit Berufung auf ein Verhalten des Betroffenen die Menschenwürde tangiere, also einen Verfassungsverstoß darstelle. Die Gewährleistung dieses Anspruchs könne weder unter eine Bedingung gestellt noch vom Verhalten der Betroffenen abhängig gemacht werden (Hinweis auf SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER). Diese Feststellung, die bei mehreren Sozialgerichten auf Ablehnung stoße, werde insbesondere durch einen Vergleich mit dem Folterverbot deutlich. Weil Folter stets einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstelle, sei das Folterverbot absolut. Die Anwendung von Folter mit dem Argument, dass der Betroffene einer Verletzung seiner Menschenwürde entgehen könne, in dem er ein bestimmtes Verhalten vornehme, dürfte kaum überzeugen. So habe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Zusammenhang mit Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgeführt, dass der Schutz des Art. 3 EMRK absolut sei und unabhängig vom Verhalten – sogar unabhängig von der Verwerflichkeit des Verhaltens – der betreffenden Person Geltung beanspruche. Wenn dies aber so sei, könne der Hinweis auf die Ausreisemöglichkeit und Verweis auf die Sozialleistungen des Herkunftsstaates nicht überzeugen. Vielmehr bestehe der Anspruch vom ersten Moment der Bedürftigkeit an (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 99), ohne dass es dabei auf ein Verhalten der Betroffenen ankäme. Dies sei, was der Menschenwürdeschutz verlange (Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de).

207

Kanalan hält jedoch eine Lösung des Problems durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für möglich. Die Regelung sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass Unionsbürger auch im Falle des Aufenthaltsrechts zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland einen Anspruch auf die Leistungen der Grundsicherung haben, und zwar in verfassungskonformer Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II vom ersten Tag des Aufenthalts im Inland soweit Bedürftigkeit vorliege. Ein Verweis auf die Leistungen des SGB XII überzeuge aus den zutreffenden Gründen, die das SG Berlin (Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13) ausgeführt habe nur für Personen, die nicht unter den Anwendungsbereich des SGB II fielen, also insbesondere Erwerbsunfähige. Es ergebe sich auch ein weiterer Lösungsweg – in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG – unmittelbar aus der Verfassung. Danach hätten Unionsbürger einen Anspruch auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG. Der konkrete Inhalt und Umfang richte sich nach den einschlägigen Bestimmungen des SGB II und SGB XII – u.a. für Erwerbsunfähige. Dass dieser Anspruch praktisch der Ausnahmefall sein dürfte, aber theoretisch dennoch möglich sei, habe das BVerfG selbst in seiner Entscheidung zum AsylbLG demonstriert. Das BVerfG habe für die Leistungen nach dem AsylbLG das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) für die Bestimmung der Höhe der Leistungen zu Grunde gelegt und die neuen Bedarfe ermittelt (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 100 f.) (Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de).

208

1.4.13 Steffen stellt unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15 R) fest, dass das BSG die Frage nach der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses von existenzsichernden Leistungen nach einem „Voraufenthalt“ von sechs Monaten über eine Ermessensregel im SGB XII „löse“. Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sei aber dem Grunde nach unverfügbar und müsse nach den ausdrücklichen Vorgaben des BVerfG gerade unabhängig von der Aufenthaltsdauer und von der Aufenthaltsperspektive durch einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch gewährleistet werden. Er dürfe gerade nicht in das Ermessen gestellt werden (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Das BSG entziehe sich mit dieser Entscheidung einer Vorlage an das BVerfG (Steffen, ANA-ZAR 2016, S. 3).

209

1.4.14 Kötter zieht aus dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) die Schlussfolgerung, dass der Blick wieder frei werde für Fragen, die sich aus der deutschen Rechtsordnung mit Blick auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergäben, insbesondere auf die Frage seiner Vereinbarkeit mit dem GG. Das BVerfG habe in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Leistungen nach dem AsylbLG explizit festgestellt, dass das sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Menschenrecht sei, das „deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten,“ gleichermaßen zustehe. Nach dem Wortlaut der Entscheidung komme es dabei weder auf die Dauer noch auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts an, was auch die Beschränkung des Grundrechts im Rahmen von Regelungen des Aufenthaltsrechts ausschließen würde. Nach dem Urteil des BVerfG sei eine fortdauernde Anwendung der verfassungswidrigen Normen „angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen“ nicht hinnehmbar. Der elementare Lebensbedarf der Leistungsberechtigten sei in dem Augenblick zu befriedigen, in den er entstehe. Ein bloßer Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Heimatmitgliedstaat genüge daher den Begründungsanforderungen an die Einschränkung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins wohl nicht. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II könne daher verfassungswidrig sein, wenn er Unionsbürger während ihres Aufenthalts in Deutschland abschließend vom Anspruch auf Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließe. Etwas Anderes könne dann gelten, wenn Unionsbürger hilfsweise existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII beziehen könnten (Kötter, info also 2016, S. 6).

210

1.4.15 Auch Greiser stellt fest, dass der europarechtlich zulässige vollständige Ausschluss von Leistungen wenn noch keine Verbindung zur Gesellschaft bestehe bzw. eine unangemessene Belastung vorläge, gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoßen würde. Zumindest eine Mindestsicherung sei auch in diesem Fall zu gewähren (Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Anhang zu § 23, Rn. 119, Stand 23.12.2015). Im Übrigen vertritt er die Auffassung, dass das Urteil des BSG vom 03.12.2015 (B 3 AS 44/15 R) einen dogmatisch gut begründeten und praktisch handhabbaren Ausgleich zwischen den verfassungsrechtlichen Vorgaben auf der einen und dem einfachen Recht auf der anderen Seite darstelle. Insbesondere sei positiv zu bewerten, dass das BSG dem „Ob“ einer Leistungsgewährung bei einem verfestigten Aufenthalt nicht die Rückkehrmöglichkeit ins Heimatland entgegengestellt habe. Das Gericht erstrecke damit für diesen Fall die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf EU-Bürger. Auf der anderen Seite schaffe das BSG in den ersten sechs Monaten einen gewissen Spielraum, zumindest was die Höhe der Leistungen angehe. Hier wäre nach Auffassung von Greiser eine Differenzierung danach, ob ein Aufenthaltsrecht besteht, wünschenswert gewesen. Der Weg, dieses Ergebnis über einen Anspruch auf Sozialhilfe zu „konstruieren“, stelle sich – im Rahmen des geltenden Rechts – als sachgerecht dar. Gegen diese Lösung sei vorgebracht worden, in den Gesetzgebungsmaterialien habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass erwerbsfähige Ausländer von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen sein sollen (§ 21 SGB XII). Der subjektive Wille des Gesetzgebers sei aber nur nach der so genannten subjektiv-historischen Auslegung (allein) entscheidend. In der Rechtsprechung des BSG sei aber wohl die objektiv-historische Auslegung vorherrschend, die nach dem im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers frage. Zudem handele es sich vorliegend um eine verfassungskonforme Auslegung. Diese habe grundsätzlich Vorrang vor der subjektiv-historischen. Sei eine verfassungskonforme Auslegung möglich, so sei nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht relevant, dass eine nicht mit der Verfassung vereinbare Auslegung eher dem subjektiven Willen des Gesetzgebers entspräche. Eine Auslegung, die dazu führe, dass EU-Bürger, die unter den Ausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen, in keinem Fall Leistungen erhalten würden, sei mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht vereinbar (Greiser, jM 2016, S. 159).

211

1.4.16 Lenze hält dem BSG (bezugnehmend u.a. auf die Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R) anlässlich einer Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) hingegen vor, sich im Rahmen einer unzulässigen Rechtsfortbildung über den klaren Willen des Gesetzgebers in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hinweggesetzt und durch den Rückgriff auf das SGB XII außerdem in die föderale Finanzierungsverantwortung für die Grundsicherung nach § 46 SGB II eingegriffen zu haben (Lenze, NJW 2016, S. 555).

212

1.4.17 Coseriu führt in seiner Kommentierung zu § 23 SGB XII aus, dass ein völliger Ausschluss von Leistungen sich nicht mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG vereinbaren lasse. Zwar stehe es im sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers, für Ausländer besondere Regelungen zur Sicherung ihres Lebensbedarfs zu entwickeln, nicht aber, Leistungen, die zur Deckung des Lebensunterhaltes dienen, gänzlich zu versagen. Es bestehe nämlich die Verpflichtung des Staates, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren und dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gewähre Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhalten, gleichermaßen zustehe (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 73, Stand 08.04.2016). Ein genereller Leistungsausschluss würde auch dazu führen, dass Ausländer, die eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen, schlechter gestellt würden als Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG, die sich in das Bundesgebiet begeben hätten, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen, weil dieser Personenkreis, zu denen sogar vollziehbar Ausreisepflichtige gehörten, nach § 1a AsylbLG (immerhin) die nach den Umständen unabweisbar gebotenen Leistungen erhielte (Coseriu, a.a.O., Rn. 74). Zur Lösung dieses Konflikts sei eine verfassungskonforme Auslegung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII geboten, die gerade keinen absoluten, rechtsvernichtenden Charakter der zur Verhütung von Missbrauch dienenden Bestimmung gebiete. Der Ausländer, der sich mit dem dort genannten Ziel in den Geltungsbereich des SGB XII begebe, sei lediglich vom (Rechts-)Anspruch auf die in § 23 Abs. 1 SGB XII vorgesehenen Leistungen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss lasse aber gleichwohl – gegebenenfalls modifiziert – eine Hilfegewährung im Ermessenswege nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu, weil es Lebenssachverhalte geben könne, bei denen nach dem auch bei der Anwendung des § 23 SGB XII zu berücksichtigenden Gesamtverständnis des Sozialhilferechts die Leistung von (unter Umständen eingeschränkter) Hilfe selbst dann möglich bleiben müsse, wenn der Ausländer Leistungen der Sozialhilfe missbräuchlich in Anspruch nehme (Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 10.12.1987 – 5 C 32/85) (Coseriu, a.a.O., Rn. 75). Der Einwand des SG Berlin (Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13), ein Unionsbürger könne im Gegensatz zu einem Asylbewerber regelmäßig in sein Heimatland zurückkehren und dort gegebenenfalls Sozialleistungen erhalten, habe keinen inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG und lasse die Frage unbeantwortet, auf welche Weise und in welchem Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur Ausreise sichergestellt werde, wenn der Betroffene nicht zur Ausreise verpflichtet sei (Coseriu, a.a.O., Rn. 63.4). Zwar möge die Auffassung des BSG (Bezugnahme auf das Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R), nach Ablauf von sechs Monaten sei das Ermessen auf Null reduziert, angreifbar sein, einen gänzlichen Ausschluss zu bejahen, wie das LSG Rheinland-Pfalz meine (Bezugnahme auf den Beschluss vom 11.02.2016 – L 3 AS 668/15 B ER), würde aber nicht nur eine völlige Missachtung der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG, sondern auch des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG bedeuten. Der Ausweg, den das LSG Rheinland-Pfalz hierzu suche (Inanspruchnahme von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Heimatlandes), sei absurd und lasse sich mit dem GG nicht in Einklang bringen (Coseriu, a.a.O., Rn. 63.6).

213

1.5 Die vorlegende Kammer ist nach Auswertung der vertretenen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung, dass die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist. Eine verfassungskonforme Auslegung ist – auch über den vom BSG eingeschlagenen Weg der Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII – nicht möglich.

214

2. Die mögliche Verfassungswidrigkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II, gemäß der Parallelregelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und nach den Vorgängerregelungen im ab dem 01.01.1976 geltenden § 31 Abs. 4 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in der Fassung des Gesetzes vom 18.12.1975 (BGBl. Teil I, S. 3091) und seit dem 01.01.1982 in § 26 (Abs.1) Satz 1 BSHG zunächst in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.1981 (BGBl. Teil I S. 1523) und seither in verschiedenen Fassungen bis zum 31.12.2004 wurde bisher in Rechtsprechung (2.1) und Literatur (2.2) vergleichsweise selten thematisiert.

215

2.1 Die Rechtsprechung geht bislang weit überwiegend von der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 5 SGB II aus.

216

2.1.1 Die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG hat sich in zwei veröffentlichten Nichtannahmebeschlüssen mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung befasst.

217

a) Im Beschluss vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11 – Rn. 21 ff.) kommt sie zu dem Schluss, dass eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im der Verfassungsbeschwerde zu Grunde liegenden Fall nicht vorliege. § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. konkretisiere den Nachrang gegenüber vorrangigen besonderen Sozialleistungssystemen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Hinweis auf § 3 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB II). Der Gesetzgeber gehe im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, dass das menschenwürdige Existenzminimum, soweit eine durch die Ausbildung bedingte Bedarfslage entstanden sei, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III zu decken sei. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. führe (im Falle der Beschwerdeführerin) dazu, dass ihr für die Dauer ihrer Ausbildung keine Grundsicherungsleistungen (über Leistungen für Mehrbedarf für Alleinerziehende hinaus) gewährt würden. Dies beruhe auf den Vorgaben des BAföG, insbesondere zur Altersgrenze der Förderung und sei keine im dem Beschluss zu Grunde liegenden Verfahren zu klärende Frage zum SGB II. Der faktische Zwang, eine Ausbildung abbrechen zu müssen, weil keine Sozialleistungen die Existenz sicherten, berühre die teilhaberechtliche Dimension des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 und dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 8.05.2013 – 1 BvL 1/08 – Rn. 36 f.). Der Gesetzgeber habe mit den Vorschriften des BAföG jedoch hierfür ein besonderes Sozialleistungssystem geschaffen. Dabei habe der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums entschieden, dass eine möglichst frühzeitige Aufnahme der Ausbildung angestrebt wird (Hinweis auf BT-Drucks. 8/2467, S. 15 und BT-Drucks. 11/610, S. 16 f.). Ermöglicht werde im Allgemeinen, bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eine der Begabung entsprechende Ausbildung zu beginnen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 15.09.1980 – 1 BvR 715/80). Ob sich der Ausschluss der Beschwerdeführerin von der Förderung einer Ausbildung vor der Verfassung rechtfertigen lasse, sei damit nicht gesagt, aber auch nicht zu entscheiden.

218

b) Im Beschluss vom 08.01.2014 (1 BvR 886/11 – Rn. 13 ff.) kommt die 3. Kammer des BVerfG ebenfalls zu dem Ergebnis, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im der Verfassungsbeschwerde zu Grunde liegenden Fall nicht verletzt sei. Nach § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II müssten erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einsetzen; dies tue der Beschwerdeführer (des dortigen Verfahrens) nicht, wenn er studiere. Daher schließe § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. im Fall des Beschwerdeführers die Gewährung dieser Grundsicherungsleistungen aus. Soweit durch die Ausbildung existenzielle Bedarfe entstünden, würden diese insofern vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III gedeckt. Über die dortige Altersgrenze der Förderung hätten die Gerichte im vorliegenden Verfahren nicht entschieden. Daher gehe auch die Rüge einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG in diesem Verfahren ins Leere. Der faktische Zwang, ein Studium abbrechen zu müssen, weil keine Sozialleistungen zur Verfügung stehen, berührt zwar die teilhaberechtliche Dimension des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber habe mit den Vorschriften des BAföG jedoch ein besonderes Sozialleistungssystem zur individuellen Förderung der Hochschulausbildung durch den Staat geschaffen, das diese Teilhabe sichern solle. Seine Regelungen über Förderungsvoraussetzungen sowie Art, Höhe und Dauer der Leistungen seien auf die besondere Lebenssituation der Studierenden zugeschnitten, die auf öffentliche Hilfe bei der Finanzierung ihres Studiums angewiesen seien. Der Gesetzgeber habe die Förderung so ausgestaltet, dass eine möglichst frühzeitige Aufnahme der Ausbildung gefördert werde, denn im Allgemeinen müsse bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eine der Begabung entsprechende Ausbildung begonnen werden. § 10 Abs. 3 Satz 2 BAföG lasse Ausnahmen bei einer Ausbildungsaufnahme in höherem Alter zu. Es sei so derzeit möglich, ein Erststudium gefördert zu absolvieren. Ob sich insofern der Ausschluss des Beschwerdeführers von der Förderung für ein Studium nach Ausbildung und Erwerbstätigkeit vor der Verfassung rechtfertigen lässt, sei damit nicht gesagt, aber auch nicht zu entscheiden.

219

2.1.2 Nach Auffassung des 5. Senats des BVerwG (Beschluss vom 18.07.1994 – 5 B 25/94 – Rn. 5 f.) war die dem jetzigen § 7 Abs. 5 SGB II in wesentlicher Hinsicht entsprechende Ausschlussregelung des § 26 Satz 1 BSHG a.F. mit dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar. Angesichts der Weite und Unbestimmtheit dieses Grundsatzes lasse sich aus ihm regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend sei lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben seiner Bürger schaffe (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 21 BvL 26/84, 1 BvL 41 BvL 4/86 – Rn. 83). Dass diese Mindestvoraussetzungen bei Personen, die nach dem BAföG gefördert würden und zufolge des § 26 Satz 1 BSHG a.F. daneben grundsätzlich keine Hilfe zum Lebensunterhalt nach Sozialhilferecht erhalten könnten, in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise unterschritten würden, könne nicht angenommen werden. Die gegenteilige Einschätzung des Klägers (des dortigen Verfahrens) beruhe zum einen darauf, dass dieser, was die Höhe der Ausbildungsförderung nach dem BAföG angehe, mit dem Erhöhungsbetrag nach § 13 Abs. 2a BAföG (a.F.) für die Krankenversicherung von Auszubildenden an Hochschulen Leistungen unberücksichtigt lasse, die nicht nur nach Sozialhilferecht, sondern auch im Rahmen der Ausbildungsförderung gewährt werden könnten. Zum anderen bleibe in der dem Beschluss zu Grunde liegenden Beschwerde auch unerwähnt, dass nach der Rechtsprechung des BVerwG durch § 26 Satz 1 BSHG a.F. der Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nur für einen ausschließlich ausbildungsgeprägten Bedarf ausgeschlossen werde. Nicht berührt werde deshalb der Anspruch auf solche Leistungen, die zwar nach ihrer Zuordnung im Gesetz Hilfe zum Lebensunterhalt seien, jedoch einen Bedarf beträfen, der durch besondere, von der Ausbildung unabhängige Umstände bedingt sei (Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 17.01.1985 – 5 C 29/84 – Rn. 8 ff.; BVerwG, Beschluss vom 13.05.1993 – 5 B 47/93 – Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 14.10.1993 – 5 C 16/91 – Rn. 6). Neben Ausbildungsförderung nach dem BAföG könnten daher z.B. sozialhilferechtliche Leistungen wegen besonderer, nicht ausbildungsbezogener Belastungen durch Krankheit, Behinderung, Schwangerschaft oder Kinderpflege und -erziehung in Betracht kommen. Abgesehen davon sei es, was in der Rechtsprechung des BVerwG seit langem geklärt sei, auch Auszubildenden an Hochschulen grundsätzlich zumutbar, durch gelegentliche – insbesondere in die vorlesungsfreie Zeit fallende – Nebentätigkeit, bei der es sich nicht um die Aufnahme einer mit der Ausbildung unvereinbaren Erwerbstätigkeit handeln würde, einen Verdienst zu erzielen, der ausreiche, mindestens den Unterschiedsbetrag abzudecken, der sich etwa ergebe, wenn dem Betrag der gewährten Ausbildungsförderung der Betrag gegenübergestellt werde, der als Hilfe zum Lebensunterhalt nach Maßgabe der Vorschriften des BSHG in Betracht kommen könnte (Bezugnahme u.a. auf BVerwG, Urteil vom 24.04.1975 – V C 9.74 – Rn. 16). Der Auszubildende habe es danach in der Hand, im Bedarfsfall die Sozialleistungen, die er aus Mitteln der Ausbildungsförderung und gegebenenfalls – beim Vorliegen eines nicht ausbildungsgeprägten Bedarfs – im Rahmen des Sozialhilferechts erhalte, im Wege der Selbsthilfe aufzustocken.

220

2.1.3 Der 8. Senat des OVG Nordrhein-Westfalen ist im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerwG ebenfalls der Ansicht, dass es sowohl mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als auch mit dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar sei, dass § 26 Satz 1 BSHG a.F. Personen, die eine im Rahmen des BAföG dem Grunde förderungsfähige Ausbildung absolvieren, von der Hilfe zum Lebensunterhalt grundsätzlich ausschließe (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.02.1995 – 8 B 540/95 – Rn. 6).

221

2.1.4 Nach Auffassung des damaligen 14. Senats des BSG begegnet der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 24.12.2003 (BGBl. Teil I, S. 2954) keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar führe der Ausschluss sowohl im SGB II als auch im SGB XII dazu, dass im Einzelfall für Ausbildungszeiten überhaupt keine staatliche Sozialleistung zur Verfügung gestellt werde. Der Gesetzgeber stelle aber grundsätzlich ein besonderes System der Ausbildungsförderung zur Verfügung, mit dem er den Lebensunterhalt während einer Ausbildung sichere. Er sei verfassungsrechtlich nicht gehalten, darüber hinaus Ausbildungszeiten auch außerhalb dieses Systems zu fördern. Soweit jemand eine Ausbildung betreiben wolle, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung einer Ausbildung vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfülle, handele es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Sie könne zumindest nicht die Konsequenz haben, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieser Ausbildung Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach einem System (SGB II) zu gewähren, das der Existenzsicherung von Personen diene, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Einkommen erzielen wollen würden und nur wegen des Fehlens einer Erwerbsmöglichkeit (vorübergehend) der Unterstützung bedürften. Wegen der Ausbildung wäre die Klägerin (des dortigen Verfahrens) nämlich kaum in der Lage, ihren Lebensunterhalt durch eine von der Bundesagentur für Arbeit vermittelte Erwerbstätigkeit selbst zu sichern. Etwaige Härten würden dabei durch § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II (a.F.) abgefedert. Angesichts der insgesamt pauschalierten Höhe der Leistungen nach dem BAföG würde die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, jedenfalls in der Zeit vor dem Inkrafttreten des § 22 Abs. 7 SGB II zum 01.01.2007 auch zu einer nicht zu rechtfertigenden Privilegierung von Personen führen, die eine förderungsfähige Ausbildung absolvierten, aber die besonderen Voraussetzungen einer Ausbildungsförderung nach den spezialgesetzlichen Vorschriften nicht erfüllten (BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 28/06 R – Rn. 29; ähnlich: BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 36/06 R – Rn. 28).

222

2.1.5 Dieser Auffassung hat sich der 14. Senat des LSG Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 18.07.2008 (L 14 B 774/08 AS PKH – Rn. 2) ohne weitere Begründung angeschlossen.

223

2.1.6 Im Urteil vom 30.09.2008 stellt auch der 4. Senat des BSG unter Bezugnahme auf die Urteile vom 06.09.2007 (B 14/7b AS 28/06 R und B 14/7b AS 36/06 R) ohne weitere Ausführungen fest, dass eine verfassungswidrige Benachteiligung durch den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II nicht ersichtlich sei (BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 30). Die Ausschlussregelung sei auf die Erwägung zurückzuführen, dass bereits die Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder gemäß §§ 60 bis 62 SGB III (a.F.) auch die Kosten des Lebensunterhalts umfasse und deshalb im Grundsatz die Grundsicherung nicht dazu diene, durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderungsfähigen Ausbildung zu ermöglichen. Die Ausschlussregelung solle die nachrangige Grundsicherung mithin davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene zu ermöglichen (BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 14).

224

Im Urteil vom 27.09.2011 führt der 4. Senat des BSG aus, dass es der Sinn der Regelung des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II (a.F.) sei, Ausbildungsförderleistungen nur durch die dafür vorgesehenen Systeme (BAföG oder SGB III) zu gewährleisten. Ausbildungsförderung durch Leistungen aus den Fürsorgesystemen (SGB II und SGB XII) solle daher weitestgehend verhindert werden (BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 160/10 R – Rn. 19).

225

In einem weiteren Urteil vom 27.09.2011 konstatiert der 4. Senat des BSG – ohne allerdings ausdrücklich eine verfassungsrechtliche Prüfung vorzunehmen –, dass es, da grundsätzlich die Sicherung des Lebensunterhalts bei förderungsfähigen Ausbildungen durch ein anderes Sozialleistungssystem erfolgen solle als die Grundsicherung für Arbeitsuchende, in der Ausbildungssituation keiner Leistungen der Grundsicherung bedürfe. Soweit ein Student ein Studium betreiben möge, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung dessen vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfülle, handele es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Sie könne zumindest nicht die Konsequenz haben, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieses Studiums Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren, ohne dass der Student dem Gesamtsystem des SGB II unterläge. Wegen der Ausbildung sei er nämlich kaum in der Lage, seinen Lebensunterhalt durch eine von der Bundesagentur für Arbeit vermittelte Erwerbstätigkeit selbst zu sichern (BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 145/10 R – Rn. 23).

226

In einem Urteil vom 28.03.2013 hat der 4. Senat des BSG seine Auffassung bekräftigt, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne und der Gesetzgeber nicht gehalten sei, außerhalb des besonderen Systems zur Ausbildungsförderung den Lebensunterhalt während der Ausbildung sicherzustellen (BSG, Urteil vom 28.03.2013 – B 4 AS 59/12 R – Rn. 20).

227

In einem Urteil vom 02.04.2014 (B 4 AS 26/13), indem der nach dem BAföG geförderte dortige Kläger einen Zuschuss zu den ungedeckten Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 7 SGB II (a.F.) (heute weitgehend übernommen in § 27 Abs. 3 SGB II) begehrt hat, ohne dessen spezielle Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen, führt der 4. Senat des BSG aus, dass dem Ausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. die Erwägung zu Grunde liege, dass bereits die Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder eine Förderung gemäß §§ 60 bis 62 SGB III (a.F.) auch die Kosten des Lebensunterhalts umfasse und die Grundsicherung nach dem SGB II nicht dazu dienen solle, durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderungsfähigen Ausbildung zu ermöglichen. Die Ausschlussregelung im SGB II solle die nachrangige Grundsicherung (Bezugnahme auf § 3 Abs. 3 SGB II) mithin davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene zu ermöglichen. Es sollten nicht mehrere Träger zur Deckung ein und desselben Bedarfs zuständig sein (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 18). Soweit der Kläger geltend mache, der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 i.V.m. Art. 20 GG (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 134 und BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09) erfordere seine Einbeziehung in den Kreis der nach § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. Leistungsberechtigten, vermöge der Senat dem nicht zu folgen. Der Kläger berufe sich darauf, aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG folge die staatliche Garantie der Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins erforderlich seien. Insoweit übersehe er jedoch, dass er zur Finanzierung seines Lebensunterhalts staatliche Mittel in Gestalt der Leistungen nach dem BAföG erhalten habe, insbesondere erhöhte Unterkunftsleistungen. Für Studierende, die in einer Unterkunft außerhalb des Elternhauses wohnten, habe § 13 Abs. 3 BAföG im streitigen Zeitraum im Fall der Unterdeckung bei den Unterkunftskosten eine pauschalierte Erhöhung der Leistungen hierfür um 72 Euro monatlich auf insgesamt 218 Euro vorgesehen. Inwieweit auch im BAföG – wie im SGB II – die Deckung der angemessenen tatsächlichen Aufwendungen gewährleistet werden müsse, habe hier keiner Prüfung bedurft. Der Kläger begehre ausschließlich Leistungen nach dem SGB II. Das SGB II habe jedoch wegen der Pauschalierung bei den Unterkunftskosten im BAföG nur in genau definierten Härtefällen eine Aufstockung der Ausbildungsförderungsleistungen durch § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. vorgesehen. Soweit der Kläger über die geregelten Ausnahmefälle des § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. hinaus einen weitergehenden gesetzlich nicht vorgesehenen Anspruch geltend mache, rüge er daher keine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung des Existenzminimums, sondern eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 27). Eine Verletzung des Gleichheitsgrundrechts sieht der Senat nicht (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 28 ff.).

228

2.1.7 In späteren Entscheidungen des BSG (Urteile vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R und vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R) wurde die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung nicht mehr aufgegriffen.

229

2.1.8 Auch der 28. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 26.02.2016 – L 28 AS 2230/12 – Rn. 16) ist der Auffassung, dass die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 5 SGB II nicht verfassungswidrig sei. Zur Begründung verweist er ohne weitere Erläuterungen auf den Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11).

230

2.1.9 Die vorlegende 3. Kammer des SG Mainz hat hingegen im Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 (S 3 AS 130/14 – Rn. 220) hervorgehoben, dass die in den Nichtannahmebeschlüssen des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden, obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsähen, einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der im Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik darstelle. Es sei unklar, weshalb die zur Voraussetzung der Gewährung existenzsichernder Leistungen gemachte Verhaltenserwartung des Abbruchs der Ausbildung oder des Studiums mit dem Axiom der Unverfügbarkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sein könnte.

231

Diese Auffassung wird auch im Beschluss der 12. Kammer des SG Mainz vom 12.11.2015 (S 12 AS 946/15 ER – Rn. 83) mit dem Hinweis aufgegriffen, dass das Existenzminimum auch bildungspolitisch nicht zu relativieren sein dürfte.

232

2.2 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 5 SGB II bzw. in dessen sozialhilferechtlichen Parallel- und Vorgängerregelungen überwiegend unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung für verfassungsgemäß gehalten (vgl. bereits zum BSHG: Marschner, NVwZ 1995, S. 870, Fn. 3).

233

2.2.1 Felix hat allerdings bereits zu § 26 Satz 1 BSHG a.F. in kritischer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 14.10.1993 – 5 C 16/91) hervorgehoben, dass diese Vorschrift bereits von der Systematik des BSHG her gesehen äußerst bedenklich sei, weil durch sie ganze Gruppen von Personen völlig vom Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen würden. Dies verstoße gegen den tragenden Grundsatz der individuellen Gestaltung und Bemessung der Hilfe (Bezugnahme auf § 31 BSHG a.F.), so dass § 26 BSHG a.F. bereits aus diesem Grunde auf Grund seiner Systemwidrigkeit als Ausnahmevorschrift eng ausgelegt werden müsse. Die rein formale Anknüpfung an den Status des Hilfebedürftigen – Auszubildender im Rahmen einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung –, die vom BVerwG praktiziert werde, werde diesem Erfordernis nicht gerecht. Entgegen der Auffassung des BVerwG sei stattdessen im konkreten Einzelfall danach zu fragen, ob die Durchführung der Ausbildung in kausalem Zusammenhang mit dem sozialhilferechtlichen Bedarf des Bedürftigen bestehe (Felix, NVwZ 1995, S. 246).

234

2.2.2 Voelzke stellt im Rahmen seiner Kommentierung der Parallelreglung in § 22 SGB XII fest, dass derjenige Auszubildende, der die Leistungsvoraussetzungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III nicht erfülle, bei Hilfebedürftigkeit keine Fürsorgeleistungen erhalte, sondern darauf verwiesen werde, entweder seine Ausbildung aufzugeben oder seinen Lebensunterhalt durch eine Nebenerwerbstätigkeit zu sichern (Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 22 Rn. 7, Stand 20.05.2015). Der Anspruchsausschluss bedeute im Ergebnis wegen des nicht bedarfsdeckenden Charakters der Ausbildungsförderung, dass der Auszubildende die Ausbildung durch die Hilfe Dritter (insbesondere der Eltern), durch eine ausbildungsbegleitende Tätigkeit oder durch die Aufnahme eines Darlehens kofinanzieren müsse. Stünden dem Auszubildenden derartige Möglichkeiten nicht zur Verfügung, müsse die Ausbildung in der Konsequenz der Struktur der gesetzlichen Regelungsstruktur ggf. unterbrochen oder sogar aufgegeben werden (Voelzke, a.a.O. Rn. 18). Die Vorschrift solle die Sozialhilfe davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungshilfe auf einer zweiten Ebene zu sein. Da die Ausbildungsförderung nach dem BAföG und die Berufsausbildungsbeihilfe nach dem SGB III auch die Kosten des Lebensunterhalts umfassten, werde verhindert, dass die Sozialhilfe durch die Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderbaren Ausbildung ermögliche. Es solle kein Ersatzförderungssystem installiert werden, das die im BAföG oder SGB III geregelten speziellen Anspruchsvoraussetzungen aushebeln und die Lasten der Ausbildungsförderung der Sozialhilfe auferlegen würde. Insoweit sei es Sinn und Zweck des § 22 SGB XII, die Inanspruchnahme von ergänzender Sozialhilfe zu verhindern, wenn die Notlage durch eine abstrakt förderungsfähige Ausbildung verursacht werde. Ein Wahlrecht des Auszubildenden, Ausbildungsförderung oder Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, sei diesem nicht eingeräumt. Die Sozialhilfe solle deshalb regelmäßig nicht dazu dienen, das Betreiben einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts sicherzustellen. Der vorstehende Grundsatz werde jedoch dadurch relativiert, dass § 27 SGB II und das entsprechende Leistungsangebot im SGB XII Lücken im Leistungsangebot schließen würden (Voelzke, a.a.O., Rn. 20). Die Zielsetzung des § 22 SGB XII werde vielfach als systemwidrig und sozialpolitisch verfehlt kritisiert. Dieser Einschätzung könne jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden, denn dem Gesetzgeber sei es grundsätzlich unbenommen, für die Ausbildungsförderung ein gesondertes Leistungssystem zur Verfügung zu stellen, das er in der Folge gegen die Sozialhilfe (und die Grundsicherung für Arbeitsuchende) abgrenze. Die Abgrenzungsregelung fuße also auf der – vom Ansatz her hinzunehmenden – Auffassung des Gesetzgebers, dass die Leistungen des BAföG und des SGB III bedarfsgerecht ausgestaltet seien und neben dem speziellen Ausbildungsbedarf auch den Lebensunterhalt des Betroffenen abdeckten, so dass eine Aufstockung der Leistungen nicht erforderlich sei. Aus diesem Grunde dürfte sozialpolitisch eine Lösung der Problematik eher darin zu suchen sein, die vorrangige Ausbildungsförderung als bedarfsdeckendes Leistungssystem auszugestalten. Eine durch den Leistungsausschluss herbeigeführte verfassungswidrige Benachteiligung haben die Rechtsprechung und die überwiegende Literatur bislang verneint, weil der Gesetzgeber wegen der zwischen den in Frage kommenden Gruppen bestehenden Unterschiede berechtigt sei, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unterschiedlich zu regeln. Die unterschiedliche Behandlung rechtfertige sich dadurch, dass die Sicherung des Lebensunterhalts durch ein anderes Sozialleistungssystem erfolgen solle. Zwar könne diese Systementscheidung im Einzelfall dazu führen, dass während einer Ausbildung keine Sozialleistungen bezogen werden könnten. Soweit eine Ausbildung angetreten werde, ohne die Anforderungen des einschlägigen Leistungssystems zu erfüllen, handele es sich jedoch um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine individuelle staatliche Ausbildungsförderung bestehe nicht (Voelzke, a.a.O., Rn. 21).

235

2.2.3 Grote-Seifert ist der Auffassung, dass die Verpflichtung, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen, auch den Ausschluss der Leistungen gemäß § 7 Abs. 5 SGB II bei Aufnahme eines Studiums rechtfertige, solange der Student der Hochschule organisationsrechtlich angehöre und sein Studium betreibe (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 2 Rn. 47, Stand 10.03.2015).

236

2.2.4 Leopold hält den grundsätzlichen Ausschluss von Auszubildenden, die dem Grunde nach einen Anspruch auf Ausbildungsförderung BAföG oder auf Berufsausbildungsbeihilfe nach den §§ 51, 57, 58 SGB III haben, von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für verfassungsrechtlich unbedenklich. Dieser Leistungseinschränkung für Auszubildende liege die Annahme zu Grunde, dass die Leistungen des BAföG und des SGB III bedarfsgerecht ausgestaltet seien und neben dem speziellen Ausbildungsbedarf auch den Lebensunterhalt des Geförderten abdeckten, so dass keine Aufstockung der Leistungen durch solche des SGB II erforderlich sei. Dadurch solle eine versteckte Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene verhindert werden. Zudem sollten die Fördervoraussetzungen nach den für Ausbildungsförderung vorgesehenen Gesetzen nicht umgangen werden können. Den vom Leistungsausschluss Betroffenen mute das Gesetz zu, auf die Aufnahme bzw. Fortführung einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung zu verzichten und sich stattdessen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 287, Stand 14.03.2016).

237

2.3 Die vorlegende Kammer ist nach Auswertung der vertretenen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung, dass auch die Regelung des § 7 Abs. 5 SGB II verfassungswidrig ist. Eine verfassungskonforme Auslegung ist nicht möglich.

VI.

238

1. Das BVerfG hat sich mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – soweit ersichtlich – noch nicht befasst, so dass der Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage nicht der Einwand der Rechtskraft nach § 31 Abs. 1 BVerfGG entgegensteht (vgl. zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 30.05.1972 – 1 BvL 18/71 – Rn. 18).

239

2. Mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II (in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung) hat sich das BVerfG bereits in den Nichtannahmebeschlüssen vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) auseinandergesetzt. Mit diesen Entscheidungen hat die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Eine Sachentscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II war hiermit jedoch nicht verbunden (vgl. Baer, NZS 2014, S. 4 zum „Stiefkinderbeschluss“ der 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 29.05.2013 – 1 BvR 1083/09). Den Beschlüssen kommt gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG keine Gesetzeskraft zu, da mit den Entscheidungsformeln der Kammer weder ein Gesetz als mit dem GG vereinbar, noch als mit dem GG unvereinbar oder für nichtig erklärt wurde. Die gleichwohl in den Beschlüssen skizzierte Auffassung, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II (a.F.) sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Beschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 22; BVerfG, Beschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 12 ff.), bringt daher keine zusätzlichen Begründungslasten oder sonstigen Anforderungen für die Zulässigkeit des Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 BVerfGG mit sich.

VII.

240

Die durch das vorlegende Gericht aufgeworfenen Vorlagefragen sind einer Prüfung durch das BVerfG nicht in Folge der von diesem proklamierten Nichtausübung der Grundrechtskontrolle über in Deutschland angewandtes Unionsrecht entzogen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 – Rn. 55 ff. – „Bananenmarktverordnung“ –; BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 117 – „Solange II“ –; BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 22 BvR 2159/92 – Rn. 70 – „Maastricht“ –; zu Ursachen und Entwicklung dieser Rechtsprechung im Verhältnis zum EuGH: Buckel, Subjektivierung und Kohäsion, 2. Auflage 2015, S. 280 ff.).

241

1. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass als Befugnisnorm und/oder verfassungsrechtliche Rechtfertigung für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II die unionsrechtliche Vorschrift des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG herangezogen wird. Anhand dieser Argumentationsfigur ließe sich die Frage anschließen, ob die eigentlich verfassungswidrige (weil Grundrechte verletzende) Vorschrift hier nicht § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, sondern Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG sein könnte, deren Grundrechtskonformität nach der Judikatur des BVerfG in Folge der „Solange II“-Entscheidung vom 22.10.1986 (2 BvR 197/83) vorläufig ausschließlich durch den EuGH zu prüfen wäre.

242

Die vorliegende Konstellation bietet jedoch keinen Anlass für den Verzicht auf die Grundrechtskontrolle durch das BVerfG. Dies beruht zunächst darauf, dass das BVerfG seine Prüfkompetenz uneingeschränkt in Anspruch nimmt, wenn der Gesetzgeber bei der Umsetzung von Unionsrecht Gestaltungsfreiheit hat, das heißt durch das Unionsrecht nicht determiniert ist (BVerfG, Urteil vom 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a. – Rn. 182). Der hier in Rede stehende Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG räumt dem nationalen Gesetzgeber lediglich die Befugnis ein, freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger unter bestimmten Umständen vom Anspruch auf Sozialhilfeleistungen auszunehmen, verpflichtet ihn aber nicht dazu. Dem Gesetzgeber verbleibt daher ein Gestaltungsspielraum, so dass die vom BVerfG entwickelte Doktrin der Nichtausübung der Grundrechtskontrolle nach dessen eigenem Verständnis in der vorliegenden Konstellation nicht einschlägig ist (vgl. auch Kingreen, SGb 2013, S. 137).

243

2. Für die zweite Vorlagefrage wird das Problem nicht aufgeworfen, da eine unionsrechtliche Grundlage für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II ersichtlich nicht besteht.

VIII.

244

Einer Rüge der Nichtigkeit der Rechtsvorschrift durch die Beteiligten bedarf es nicht (§ 80 Abs. 3 BVerfGG).

B.

245

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist verfassungswidrig (II). Die Regelung verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG (Schutz der Menschenwürde) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) (I.). Das Gleiche gilt für § 7 Abs. 5 SGB II (III).

I.

246

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Grundrecht in mehreren Entscheidungen konkretisiert und Anforderungen für dessen Gewährleistung herausgearbeitet (1-4). Die vorlegende Kammer schließt sich diesen Entscheidungen grundsätzlich an (5, 6) und zieht hieraus Schlüsse für die Anspruchsvoraussetzungen (7), den Anspruchsgegner (8) und den Anspruchsinhalt (9), sowie für das Verhältnis mehrerer möglicherweise verfassungswidriger Normen zueinander (10).

247

1. Mit dem Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.), bestätigt und ergänzt durch das Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) und durch den Beschluss vom 23.07.2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 ), hat das BVerfG die auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) gestützte staatliche Pflicht zur Existenzsicherung subjektivrechtlich fundiert und ein Recht auf parlamentsgesetzliche Konkretisierung in strikten einfachgesetzlichen Anspruchspositionen konstituiert (soRixen, SGb 2010, S. 240). Bereits mit Beschluss vom 12.05.2005 hatte das BVerfG klargestellt, dass die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates sei, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folge (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – Rn. 28).

248

Im Urteil vom 09.02.2010 stellt das BVerfG nicht nur prozedurale Anforderungen an die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums an einen beliebigen (staatlichen) Akteur, sondern weist die Bestimmung des Anspruchsinhalts auch einem konkreten Adressaten, dem Bundesgesetzgeber, zu. Der Bundesgesetzgeber stehe, da er von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Recht der öffentlichen Fürsorge aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG umfassend Gebrauch gemacht habe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 181), demnach in der Verantwortung, das Sozialstaatsprinzip selbst durch ein Gesetz hinreichend zu konkretisieren und zu gewährleisten, dass auf die zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderlichen Leistungen auch ein entsprechender Rechtsanspruch besteht (Berlit in: LPK-SGB II, § 22a Rn. 6, 5. Auflage 2013). Hiermit hat das BVerfG das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG als Gewährleistungsrecht im Sozialrecht aktiviert (Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 275).

249

2. Das BVerfG entwickelt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Das Menschenwürdeprinzip aus Art. 1 Abs. 1 GG wird dabei als eigentliche Anspruchsgrundlage herangezogen, während das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG im Sinne eines Gestaltungsgebots mit erheblichem Wertungsspielraum verstanden wird (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62). Das auf dieser Grundlage bestimmte Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG habe in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG demnach neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es sei dem Grunde nach unverfügbar und müsse eingelöst werden, bedürfe aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten habe. Dabei stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133).

250

Der Gesetzgeber sei im Übrigen durch weitere Vorgaben verpflichtet, die sich aus dem Recht der Europäischen Union und aus völkerrechtlichen Verpflichtungen ergäben.Zu den in Deutschland geltenden Regeln über das Existenzminimum gehöre auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 (IPwskR, in Kraft getreten am 03.01.1976, BGBl. Teil II 1976, S. 428), dem der Deutsche Bundestag mit Gesetz vom 23.11.1973 (BGBl. Teil II, S. 1569) zugestimmt habe. Der Pakt statuiere in Art. 9 ein Recht auf Soziale Sicherheit und in Art. 15 Abs. 1 a) das Menschenrecht auf Teilnahme am kulturellen Leben (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 68).

251

Der unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstrecke sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich seien. Er gewährleiste hierbei das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasse, da der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiere (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135).

252

Das BVerfG führt hierzu weiter aus, dass die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch ein Parlamentsgesetz erfolgen müsse, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthalte. Aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebe sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. Dies gelte in besonderem Maße, wenn und soweit es um die Sicherung der Menschenwürde und der menschlichen Existenz gehe. Zudem könne sich der von Verfassungs wegen bestehende Gestaltungsspielraum des Parlaments nur im Rahmen eines Gesetzes entfalten und konkretisieren. Schließlich sei die Begründung von Geldleistungsansprüchen auch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte verbunden. Derartige Entscheidungen seien dem Gesetzgeber vorbehalten (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136). Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkomme, sei das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137).

253

Der Umfang des Anspruchs könne im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Er hänge von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und sei danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG halte den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kämen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliege es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ihm komme Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser umfasse die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und sei zudem von unterschiedlicher Weite: Er sei enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiere, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 138).

254

Zur Konkretisierung des Anspruchs habe der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen. Hierzu habe er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das GG schreibe ihm dafür keine bestimmte Methode vor (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 139). Es komme dem Gesetzgeber zu, die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auszuwählen. Die getroffene Entscheidung verändere allerdings nicht die grundrechtlichen Maßstäbe (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 78).

255

3. Als Menschenrecht stehe das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63).

256

Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen wolle, dürfe er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung sei nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73).

257

Ob und in welchem Umfang der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen für Menschen mit nur vorübergehendem Aufenthaltsrecht in Deutschland gesetzlich abweichend von dem gesetzlich bestimmten Bedarf anderer Hilfebedürftiger bestimmt werden könne, hänge allein davon ab, ob wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden könnten. Hierbei sei zu berücksichtigen, ob durch die Kürze des Aufenthalts Minderbedarfe durch Mehrbedarfe kompensiert würden, die typischerweise gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfielen. Auch hier komme dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse dieser Personengruppe wie auch die wertende Einschätzung ihres notwendigen Bedarfs umfasse, aber nicht davon entbinde, das Existenzminimum hinsichtlich der konkreten Bedarfe zeit- und realitätsgerecht zu bestimmen (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73).

258

4. Zum (verfassungs-)gerichtlichen Prüfungsmaßstab führt das BVerfG aus, dass dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums eine zurückhaltende Kontrolle durch das BVerfG entspreche.

259

Das GG selbst gebe keinen exakt bezifferten Anspruch vor. Deswegen könne auch der Umfang dieses Anspruchs im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und der dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Dem BVerfG komme nicht die Aufgabe zu, zu entscheiden, wie hoch ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums sein müsse. Es sei zudem nicht seine Aufgabe, zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste, zweckmäßigste und vernünftigste Lösung zur Erfüllung seiner Aufgaben gewählt habe. Aus verfassungsrechtlicher Sicht komme es vielmehr entscheidend darauf an, dass die Untergrenze eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht unterschritten werde und die Höhe der Leistungen zu dessen Sicherung insgesamt tragfähig begründbar sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. - Rn. 80).

260

Die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz beschränke sich darauf, ob die Leistungen evident unzureichend seien. Diese Kontrolle beziehe sich auf die Höhe der Leistungen insgesamt und nicht auf einzelne Berechnungselemente, die dazu dienten, diese Höhe zu bestimmen. Evident unzureichend seien Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich sei, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen könnten, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 81).

261

Jenseits der Evidenzkontrolle überprüfe das BVerfG, ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen seien. Das BVerfG setze sich dabei nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle des Gesetzgebers, sondern überprüfe lediglich die gesetzgeberischen Festlegungen zur Berechnung von grundgesetzlich nicht exakt bezifferbaren, aber grundrechtlich garantierten Leistungen. Ließen sich diese nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen, stünden sie mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im Einklang (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 82).

262

Entscheidend sei, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichte und die Leistungen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs tragfähig begründet werden könnten (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 76). Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen bezögen sich nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG bringe für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Verfahren mit sich. Entscheidend sei, ob sich die Höhe existenzsichernder Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lasse. Das GG enthalte in den Art. 76 ff. GG zwar Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, die auch die Transparenz der Entscheidungen des Gesetzgebers sicherten. Das parlamentarische Verfahren mit der ihm eigenen Öffentlichkeitsfunktion sichere so, dass die erforderlichen gesetzgeberischen Entscheidungen öffentlich verhandelt würden und ermögliche, dass sie in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert würden. Die Verfassung schreibe jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen sei, sondern lasse Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Das GG verpflichte den Gesetzgeber insofern auch nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenzminimums vorzunehmen. Darum zu ringen sei vielmehr Sache der Politik (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

263

Zur Ermöglichung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bestehe für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Komme er dieser Obliegenheit nicht hinreichend nach, stehe die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 144).

264

5. Die Kammer schließt sich den Ausführungen des BVerfG im Wesentlichen an.

265

5.1 Die Entwicklung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dem Umstand geschuldet, dass sowohl die Menschenwürdegarantie als auch das Sozialstaatsprinzip als echte, einklagbare, verfassungsrechtliche Garantien verstanden werden, nicht lediglich als Programmsätze. Ein menschenwürdiges Leben, zu dessen Achtung und Schutz alle staatliche Gewalt nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet ist, kann nur mit einem Mindestmaß an materiellen und sozialen Ressourcen geführt werden (vgl. Schulz, SGb 2010, S. 203 f.). Der Schutz der Menschenwürde liefe ohne Rücksicht auf ihre ökonomischen Bedingungen ins Leere (Drohsel, NZS 2014, S. 99). Vor diesem Hintergrund erscheint es sogar vertretbar, das Grund- und Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums allein auf Art. 1 Abs. 1 GG zu stützen (vgl. Tiedemann, NVwZ 2012, S. 1032 f.).

266

5.2 Das Bekenntnis zum Sozialstaat bedingt die (Selbst-)Verpflichtung des Staates und der ihn tragenden Gesellschaft, ein menschenwürdiges Leben auch denen zu ermöglichen, die dies nicht aus eigener Kraft (bzw. mit den Mitteln, die ihnen Staat und Gesellschaft anderweitig durch Bildung, Infrastruktur etc. zur Verfügung stellen) gewährleisten können. Die objektive staatliche Verpflichtung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums enthält auch die Verpflichtung, Hilfebedürftigen einen Anspruch auf die Leistung zu verschaffen (so bereits BVerfG, Urteil vom 07.06.2005 – 1 BvR 1508/96 – Rn. 48; vgl. Baer, NZS 2014, S. 3). Diese subjektivrechtliche Seite der verfassungsrechtlichen Garantie folgt aus dem Umstand, dass Art. 1 Abs. 1 GG als echte Rechtsnorm zu verstehen ist (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 212); das Sozialstaatsprinzip allein würde diese der Verrechtlichung folgende Subjektivierung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung noch nicht erzwingen (vgl. Schulz, SGb 2010, S. 202). Ohne die aus dem Achtungs- und Schutzanspruch des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG folgende subjektivrechtliche Fundierung stünde die konkrete Ausgestaltung der sozialstaatlichen Versorgung von Hilfebedürftigen mit den zum Überleben notwendigen Mitteln weitgehend zur Disposition des Gesetzgebers. Sie wäre abhängig von der jeweiligen Staatsräson und vollständig Verhandlungsmasse im politischen Prozess (vgl. Spellbrink, NZS 2010, S. 653). Der Hilfebedürftige bliebe Almosenempfänger (Baer, NZS 2014, S. 3).

267

Die Menschenwürdegarantie führt dazu, dass der sozialstaatlichen Verpflichtung ein klagbarer verfassungsrechtlicher Anspruch entsprechen muss (skeptisch gegenüber der Notwendigkeit, das Existenzsicherungsgrundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG herzuleiten aberKingreen, NVwZ, 2010, S. 558 f.). Zugleich führt sie dazu, dass das Gewährleistungsrecht keiner Einschränkungsbefugnis unterliegt. Insofern ist es konsequent, die Garantie der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums terminologisch und dogmatisch in den Rang eines Grundrechts und Menschenrechts (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 u.a. - Rn. 62) zu erheben und hiermit auch die Möglichkeit des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG zu eröffnen (vgl. Berlit, KJ 2010, S. 147).

268

5.3 Dass das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Gestaltung des einfachrechtlichen Anspruchs belässt, gründet darauf, dass die normative Einschätzung und Bestimmung dessen, was für ein menschenwürdiges Leben unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen erforderlich ist, nur im Wege eines politischen Prozesses erfolgen kann, dessen Durchführung unter den verfassungsrechtlichen Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie den gewählten Legislativorganen obliegt (zur Kritik an der juristisch-dogmatischen Schließung des Demokratieprinzips durch das BVerfG vgl. aber Wallrabenstein in: Rixen (Hrsg.), Die Wiedergewinnung des Menschen als demokratisches Projekt: Band 1: Neue Demokratietheorie als Bedingung demokratischer Grundrechtskonkretisierung in der Biopolitik, Tübingen 2015, S. 21 ff.). Der materielle Gehalt des Grundrechts muss im Gesetzgebungsprozess konkretisiert werden (vgl. jedoch zur Kritik an der sozialpolitischen "Leere" des Urteils des BVerfG vom 09.02.2010: Schnath, NZS 2010, S. 298; zur Kritik an der eingeschränkten Überprüfbarkeit: Neskovic/Erdem, SGb 2012, S. 137 f.).

269

Die Auffassung, das BVerfG entziehe die gesellschaftlich streitbare Frage nach der Reichweite der staatlichen Verpflichtung zur Absicherung des Existenzminimums durch Verankerung des Grundrechts in Vorschriften, die der Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) unterliegen, für die Ewigkeit dem politischen Diskurs und schwäche hiermit das demokratische Prinzip (Groth, NZS 2011, S. 571; kritisch auch Rixen, NZS 2011, S. 333), vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen. Bei formaler Betrachtungsweise schwächt jedes Grundrecht und jede verfassungsrechtliche Bindung der Legislative die Demokratie, wenn man diese auf den Gesetzgebungsakt reduziert und die Voraussetzungen für den demokratischen Prozess (z.B. Meinungsfreiheit, soziale Teilhabe, politische Autonomie) ausblendet (vgl. auch Luik, jurisPR-SozR 4/2010 Anm. 1). Die Konstituierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch das BVerfG als "Gewährleistungsrecht" zwingt die Legislativorgane jedoch dazu, den demokratischen Prozess, der sich nicht im Gesetzgebungsakt erschöpft, praktisch zu realisieren, auch wenn von echten Verfahrensfehlern abgesehen nur dessen Ergebnis einer (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Daneben sind Grundrechte auf Gewährung sozial gesicherter Lebensbedingungen, wie dies für eine chancengleiche Nutzung bürgerlicher Rechte unter gegebenen Verhältnissen jeweils notwendig ist, Funktionsvoraussetzungen für Handlungsfreiheit und Aktivbürgerschaft in einem demokratischen Rechtsstaat und somit auch für den demokratischen Prozess selbst (vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 155 f., 5. Auflage 2014).

270

Die scheinbar entgegengesetzte Kritik, das BVerfG überlasse das Grundrecht weitestgehend der Disposition des nur bedingt gebundenen Gesetzgebers (Neskovic/Erdem, SGb 2012, S. 138), verdeutlicht die Kompromisshaftigkeit der vom BVerfG entwickelten Dogmatik (vgl. auch Berlit, KJ 2010, S. 145 ff.). Bei der Konstruktion des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums werden Menschenwürdegarantie und Sozialstaatsprinzip mit dem Demokratieprinzip harmonisiert. Eine Lösung, die diese Verfassungsgrundsätze prinzipiell besser miteinander in Einklang bringt, ist der vorlegenden Kammer nicht ersichtlich. Dass das BVerfG „zur sozialstaatlich elementaren Verteilungsfrage geschwiegen (hat)“ (Borchert, SGb 2015, S. 661) ist vor diesem Hintergrund konsequent.

271

5.4 Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stellt an ein Staatswesen, welches den Schutz und die Achtung der Menschenwürde zum obersten Staatsziel erklärt und der Verfassung voranstellt (Art. 1 Abs. 1 GG) und sich als "sozial" bezeichnet (Art. 20 Abs. 1 GG), keine überzogenen Anforderungen, insbesondere nicht im Hinblick auf die Finanzierung (vgl. allgemein zu diesbezüglichen Vorbehalten gegenüber sozialen Menschenrechten: Wimalasena, KJ 2008, S. 4 f.). Letzteres wird dadurch gesichert, dass der Gesetzgeber unter Nutzung seines Gestaltungsspielraums bei der inhaltlichen Bestimmung des Grundrechts den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsstand berücksichtigen kann und muss. Das Grundrecht ist zwar dem Grunde nach unverfügbar und abwägungsfest, der Höhe nach aber nicht vom gesellschaftlichen Wohlstand und dessen ökonomischen Grundlagen entkoppelt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74; Voßkuhle, SGb 2011, S. 186). Nicht die Menschenwürde ist hierbei historischen Wandlungen unterworfen, sondern das Urteil darüber, welche materiellen Voraussetzungen notwendig sind, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können (Neumann, NVwZ 1995, S. 428).

272

6. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet den Gesetzgeber zur Schaffung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen für alle Menschen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich aufhalten (Kirchhof, NZS 2015, S. 4). Dem Gesetzgeber ist es daher sowohl verwehrt, Personen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten, trotz Hilfebedürftigkeit von sämtlichen existenzsichernden Sozialleistungssystemen auszuschließen, als auch die Gewährung jeglicher existenzsichernder Leistungen von Handlungen der betroffenen Personen abhängig zu machen, die weder zur Feststellung der Leistungsvoraussetzungen erforderlich noch unmittelbar dazu geeignet sind, die Hilfebedürftigkeit des Betroffenen zu beseitigen. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und insoweit – wie es der überkommenen Dogmatik der Menschenwürdegarantie entspricht – abwägungsfest (Baer, NZS 2014, S. 3).

273

6.1 Die Unverfügbarkeit des Grundrechts (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74) resultiert aus dessen Verankerung im Grundsatz der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), soweit hierin der Schutz der Selbstbestimmung des Menschen auf Grund seines Eigenwerts angesprochen wird (vgl. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10, 4. Auflage 1999). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen. Die Eigenschaft des Menschseins ist jeder weiteren Differenzierung nach Zugehörigkeit (Staatsangehörigkeit, Herkunft) oder Status (z.B. Aufenthaltsrecht) vorgelagert, so dass aus der Menschenwürdegarantie hergeleitete Rechte durch solche und ähnliche Kategorien nicht eingeschränkt werden können.

274

Die vom BVerfG hervorgehobene Unverfügbarkeit "dem Grunde nach" bringt lediglich zum Ausdruck, dass hinsichtlich der Art und Höhe der existenzsichernden Leistungen ein Gestaltungsspielraum besteht. Diese Formulierung ist zu unterscheiden von einem lediglich "grundsätzlich" bestehenden Recht, welches im Ausnahmefall auch nicht bestehen kann. Die in der Rechtsprechung gelegentlich vertretene Auffassung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfe, gelte „nicht schrankenlos“ (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht) verfehlt deshalb den wesentlichen Punkt. Die Verpflichtung zur "Konkretisierung" und "Aktualisierung" (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74) bedeutet keine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Das Grundrecht unterliegt daher auch keinem Gesetzesvorbehalt, sondern der Gesetzgeber (d.h. die verfassungsmäßigen Organe der Legislative) einem Gestaltungsgebot (vgl. Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 279 f.).

275

Bei der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums geht es nicht darum, bestimmte selbstgewählte Lebensentwürfe zu fördern oder zu ermöglichen, sondern das physische Überleben und ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe des Menschen im Falle der Hilfebedürftigkeit unabhängig von dessen Lebensentwurf zu garantieren. Der Staat kann Art und Höhe der Gewährung von aus allgemeinen Haushaltsmitteln finanzierten Sozialleistungen generell zwar von der Erfüllung von Verhaltenserwartungen abhängig machen, nicht jedoch die Gewährleistung des Existenzminimums. Gerade hierin liegt – neben der subjektivrechtlichen Fundierung – der normative Gewinn der Herleitung des Grundrechts auf Gewährleistung eines Existenzminimums auch aus dem Gebot zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Würde der Anspruch auf Existenzsicherung isoliert als Ausfluss des Sozialstaatsprinzips betrachtet, spräche jedenfalls bei rein semantischer Auslegung des Sozialstaatsbegriffs noch nichts dagegen, den Anspruch auf Gewährleistung eines Existenzminimums von Gegenleistungen wie beispielsweise einer Arbeitspflicht bei Arbeitsfähigkeit abhängig zu machen. Hiermit könnte die Gewährleistung existenzsichernder Leistungen für den Einzelnen Staats- bzw. Gemeinschaftszwecken untergeordnet werden.

276

Der mit dem Urteil des BVerwG vom 24.06.1954 (V C 78.54 – Rn. 22 ff.) eingeleitete Bruch mit der armenpolizeilichen Tradition des Fürsorgerechts folgt dementsprechend nicht bereits aus dem Sozialstaatsprinzip (Neumann, NVwZ 1995, S. 430; zur Relativierung der Bedeutung der Entscheidung vgl. Hinrichs, KJ 2006, S. 196 f.). Dass der Staat zugleich zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen verpflichtet ist (Art. 1 Abs. 1 GG), fügt der sozialstaatlichen Schutzdimension des Art. 20 Abs. 1 GG eine liberal-grundrechtliche Dimension hinzu. Art. 1 Abs. 1 GG schützt durch die staatliche Gewährleistung des materiellen Existenzminimums (auch) die notwendigen Bedingungen der Freiheit des Einzelnen, sich seiner Autonomie zu bedienen und von seiner Befähigung zur Personalität tatsächlich Gebrauch zu machen (vgl. Nettesheim, AöR 2005, S. 103 f.).

277

Auf die konkrete Fähigkeit des Menschen zur Ausübung von Autonomie kommt es hierbei keineswegs an (vgl. zu verschiedenen Begründungsansätzen für die Expansion des Würdebegriffs: Gutmann, Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, Preprints of the Centre for Advanced Study of Bioethics, Münster 2010/2). Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch "unwürdiges" Verhalten geht sie nicht verloren (BVerfG, Beschluss vom 20.10.1992 – 1 BvR 698/89 – Rn. 107).

278

6.2 Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Gewährung existenzsichernder Leistungen darf deshalb in letzter Konsequenz nicht von der Erfüllung von bestimmten Gegenleistungen, Handlungen oder Eigenschaften des Hilfebedürftigen oder von einem bestimmten Status des Hilfebedürftigen abhängig gemacht werden. Denn keine dieser Kategorien ist dazu geeignet, den aus dem Schutz der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG resultierenden Achtungsanspruch des Einzelnen in Frage zu stellen.

279

Die Unverfügbarkeit des Grundrechts ist insbesondere nicht durch den Verweis auf ein gleichfalls aus der Menschenwürde abgeleitetes Prinzip der Selbstverantwortlichkeit zu relativieren (in diese Richtung Görisch, NZS 2011, S. 648; Berlit, info also 2013, S. 200; vgl. auch Louven, SGb 2008, S. 582; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 44; weitere Nachweise bei Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 390). Auch wenn nach bestimmten, eher vom Zeitgeist geprägten Interpretationen des Begriffs der Menschenwürde Erwerbsarbeit zur Würdeverwirklichung gehören soll, folgt hieraus nicht, dass der ebenfalls der Menschenwürdegarantie unterfallende Schutz des physischen und soziokulturellen Existenzminimums bei Verstoß gegen Erwerbsobliegenheiten wegfallen dürfte. Aus der Einbeziehung der Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit in den Schutz der Menschenwürdegarantie könnte allenfalls gefolgert werden, dass der Staat derartige Selbstverwirklichung nicht verhindern darf und möglichst fördern sollte. Einer hilfebedürftigen Person existenzsichernde Leistungen vorzuenthalten, weil sie beispielsweise einer Erwerbsarbeit nicht nachgehen will, mag eine sozialpolitische Wunschvorstellung sein; die Annahme, dass dies als ein Ausdruck der Anerkennung der Menschenwürde des Betroffenen erscheinen könne (vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 390; Berlit, info also 2013, S. 200), liegt jedoch fern. Schließlich ist mit dem Anspruch auf existenzsichernde Leistungen kein Verbot der Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit verbunden. Die Einräumung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen kann für sich genommen die Menschenwürde nicht verletzen.

280

Die Beschränkung der Reichweite des Schutzes durch Art. 1 Abs. 1 GG durch Anreicherung des Menschenwürdebegriffs mit bestimmten Vorstellungen vom „guten“, "eigenverantwortlichen" oder „gemeinschaftsdienlichen“ Leben hätte letztendlich zur Folge, dass die Verwirklichung der Würde des Menschen Staats- oder Gemeinschaftszwecken untergeordnet werden dürfte. Dies zu verhindern, ist gerade der Sinn des Art. 1 Abs. 1 GG, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt. Die Verankerung des Existenzsicherungsgrundrechts in der Menschenwürdegarantie schließt es somit aus, die Frage, wem existenzsichernde Leistungen zu gewähren sind, vom durch demokratischen Mehrheitsbeschluss zugeschriebenen Wert eines Menschen oder seiner Handlungen für die Gesellschaft abhängig zu machen (vgl. Spellbrink, NZS 2010, S. 653).

281

6.3 Soweit für die Beschränkung des Anspruchs auf Gewährleistung des Existenzminimums unter Bezugnahme auf den Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 (1 BvR 2556/09) angeführt wird, die Verfassung gewährleiste nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (so z.B. Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 34), wird übersehen, dass das BVerfG in diesem Kontext ausschließlich auf die Bedarfsabhängigkeit abstellt und dem Gesetzgeber bei der Anrechnung von Einkommen konsequenterweise einen weiten Gestaltungsspielraum zubilligt. Das Verfassungsrecht gebietet demnach nicht die Schaffung eines Anspruchs auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern die Schaffung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen bei Hilfebedürftigkeit.

282

Dies lässt die Zulässigkeit der Schaffung von Mitwirkungsobliegenheiten unberührt, die dazu dienen, festzustellen, ob Hilfebedürftigkeit überhaupt besteht (vgl. §§ 60 ff. SGB I; vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 290) oder den Leistungsträger von der Hilfebedürftigkeit erst in Kenntnis zu setzen.

283

6.4 Leistungsausschlüsse dem Grunde nach, die trotz bestehender Hilfebedürftigkeit eintreten und nicht durch ein anderes existenzsicherndes Leistungssystem (z.B. durch Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG) aufgefangen werden, sind per se verfassungswidrig, da sie die staatliche Pflicht zur Gewährleistung von Lebensbedingungen, die physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sind, unterlaufen (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 219; so auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

284

7. Die staatliche Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hat dementsprechend lediglich drei Anspruchsvoraussetzungen:

285

7.1 Der Grundrechtsträger muss erstens ein Mensch sein, also eine natürliche Person. Abgrenzungsfragen bezüglich Beginn und Ende des menschlichen Lebens sind für das Existenzsicherungsgrundrecht bislang nicht von praktischer Bedeutung. Der Begriff des Menschen im Sinne des GG stimmt im Übrigen mit dem Gattungsbegriff (beim heutigen Menschen gleichbedeutend mit dem Artbegriff) der biologischen Klassifikation überein. Jede weitere Unterscheidung zwischen verschiedenen Menschengruppen lässt der Rekurs auf den Menschenwürdebegriff bezüglich des Existenzsicherungsgrundrechts nicht zu. Es sind ausnahmslos alle Menschen gleich welcher Herkunft oder Staatsangehörigkeit erfasst (vgl. Kirchhof, NZS 2015, S. 4).

286

7.2 Anspruchsberechtigte sind zweitens alle Menschen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63; Kirchhof, NZS 2015, S. 4; Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386; vgl. zum Territorialitätsprinzip auch Neumann, NVwZ 1995, S. 428). Hintergrund für die territoriale Beschränkung auf das Bundesgebiet ist letztendlich die Abhängigkeit der Realisierung und Durchsetzung der dem Anspruch nach universalen Menschenrechte von partikularen Staatsgewalten (Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 1210.2015, S. 17). Da die deutsche Staatsgewalt auf das Bundesgebiet beschränkt ist, kann ein Verfassungsverstoß durch unterlassene Gewährleistung des Hoheitsträgers nur angenommen werden, wenn er sich innerhalb des Hoheitsgebiets realisiert. Das Unterlassen der Erfüllung eines grundrechtlichen Gewährleistungsanspruchs kann als Äquivalent zu einem Eingriff in ein Abwehrrecht aufgefasst werden (vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386). Die Gewährleistung von existenzsichernden Leistungen außerhalb Deutschlands steht in letzter Konsequenz nicht in der Macht und somit nicht in der verfassungsrechtlichen Verantwortung des deutschen Gesetzgebers, auch wenn ihm die Einräumung derartiger Ansprüche selbstverständlich gestattet ist (vgl. § 24 SGB XII).

287

7.3 Drittens muss die betroffene Person tatsächlich hilfebedürftig sein. Die Grundrechtsträger haben den Gewährleistungsanspruch nur für den Fall ihrer Hilfebedürftigkeit. Der verfassungsrechtliche Begriff der Hilfebedürftigkeit ist nicht mit dem einfachrechtlichen Begriff der Hilfebedürftigkeit (z.B. in § 9 SGB II) gleichzusetzen, der über die verfassungsrechtlichen Anforderungen hinausgehen, aber nicht hinter diesen zurückbleiben darf. Im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig ist eine Person, wenn ihr die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Die Abstraktheit des verfassungsrechtlichen Hilfebedürftigkeitsbegriffs korreliert mit dem Umstand, dass die normative Einschätzung und Bestimmung dessen, was für ein menschenwürdiges Leben unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen erforderlich ist, in weiten Teilen dem politischen Prozess obliegt (s.o. unter 5.3).

288

Ob die Hilfebedürftigkeit des Grundrechtsträgers eine weitere Anspruchsvoraussetzung für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darstellt oder dieser Aspekt stattdessen dem Anspruchsinhalt in Form des zu gebenden einfachen Rechts zugeordnet wird (Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386), hat für das praktische Ergebnis jedenfalls in der vorliegenden Konstellation keine Auswirkungen. Der Unterschied bestünde allein darin, dass auch nicht akut Hilfebedürftige einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schaffung eines Sozialleistungsanspruchs für den Fall ihrer Hilfebedürftigkeit hätten; diesen könnten sie jedoch mangels aktueller eigener Betroffenheit in Ermangelung eines individuellen Rechtsschutzbedürfnisses wohl nicht selbst durchsetzen.

289

8. Adressaten des Gewährleistungsanspruchs, also Anspruchsgegner, sind in Folge der konkurrierenden Gesetzgebung im Bereich der „öffentliche(n) Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) grundsätzlich sowohl der Bund als auch die Länder. Da der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Recht der öffentlichen Fürsorge umfassend Gebrauch gemacht hat, ist dieser in Folge des Ausschlusses der Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG allein verpflichtet (Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 387 f.; im Ergebnis ebenso BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 181).

290

9. Zur Erfüllung der staatlichen Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Anspruchsinhalt) müssen nach den oben entwickelten Prinzipien folgende Anforderungen erfüllt werden:

291

Erstens muss der Gesetzgeber durch formelles Gesetz eine Inhaltsbestimmung der Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vornehmen (Inhaltsbestimmung, 9.1).

292

Zweitens muss der Anspruch des hilfebedürftigen Grundrechtsträgers (d.h. jedes hilfebedürftigen Menschen, der sich in Deutschland tatsächlich aufhält, s.o. unter 7) in einem formellen Gesetz auf Grund eines verfassungsgemäß durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens konstituiert werden (formell-gesetzlicher Anspruch, 9.2).

293

Drittens muss der Leistungsanspruch im Gesetzestext selbst so hinreichend bestimmt sein, dass die Verwaltung eine Entscheidung über die Höhe des Anspruchs treffen kann, die die im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers nachvollziehbar berücksichtigt (hinreichende Bestimmtheit; konkreter Anspruch, 9.3).

294

Viertens müssen die konkreten Leistungsansprüche objektiv am Maßstab der Inhaltsbestimmung (9.1) im Ergebnis zu rechtfertigen sein (Folgerichtigkeitsprüfung, 9.4).

295

9.1 Der Gesetzgeber hat durch formelles Gesetz eine Inhaltsbestimmung der Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (d.h. des Existenznotwendigen) zu leisten. Denn die aus dem Demokratieprinzip folgende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers führt dazu, dass der Gesetzgeber sowohl auf einer ersten Ebene für die grundlegenden Wertentscheidungen hinsichtlich der für die Existenzsicherung erforderlichen Bedarfe zuständig ist, als auch für die Realisierung eines konkreten, auf existenzsichernde Leistungen gerichteten Anspruchs für jeden hilfebedürftigen Grundrechtsträger auf einer zweiten Ebene (9.2). Da nur der Gesetzgeber diese Gestaltungsaufgabe umsetzen kann, ist er hierzu auch verpflichtet – anders könnte das Grundrecht nicht realisiert werden.

296

Der Gesetzgeber hat somit sowohl den Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Leistungen zu konkretisieren als auch den Leistungsanspruch entweder in konkreter Höhe festzusetzen oder aber ein Regelungssystem zu etablieren, das eine Festsetzung der Leistungshöhe auf Grund gesetzgeberischer Wertentscheidungen ermöglicht. Die Ausgestaltung der Leistung hinsichtlich der Art und Höhe ist daher an den durch den Gesetzgeber selbst getroffenen Wertentscheidungen zu messen, die selbst allerdings auch einer (verfassungs-)gerichtlichen Prüfung unterliegen. Der Zusammenhang zwischen Inhaltsbestimmung und Leistungsanspruch muss folgerichtig sein (9.4).

297

a) Der bisherigen Judikatur des BVerfG lässt sich nicht widerspruchsfrei entnehmen, in welcher Form der Gesetzgeber die für die Ausgestaltung des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen grundlegenden Wertentscheidungen zu treffen hat, ob diese Wertentscheidungen selbst Bestandteil eines formellen Gesetzes sein müssen, oder ob sie sich zumindest aus der Gesetzesbegründung oder sonstigen Gesetzesmaterialien ergeben müssen (zur Kritik an „mäandernden Maßstäben“ vgl. Borchert, SGb 2015, S. 655 ff.).

298

Das BVerfG stellt im Urteil vom 09.02.2010 fest, dass sich der Grundrechtsschutz (auch) deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums erstrecke, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich sei (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 142). Das BVerfG prüfe deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben habe, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt habe, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt habe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 143). Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle bestehe für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Komme der Gesetzgeber dieser Obliegenheit nicht hinreichend nach, stehe die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.143).

299

Im Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 79) führt das BVerfG diesbezüglich aus, dass sich die Art und die Höhe der Leistungen "mit einer Methode erklären lassen (müssen), nach der die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt werden und nach der sich alle Berechnungsschritte mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegen".

300

Im Beschluss vom 23.07.2014 hebt das BVerfG dann hervor, dass die Entscheidung anhand des vom BVerfG entwickelten Folgerichtigkeitsmaßstabs "tragfähig begründbar" sein müsse (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 80). Die Verfassung schreibe nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

301

Jedenfalls nach der zuletzt vertretenen Auffassung des BVerfG stellen demnach bestimmte Qualitätsmerkmale der Gesetzesbegründung keine formelle Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen dar (kritisch diesbezüglich Borchert, SGb 2015, S. 661).

302

Auf Grund des Beschlusses des BVerfG vom Beschluss vom 23.07.2014 (1 BvL 10/12 u.a.) liegt es nahe die „tragfähige Begründbarkeit“ als rein objektiven Maßstab zu verstehen, so dass Wertentscheidungen über die Auswahl der Methoden zur Bestimmung des Existenzminimums weder anhand des Gesetzes noch anhand der Gesetzgebungsmaterialien belegbar sein müssten und es auch nicht darauf ankommen würde, wer für die Begründung oder Begründbarkeit verantwortlich zeichnet. Hierfür spricht auch, dass für die praktische Grundrechtsverwirklichung nur Art und Höhe der Leistung wesentlich sind, nicht aber die der Anspruchsausgestaltung zu Grunde liegenden Wertentscheidungen. Andererseits birgt die Reduzierung des Prüfungsmaßstabs auf eine objektivierte "tragfähige Begründbarkeit" die Gefahr, dass einer durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes festgelegten Leistungshöhe eine derartige Methode nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beliebig untergeschoben werden könnte, beispielsweise durch das Gericht selbst oder durch interessierte Teilnehmer am öffentlichen Diskurs (Beispiele für Stellungnahmen zur „richtigen“ Höhe der Regelleistungen z.B. bei Spindler, info also 2010, S. 53). Hierdurch würde die Folgerichtigkeitsprüfung tendenziell auf das Niveau einer methodisch verfeinerten Evidenzkontrolle reduziert, da jedes in die Diskussion eingebrachte Berechnungsmodell, das in sich schlüssig den gesetzlich geregelten Anspruch zu begründen oder zu unterbieten im Stande wäre, zu dessen Rechtfertigung taugen würde. Bei einer derartigen Sichtweise wäre nicht sichergestellt, dass die grundlegenden Wertentscheidungen hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums tatsächlich, wie es das Demokratieprinzip gebietet, durch den parlamentarisch-demokratischen Gesetzgeber getroffen werden. Bei der Prüfung, ob sich aus den parlamentarischen Wertentscheidungen das gefundene Ergebnis in Form des gesetzlichen Anspruchs folgerichtig ableiten lässt, fiele die erste Komponente weg.

303

Das BVerfG hat sich bei der Folgerichtigkeitsprüfung trotz der Reduzierung des Prüfungsmaßstabs auf die "tragfähige Begründbarkeit" jedoch fast ausschließlich an den zur Verfügung stehenden Gesetzgebungsmaterialien bzw. im Falle des Beschlusses vom 23.07.2014 am gesetzlich fixierten Verfahren zur Bestimmung der Regelbedarfe im RBEG orientiert (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.160 ff.; BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 91 f.; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 91 ff.). Insbesondere im Urteil vom 09.02.2010 hat das BVerfG soweit ersichtlich keine ergänzenden Expertisen zu der Frage eingeholt, ob die seinerzeit zur Überprüfung stehende Leistungshöhe nicht unabhängig von der Gesetzesbegründung „tragfähig begründbar“ gewesen sein könnte.

304

Es bleibt nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG mithin unklar, in welchem Zusammenhang die der Folgerichtigkeitsprüfung zu Grunde zu legenden Wertentscheidungen mit dem Gesetzgebungsprozess stehen müssen.

305

b) Eine Lösung auf Grundlage der Dogmatik des BVerfG besteht in der Annahme, dass die grundlegenden Wertentscheidungen im Sinne einer inhaltlichen Bestimmung des Existenznotwendigen ebenso wie der hieraus abzuleitende Leistungsanspruch im Wege eines formellen Gesetzes getroffen werden müssen.

306

Hierfür spricht, dass dem Gesetzgeber als solchem keine andere Handlungsform als das formelle Gesetz zur Verfügung steht. In Folge der pluralistischen Zusammensetzung der Gesetzgebungskörperschaften (die auf Bundesebene darüber hinaus aus zwei verschiedenen Gremien, Bundestag und Bundesrat, bestehen) gibt es keinen authentischen Interpreten der Entscheidungen des Gesetzgebers, der verbindlich gesetzgeberische Konzeptionen und Intentionen im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Prüfung darstellen oder auch "nachbessern" könnte. Daher ist auch nicht klar, wer zur Erfüllung von „Obliegenheiten“ des Gesetzgebers (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.143) berufen sein sollte. Unter dem Aspekt der Gewaltenteilung ist es insbesondere problematisch die Bundesregierung oder ein Fachministerium hierzu heranzuziehen. Verbindliche Wertentscheidungen des Gesetzgebers können zudem nur in Gesetzesform ergehen oder gegebenenfalls mit sonstigen parlamentarischen Beschlüssen getroffen werden. Gesetzesbegründungen gehören nicht dazu. Aus dem GG lassen sich weder Begründungspflichten noch sonstige Dokumentationspflichten über den Gesetzgebungsprozess als formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für ein Bundesgesetz herleiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77; Groth, NZS 2011, S. 571 m.w.N.). Die Gestaltungsverpflichtung des Gesetzgebers kann sich in formeller Hinsicht daher nicht auf dessen Begründung beziehen. Die grundlegenden Wertentscheidungen, die der Ausgestaltung des Anspruchs auf ein menschenwürdiges Existenzminimum müssen demnach in Gesetzesform getroffen werden, um als Entscheidungen des Gesetzgebers identifizierbar zu sein.

307

Der (vom BVerfG zuletzt herangezogene) objektive Prüfungsmaßstab der "tragfähigen Begründbarkeit" kann sich demnach nur auf den folgerichtigen Zusammenhang zwischen der gesetzlich zu regelnden inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums einerseits und dem gesetzlichen Leistungsanspruch andererseits beziehen (9.4). Sofern der Gesetzgeber also seinem Auftrag zur Ausgestaltung des Grundrechts nachgekommen wäre, könnte der hieraus abgeleitete Leistungsanspruch aus objektiver Perspektive auf seine tragfähige Begründbarkeit überprüft werden.

308

In diesem Sinne objektiv zu prüfen sind allerdings auch die Wertentscheidungen, die in der abstrakten inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums zum Ausdruck kommen. Dies unternimmt das BVerfG auch, in dem es postuliert, welche Kategorien von Bedürfnissen jedenfalls zum menschenwürdigen Existenzminimum hinzugehören (Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene, Gesundheit, Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben – BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135) und einen Verfassungsverstoß in der mangelnden Berücksichtigung von Bildungs- und Teilhabebedarfen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 192) sieht, die Berücksichtigung dieser Bedürfnisse dem Grunde nach also gerade nicht einer Wertentscheidung des Gesetzgebers überlasst.

309

c) Die sich aus diesem Lösungsansatz ergebende Differenz zwischen der abstrakten Bestimmung der materiellen und sozialen Bedürfnisse, die zur Führung eines menschenwürdigen Lebens unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen befriedigt werden können müssen, und der Schaffung konkreter Leistungsansprüche, die die Erfüllung dieser Bedürfnisse gewährleisten müssen, liefert auch eine Begründung dafür, dass für verschiedene Personengruppen unterschiedliche Leistungssysteme geschaffen werden können, obwohl das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für alle Menschen gleichermaßen und in gleicher Weise Geltung beansprucht (vgl. auch Janda/Wilksch, SGb 2010, S. 570). Der dem Grundrecht inhärente Gleichbehandlungsanspruch betrifft die abstrakte Bestimmung dessen, welche materiellen Bedürfnisse zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfüllt werden müssen. Hierbei sind Ungleichbehandlungen nur auf Grund unterschiedlicher Bedürfnisse gestattet, beispielsweise bei Abweichungen von Bedarfslagen in Folge eines absehbar nur kurzfristigen Aufenthalts im Inland (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73) oder zwischen Erwachsenen und Kindern.

310

Weitere Differenzierungen auf Grund prinzipiell beliebiger politischer Kriterien (d.h. nicht bedarfsdeckungsbezogene Ziele, vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 389) beispielsweise bei der Setzung von Anreizen und Sanktionen für bestimmte Verhaltensweisen können nur auf der zweiten Ebene der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs zum Zuge kommen und hierfür auch nur den Spielraum nutzen, der sich aus einer – objektiv tragfähig begründbaren – Übererfüllung der durch den Gesetzgeber selbst gesetzten Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Sinne einer Inhaltsbestimmung ergeben kann (ähnlich Görisch, NZS 2011, S. 650). Dies erfordert wiederum eine hinreichend bestimmbare Unterscheidbarkeit zwischen den gesetzgeberisch ausgestalteten Mindestanforderungen einerseits und den konkreten Leistungsansprüchen andererseits. Würden sich die Mindestanforderungen allein in den konkreten Leistungsansprüchen ausdrücken, wäre jede auch nur geringfügige bedürftigkeitsunabhängige Kürzung der Leistung verfassungswidrig.

311

Ungleichbehandlungen auf dieser zweiten Ebene haben sich jedoch an den allgemeinen und speziellen Gleichheitsgrundrechten (Art. 3 GG) messen zu lassen. Dies steht der Auffassung des BVerfG, dass Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen vermögen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 145; vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 284) nicht entgegen, sofern die „Bemessung des Existenzminimums“ nicht mit der gesetzlichen Konkretisierung des Leistungsanspruchs gleichgesetzt wird. Ungleichbehandlungen auf Grund der Staatsangehörigkeit sind aber auch auf dieser zweiten Ebene sehr enge Grenzen gesetzt, weil sie eine große sachliche Nähe zu einigen speziellen Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aufweisen (vgl. Kingreen, SGb 2013, S. 137 ff.; BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 46).

312

9.2 Der konkrete Leistungsanspruch des hilfebedürftigen Grundrechtsträgers muss seinerseits in einem formellen Gesetz auf Grund eines verfassungsgemäß durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens konstituiert werden (formell-gesetzlicher Anspruch).

313

Wenn das Sozialleistungssystem derart lückenhaft ist, dass bestimmte Personengruppen die positiven Anspruchsvoraussetzungen für keines der bestehenden Existenzsicherungssysteme erfüllen, liegt eine verfassungswidrige Unterlassung des Gesetzgebers vor. Sofern bestimmte Personenkreise durch besondere Regelungen von allen Existenzsicherungssystemen ausgeschlossen werden, sind diese Ausschlussregelungen – und zwar jede für sich – verfassungswidrig. Auch die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen staatlichen Stelle hinsichtlich der Frage, ob bei Hilfebedürftigkeit Leistungen erbracht werden, ist verfassungswidrig.

314

Aus dem Gestaltungsgebot für den Gesetzgeber folgt im Übrigen auch, dass das Fehlen eines gesetzlichen Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht richterrechtlich kompensiert werden kann (vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 287).

315

9.3 Der konkrete Leistungsanspruch muss durch den Gesetzestext selbst so hinreichend bestimmt sein, dass die Verwaltung eine Entscheidung über die Höhe des Anspruchs treffen kann, die die im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers nachvollziehbar berücksichtigt (hinreichende Bestimmtheit; konkreter Anspruch). Dies schließt sowohl die Verwendung zu unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 252 ff.) als auch die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen Stelle über den Inhalt (bei Geldleistungen: die Höhe) der Leistungsgewährung im Kernbereich der Existenzsicherung aus. In den Worten des BVerfG betrifft dieser Aspekt die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136).

316

Die das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konturierenden Entscheidungen des BVerfG (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.; BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a.) enthalten selbst keine näheren Ausführungen über den Grad der Bestimmtheit, den gesetzliche Regelungen zur Sicherung des Existenzminimums haben müssen. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass die dort zu überprüfenden Fragen ausschließlich die Verfassungsmäßigkeit der Regelleistungen bzw. des Regelbedarfes betrafen, bei denen die Leistungshöhe im Gesetz oder in den hierzu erlassenen, durch gesetzliche Regelungen weitgehend determinierten Anpassungsverordnungen numerisch exakt bestimmt war bzw. ist. Die durch das BVerfG geprüften Vorschriften wiesen – jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite – kein Bestimmtheitsproblem auf.

317

Aus der Grundrechtsrelevanz der existenzsichernden Leistungen erwachsen jedoch qualitative Anforderungen hinsichtlich der Merkmalsdichte (oder „Intensionstiefe“, vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 196) der textlich verfassten gesetzlichen Bestimmungen (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 253 ff.). Diese müssen so viele Merkmale aufweisen, dass die argumentative Rückbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der Fachgerichte (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG) an die im Gesetzgebungsverfahren erzeugten Gesetzestexte ermöglicht wird. Der Gesetzestext muss so hinreichend bestimmt sein, dass eine Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung auch und gerade vom Adressaten der Entscheidung noch als Konkretisierung eines bestimmten Gesetzgebungsakts nachvollzogen werden kann. Aus diesem Grund genügt der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Gewährleistungsverpflichtung auch dann nicht, wenn er die Gewährung existenzsichernder Leistungen dem Grunde oder der Höhe nach in das Ermessen der Verwaltung stellt. Die aus dem Demokratieprinzip resultierende Anforderung an den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen zur Grundrechtsverwirklichung selbst zu treffen, liefe andernfalls ins Leere.

318

Das Bestimmtheitsgebot ist sowohl Ausdruck des Demokratie- als auch des Rechtsstaatsprinzips. Das BVerfG formuliert die rechtsstaatlichen Bestimmbarkeitsanforderungen beispielhaft folgendermaßen (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94, 1 BvR 1120/95, 1 BvR 1408/95, 1 BvR 21 BvR 2460/95, 1 BvR 21 BvR 2471/95 – Rn. 325):

319

"Das rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit zwingt den Gesetzgeber nicht, Regelungstatbestände stets mit genau erfassbaren Maßstäben zu umschreiben. Der Gesetzgeber ist aber gehalten, seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (...). Bei der Frage, welche Bestimmtheitsanforderungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, ist auch die Intensität der Einwirkungen auf die Regelungsadressaten zu berücksichtigen (...). Die Rechtsunterworfenen müssen in zumutbarer Weise erkennen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen (...). Dabei reicht es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung der einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen lässt (...)."

320

An anderer Stelle führt das BVerfG aus, dass die grundsätzliche Zulässigkeit unbestimmter Gesetzesbegriffe den Gesetzgeber nicht davon entbinde, die Vorschrift so zu fassen, dass sie den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normklarheit und Justitiabilität entspreche (BVerfG, Beschluss vom 12.01.1967 – 1 BvR 169/63 – Rn. 17).

321

Die Aussage des BVerfG, die Rechtsunterworfenen müssten in zumutbarer Weise erkennen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen, und hierfür reiche es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung der einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen lasse (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94 u.a. – Rn. 325), darf nicht so verstanden werden, dass ein verfassungswidriger Bestimmtheitsmangel des Gesetzes durch Auslegung der Gerichte mit anerkannten Mitteln der juristischen Methodenlehre ausgeglichen werden könnte (in diese Richtung aber Luik, jurisPRSozR 22/2013 Anm. 1).

322

Bei der Prüfung, ob ein verfassungsrechtlich relevanter Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot vorliegt, geht es darum festzustellen, ob eine Rechtsvorschrift nach verfassungsrechtlichen Maßstäben hinreichend bestimmt ist. Hierzu muss beurteilt werden, ob die sich aus der Eigenart des Lebenssachverhalts und des Normzwecks ergebenden Anforderungen an die Merkmalsdichte des Normtextes mit der konkret gewählten Regelungstechnik erfüllt werden. Diese Frage ist mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden zu beantworten. Dies kann insbesondere mit den Methoden der semantischen und der systematischen Auslegung geschehen, da diese die einschlägigen Normtexte selbst in den Blick nehmen.

323

Bei dieser Prüfung geht es hingegen nicht darum nachzuweisen, dass ein unbestimmter Rechtsbegriff mit Hilfe anerkannter Mittel der juristischen Methodenlehre für eine gerichtliche Sachentscheidung fruchtbar gemacht werden kann; denn dies ist ausnahmslos der Fall. Gerichte können unbestimmte Rechtsbegriffe argumentativ u.a. mit Zweckerwägungen, historischen und genetischen Aspekten, Erwägungen zur „materiellen Gerechtigkeit“ und Praktikabilitätserfordernissen anreichern, um den Fall zur Entscheidungsreife zu bringen. Die Rechtsprechung ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG), d.h. sie muss auch dann, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetz Verwendung finden, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen, denn in einem funktionierenden Rechtsstaat muss es auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). Dies wirkt sich dahingehend aus, dass die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle unterliegen (vgl. zum Begriff der „Angemessenheit in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II: BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 27/09 – Rn. 21 ff.; Knickrehm, jM 2014, S. 340; zum Ganzen: SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 255 ff.). Hierfür stellt die juristische Methodenlehre Werkzeuge zu Verfügung, deren Aufgabe es ist, jeden Fall anhand rationaler Kriterien lösbar zu machen. Die normtextbezogenen Methoden der "grammatischen" und "systematischen" Auslegung verlieren durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe jedoch an Bedeutung, wodurch die Begrenzungen richterlichen und behördlichen Entscheidens durch Gesetzesbindung geschwächt werden. Durch Heranziehung vom Normtext unabhängiger, gleichwohl "anerkannter" Konkretisierungselemente wie historischer, genetischer und (insbesondere) teleologischer Auslegung lassen sich unbestimmte Rechtsbegriffe besonders leicht einer auf den Fall bezogenen Konkretisierung zuführen, da in diesen Fällen der Vorwurf des Verstoßes gegen das Gesetzesbindungsgebot kaum jemals erhoben werden kann. Entsprechendes gilt für die Einräumung von behördlichem Ermessen, bei dem, gesetzgeberisch legitimiert, die Beantwortung einer aufgeworfenen Rechtsfrage in Grenzen der Verwaltung überlassen bleibt und nur die Bestimmung dieser Grenzen im Wege der Konkretisierung durch die Rechtsprechung erfolgt.

324

Hiermit wird aber noch nichts über die Abgrenzung der Rechtserzeugungsbefugnisse zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung gesagt. Bei der Frage, ob der Gesetzgeber hinreichend bestimmte Regelungen getroffen hat, handelt es sich mithin nicht um ein methodologisches Problem im engeren Sinne, sondern um ein Problem der Legitimation. Die demokratische Willensbildung kann im Rechtsstaat nur in dem Umfang Wirkung entfalten, in dem sie durch Gesetze Verwaltung und Rechtsprechung zu binden vermag (Art. 20 Abs. 3 GG). Je weniger bedeutsame Merkmale eine Regelung aufweist, also je unbestimmter sie ist, desto geringer ist die Bindungswirkung des Gesetzes. Bei Regelungsmaterien, die aus verfassungsrechtlichen Gründen im Wesentlichen der Gestaltung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterliegen, erwächst hieraus ein Bestimmtheitsgebot. Das Bestimmtheitsgebot verlangt eine Regelungstechnik, die dazu geeignet ist, Gesetzesbindung zu erzeugen. Hierzu muss die gesetzliche Vorschrift so viele bestimmende Merkmale aufweisen, dass der durch Verwaltung und Rechtsprechung zu vollziehende Konkretisierungsprozess wirksam im Sinne des Ergebnisses der demokratischen Willensbildung gesteuert werden kann. Die Verwendung (zu) unbestimmter Rechtsbegriffe und die Einräumung von behördlichem Ermessen geraten mit dieser Anforderung gleichermaßen in Konflikt.

325

Das verfassungsrechtliche Prinzip, dass die für die Grundrechtsverwirklichung wesentlichen Bestimmungen durch den parlamentarischen Gesetzgeber getroffen werden müssen ("Wesentlichkeitstheorie"), wird im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf zweierlei Weise aufgerufen. Einerseits bewirkt bereits die dogmatische Qualifikation des Rechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Grundrecht, dass das Wesentlichkeitsprinzip berücksichtigt werden muss (vgl. Konzak, NVwZ 1997, S. 873). Andererseits bedingt die Besonderheit der Qualifikation als "Gewährleistungsrecht", dass das Grundrecht erst durch Erfüllung des gesetzgeberischen Gestaltungsauftrags zur Entfaltung kommen kann. Sowohl die Grundrechtsqualität als auch die Konstituierung des Anspruchs auf Existenzsicherung als Gewährleistungsrecht prägen mithin die "Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck" und bestimmen die "Intensität der Einwirkungen auf die Regelungsadressaten" (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94 u.a. – Rn. 325) in dem Sinne, dass der Gesetzgeber die Regelungen zur Sicherung des Existenzminimums möglichst präzise ausgestalten und hierdurch eine möglichst effektive Bindung der Verwaltung an die gesetzgeberischen Grundentscheidungen ermöglichen muss.

326

Umgekehrt folgt hieraus, dass eine Verwaltungs- oder Fachgerichtsentscheidung, mit der über die Gewährung existenzsichernder Leistungen entschieden wird, in qualifizierter Weise auf eine gesetzgeberische Entscheidung zurückführbar sein muss. Die hierfür wesentlichen Bestimmungen müssen im für die Sachentscheidung auf Verwaltungsebene einschlägigen Gesetzestext (Normtext bzw. amtlicher Wortlaut) enthalten sein, da nur dieser durch das formalisierte Gesetzgebungsverfahren in Geltung gesetzte Text dem parlamentarischen Willensbildungsprozess eindeutig zuzurechnen ist. Nicht einschlägige Normtexte (z.B. Parallelvorschriften) oder im Sachzusammenhang mit dem Gesetzgebungsakt stehende Nicht-Normtexte (z.B. Gesetzgebungsmaterialien) können legitimerweise Konkretisierungselemente für die Auslegung einfachen Gesetzesrechts und Richtschnur für die Ermessensausübung sein, vermögen aber nicht, die gemessen am Wesentlichkeitsvorbehalt festgestellte Unterbestimmtheit einer gesetzlichen Regelung zu kompensieren. Denn weder nicht einschlägige Normtexte noch Gesetzesmaterialien sind – bezogen auf die konkrete Regelungsmaterie – Ergebnisse des parlamentarisch-demokratischen Entscheidungsprozesses. In Bezug auf den Regelungsgegenstand unterliegen sie auch nicht den durch den parlamentarischen Prozess garantierten Sicherungen im Hinblick auf die Öffentlichkeit der Debatte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

327

Für Grundrechtsträger muss darüber hinaus erkennbar sein, welche staatlichen Akteure für die Ausgestaltung ihrer Rechte verantwortlich sind. Dies betrifft den Grundrechtsträger nicht nur in seiner Eigenschaft als Leistungsberechtigten, sondern auch als Teilnehmer am demokratischen Prozess durch Wahlen oder andere Beteiligungsformen. Mit den Worten des BVerfG (Urteil vom 07.10.2014 – 2 BvR 1641/11 – Rn. 81):

328

"Demokratie und Volkssouveränität erschöpfen sich im repräsentativ- parlamentarischen System des Grundgesetzes nicht in Zurechnungsfiktionen und stellen auch nicht nur formale Mindestanforderungen an den Legitimationszusammenhang zwischen dem Volk und den handelnden Staatsorganen. (...) Der wahlberechtigte Bürger muss wissen können, wen er wofür - nicht zuletzt durch Vergabe oder Entzug seiner Stimme - verantwortlich machen kann. Daran fehlt es, wenn die Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine solche Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen (...)."

329

Dieser Verantwortungszusammenhang kann praktisch nur realisiert und sichtbar gemacht werden, indem die aus Gründen der Grundrechtsverwirklichung vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst zu treffenden Regelungen so gestaltet sind, dass sie zur maßgeblichen Beeinflussung der konkreten Entscheidungsprozesse der Verwaltung und der Fachgerichte geeignet sind.

330

Wann die Voraussetzung der hinreichenden Bestimmtheit (bzw. Bestimmbarkeit) erfüllt ist, lässt sich nicht abstrakt festlegen, da Gesetzestext, Interpretationskultur und rechtsstaatliches Verfahren – abgesehen von Fällen numerischer Exaktheit – niemals eine vollständige Determination der Fallentscheidung ermöglichen (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 195). Gesetzesbegriffe sind in diesem Sinne also immer unbestimmt. Hieraus folgt, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit eines Gesetzes nicht losgelöst von dessen Funktion betrachtet werden können und Maßstab für die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots nur ein der Regelungsmaterie angemessener Grad von Bestimmbarkeit sein kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.08.1978 – 2 BvL 8/77 – Rn. 101). Dass dieser Grad der Bestimmbarkeit bei der gesetzlichen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums besonders hoch sein muss, ergibt sich zum einen aus der Grundrechte verwirklichenden Funktion des Gesetzes (Stölting, SGb 2013, S. 545), zum anderen und wesentlich aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber die politische Transformation der "gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche" (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 138) überhaupt erst vollziehen muss, um seiner Gestaltungsverpflichtung nachzukommen. Regelungstechniken, die nicht dazu geeignet sind, Verwaltung und Rechtsprechung wirkungsvoll zu steuern, erhalten zwar den legitimatorischen Schein der Gesetzesbindung aufrecht (vgl. Maus, Verrechtlichung, Entrechtlichung und der Funktionswandel von Institutionen, in: dies.: Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, München 1986, S. 278), überlassen die Interpretation dessen, was die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen "gesellschaftlichen Anschauungen" sein mögen, jedoch demokratisch allenfalls mittelbar legitimierten Funktionsträgern. Durch die Einräumung von Ermessen in wesentlichen Fragen der Grundrechtsverwirklichung wird die Gesetzesbindung – immerhin auf transparente Weise – weiter reduziert.

331

Aus diesen Anforderungen aus Demokratieprinzip und Bestimmtheitsgebot folgt zum einen, dass die Verwendung (besonders) unbestimmter Rechtsbegriffe im Existenzsicherungsrecht verfassungswidrig sein kann (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschlüsse vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 und S 3 AS 370/14; vgl. auch Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 3 AsylbLG i.d.F. v. 23.12.2014, Rn. 57, Stand 01.04.2016), zum anderen, dass die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums dem Grunde und der Höhe nach nicht von einer Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde abhängig gemacht werden darf. Die Einräumung von Ermessen widerspräche der Anforderung, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch ein Parlamentsgesetz erfolgen muss, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 96: „Eine Regelung zur Existenzsicherung hat vor der Verfassung nur Bestand, wenn Bedarfe durch Anspruchsnormen gesichert werden“).

332

Auch die Annahme einer so genannten „Ermessensreduzierung auf Null“ durch die fachgerichtliche Rechtsprechung und deren faktische Durchsetzung würde einen derartigen Mangel nicht heilen, da die Voraussetzungen, die an eine solche Ermessensreduzierung gestellt werden, von der Rechtsprechung entwickelt werden müssten und gerade nicht auf gesetzgeberische Entscheidungen zurückzuführen wären. Die Argumentationsfigur der „Ermessensreduzierung auf Null“ stellt auch nur ein im Einzelfall legitimes Mittel zur Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte behördlicher Entscheidungen dar. Würde sie hingegen als Umdeutung einer Ermessensvorschrift in eine die Verwaltung bindende Anspruchsnorm verstanden, läge hierin ein Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot, weil der gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum nicht nur im Einzelfall reduziert, sondern generell ausgeschaltet würde.

333

Zugleich muss das Leistungsrecht allerdings hinreichend flexibel ausgestaltet sein, um individuell abweichenden Bedarfslagen gerecht werden zu können. Dies resultiert aus dem Umstand, dass gleiche Rechte der Menschen auf ungleiche Lebenswirklichkeiten stoßen, wodurch abschließenden Pauschalierungen existenzsichernder Leistungen Grenzen gesetzt sind (vgl. Hebeler, SGb 2008, S. 10 ff.). Bei der Berücksichtigung individueller Bedarfslagen lässt sich die Verwendung in relativ hohem Maße unbestimmter Rechtsbegriffe daher nicht vermeiden.

334

9.4 Die konkreten (9.2) und hinreichend bestimmten (9.3) Leistungsansprüche müssen am Maßstab der gesetzlichen Inhaltsbestimmung des Existenznotwendigen (9.1) im Ergebnis zu rechtfertigen sein.

335

Die konkreten Leistungsansprüche müssen mindestens dazu geeignet sein, die Lebensbedingungen zu gewährleisten, die der Gesetzgeber im Wege einer (verfassungskonformen) Inhaltsbestimmung als für eine menschenwürdige Existenz unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen für unerlässlich erklärt hat. Reicht der konkrete Leistungsanspruch der Höhe nach nicht zur Deckung der vom Gesetzgeber als existenznotwendig bestimmten Bedarfe aus, ist er insoweit verfassungswidrig. Ob dies der Fall ist, ist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln objektiv zu prüfen. In diesem Sinne kann hier der (vom BVerfG zuletzt herangezogene) objektive Prüfungsmaßstab der "tragfähigen Begründbarkeit" hinsichtlich des folgerichtigen Zusammenhangs zwischen der gesetzlich zu regelnden inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums einerseits und dem gesetzlichen Leistungsanspruch andererseits herangezogen werden. Dass die Höhe des Anspruchs nicht evident unzureichend zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz sein darf, stellt demgegenüber keinen eigenständigen Prüfungsmaßstab dar. Hiermit wird bloß zum Ausdruck gebracht, dass die fehlende Folgerichtigkeit unter Umständen einfach festzustellen sein kann.

336

Dementsprechend sind auch Leistungseinschränkungen gegenüber einem dem Grunde nach gewährten Leistungsanspruch verfassungswidrig, wenn sie dazu führen, dass die Höhe der verbliebenen Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unzureichend ist. Prüfungsmaßstab ist hierbei die gesetzliche Inhaltsbestimmung des Existenznotwendigen. An diesem verfassungsrechtlichen Maßstab sind die im SGB II vorgesehenen Leistungseinschränkungen zu prüfen (z.B. § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II, § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II, § 22 Abs. 5 Satz 4 SGB II, § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Dies betrifft beispielsweise Leistungskürzungen durch Sanktionen (§ 31a SGB II, § 32 SGB II), die nur dann nicht verfassungswidrig wären, wenn trotz der Leistungskürzung noch das gesamte Existenzminimum einschließlich eines zumindest geringfügigen Maßes an sozialer Teilhabe gedeckt wäre (Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 297 f.). Da es dem Gesetzgeber freisteht, den Leistungsanspruch über das durch ihn verfassungsgemäß bestimmte Existenznotwendige hinaus zu erweitern, verstoßen Abstufungen in der Leistungshöhe, die verhaltenssteuernde Wirkung entfalten sollen, jedoch nicht automatisch gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 9).

337

10. Sofern einer bestimmten Gruppe von Grundrechtsträgern durch den Gesetzgeber kein die soeben geschilderten Mindestanforderungen erfüllender Anspruch auf existenzsichernde Leistungen eingeräumt wird, besteht ein verfassungswidriger Zustand. Konkret verfassungswidrig sind dann alle Rechtsnormen, die für die betroffenen Grundrechtsträger zum Ausschluss aus dem jeweiligen Leistungssystem führen. Dies kann sowohl echte Ausschlussnormen betreffen, wie die den Gegenstand der Vorlagefragen bildenden § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 7 Abs. 5 SGB II, als auch Normen, die positive Voraussetzungen für den Leistungsanspruch regeln, die die betroffenen Grundrechtsträger jedoch nicht erfüllen (z.B. der hypothetische Fall, dass bei Nichtdeutschen das Bestehen eines materiellen Aufenthaltsrechts zur gesetzlichen Anspruchsvoraussetzung gemacht werden würde). Beide Kategorien von Rechtsnormen haben im Hinblick auf die Grundrechtsverletzung den gleichen Effekt; sie bestimmen gleichermaßen den Umfang der defizitären Gestaltung des einfachen Rechts (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137).

338

Wenn verschiedene Leistungssysteme für die Existenzsicherung Hilfebedürftiger bestehen (z.B. SGB II, SGB XII, AsylbLG, BAföG) und der betroffene Personenkreis in allen Systemen ausgeschlossen ist (z. B. § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII), sind die jeweiligen Ausschlussregelungen in den einzelnen Leistungssystemen allesamt verfassungswidrig. Der Leistungsausschluss in einem System kann verfassungsrechtlich nicht dadurch aufgefangen werden, dass der betroffene Personenkreis auf ein anderes Leistungssystem verwiesen wird, dass seinerseits einen (verfassungswidrigen) Leistungsausschluss für den gleichen Personenkreis vorsieht, mit dem Argument, dass dann Letzteres für nichtig erklärt werden muss und hierdurch ein verfassungsgemäßer Zustand herzustellen wäre. Dies wäre nur dann der Fall, wenn zwischen den Leistungssystemen bezogen auf den betroffenen Personenkreis unabhängig von den für verfassungswidrig gehaltenen Vorschriften ein Nachrangverhältnis bestünde, der Betroffene also unabhängig von dem Leistungsausschluss im vorrangigen System hilfsweise auf das nachrangige System zurückgreifen könnte, wo er dann mit dem gleichartigen Leistungsausschluss konfrontiert wäre. Nur in diesem Fall bestünde ein logischer Vorrang der Verfassungswidrigkeit des nachrangigen Gesetzes.

339

Die Identifizierung der potenziell verfassungswidrigen Ausschlussnormen beschränkt nicht die gesetzgeberischen Möglichkeiten, den verfassungswidrigen Zustand zu beheben. Der Gesetzgeber kann einen Leistungsausschluss in einem Gesetz dadurch kompensieren, dass er die Ausschlussvorschrift aufhebt oder die Tatbestandsvoraussetzungen reduziert, was der Möglichkeit der Nichtigerklärung einzelner Ausschlussnormen durch das BVerfG entspricht. Er kann aber auch ein weiteres Leistungssystem für den ausgeschlossenen Personenkreis schaffen oder diesbezügliche Anspruchshürden ausschließlich in einem anderen schon bestehenden Leistungssystem beseitigen. Hieraus folgt allerdings nicht, dass eine verfassungswidrige Ausschlussnorm wegen des gesetzlichen Gestaltungsspielraums durch das BVerfG nicht für nichtig (§ 78 Satz 1 BVerfGG), sondern lediglich für mit der Verfassung unvereinbar erklärt werden könnte. Denn der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum besteht hier nur hinsichtlich denkbarerer regelungstechnischer Korrekturen des Verfassungsverstoßes, nicht jedoch hinsichtlich des materiellen Ergebnisses. Eine verfassungsgemäße Alternative zum Wegfall des Ausschlusstatbestands besteht – anders als regelmäßig bei der Verletzung von Gleichheitsgrundrechten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 58 m.w.N.) – nicht.

340

Ein durchsetzbarer Anspruch auf Schaffung eines existenzsichernden Leistungssystems, der nur im Wege einer Normerlassklage verfolgt werden könnte, wäre hingegen allenfalls denkbar, wenn überhaupt kein gesetzliches Leistungssystem bestünde, welches dem Grunde nach Ansprüche auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums einräumt und dessen Ausschluss- oder Voraussetzungsnormen einer effektiven (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle unterliegen könnte. Dies ist auf Grund der bestehenden Leistungssysteme der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), der Sozialhilfe (SGB XII), des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) und der Ausbildungsförderung (BAföG und §§ 56 ff. SGB III) jedoch nicht der Fall.

II.

341

Das Vorstehende zu Grunde gelegt, verstößt § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (so bereits SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER; SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 7 ff.; SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER; vgl. auch Kingreen, SGb 2013, S. 139; Frerichs, ZESAR 2014, S. 285 f.; Löbich, ZESAR 2015, S. 426 f.; Wilksch, JuWissBlog, https://www.juwiss.de/90-2015/).

342

Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (1) effektiv betroffene Personenkreis (2) erfüllt grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (3). Für diesen Personenkreis fehlt es an einem hinreichend bestimmten, formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (4). Die sich hieraus ergebende unterlassene Grundrechtsgewährleistung kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden (5).

343

1. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II lautet:

344

„Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

345

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,

346

2. erwerbsfähig sind,

347

3. hilfebedürftig sind und

348

4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).“

349

§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II lautet:

350

„Ausgenommen sind

351

1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

352

2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,

353

3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.“

354

2. In § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird der Kreis der Leistungsberechtigten nach dem SGB II geregelt. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II werden bestimmte Personengruppen, die die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen, von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

355

Der von der Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasste und somit im Hinblick auf die Wahrung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in die verfassungsrechtliche Prüfung einzubeziehende Personenkreis ist allerdings deutlich kleiner, als von den zuständigen Senaten des BSG und in der Mehrzahl der publizierten Entscheidungen der Sozialgerichte gemeinhin angenommen wird.

356

Der Ausschlusstatbestand knüpft hierbei nicht an die persönliche Motivation des Aufenthaltsberechtigten an, sondern auf den objektiven Zweck des Aufenthaltsrechts (Schreiber, SRa 2015, S. 41), so dass sich der betroffene Personenkreis abstrakt anhand der aufenthaltsrechtlichen Vorschriften bestimmen lässt. Der von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasste Personenkreis der „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“ besteht daher nach Maßgabe des Bundesrechts aus den folgenden Fallgruppen:

357

-Unionsbürger und Staatsangehörige der EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen (2.1)

358

-Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG verfügen (2.2)

359

-Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18c Abs. 1 Satz 1 AufenthG verfügen (2.3) und

360

-deren jeweiligen Familienangehörigen mit abgeleitetem Aufenthaltsrecht (2.4).

361

Nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind hingegen Unionsbürger (und Staatsangehörige der anderen EWR-Staaten), die über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügen, aber in Folge einer unterbliebenen Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind (2.5). Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kommt des Weiteren bei Unionsbürgern, die über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen und dem persönlichen Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 unterfallen, nicht zur Anwendung (2.6). Entsprechendes gilt für Drittstaatsangehörige, wenn sie die Voraussetzungen von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 erfüllen, sowie für Staatsangehörige der übrigen EWR-Staaten und – sofern Aufenthaltstitel nach § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG vorliegen – der Schweiz (2.7).

362

2.1 Von der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind tatbestandlich zunächst Unionsbürger mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfasst. Nach dieser Vorschrift sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, für bis zu sechs Monate freizügigkeitsberechtigt, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Der Ausschluss greift nur, wenn die betroffene Person nicht zusätzlich über ein anderes Aufenthaltsrecht verfügt. Über § 12 FreizügG/EU werden hiervon auch Staatsangehörige der EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen erfasst.

363

2.2 Die Ausschlussregelung erfasst darüber hinaus auch Ausländer, die – wie der Kläger zu 1 – über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügen (so auchWolff-Dellen in: Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 11, 3. Auflage 2011; Thie in: LPK-SGB II, § 7 Rn. 27, 5. Auflage 2013¸ Hänlein in: Gagel, SGB II/SGB III, § 7 SGB II Rn. 71, beck-online; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 93, Stand 14.03.2016; SG Mainz, Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht; in diesem Sinne auch die Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales: BT-Drucks. 16/688, S. 13; s.o. unter A.IV.3.1.1 a).

364

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom 29.08.2013 kann einem Ausländer zum Zweck des Studiums an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule oder vergleichbaren Ausbildungseinrichtung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AufenthG umfasst der Aufenthaltszweck des Studiums auch studienvorbereitende Maßnahmen. Nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Abschluss des Studiums für bis zu 18 Monate zur Suche eines diesem Abschluss angemessenen Arbeitsplatzes, sofern er nach den Bestimmungen der §§ 18, 19, 19a und 21 AufenthG von Ausländern besetzt werden darf, verlängert werden. Gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 AufenthG berechtigt die Aufenthaltserlaubnis während dieses Zeitraums zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Aus dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geht mithin hervor, dass der nach dieser Vorschrift verliehene Aufenthaltstitel zum Zwecke der Suche eines Arbeitsplatzes erteilt wird. Dass das vorherige Vorliegen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG ist, führt nicht dazu, dass Letztere weiterhin zum Zwecke des Studiums erteilt wird. Die Verlängerung des Aufenthaltsrechts nach erfolgreichem Studium gemäß § 16 Abs. 4 AufenthG dient gerade nicht mehr der Ausbildung, sondern der Arbeitsplatzsuche. Für andere bzw. weitere Zwecksetzungen gibt der Wortlaut des § 16 Abs. 4 AufenthG keine Anhaltspunkte. Auch wenn hierbei eine (nicht notwendig der Ausbildung entsprechende) Erwerbstätigkeit gestattet und ausgeübt wird, führt dies nicht dazu, dass die Ausübung einer Erwerbstätigkeit selbst zum Zweck dieses Aufenthaltsrechts wird. Der Aufenthaltszweck der Durchführung eines Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG wirkt auch nicht im Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG fort. Dieser Zweck wurde in diesen Fällen bereits erreicht und hat sich erledigt, weshalb zur anschließenden Arbeitsplatzsuche ein anderer Aufenthaltstitel erforderlich wird. Mit der Möglichkeit, die Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche um bis zu 18 Monate zu verlängern ist mithin ein Wechsel des Aufenthaltszwecks verbunden (Christ in: Kluth/Heusch, BeckOK-AuslR, § 16 AufenthG Rn. 51, beck-online, Stand 01.11.2015).

365

Auch der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Ausschluss nicht greifen soll, wenn zu einem früheren Zeitpunkt oder auch unmittelbar vor Erlangung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht zu anderen Zwecken bestand. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem betroffenen Personenkreis weder um EU-Bürger handelt, auf die die Ausschlussmöglichkeit der RL 2004/38/EG in erster Linie abzielt, noch eine Einreise zum Zwecke der Arbeitssuche vorgelegen haben muss (vgl. Brandmayer in: BeckOK-SGB II, § 7 Rn. 9, beck-online, Stand: 01.12.2015).

366

2.3 Ebenfalls vom Leistungsausschluss betroffen sind Ausländer, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 18c AufenthG verfügen. Nach § 18c Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der über einen deutschen oder anerkannten oder einem deutschen Hochschulabschluss vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss verfügt und dessen Lebensunterhalt gesichert ist, eine Aufenthaltserlaubnis zur Suche nach einem der Qualifikation angemessenen Arbeitsplatz für bis zu sechs Monate erteilt werden. Auch in dieser Vorschrift ist der mit der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verknüpfende aufenthaltsrechtliche Zweck der Arbeitsuche deutlich zum Ausdruck gebracht worden.

367

2.4 Weiterhin werden vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II die Familienangehörigen der Person erfasst, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt. Familienangehörige im diesem Sinne sind Personen, die zu der Person, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt, in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen und über ein Aufenthaltsrecht allein auf Grund des Verwandtschaftsverhältnisses zu der Person mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche verfügen. Sofern die erste Person ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügt, ergibt sich der vom Leistungsausschluss mitbetroffene Kreis der Familienangehörigen aus einzelnen Tatbeständen des § 3 FreizügG/EU (vgl. BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 50). Sofern die erste Person über eine Aufenthaltserlaubnis aus § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG verfügt, ergibt sich der Kreis der mitbetroffenen Familienangehörigen aus den Regelungen zum Familiennachzug gemäß §§ 27, 30, 32, 33 AufenthG. Ausgenommen sind wiederum diejenigen Familienangehörigen, die über ein eigenständiges, d.h. nicht dem Aufenthaltsrecht der ersten Person gemäß § 27 Abs. 4 Satz 1 AufenthG akzessorisches Aufenthaltsrecht beispielsweise aus den §§ 31, 34 Abs. 2 oder 35 AufenthG verfügen.

368

2.5 Nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind hingegen Unionsbürger und Angehörige der drei übrigen EWR-Staaten, die über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügen, aber in Folge einer unterbliebenen Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind (so auch Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 - L 6 AS 378/12 – Rn. 54 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.11.2013 – L 19 AS 129/13; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 - L 31 AS 1348/13; Thüringer LSG, Beschluss vom 25.04.2014 – L 4 AS 306/14 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.05.2014 – L 19 AS 430/13 – Rn. 42 ff.; SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 31 ff.; Kingreen, SGb 2013, S. 134; Schreiber, SRa 2015, S. 43 f.).

369

a) Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, für bis zu sechs Monate freizügigkeitsberechtigt, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Sofern ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU nicht (mehr) besteht, ergibt sich für den Betroffenen nur noch ein (formelles) Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsvermutung. Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erst dann ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht (Hessisches LSG, Beschluss vom 07.04.2015 – L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 48 m.w.N.; Lehmann, SRa 2015, S. 35).

370

Das Nichtbestehen oder der Wegfall des Aufenthaltsrechts aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU hat zur Folge, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht zum Zuge kommt. Dies ergibt sich aus dem insoweit klaren Wortlaut der Regelung, in der von Personen die Rede ist „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“ (vgl. LSG Hessen, Beschluss vom 07.04.2015 – L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 49 bis 54 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.03.2015 – L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 27 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.09.2015 – L 7 SF 535/15 ER – Rn. 8). Die Wendung „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht (…)“ lässt semantisch keinen anderen Schluss zu, als dass nur Ausländer betroffen sind, die über das im Folgenden näher spezifizierte Aufenthaltsrecht verfügen.

371

Dieses Textverständnis wird in der Rechtsprechung auch nicht ernsthaft bestritten. Soweit vereinzelt behauptet wird, dass die Auffassung, Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht würden nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst, mit dem Wortlaut der Regelung nicht vereinbar sei (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 19), erfolgt dies lediglich im Rahmen eines schematisch wiedergegebenen Begründungsmusters, ohne dass der offene Widerspruch zum Gesetzestext thematisiert wird.

372

b) Die gegenteilige Auffassung, nach der der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch bei ausländischen Staatsangehörigen (und ihren Familienangehörigen) greifen soll, die über kein (materielles) Aufenthaltsrecht verfügen, ist rechtswissenschaftlich nicht vertretbar (vgl. bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 – L 31 AS 1348/13 – Rn. 26), unabhängig davon, ob dies mit der Konstruktion einer „ungeschriebene(n) Anspruchsvoraussetzung des Bestehens eines Aufenthaltsrechts“ (so Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 55) oder mit Erörterungen von vermeintlichen Wertungswidersprüchen sowie Sinn- und Zweckerwägungen (so LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 34 oder LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.09.2015 – L 34 AS 1868/15 B ER – Rn. 16 ff.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 16 ff.) oder mit einem „Erst-recht-Schluss“ (so BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 19 ff.; dem folgend: BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 24) begründet wird.

373

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 300 ff., zum Ganzen S. 294 ff. und S. 538 ff.). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt daher sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Es ist den Gerichten daher verfassungsrechtlich strikt verboten, „ungeschriebene Anspruchsvoraussetzungen“ oder Ausschlussgründe für Leistungsansprüche zu erschaffen oder sich anderweitig über die Grenzen des Gesetzeswortlautes hinwegzusetzen, beispielsweise mit der Behauptung, aus einer „allein am Wortlaut“ orientierten Auslegung ergäben sich Wertungswidersprüche.

374

Zur Normsetzung im Sinne einer Rechtsfortbildung durch Analogieschluss sind Gerichte auf Grund des Gewaltenteilungsprinzips allenfalls ausnahmsweise bei echten Regelungslücken befugt. Dies trägt dem Dilemma Rechnung, das aus dem Umstand entsteht, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind. Denn Gerichte müssen auch dann, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen, weil es im Rechtsstaat auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben muss (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). In Folge des Grundsatzes der Gesetzesbindung darf allerdings von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die (analoge) Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 – Rn. 29). Dies gilt in besonderem Maße für weitgehend kodifizierte Rechtsgebiete, wie dem in den Sozialgesetzbüchern geregelten Sozialrecht. Für das Sozialgesetzbuch gilt in Folge Vorschriften des § 2 Abs. 2 SGB I (Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte) und § 31 SGB I (Vorbehalt des Gesetzes) zudem auch einfachrechtlich praktisch ein umfassendes Analogieverbot sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der potenziell Sozialleistungsberechtigten (zu geringe Anforderungen an den Analogieschluss stellt daherBecker, SGb 2009, S. 341 f.).

375

Von diesem Maßstab ausgehend, liegt eine Regelungslücke hier nicht vor. Selbst wenn die Behauptung zuträfe, dass der Gesetzgeber bzw. der Gesetzesautor das Bestehen eines Aufenthaltsrechts als Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II stillschweigend vorausgesetzt hat, würde dies eine ausdrückliche gesetzliche Regelung einer solchen Voraussetzung schon auf Grund des rechtsstaatlichen Gebotes der Normenklarheit nicht entbehrlich machen. Eine solche Regelung ist bislang nicht Gesetz geworden, auch wenn sie beabsichtigt gewesen oder vorausgesetzt worden sein mag. Personen ohne Aufenthaltsrecht werden von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht erfasst. Häufig, aber eben nicht in allen Fällen sind sie über die Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen.

376

Selbst wenn außerdem die These zuträfe, dass die unterschiedliche Behandlung von Personen mit Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche einerseits und Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht andererseits zu „unauflösbaren Wertungswidersprüchen“ führte (so LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 23; vgl. auch Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 56), würde dies keine Ausweitung des Leistungsausschlusses auf die letztere Personengruppe rechtfertigen, sondern das zuständige Gericht allenfalls zur Vorlage zum BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Prüfung eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zu Lasten der ersten Personengruppe berechtigen und verpflichten. Die vom BVerfG in Fällen von Gleichheitsverstößen zur Wahrung des Gewaltenteilungsprinzips in Anspruch genommene Möglichkeit, eine gleichheitsverstoßende Norm für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären und dem Gesetzgeber hiermit die Gelegenheit zu geben, den Gleichheitsverstoß in der einen oder anderen Richtung zu beseitigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 58 m.w.N,) wird mit der Selbstermächtigung zur Analogiebildung durch die fachgerichtliche Rechtsprechung unterlaufen.

377

Hiervon abgesehen sind die behaupteten Wertungswidersprüche keineswegs so eindeutig, dass ein Gleichheitsverstoß auf der Hand läge. Dass der Ausschluss von Unionsbürgern mit Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche bei gleichzeitigem Einschluss von Unionsbürgern mit nur formellem Aufenthaltsrecht vor europarechtlichem Hintergrund durchaus als kohärent und wertungskonsistent betrachtet werden kann, wurde in mehreren Publikationen und Gerichtsentscheidungen ausführlich dargelegt (vgl. Kingreen, SGb 2013, S. 134; Schreiber, SRa 2015, S. 44; vgl. auch Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 – L 6 AS 378/12 – Rn. 54 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.11.2013 – L 19 AS 129/13; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 – L 31 AS 1348/13; Thüringer LSG, Beschluss vom 25.04.2014 – L 4 AS 306/14 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.05.2014 – L 19 AS 430/13 – Rn. 42 ff). Wesentliches Argument für eine Rechtfertigung der beschriebenen Ungleichbehandlung ist die Möglichkeit der Verlustfeststellung und die hiermit verbundene Möglichkeit, den Leistungsbezug bei der zweiten Personengruppe aufenthaltsrechtlich zu steuern, die bei der ersten Personengruppe nicht gegeben ist (Schreiber, SRa 2015, S. 44).

378

Der vom 4. Senat des BSG behauptete Zirkelschluss, dass Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht, die einen Anspruch auf Eingliederungsleistungen nach den §§ 16 ff. SGB II hätten, wiederum nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sein würden (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 23), beruht auf einer fehlgehenden Gleichsetzung zwischen der Zielsetzung der §§ 16 ff. SGB II, eine erfolgreiche Arbeitsuche zu ermöglichen, und dem für das Fortbestehen des Aufenthaltsrechts zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erforderlichen Nachweis der weiteren Arbeitsuche sowie der begründeten Einstellungsaussicht.

379

Nicht bedarfsbezogene Ausschlusstatbestände unter Missachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts im Wege einer "teleologischen Gesetzeskorrektur" (so Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 57), mit Analogiebildungen zu Lasten der Hilfebedürftigen oder mit „Erst-recht-Schlüssen“ (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 19 ff.) noch auszuweiten verstößt im Übrigen nicht nur gegen das Gebot der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG) und gegen den Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I), sondern – in Fällen, in denen kein anderes Existenzsicherungssystem greift – auch gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

380

2.6 Der Leistungsausschluss kommt bei Unionsbürgern, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen und gemäß Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung unterfallen und bei deren Familienangehörigen nicht zur Anwendung. Vom persönlichen Geltungsbereich erfasst sind Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, die ihren Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat haben, für den die Rechtsvorschriften dieses aufnehmenden Staates gelten und die in ein Sozialversicherungs- und/oder Familienleistungssystem im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Verordnung (EG) 883/2004 eingebunden sind (vgl. zur weiteren Differenzierung Schreiber, NZS 2012, S. 649).

381

a) § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004) (so bereits SG Berlin, Urteil vom 15.08.2012 – S 55 AS 13349/12 – Rn. 28 ff.). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen System der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) gerechtfertigt werden (a.A. EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63).

382

b) Die VO (EG) 883/2004 ist gemäß Art. 288 AEUV allgemein verbindlich und gilt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar, ohne dass es eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes bedürfte. Nach Art. 288 Abs. 2 AEUV können die Regelungen in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden.

383

c) Das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II unterfällt gemäß Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 dem Anwendungsbereich der Verordnung. Nach dieser Regelung gilt die Verordnung auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Art. 70 VO (EG) 883/2004. Das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II gehört zu den "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" nach Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 (so auch EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 43). Diese Zuordnung setzt voraus, dass die Leistung einem besonderen Schutzzweck im Sinne eines zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutzes zu einem System der sozialen Sicherheit oder im Sinne eines besonderen Schutzes behinderter Menschen dient, beitragsunabhängig finanziert wird und dass sie im Anhang X der VO (EG) 883/2004 aufgeführt ist. Diese Voraussetzungen sind beim Arbeitslosengeld II erfüllt. Dessen besonderer Schutzzweck liegt darin, dass es sich um eine ergänzende Leistung im Rahmen des Leistungssystems zur Überwindung von Arbeitslosigkeit handelt. Diese besondere ergänzende Leistung ist nicht beitrags-, sondern steuerfinanziert und in Anhang X zur Verordnung (EG) 883/2004 aufgeführt. Dementsprechend sind Leistungen nach dem SGB II auch nicht als Fürsorgeleistungen gemäß Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeschlossen, unabhängig davon, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zugleich als Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG qualifiziert werden können.

384

d) Art. 70 VO (EG) 883/2004 nimmt besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch nicht aus. Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 enthält nur die Aufhebung des so genannten Exportgebots, indem die Geltung des Art. 7 VO (EG) 883/2004 für die in Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 genannten Leistungen ausgeschlossen wird. Darüber hinaus wird die Geltung der weiteren Vorschriften „dieses“, das heißt des dritten Titels (Art. 17 bis Art. 69) der Verordnung ausgeschlossen. Daneben regelt Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 quasi als Gegenstück zum Ausschluss des Art. 7 VO (EG) 883/2004, dass die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, nach dessen Rechtsvorschriften vom Träger des Wohnorts zu dessen Lasten gewährt werden.

385

e) Unter Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004 sind auch Rechtsvorschriften zu verstehen, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004) beziehen. Zwar wird der Begriff der Rechtsvorschriften – soweit hier von Interesse – in Art. 1 Abs. 1 VO (EG) 883/2014 wie folgt definiert:

386

„(Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck) "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit.“

387

Leistungen nach dem SGB II unterfallen als besondere beitragsunabhängige Leistungen jedoch nicht unmittelbar dem Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004, sondern werden über Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 in den Geltungsbereich der Verordnung einbezogen. Hieraus könnte der Schluss gezogen werden, dass sich das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 nur auf Rechtsvorschriften der in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten sozialen Sicherungssysteme bezieht (so etwa mit ausführlicher Begründung: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012 – L 3 AS 250/12 B ER – Rn. 23 ff.). Hiergegen spricht aber, dass der Begriff „Rechtsvorschriften“ in der Verordnung offensichtlich nicht immer im Sinne der vorangestellten Legaldefinition verwendet wird (vgl. Groth, jurisPR-SozR 2/2015 Anm. 1, der ein Redaktionsversehen vermutet). Denn beispielsweise in Art. 70 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 und Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 ist ausdrücklich von „Rechtsvorschriften“ die Rede, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen beziehen. Deshalb liegt es näher, die in Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 bestimmte Geltung der Verordnung auch für besondere beitragsunabhängige Leistungen so zu verstehen, dass hiermit die Definition des Begriffs der „Rechtsvorschriften“ auf solche Rechtsvorschriften erweitert wird, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen beziehen. Wenn das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 für die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen hingegen hätte ausgeschlossen werden sollen, wäre dies dem Ausschluss der Geltung des Art. 7 VO (EG) 883/2004 in Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 entsprechend geschehen. Eine derart gravierende Einschränkung der Geltung der Verordnung für besondere beitragsunabhängige Leistungen hätte im Verordnungstext entsprechend deutlich zum Ausdruck kommen können und müssen. Auch der EuGH geht ausdrücklich von einer Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auf besondere beitragsunabhängige Leistungen aus (EuGH, Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13 – Rn. 55).

388

f) Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung (Farahat, NZS 2014, S. 491; Schreiber, info also 2015, S. 5; zum Begriff vgl. Bokeloh, ZESAR 2013, S. 402), denn das maßgebliche Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit. Von der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II können ausschließlich Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit betroffen sein. In der VO (EG) 883/2004 selbst findet sich keine Bestimmung im Sinne des Art. 4 EG (VO) 883/2004, die eine solche unterschiedliche Behandlung allgemein oder bei besonderen beitragsunabhängigen Leistungen unter bestimmten Umständen zuließe.

389

g) Eine den Leistungsausschluss rechtfertigende Einschränkung des Diskriminierungsverbots ergibt sich auch nicht aus Art. 24 Abs. 2 2. Alt. in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 b) der RL 2004/38/EG (so auch SG Berlin, Urteil vom 19.12.2012 – S 55 AS 18011/12 – Rn. 26 ff.; Schreiber, NZS 2012, S. 651; Hofmann/Kummer, ZESAR 2013, S. 206; Kingreen, SGb 2013, S. 136 f.).

390

Die hierin enthaltene Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Unionsbürger unter bestimmten Voraussetzungen von Sozialhilfeleistungen auszuschließen, ist bereits deshalb nicht zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung geeignet, weil sich Beschränkungen nach dem Wortlaut des Art. 4 VO (EG) 882/2004 ausschließlich aus dieser Verordnung selbst ergeben dürfen (vgl. auch Schreiber, NZS 2012, S. 650). Die Verordnung enthält keine Vorschrift, nach der Normen aus anderen sekundären Rechtsakten der EU das Diskriminierungsverbot einschränken dürften. Dafür, dass Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot dennoch nach allgemeinen Grundsätzen rechtfertigungsfähig sein könnten, wenn sie „auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen“ beruhen (so Thym, NZS 2014, S. 84, mit Hinweis u.a. auf den EuGH, Urteil 09.11.2006 – C-346/05), fehlt – abgesehen davon, dass es gerade um Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit geht – ein rechtliches Argument.

391

Hieran vermag auch die Qualifikation der streitigen Leistungen nach dem SGB II als Sozialhilfeleistungen im Sinne der RL 2004/38/EG nichts zu ändern. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind Sozialhilfeleistungen sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichtete Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann (EuGH, Urteil vom 19.09.2013 – C-140/12 – Rn. 61). Aus dem sich hieraus ergebenden Umstand, dass die RL 2004/38/EG neben der VO (EG) 883/2004 grundsätzlich anwendbar ist, folgt jedoch nicht, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 durch Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG eingeschränkt ist.

392

Art. 24 Abs. 2 2. Alt. i.V.m. Art. 14 Abs. 4 b) der RL 2004/38/EG stellt zwar eine inhaltliche Einschränkung des Diskriminierungsverbots aus Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG dar. Nach letzterer Vorschrift genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund der Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Abweichend hiervon ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) RL 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Dem (Aufnahme-)Mitgliedstaat ist es danach grundsätzlich erlaubt, Unionsbürgern, die die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

393

Aus dem systematischen Zusammenhang ergibt sich demnach, dass Mitgliedstaaten den Zugang zu Sozialhilfeleistungen nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG einschränken dürfen, die Teilmenge der Sozialhilfeleistungen, die zugleich als besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne von Art. 70 VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren sind, von einer solchen Vorgehensweise nach Art. 4 VO (EG) 883/2004 jedoch ausgenommen sind. Die gegenteilige Auffassung erscheint rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

394

Zunächst stehen Verordnung und Richtlinie auf einer Ebene der Normenhierarchie, das heißt keines der beiden Regelwerke vermag das jeweils andere auf Grund eines Rangverhältnisses zu verdrängen. Die Regelwerke stehen im hier interessierenden Zusammenhang auch nicht in einem auf irgendeine Weise aufzulösenden Widerspruch zueinander. Die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG wird durch die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots auf besondere beitragsunabhängige Leistungen nicht funktionslos, da es weiterhin Leistungen der Sozialhilfe in den Mitgliedstaaten gibt bzw. geben kann, die nicht von Art. 70 VO (EG) 883/2004 erfasst sind. Als nur ermächtigende, nicht verpflichtende Norm ist zudem die Möglichkeit, dass von ihr nicht Gebrauch gemacht wird, von vornherein gegeben (tatsächlich haben wohl lediglich Deutschland und Frankreich, mit Modifikationen Schweden, Tschechien und das Vereinigte Königreich diese Option genutzt, vgl. Janda, SRa 2015, S. 25). Sozialhilfeleistungen im engeren Sinne sind als Leistungen der sozialen und medizinischen Fürsorge nach Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich der Verordnung sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Hierunter fallen für Deutschland beispielsweise die Leistungen nach dem SGB XII mit Ausnahme des 4. Kapitels. Die Aufnahme so genannter Hybridleistungen, die Elemente der sonstigen sozialen Sicherungssysteme und der Sozialhilfe miteinander vereinen, in die Koordinierungsverordnung führt somit zu der Konsequenz, dass diese nicht wie (sonstige) Sozialhilfeleistungen eingeschränkt werden dürfen, sondern einem strikten Diskriminierungsverbot unterliegen. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG ist gegenüber Art. 4 VO (EG) 883/2004 daher auch nicht die speziellere Norm. Die Anwendungsbereiche überschneiden sich vielmehr (vgl. zum Ganzen auch SG Berlin, Urteil vom 19.12.2012 – S 55 AS 18011/12 – Rn. 43 ff.). Dem Bundesgesetzgeber stünde es aus europarechtlicher Perspektive demgegenüber ohne weiteres frei, die Verknüpfung arbeitsförderungsrechtlicher und sozialhilferechtlicher Aspekte im SGB II wieder zu lösen und auch für Erwerbsfähige und deren Angehörige ein nur sozialhilferechtlich ausgestaltetes Existenzsicherungssystem vorzusehen, welches nicht dem Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 unterläge.

395

Im Übrigen können aus rechtssystematischen Gründen weder eine Richtlinie im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV noch eine auf Grund der Richtlinie erlassene nationale Rechtsvorschrift gegenüber einer Verordnung im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUVleges speciales sein (a.A. Kötter, info also 2013, S. 251). Dies ergibt sich aus dem Vorrang des Unionsrechts, wie er in Art. 288 Abs. 2 AEUV zum Ausdruck kommt. Richtlinien im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV geben den Mitgliedstaaten auf, Rechtsvorschriften mit bestimmten Mindestanforderungen zu erlassen. Diese Rechtsvorschriften sind aber kein Unionsrecht, sondern nationales Recht. Sie stehen deshalb normhierarchisch unterhalb des sekundären Unionsrechts und werden daher bei Verstoß gegen Verordnungsrecht nach Art. 288 Abs. 2 AEUV von diesem verdrängt. Ob das nationale Recht in irgendeinem Sinne „spezieller“ als das entgegenstehende Verordnungsrecht ist, spielt hierfür keine Rolle. Die Richtlinie selbst steht zwar als Sekundärrecht der Europäischen Union auf einer Ebene der Normhierarchie mit der Verordnung, enthält aber kein unmittelbar geltendes Recht. Den Mitgliedstaaten wird beispielsweise in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG lediglich ermöglicht, unter bestimmten Umständen Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen auszuschließen. Ob hiervon Gebrauch gemacht wird, bleibt den Mitgliedsstaaten überlassen. Nicht unmittelbar geltendes Recht kann aber in Ermangelung eines selbstständigen Anwendungsbefehls unmittelbar geltendes Recht nicht verdrängen.

396

h) Die entgegenstehende Rechtsprechung des EuGH aus dem Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) kann demgegenüber nicht überzeugen (kritisch auch Kingreen, NVwZ 2015, S. 1505; Schreiber, info also 2015, S. 3 ff.; Farahat, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de; Devetzi/Schreiber, ZESAR 2016, S. 20; im Hinblick auf die fehlende Begründung: Kador in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 70 VO (EG) 883/2004, Rn. 5.4, Stand 11.04.2016). Der EuGH geht hierbei davon aus, „dass Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit ihrem Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen (sind), dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten“ (EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63). Der EuGH thematisiert in seiner Entscheidung nicht, aus welchem rechtssystematischen Grund die Ausnahmevorschrift des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 relativieren können sollte. Vielmehr hat er dieser Regelung ohne Begründung offenbar keinerlei eigene Bedeutung beigemessen (vgl. Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Anhang zu § 23, Rn. 68.3, Stand 23.12.2015). Auch das Urteil des EuGH vom 25.02.2016 (C-299/14) zur Frage der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II enthält keine eigentliche Begründung, sondern nur den im Hinblick auf Art. 4 VO (EG) 883/2004, der die Geltung der gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der jeweiligen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates vorschreibt, zirkulären Verweis darauf, dass „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 nach Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats gewährt werden (EuGH, Urteil vom 25.02.2016 – C-299/14 – Rn. 52).

397

Es fehlt letztlich an einem rechtlichen Argument, mit dem die in Art. 4 VO (EG) 883/2004 ausdrücklich geregelte Beschränkung der Abweichungsmöglichkeiten vom Gleichbehandlungsgebot auf in der Verordnung selbst enthaltene Ausnahmen überwunden werden könnte. Eichenhofer bringt – vielleicht unbeabsichtigt – den mit der Außerachtlassung des Wortlauts des Art. 4 VO (EG) 883/2004 vollzogenen Verstoß gegen das auch für das Gemeinschaftsrecht konstitutive Gewaltenteilungsprinzip (vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 233) durch den EuGH auf den Punkt, indem er anregt, den mit der Durchbrechung des Art. 4 VO (EG) 883/2004 „geschaffenen Rechtszustand“ in der Verordnung zu positivieren (Eichenhofer, ZESAR 2016, S. 39).

398

i) Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist auch nicht bereits deshalb als mit Art. 4 VO (EG) 883/2004 vereinbar anzusehen, weil der EuGH dies im Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) ausgesprochen hat.

399

Urteile des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV entfalten Bindungswirkung nur gegenüber den Gerichten im jeweiligen der Entscheidung des EuGH zu Grunde liegenden Ausgangsverfahrens (EuGH, Urteil vom 24.06.1969 – 29/68; BVerfG, Beschluss vom 08.06.1977 – 2 BvR 499/74, 2 BvR 12 BvR 1042/75 – Rn. 54; BVerfG, Beschluss vom 25.07.1979 – 2 BvL 6/77 – Rn. 37 ff.; BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 78; BVerfG, Beschluss vom 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 – Rn. 58 f. jeweils zum in dieser Hinsicht wortgleichen Art. 177 EWGV; unzutreffend deshalb SG Dortmund, Beschluss vom 18.04.2016 – S 32 AS 380/16 ER – Rn. 71 und LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.11.2015 – L 2 AS 1714/15 B ER – Rn. 4). Präjudizien des EuGH fungieren nicht als legitimierender Zurechnungspunkt neuer Entscheidungen, sondern sind lediglich Argumente, sofern sie methodisch haltbar sind (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 319 ff.). Wenn ein Gericht Unionsrecht anders auslegen will als der EuGH, folgt – wie sich aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ergibt – hieraus auch keine Vorlagepflicht, solange innerstaatliche Rechtsmittel gegen die Entscheidung bestehen. Es steht vielmehr im Ermessen des Gerichts, die Rechtssache gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH vorzulegen, um gegebenenfalls eine Korrektur der Rechtsprechung zu ermöglichen (EuGH, Urteil vom 27.03.1963 – C-28/62; vgl. Wißmann in: Erfurter Kommentar, AEUV, Art. 267, Rn. 22, 16. Auflage 2016).

400

Daher gibt es für mitgliedstaatliche Fachgerichte weder einen rechtswissenschaftlichen noch einen rechtlichen Grund, nach dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) ohne eigene Auseinandersetzung und ohne rechtswissenschaftliche Begründung von der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auszugehen (so aber nahezu die gesamte sozialgerichtliche Praxis, z. B.: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.09.2015 – L 2 AS 1582/15 B ER – Rn. 5; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 8; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.10.2015 – L 29 AS 2344/15 B ER – Rn. 81; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 32).

401

j) Der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 führt wegen des Anwendungsvorrangs (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 09.06.1971 – 2 BvR 225/69 – Rn. 92 ff.) zur Nichtanwendbarkeit des diskriminierenden Merkmals des nationalen Rechts bei Anwendung der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Leistungsanspruchs.

402

2.7 Die VO (EG) 883/2004 gilt nach Maßgabe von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 auch für Drittstaatsangehörige, die ausschließlich auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die VO (EG) 883/2004 fallen, sowie für ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft. Auch dieser Personenkreis wird daher durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts begünstigt.

403

Entsprechendes gilt für Staatsangehörige der nicht der EU angehörigen EWR-Staaten (Island, Liechtenstein und Norwegen seit dem 01.06.2012) und der Schweiz (seit dem 01.04.2012) auf Grund der jeweiligen Abkommen über die Geltung der VO (EG) 883/2004 im Verhältnis zu diesen Staaten (Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 27.1, Stand 26.01.2015).

404

Während für die Staatsangehörigen der EWR-Staaten und ihre Familienangehörigen gemäß § 12 FreizügG/EU ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1a FreizügG/EU den Anknüpfungspunkt für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bildet, kommt bei sonstigen Drittstaatsangehörigen und Staatsangehörigen der Schweiz ein Leistungsausschluss nur in Folge der Aufenthaltstitel aus § 16 Abs. 4 AufenthG und § 18c AufenthG in Betracht.

405

2.8 Dass die Kollision von unmittelbar geltendem Unionsrecht mit nationalem Recht lediglich zu einem Anwendungsvorrang führt, nicht zu einem Geltungsvorrang, hat zur Folge, dass die europarechtswidrige Rechtsnorm nicht nichtig ist bzw. nicht auf Grund ihrer Europarechtswidrigkeit für nichtig erklärt werden kann, sondern in Kraft bleibt und somit für nicht durch die vorrangige unionsrechtliche Norm determinierten Sachverhalte weiterhin gilt (vgl. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 4). Daher profitieren nur diejenigen Personen vom Anwendungsvorrang des Diskriminierungsverbots des Art. 4 VO (EG) 883/2004, die dessen Voraussetzungen in eigener Person erfüllen. Unmittelbar findet die Verordnung auf (aus unionsrechtlicher Perspektive) rein nationale Sachverhalte mangels Regelungskompetenz ohnehin keine Anwendung (Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 25, Stand 26.01.2015). Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bleibt demnach für alle anderen tatbestandlich vom Leistungsausschluss erfassten Personen klärungsbedürftig.

406

2.9 Offen bleiben kann aus dem entsprechenden Gründen, ob die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bei Angehörigen der Signatarstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 (EFA – neben Deutschland sind dies Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und das Vereinigte Königreich) auf Grund des Gleichbehandlungsgebots des Art. 1 EFA trotz der zwischenzeitlichen Vorbehaltserklärung der Bundesregierung nicht zur Anwendung kommt (so überzeugend mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer bundesgesetzlichen Regelung eines Vorbehalts: SG Berlin, Vorlagebeschluss vom 25.04.2012 – S 55 AS 9238/12 – Rn. 52 ff.).Diese Rechtsfolge würde die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Hinblick auf alle anderen von dieser Regelung betroffenen Personenkreise nicht verhindern.

407

3. Die demnach vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personen sind Grundrechtsträger und können hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne sein.

408

Es handelt sich um Menschen (s.o. unter I.7.1), die sich, um von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überhaupt betroffen sein zu können, in Deutschland tatsächlich aufhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und im einfachrechtlichen Sinne hilfebedürftig sein (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) müssen. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ schließt den zumindest zeitweilig tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland (s.o. unter I.7.2) logisch mit ein.

409

Die Grundrechtsrelevanz der Regelung wird nicht dadurch beseitigt, dass in Folge von Freibetrags- und Ausnahmeregelungen bei der Berücksichtigung von Einkommen und Schonvermögensregelungen auch Personen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen und vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen sein können, deren Existenzsicherung nicht akut gefährdet ist, bei denen der Leistungsausschluss also nicht mit einer individuellen Grundrechtsverletzung einhergehen muss. Denn der Leistungsausschluss betrifft regelungstechnisch und tatsächlich auch Personen, die ihr materielles Existenzminimum nicht aus eigener Kraft sichern können und deshalb im grundrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind (s.o. unter I.7.3). Dies beruht erstens darauf, dass dem Leistungsausschluss zwar die Annahme zu Grunde liegen könnte, dass hiervon betroffene Personen ihre Hilfebedürftigkeit durch Rückkehr in ihren Herkunftsstaat beseitigen können, die Regelung selbst einen solchen Umstand aber in keiner Weise zur Voraussetzung für ihr Eingreifen macht. Zweitens würde auch im Falle der Bestätigung dieser Annahme nicht die aktuelle Hilfebedürftigkeit beseitigt, sondern allenfalls zukünftig Hilfebedürftigkeit vermieden, und auch dies nur im Falle der tatsächlichen Ausreise des Betroffenen.

410

4. Für den vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreis fehlt es bereits an einem formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.2).

411

4.1 Nach der die erste Vorlagefrage betreffenden Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II besteht kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Für diese Ausschlussregelung ist im SGB II keine Ausnahme vorgesehen.

412

4.1.1 Auch wenn der Auffassung gefolgt würde, dass nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossene Personen vermittelt über § 7 Abs. 2 SGB II einen Anspruch auf Sozialgeld gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II haben können (vgl. SG Berlin, Urteil vom 15.08.2012 – S 55 AS 7242/11 – Rn. 29 ff.), würde dies nur denjenigen Betroffenen einen Anspruch einräumen, die mit einer nicht vom Leistungsausschluss betroffenen erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II zusammenleben. Zudem setzt § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II selbst fehlende Erwerbfähigkeit voraus, so dass allenfalls vom Leistungsausschluss mitbetroffene nicht erwerbsfähige Familienangehörige einen von einer dritten Person abgeleiteten Sozialgeldanspruch haben könnten.

413

4.1.2 Soweit vom 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens der Kläger erwogen wird, über eine Auslegung des § 42a SGB II zu einem Leistungsanspruch zu kommen, ist nicht erkennbar, worauf dies gestützt werden könnte. § 42a SGB II regelt nur den erweiterten Vermögenseinsatz bei der Gewährung von Darlehensleistungen (§ 42a Abs. 1 Satz 1 SGB II) und weitere Modalitäten der Darlehensgewährung und -rückzahlung, nicht jedoch die Voraussetzungen unter denen ein Darlehen zu gewähren ist. Die Voraussetzungen für die darlehensweise Erbringung von Leistungen sind in den §§ 16c Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, 16g Abs. 1, 22 Abs. 2 Satz 2, Abs. 6 und Abs. 8 Sätze 3 und 4, 24 Abs. 1, Abs. 4 und 5 SGB II geregelt und für die Fälle des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sämtlich nicht einschlägig.

414

Gemäß § 31 SGB I dürfen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuchs nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Demnach kann auch ein Anspruch auf Sozialleistungen nicht ohne gesetzliche Grundlage geschaffen werden.

415

4.2 Der betroffene Personenkreis hat auch keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personen sind nicht generell von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen (4.2.1), die Gewährung der Leistungen steht jedoch im Ermessen der Behörde (4.2.2), was den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht genügt (4.2.3).

416

4.2.1 Die Anwendung des SGB XII ist für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis nicht bereits nach § 21 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen, da die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu einem Leistungsausschluss dem Grunde nach führt (so auch BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 40 ff.; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 35; SG Berlin, Beschluss vom 04.01.2016 – S 128 AS 25271/15 ER – Rn. 25 ff.; vgl. auch Eicher in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 21 Rn. 35, Stand 08.04.2016; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 56.1, Stand 08.04.2016). Die auch nach der diesbezüglichen Positionierung beider für Rechtsstreitigkeiten nach dem SGB II zuständigen Senate des BSG weiterhin mit Nachdruck vertretene Behauptung, die Abgrenzung der Systeme der Grundsicherung nach dem SGB II und dem SGB XII geschehe allein durch den Begriff der Erwerbsfähigkeit (SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 23 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 – L 9 AS 1335/15 B ER – Rn. 57 ff.; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016, S 4 AS 114/14 – Rn. 30 ff.; so bereits LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 20 m.w.N.), ist rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

417

a) Gemäß § 21 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Nicht ausgeschlossen werden hiermit zunächst Personen, die nicht erwerbsfähig sind, aber auch Personen, die trotz Erwerbsfähigkeit dem Grunde nach von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Es spielt hierbei keine Rolle, das Fehlen welcher Voraussetzung bzw. das Vorliegen welches Ausschlusstatbestands den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausschließt (vgl. hierzu ausführlich LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – Rn. 13 ff.).

418

b) Die Apposition „als Erwerbsfähige oder als Angehörige“ fügt dem sachlich nichts hinzu. Hiermit wird lediglich der Personenkreis, der dem Grunde nach Leistungen nach dem SGB II beanspruchen kann, näher umschrieben. Diese Beifügung erweist sich deshalb als tautologisch, weil nur Erwerbsfähige und deren Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sein können, die bei isolierter Betrachtung des § 21 Satz 1 SGB XII erfolgte sprachliche Einschränkung daher funktionslos ist.

419

Soweit die fehlende Bedeutsamkeit dieser Beifügung als Argument für die Maßgeblichkeit der Erwerbsfähigkeit als Ausschlussmerkmal herangezogen wird, weil „die Nennung der Voraussetzung der Erwerbsfähigkeit (…) überflüssig (wäre), wenn diese nicht zum Leistungsausschluss nach dem SGB XII führen sollte“ (SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 48 m.w.N; ähnlich SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 23; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 19), überschätzt dies die Leistungsfähigkeit von Texten im Allgemeinen und Gesetzestexten im Besonderen. Es werden sich im wirklichen Leben keine Gesetzestexte finden lassen, in denen jedes verwendete Wort und jede Formulierung über eigenständige Bedeutsamkeit verfügt. Sprachterme haben auch in Gesetzestexten nicht immer nur anordnende, sondern auch verdeutlichende, symbolische, erklärende oder rhetorische Funktionen, oder sie bleiben bei der Ausarbeitung und Überarbeitung von Gesetzen schlicht übrig, weil sie auf Grund ihrer Redundanz die Funktionsweise des Normprogramms nicht beeinträchtigen. Eine Gesetzessprache zu entwickeln, die keinerlei Redundanzen hat, ist weder realistisch noch zum Verständnis oder zur Konkretisierung von Rechtsnormen erforderlich. Unter Umständen ist es aber von Bedeutung, die Redundanzen zu erkennen und zu begründen, warum eine solche im Einzelfall vorliegt.

420

Für die Beifügung „als Erwerbsfähige oder als Angehörige“ in § 21 Satz 1 SGB XII ergibt sich diese Redundanz aus dessen satzsemantischer Beziehung zum Term „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ und aus dem sachlichen Zusammenhang mit den im SGB II geregelten Leistungsvoraussetzungen der Erwerbsfähigkeit (§§ 7 Abs.1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II) und der durch § 7 Abs. 3 SGB II näher spezifizierten Angehörigeneigenschaft. Dass der Terminus „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ die notwendige Bedingung für den Leistungsausschluss enthält, ergibt sich wiederum aus dessen satzsemantischer Beziehung als – wesentliche – einschränkende Beifügung zu dem Begriff „Personen“ auf der Tatbestandsseite der Vorschrift. Der Gesetzestext lautet eben nicht „Personen, die erwerbsfähig sind und deren Angehörige, erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“, sondern „Personen, die als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“.

421

Mit den Mitteln semantischer Auslegung auf Grundlage der Grammatik und Syntax der deutschen Sprache lässt sich allein aus § 21 Satz 1 SGB XII daher kein Rechtssatz ableiten, der das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit (im Sinne des § 8 SGB II) als hinreichende Bedingung für den Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII genügen lassen könnte. Es muss zusätzlich zur ohnehin vorausgesetzten Erwerbsfähigkeit oder Angehörigeneigenschaft demnach eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II dem Grunde nach bestehen, um die Rechtsfolge des § 21 Satz 1 SGB XII („erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“) auszulösen. Die gegenteilige Auffassung, die sich teilweise auch auf den Gesetzeswortlaut stützt, lässt es faktisch genügen, dass der Begriff „erwerbsfähig“ irgendwo im § 21 Satz 1 SGB XII vorkommt und unterlässt es, diesen Terminus zu den anderen Satzteilen so in Beziehung zu setzen, wie es auch einem intuitiven Sprachverständnis entspricht.

422

c) Um die Auffassung zu stützen, dass bereits für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis die Erwerbsfähigeneigenschaft im Sinne des § 8 SGB II zur Leistungsbeschränkung nach § 21 Satz 1 SGB XII führt, müsste vielmehr begründet werden können, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II die Leistungsberechtigung dem Grunde nach unberührt lässt.

423

Unabhängig davon, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II die von den Leistungsausschlüssen betroffenen Personen aus der in § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II enthaltenen Legaldefinition „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ herausdefiniert oder bei Einschluss in die definierte Personengruppe lediglich die Rechtsfolge („Leistungen (…) erhalten“) ausschließt, ergibt für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personenkreis die Aussage, sie seien „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ jedoch keinen Sinn. Denn § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nimmt die betroffenen Personen vollständig von allen Leistungen nach dem SGB II aus. In Folge dessen fehlt ein Bezugspunkt dafür, welchen Inhalt eine Leistungsberechtigung „dem Grunde nach“ (im Sinne von grundsätzlich bestehend, aber aktuell möglicherweise nicht bzw. nicht in vollem Umfang zu realisieren) haben könnte. Hier hilft – abgesehen von Fragen der objektiven Beweislast – der Ansatz nicht weiter, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht als „negative Tatbestandsvoraussetzung“, sondern als „anspruchsvernichtende Einwendung“ zu interpretieren, „die die Leistungsberechtigung für den Erwerbsfähigen dem Grunde nach unberührt“ lasse (so der 12. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 19 m.w.N.), weil für diese Fallgruppe in Folge der „Anspruchsvernichtung“ nichts „Unberührtes“ übrigbleibt, nicht einmal eine Art Stammrecht. Die einzige rechtliche Konsequenz einer solchen „Leistungsberechtigung dem Grunde nach“ wäre paradoxerweise der Leistungsausschluss nach § 21 Satz 1 SGB XII. Eine „Leistungsberechtigung“ die zu nichts berechtigt, sondern nur von etwas ausschließt, ist ein Widerspruch in sich.

424

Dies unterscheidet den von den Leistungsausschlüssen des § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II betroffenen Personenkreis von Personen, die beispielsweise auf Grund von Einkommensanrechnungen, Sanktionen, ungenehmigter Ortsabwesenheit oder wegen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II nur der Höhe nach, nur vorübergehend oder nur für bestimmte Leistungs- oder Bedarfsarten von den Ansprüchen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, oder deren Anspruch sich auf bestimmte Leistungsformen (z.B. Darlehen oder Sachleistung) beschränkt.

425

Die in der Instanzrechtsprechung gelegentlich vorgetragene Behauptung, die Rechtsauffassung des BSG, § 21 Satz 1 SGB II gelte nicht bei einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, widerspreche dem (eindeutigen) Wortlaut des Gesetzes (SG Berlin, Beschluss vom 02.03.2016 – S 205 AS 1365/16 ER – Rn. 27; SG Freiburg, Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER – Rn. 33) ist daher schlicht falsch. Allein die Gegenauffassung kann nur unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder mit einer paradoxen systematischen Auslegung begründet werden.

426

d) An diesem Ergebnis vermögen auch weitergehende systematische Erwägungen (z.B. SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 89 ff.) nichts zu ändern.

427

Die Frage der Erwerbsfähigkeit stellt in der Mehrzahl der Fälle natürlich weiterhin das entscheidende Abgrenzungskriterium dar, weshalb allein die Tatsache, dass für die Klärung dieses Umstands ein besonderes Verfahren (§ 21 Satz 3 SGB XII und 44a SGB II) vorgesehen ist, mit der semantischen Auslegung des § 21 Satz 1 SGB XII nicht in Widerspruch steht. Der Verweis auf dieses Verfahren in Form eines systematischen Arguments (vgl. SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 50 m.w.N.) kann die Überschreitung der Wortlautgrenze des § 21 Satz 1 SGB II schon aus diesem Grund nicht rechtfertigen und gibt auch für eine Änderung der Interpretation der Wendung „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ nichts her. Auch in anderen Fällen, namentlich bei nicht erwerbsfähigen Personen, deren Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II fraglich ist, kann sich ein Zuständigkeitskonflikt zwischen den Leistungsträgern anhand anderer Fragen als der Erwerbsfähigkeit entzünden, sodass das Verfahren nach § 21 Satz 3 SGB XII nicht immer zielführend ist.

428

Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II, nach dem derAnspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII ausschließt und nicht etwa nur die Erfüllung bestimmter Anspruchsvoraussetzungen.

429

e) Der in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung insbesondere gegen die Rechtsauffassung des BSG häufig erhobene Einwand, die Einbeziehung von nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen in das Sozialhilferecht entspreche nicht dem „Willen des Gesetzgebers“ oder dem Normzweck (so z.B. SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 33; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 34 f.), müsste, selbst wenn er zuträfe, hinter den vorstehenden semantischen und systematischen Argumenten zurücktreten.

430

Das Gesetzesbindungsgebot verpflichtet die Gerichte zur Realisierung von Gesetzesbindung nach Maßgabe des publizierten Gesetzestextes. Anknüpfungspunkt für eine semantische Auslegung und entscheidendes Kriterium für die Begrenzungsfunktion ist daher der Wortlaut der Vorschrift selbst, nicht der hierzu eventuell abgefasste Begründungstext. Die Vorstellung, den „Willen des Gesetzgebers“ anhand von Begründungstexten ermitteln und an Stelle des Normtextes für „eigentlich“ maßgeblich zu halten, ist verfassungsrechtlich unhaltbar und in tatsächlicher Hinsicht illusionär.

431

Die Vorstellung eines für die Auslegung des Gesetzes maßgeblichen „Willens des Gesetzgebers“ („Subjektive Theorie“) oder auch eines „Willens des Gesetzes“ („Objektive Theorie“) wird dem komplexen Vorgang von Rechtserzeugung im demokratischen Rechtsstaat nicht gerecht. Konkretisierung ist nicht Nachvollzug eines vorformulierten Willens (vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 267 ff.; S. 490 ff. und dies.: Juristische Methodik, Band 2: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 521 ff.). Dies beruht zunächst darauf, dass es in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes einen „Gesetzgeber“ nicht gibt, dessen monolithischer Wille unmittelbare Geltung beanspruchen könnte. Von einem „gesetzgeberischen Willen“ lässt sich nur metaphorisch sprechen und auch das nur bezogen auf das Ergebnis eines konkreten Gesetzgebungsvorgangs (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 65). Aufgabe der Rechtsprechung ist es daher nicht, politischen Willen zu exekutieren, sondern gesetztes Recht in die Praxis umzusetzen, d.h. als verbindliche Eingangsdaten für die Konkretisierung von Rechtsnormen heranzuziehen und somit Gesetzesbindung herzustellen. Hier verläuft auch die Grenze zwischen Normbegründungs- und Normanwendungsdiskursen.

432

Die in den Gesetzgebungsmaterialien auffindbaren Aussagen können hierbei wichtige und ausschlaggebende Argumente für die Auslegung des Gesetzestextes liefern, sie sind aber nicht verbindlich; sie gelten nicht. Vor allem geben die darin enthaltenen Aussagen den Gerichten keine Legitimation für eine Entscheidungsbegründung gegen den Gesetzestext, über den Gesetzestext hinaus oder unter Außerachtlassung des Gesetzestextes. Es ist nicht der Verfasser der Gesetzesbegründung, der dem Gesetz seinen Geltungsanspruch verschafft, sondern der parlamentarische Beschluss, der nur den amtlichen Gesetzeswortlaut, nicht jedoch die Gesetzesbegründung legitimiert.

433

Die Bedeutung der Wortlautgrenze als verfassungsrechtlichen Bezugspunkt für das Gesetzesbindungsgebot im Hinblick auf die Auslegungsbedürftigkeit von Texten jeglicher Art für obsolet zu erklären und stattdessen den „normativen Willen der Gesetzgebung“ zur Richtschnur der Auslegung zu machen (so Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Auflage 2011, S. 431 ff.), unterschätzt die Möglichkeiten semantischer Argumentation und überschätzt die Möglichkeiten der Ermittlung eines „gesetzgeberischen Willens“.

434

Auch eine Wortlautgrenze muss argumentativ erarbeitet und kann kontrovers diskutiert werden. Diese Tatsache macht die Annahme einer Wortlautgrenze aber nicht überflüssig, widerlegt nicht die Idee der Wortlautbindung (Hochhuth, Rechtstheorie 2011, S. 229). Im Gegenteil: sie fordert Gerichte dazu auf, ihre Entscheidungen anhand des Gesetzestextes zu rechtfertigen, Grenzziehungen zwischen Gesetzesbindung und Rechtsfortbildung sichtbar zu machen und die entsprechenden Konsequenzen für die Entscheidungsmöglichkeiten zu ziehen. Im Normalfall ist die Wortlautgrenze mit den Mitteln sprachlicher Kommunikation bei hinreichend präziser Arbeitsweise auch nicht allzu schwierig zu ziehen (vgl. wiederum Hochhuth, Rechtstheorie 2011, S. 227 ff.). Verstöße gegen das Gesetzesbindungsgebot resultieren dementsprechend zumeist auch nicht aus Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Wortlautgrenze, sondern werden regelmäßig offensiv damit begründet, dass sich das Gericht zur Überschreitung des Gesetzeswortlauts berechtigt sieht, sei es durch „erweiternde Auslegung“, „analoge Anwendung“, „Erst-Recht-Schluss“ oder mittels einer falsch verstandenen „verfassungskonformen Auslegung“ (s.o. unter 2.5 b).

435

Tatsächlich werden keine Gerichtsentscheidungen zu finden sein, die sich auf den „Willen des Gesetzgebers“ berufen und für dessen Inhalt wesentlich mehr Evidenz aufbieten können als ihre eigene Interpretation der jeweiligen Begründungstexte, die die Unsicherheiten jeder Form von sprachlicher Kommunikation ebenso in sich tragen, wie die Gesetzestexte selbst; wobei die Unsicherheit bezüglich konkreter Urheberschaft und Manipulationsanfälligkeit von Begründungstexten noch hinzutritt. Es gibt kein methodisches oder verfassungsrechtliches Argument, welches das Ergebnis der Auslegung eines Begründungstextes als vorrangig gegenüber der semantischen Auslegung eines Gesetzestextes behaupten könnte.

436

Durch das von einer subjektiv-teleologischen Theorie postulierte Primat der gesetzgeberischen Zwecksetzung wird letztendlich nicht das Ergebnis des Normbegründungsdiskurses in Form des Gesetzeswortlauts als Fixpunkt für die Interpretation genommen, sondern durch unmittelbaren Rückgriff auf Argumente aus dem Normbegründungsdiskurs der Gesetzeswortlaut als verbindliches Eingangsdatum des Konkretisierungsprozesses der Manipulation ausgesetzt. Ausgangspunkt der Entscheidung des Einzelfalls ist dann nicht mehr die tatsächliche, prozedural legitimierte Regelung, sondern eine hypothetische Regelung, wie sie „der Gesetzgeber“ zur möglichst reibungslosen Umsetzung seiner (vermeintlichen) Ziele nach der Vorstellung des Interpreten hätte treffen müssen. Jedenfalls im Bereich des öffentlichen Rechts, insbesondere, wenn derartige Manipulationen zu Lasten der Bürger ausfallen, ist eine solche Vorgehensweise aus rechtsstaatlicher Perspektive fatal. Denn der Rechtsuchende bleibt hierdurch gegenüber der Staatsmacht sogar dann machtlos, wenn er sich auf gesetztes Recht berufen kann (exemplarisch neben dem bereits behandelten Leistungsausschluss von Unionsbürgern durch „Erst-recht-Schluss“ – s.o. unter 2.5 – z. B. BSG, Urteil vom 26.06.2013 – B 7 AY 6/12 R – Rn. 10 ff.). Das von Verfechtern des subjektiv-teleologischen Ansatzes verfolgte richtige Ziel, die Rechtsprechung demokratisch zu disziplinieren (vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Auflage 2011, S. 418 f.), wird hiermit nicht erreicht.

437

Die Vorstellung, einen „eindeutigen Willen des Gesetzgebers“ anhand des Begründungstextes eines Gesetzentwurfs ermitteln zu können, diesen dann für im Verhältnis zum Gesetzestext eigentlich maßgeblich zu erklären und eine von diesem „eindeutigen Willen“ abweichende Auslegung als Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip und/oder als unzulässige richterliche Rechtsfortbildung zu klassifizieren (statt vieler: SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 28; vgl. auch Bernsdorff, NVwZ 2016, S. 634, m.w.N. unter Fn. 15), ist daher methodisch und verfassungsrechtlich verfehlt.

438

Im Konfliktfall gegenüber dem auf die Gesetzgebungsmaterialien gestützten genetischen Argument vorrangige Auslegungsargumente sind neben der semantischen beispielsweise die verfassungskonforme Auslegung, die europarechtskonforme Auslegung und der Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I) sowie der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, weil diese sich auf Normtexte verschiedener Hierarchieebenen zurückführen lassen, die im Unterschied zu Nicht-Normtexten (wie Gesetzesmaterialien oder rechtswissenschaftliche Literatur) einen durch legitime Rechtsetzung legitimierten Geltungsanspruch haben.

439

f) Das Argument der verfassungskonformen Auslegung würde die hier vertretene Auffassung im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums daneben (nur) dann stützen, wenn hierdurch ein verfassungsgemäßes Ergebnis erzielt werden könnte; das Argument setzt sich nur bei vollständigem Erfolg durch. Der Grundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I) würde als Optimierungsgebot hingegen unabhängig von der Erreichbarkeit eines bestimmten Ziels das Ergebnis der semantischen und systematischen Auslegung stützen.

440

Selbst wenn der Gegenauffassung, die den von § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personen auch den Leistungsausschluss nach § 21 Satz 1 SGB XII entgegenhält, zugestanden würde, sich noch innerhalb der Wortlautgrenze der Vorschrift des § 21 Satz 1 SGB XII zu bewegen (was hiermit ausdrücklichnicht getan wird), würden die Argumente der verfassungskonformen Auslegung (in diesem Sinne Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 27.11.2015 – L 6 AS 205/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 205/15 B ER - PKH – Rn. 18; im Ergebnis ebenso: Greiser, jM 2016, S. 159) – sofern zielführend – und des Grundsatzes der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte die aus den Gesetzesmaterialien gewonnenen Argumente überwiegen. Die Gegenauffassung ist daher aus verschiedenen Gründen rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

441

4.2.2 Auf der Grundlage der Anwendbarkeit des SGB XII auch im Hinblick auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personenkreis folgen die näheren ausländerspezifischen Anspruchsvoraussetzungen aus § 23 SGB XII.

442

Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII zu leisten. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen jedoch keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII soll Hilfe bei Krankheit nur zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung geleistet werden, wenn sie (die von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Ausländer) zum Zwecke einer Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist sind.

443

In § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist demnach ein dem § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf dem ersten Blick entsprechender bzw. im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis noch weitergehender Leistungsausschluss normiert.

444

a) Der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII verstößt – anders als § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nicht generell gegen Art. 4 VO (EG) 883/2004, weil von den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII lediglich die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII als besondere beitragsunabhängige Leistung im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren ist, deren Anwendung nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII jedoch ohnehin unberührt bleibt, wobei anhand der systematischen Stellung diskussionswürdig ist, ob § 23 Abs. 3 SGB XII für diesen Personenkreis tatbestandlich trotzdem greift.

445

b) Vorliegend kann offenbleiben, ob die Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII bei erwerbsfähigen Angehörigen der EFA-Signatarstaaten auf Grund des Gleichbehandlungsgebots des Art. 1 EFA nicht zur Anwendung kommt (bejahend: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – Rn. 22 ff.). Dies würde zwar dazu führen, dass ein Teil der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII hätten und hierdurch ihr Existenzminimum gesichert sein könnte. Diese Rechtsfolge würde die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II jedoch nicht verhindern, da dieser Ausschlusstatbestand einen erheblich größeren Personenkreis erfasst(SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 79).

446

c) Ein gebundener Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII ist für einen Teil des vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis daher ausgeschlossen (so ausdrücklich auch BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51).

447

d) Den vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII betroffenen Personen können jedoch Leistungen u.a. zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII im Ermessenswege erbracht werden (so über den Umweg des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII im Ergebnis auch BSG, Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.; Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R; Urteile vom 20.01.2016 – B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R).

448

Entgegen der früheren Auffassung der Kammer (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER – Rn. 51 ff.; so auch: SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 76 bezogen auf einen Rückgriff auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII) ist die Erbringung von Ermessensleistungen durch § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nicht ausgeschlossen. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII stellt vielmehr eine Spezialregelung zu § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII dar, die den dort geregelten gebundenen Anspruch bezüglich bestimmter Leistungsarten des SGB XII für den in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII umschriebenen Personenkreis auf einen Anspruch auf eine Ermessensentscheidung des Sozialhilfeträgers herabstuft. Dies ergibt sich aus der näheren Gesetzessystematik.

449

aa) Die in Gesetzgebungstechnik und Rechtspraxis etablierten Standards der Gesetzessystematik stellen lediglich Abkürzungen für bestimmte sprachliche Operationen dar, die die Lesbarkeit von Gesetzestexten erhöhen und deren Umfang reduzieren sollen. Die Verwendung solcher Gesetzgebungstechniken bindet die Gerichte in gleichem Maße wie der Wortlaut des Gesetzestextes in seiner Begrenzungsfunktion. Durch die Verwendung bestimmter Regelungstechniken entsteht eine Textsemantik, die sich nicht isoliert auf bestimmte Wörter oder Formulierungen, sondern auf die Gesetzesstruktur bezieht, beispielsweise durch eine bestimmte Reihenfolge der Einzelvorschriften im Gesetzestext. Dies gilt auch für den Grundsatz, dass die speziellere Regelung die allgemeinere verdrängt, denn auch etablierte Regelungstechniken, deren Rezeption im Rechtsanwendungsdiskurs erwartet werden kann, gehören zum verbindlichen Normprogramm einer gesetzlichen Regelung. Diskutierbar ist dann zwar die Frage, ob eine solche Reglungstechnik im Einzelfall tatsächlich vorliegt, nicht jedoch die Frage, ob sie im Falle ihres Vorliegens zur Geltung kommen muss.

450

bb) § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist in diesem Sinne eine Spezialregelung gegenüber § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, da für die Anwendbarkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII („Ausländer“) vorliegen und weitere Voraussetzungen (Einreise zur Erlangung von Sozialhilfe oder Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche) hinzutreten müssen. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII schließt als Rechtsfolge somit jedenfalls einen gebundenen Anspruch auf Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aus. Die ergänzende Regelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII bezieht sich wiederum ausschließlich auf § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, der selbst nur einen Anspruch für bestimmte Leistungsarten des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft, Hilfe zur Pflege) konstituiert. § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ermöglicht daneben beispielsweise die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen und Hilfe in besonderen Lebenslagen für den in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Personenkreis. Wenn der Ausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII jegliche Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ausschließen würde, unterlägen auch die im Ermessen des Sozialhilfeträgers stehenden Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII der nachfolgenden Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII.

451

cc) Die unter isolierter Betrachtung des Wortlauts des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII streitbare Frage, ob die Formulierung „haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe“ bedeutet, dass jegliche Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen sind oder lediglich, dass der Sozialhilfeträger zur Erbringung von Sozialhilfeleistungen nicht verpflichtet ist, sondern sie nur auf Grund einer Ermessensentscheidung erbringen kann (so das BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51), lässt sich anhand der näheren Gesetzessystematik zu Gunsten der letzteren Auffassung klar beantworten, die letztlich auf einer Gegenüberstellung des Anspruchsbegriffs des § 38 SGB I zur Ermessensleistung (§ 39 SGB I) beruht. Denn die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB II setzt implizit zwingend voraus, dass den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Personen Leistungen der Sozialhilfe erbracht werden können, obwohl sie nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausdrücklich keinenAnspruch auf diese Leistungen haben. Ein Normverständnis dahingehend, dass § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII nur regeln würde, dass allein Ansprüche auf Hilfen zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgenommen sein sollen (so Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 39), lässt sich mit dem Wortlaut und mit dem engeren systematischen Zusammenhang der Vorschrift nicht vereinbaren.

452

§ 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII stellt zunächst hinsichtlich des Personenkreises eine Spezialregelung gegenüber § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dar, weil zur Auslösung der entsprechenden Rechtsfolgen die betroffenen Personen nicht nur Ausländer sein müssen (§ 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII), die entweder zu Erlangung von Sozialhilfe eingereist sind oder über ein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche verfügen (einschließlich Familienangehörige), sondern sie zusätzlich zum Zweck der Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist sein müssen. Die Rechtsfolge des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII besteht in einer durch eine Soll-Regelung gesteuerten Einschränkung einer in dieser Spezialregelung vorausgesetzten Möglichkeit der Erbringung weitergehender Leistungen. Dies ergibt sich aus der Verwendung des eine Einschränkung anzeigenden Wortes „nur“ im Zusammenhang mit dem voranstehenden „insoweit“, das auf den gegenüber der Regelung in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII weiter eingeschränkten Personenkreis nach dem ersten Halbsatz des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII verweist. Die nach der Logik des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII als (mindestens) möglich vorausgesetzte Erbringung von Leistungen der Hilfe bei Krankheit (§ 48 SGB XII) wird im zweiten Halbsatz des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII für den Regelfall („intendiertes Ermessen“) auf die Behebung akut lebensbedrohlicher Zustände und auf unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlungen schwerer oder ansteckender Erkrankungen beschränkt.

453

Hieraus folgt zwingend, dass die Erbringung von Hilfen bei Krankheit nach § 48 SGB XII in nicht von § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII erfassten Fällen erlaubt ist. Dies ist die logische Voraussetzung für die speziellen Rechtsfolgen des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII. Da der Anspruch auf Sozialhilfe in den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Fällen ausgeschlossen ist, verbleibt nur die im Rahmen der Grenzen des Wortlauts mögliche Auslegungsalternative, dass die Gewährung von Leistungen auf Grund einer Ermessensentscheidung hiervon nicht erfasst ist. Als positive Rechtsgrundlage für die Erbringung von Hilfe bei Krankheit kommt wiederum nur § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Betracht, da § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII in Folge seiner systematischen Beziehung zu § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Leistungen betrifft, die – anders als die Hilfe bei Krankheit – nicht von § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erfasst sind. § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII wird in den Fällen des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII daher lediglich auf eine Ermessensleistung herabgestuft, aus dem „ist (…) zu leisten“ wird ein „kann geleistet werden“.

454

Im derart erschlossenen Zusammenspiel zwischen § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII zeigt sich zugleich, dass nicht nur Hilfe bei Krankheit, sondern auch die übrigen in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Leistungsarten einschließlich der Hilfe zum Lebensunterhalt für den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Personenkreis erbracht werden können. Denn § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nimmt ohne Differenzierung von Leistungsarten auf die gesamte Sozialhilfe Bezug. Auf Grund dieses hinsichtlich der Leistungsarten allgemeinen (die gesamte „Sozialhilfe“), aber auf die Veränderung des Entscheidungsmodus (Ermessen statt gebundene Entscheidung) beschränkten Ausschlusstatbestand des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist die Möglichkeit der Gewährung von Leistungen im Ermessenswege nicht auf diejenigen Leistungsarten beschränkt, die generell (z.B. § 73 SGB XII) oder nur bei Ausländern auf Grund von § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII als Ermessensleistungen ausgestaltet sind.

455

dd) Ein weiterer Hinweis auf die Schlüssigkeit dieser Auslegung ergibt sich aus § 23 Abs. 2 SGB XII, der vorschreibt, dass Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG keine Leistungen der Sozialhilfe erhalten. Diese Regelung schließt durch die Bezugnahme auf den Erhalt von Sozialhilfeleistungen erkennbar auch Ermessensleistungen aus, nicht nur das subjektive Recht auf Leistungen der Sozialhilfe und liefert somit ein Indiz dafür, dass der abweichenden Formulierung im unmittelbar benachbarten § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII eine weniger weitgehende Funktion zukommt.

456

ee) Der vor dem Hintergrund des Gesetzesbindungsgebots im Allgemeinen und des § 31 SGB I im Speziellen fragwürdige Rückgriff auf einen (ungeschriebenen) „der Sozialhilfe systemimmanenten grundsätzlichen Anspruch auf Hilfe bei bedrohter Existenzsicherung“ (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51) ist daher nicht erforderlich, um Ermessensleistungen nach dem SGB XII zu ermöglichen. Ein Rückgriff auf die Ermessensregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ist entgegen der Auffassung des 4. und des 14. Senats des BSG (Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.; Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R; Urteile vom 20.01.2016 – B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R) ebenfalls nicht notwendig und im Hinblick auf das Verhältnis dieser Regelung zum § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und der dort genannten Leistungsarten auch wenig plausibel.

457

ff) Die vielfach geäußerte heftige Kritik an den genannten Entscheidungen des BSG ist nicht nur deshalb ungerechtfertigt, weil dessen Rechtsauffassung – bis auf die mit der Frage der Ermessensreduzierung verbundene Annahme der Verfassungskonformität – im Ergebnis zutrifft, sondern auch auf Grund der Tatsache, dass nur auf diese Weise überhaupt eine Rechtsgrundlage gefunden werden kann, die die auch von fast allen Gegnern dieser Rechtsprechung zumindest rhetorisch für notwendig gehaltenen Leistungen bis zur Ausreise immerhin ermöglicht.

458

4.2.3 Durch die somit eröffnete Möglichkeit der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII und weiterer Leistungsarten der Sozialhilfe für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfassten Personenkreis kann ein verfassungsgemäßes Ergebnis jedoch nicht erreicht werden. Eine Ermessensvorschrift ist im Rahmen der gesetzgeberischen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht dazu geeignet, das Erfordernis einer gesetzlichen „Anspruchsnorm“ (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 96) zu erfüllen (so bereits SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 30).

459

a) Die Möglichkeit gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf Grund einer Ermessensentscheidung zu erbringen, genügt bereits nicht den Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen formell-gesetzlichen Anspruch, denn die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen staatlichen Stelle hinsichtlich der Frage,ob bei Hilfebedürftigkeit Leistungen erbracht werden, ist verfassungswidrig (s.o. unter I.9.2 und unter I.9.3). Mit der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt und anderer elementarer Bedarfe nur auf Grund einer Ermessensentscheidung der Verwaltung hat der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über die Gewährung existenzsichernder Leistungen nicht selbst getroffen, sondern die Entscheidungsmacht in erster Linie der Verwaltung und in zweiter Linie der Gerichte überlassen, Letzteres mit reduzierter Kontrolldichte. Aus dem Gesetz lassen sich auch keine weiteren Bestimmungen darüber entnehmen, ob der Sozialhilfeträger in bestimmten Fällen des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII der Sozialhilfeträger tatsächlich existenzsichernde Leistungen erbringen muss oder welche Gesichtspunkte er bei seiner Ermessensentscheidung zu berücksichtigen hat, sodass nicht einmal mittelbar eine Bindung der Verwaltung hergestellt wird. Die verfassungsrechtliche Anforderung der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mittels eines konkreten gesetzlichen Leistungsanspruchs ist daher nicht erfüllt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136).

460

b) Hierüber kann auch eine „verfassungskonforme Auslegung“ nicht hinweghelfen. Eine verfassungskonforme Auslegung ist nur unter Beachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts und unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik zulässig. Andernfalls würde die Verfassungskonformität der "ausgelegten" Vorschrift durch einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG und zugleich gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz erkauft. Das Argument der verfassungskonformen Auslegung kann nur entweder vollständig zum Erfolg führen oder gar nicht. Die verfassungskonforme Auslegung verlangt als Ergebnis eine vollständige Übereinstimmung mit dem Verfassungsrecht, nicht (nur) eine möglichst weitgehende Annäherung.

461

Vor diesem Hintergrund muss berücksichtigt werden, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums die Gewährleistung mittels konkreter, gebundener Leistungsansprüche verlangt, die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII demgegenüber gebundene Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen gerade ausschließt.

462

Die Argumentationsfigur der „Ermessensreduzierung auf Null“ stellt nur ein im Einzelfall legitimes Mittel zur Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte behördlicher Entscheidungen dar. Wird sie hingegen – wie es das BSG für die von ihm umschriebene Fallgruppe letztlich vorsieht – als Umdeutung einer Ermessensvorschrift in eine die Verwaltung bindende Anspruchsnorm verstanden, liegt hierin ein Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot, weil der gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum nicht nur im Einzelfall reduziert, sondern generell ausgeschaltet wird. Der zentrale Regelungsgehalt des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII, einenAnspruch auf Sozialhilfe für den betroffenen Personenkreis auszuschließen, wird hierdurch in sein Gegenteil verkehrt; er muss sogar in sein Gegenteil verkehrt werden, um im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu einem verfassungskonformen Ergebnis zu kommen.

463

Selbst unter der Voraussetzung, dass es auch Fälle geben kann, bei denen eine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (noch) nicht vorliegt und die Leistungsvoraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII gleichwohl (bereits) vorliegen (beispielsweise bei noch vorhandenem Schonvermögen) und hiermit verfassungsrechtlich ein Spielraum für Ermessensentscheidungen verbleiben könnte, würde hierdurch der Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot nicht verhindert, weil dennoch der Modus der Entscheidungsfindung entgegen der gesetzlichen Regelungsentscheidung von einer Ermessensentscheidung hin zu einem für bestimmte Fallkonstellationen gebundenen Anspruch grundlegend verändert würde.

464

Die Interpretation einer Rechtsvorschrift (hier: der Ausschluss des Anspruchs auf Sozialhilfe) in einer Weise, dass sie keine Auswirkungen hat, kommt im Ergebnis der Nichtanwendung dieser Norm gleich. Der Rechtsprechung steht es auf Grund der Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG) nicht zu, eine gesetzgeberische Regelungsentscheidung im Wege der Auslegung vollständig zu neutralisieren (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 433). Diese Situation ist wiederum von der Frage zu unterscheiden, ob eine sprachliche Wendung im Gesetzestext überhaupt eine anordnende Funktion im Sinne einer Regelungsentscheidung hat (s.o. unter 4.2.1 b).

465

c) Gerade auch mit der vom BSG vertretenen Linie eines Anspruchs auf Ermessensentscheidung für einen Aufenthalt von bis zu sechs Monaten Länge und einer „Ermessensreduzierung auf Null“ bei einem „verfestigten“ Aufenthalt von mehr als sechs Monaten, wird ein verfassungskonformes Ergebnis für die ersten sechs Monate offensichtlich noch nicht erreicht. Hierfür müsste schon von Beginn an eine Ermessensreduzierung auf Null in den Fällen angenommen werden, in denen Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne besteht. Denn die „einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss (…) ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden“ (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 94).

466

d) Die durch das BSG angenommene „Ermessensreduzierung auf Null“ für den Fall einer Verfestigung des Aufenthalts der betroffenen Personen vermag die defizitäre Gestaltung durch Ermessenseinräumung auch deshalb nicht zu beseitigen, weil die Voraussetzungen, die für diese Ermessensreduzierung gestellt werden, von den zuständigen Senaten des BSG entwickelt wurden und gerade nicht auf gesetzgeberische Entscheidungen zurückzuführen sind. Sie eignet sich daher von vornherein nicht dafür, die sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebende Pflicht, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136), zu erfüllen (s.o. unter I.9.3).

467

Die vielfältigen Auffassungen, die selbst auf dem Boden der Rechtsprechung des BSG im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen im Ermessenswege an den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis vertreten werden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 15 AS 185/15 B ER – Rn. 16 f.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 23 SO 46/16 B ER, L 23 SOL 23 SO 47/16 B ER PKH – Rn. 21 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 15 SO 53/16 B ER – Rn. 23 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 14.04.2016 – L 4 AS 76/16 B ER – Rn. 8 ff, SG Halle (Saale), Beschluss vom 14.04.2016 – S 32 AS 1109/16 ER – Rn. 37 ff.; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 63.6, Stand 08.04.2016) bieten ein anschauliches praktisches Beispiel für die mangelnde Eignung von Ermessensvorschriften zur Herstellung von Gesetzesbindung und zur praktischen Gewährleistung von Rechten. Auch höchstrichterliche Rechtsprechung kann Bindungen letztlich nur im Einzelfall herstellen und sichern. Zur Durchsetzung darüberhinausgehender Geltungsansprüche ist sie weder befugt noch tatsächlich in der Lage (vgl. im Hinblick auf die Gewährung von Vertrauensschutz in höchstrichterliche Rechtsprechung: SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 74 ff.).

468

Aus diesem Grund ist die Kopplung der Gewährung von existenzsichernden Leistungen dem Grunde nach an die Ermessensausübung einer Behörde nicht nur in legitimatorischer, sondern auch in funktioneller Hinsicht nicht dazu geeignet, die Bestimmtheitsanforderungen an die gesetzgeberische Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu erfüllen.

469

4.3 Auch andere Möglichkeiten, Leistungen nach dem SGB XII zu erhalten, können den Verfassungsverstoß nicht vermeiden. Insbesondere lässt sich ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht auf § 73 SGB XII stützen (so aber LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 – L 15 AS 202/14 B ER – Rn. 21 ff.; Hessisches LSG, Beschluss vom 18.09.2015 – L 7 AS 431/15 B ER – Rn. 21; wie hier: Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

470

Nach § 73 Satz 1 SGB XII können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Für den sowohl vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als auch vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII betroffenen Personenkreis kommt die Gewährung von Hilfe in besonderen Lebenslagen gemäß § 73 SGB XII zwar durchaus in Betracht, weil § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nur gebundene Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen ausschließt (s.o. unter 4.2.2). Bei den Leistungen nach § 73 SGB XII handelt es sich um Ermessensleistungen.

471

Die vorherrschende, aus der Systematik der verschiedenen Leistungsarten des Sozialhilferechts und aus dem Begriff der „sonstigen Lebenslagen“ abgeleitete Interpretation des § 73 SGB XII, die eine Auffangfunktion für Bedarfslagen zu deren Befriedigung Leistungen des 3. bis 8. Kapitels des SGB XII vorgesehen sind, ausschließt (vgl. nur Böttiger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 73 Rn. 21 ff. m.w.N., Stand 29.07.2015) ließe sich unter Verweis auf den unbestimmten Rechtsbegriff der „sonstigen Lebenslagen“ mit Hilfe einer verfassungskonformen Auslegung notfalls überwinden. Die weitgehende Unbestimmtheit der Regelung führt aber zugleich dazu, dass sie den Bestimmtheitsanforderungen der gesetzlichen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.3) nicht genügen würde. Hiervon abgesehen sind Ermessensvorschriften zur Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch Einräumung eines konkreten gesetzlichen Leistungsanspruchs nicht geeignet (s.o. unter I.9.3 und unter 4.2.3).

472

4.4 Die betroffenen Personen haben auch keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG. Ansprüche auf Leistungen nach dem AsylbLG könnten bei Unionsbürgern (und Staatsangehörigen der anderen EWR-Staaten) und deren Familienangehörigen allenfalls gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG bei vollziehbarer Ausreisepflicht bestehen, die erst in Folge einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU eintreten kann (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 05.02.2015 – L 6 AS 883/14 B ER – Rn. 12). Auch für Nicht-Unionsbürger, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 16 Abs. 4, 18c, 30, 32 oder 33 AufenthG verfügen, käme ein solcher Anspruch aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG erst in Folge des Verlustes ihres Aufenthaltstitels in Betracht.

473

4.5 Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von Anspruchsgrundlagen aus dem SGB II, dem SGB XII oder dem AsylbLG liegen nicht vor (zum AsylbLG so auch Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 1a AsylbLG i.d.F. v. 20.10.2015, Rn. 22, Stand 08.04.2016; a.A. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 14).

474

a) Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gesetzesbindungsgebots aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG ist eine analoge Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte allenfalls dann zulässig, wenn eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht. Hiermit wird einem Dilemma Rechnung getragen, das aus dem Umstand entsteht, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind, d.h. sie müssen auch dann, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen. In Folge des Grundsatzes der Gesetzesbindung darf von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die analoge Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 – Rn. 29; SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 37; s.o. unter 2.5 b).

475

b) Eine analoge Anwendung von Leistungsansprüchen aus dem SGB II, dem SGB XII oder dem AsylbLG scheitert demnach bereits daran, dass eine Regelungslücke in diesem Sinne nicht besteht. Anhand des einfachen Rechts lässt sich die Frage nach der Anspruchsberechtigung auf Leistungen zur Gewährleistung des Existenzminimums von Personen, die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen sind, klar verneinen. Es verbleibt lediglich die Möglichkeit, im Ermessenswege Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII zu erbringen. Daher liegen bereits die formalen, aus dem Gesetzesbindungsgebot und dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes abgeleiteten Voraussetzungen für eine analoge Anwendung anderer Regelungen nicht vor.

476

c) Hiervon abgesehen, ist auch materiell-verfassungsrechtlich in Folge der sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebenden Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.- Rn. 136), eine analoge Anwendung nicht einschlägiger Rechtsvorschriften betreffend die Gewährleistung existenzsichernder Leistungen ausgeschlossen.

477

d) Zuletzt steht die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, wozu die Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII und nach dem BAföG (nicht jedoch nach dem AsylbLG) gehören, unter dem Gesetzesvorbehalt des § 31 SGB I, was einem einfachrechtlichen Analogieverbot gleichkommt.

478

e) Demzufolge muss auch der Auffassung des 4. Senats des LSG Hamburg (Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9), den verfassungsrechtlichen Vorgaben könne dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen eingeräumt werde, widersprochen werden. Das LSG Hamburg führt hierzu aus:

479

„Welche Leistungen unabweisbar sind, hängt dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland kommt in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht (Überbrückungsleistungen). Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (…) oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (…) herzuleiten ist oder ob in entsprechenden Fällen von einer atypischen Bedarfslage auszugehen ist, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) rechtfertigt.“

480

Das Fehlen bzw. der Ausschluss eines verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen Anspruchs auf eine Leistung kann nicht zur Vermeidung des verfassungswidrigen Zustands dadurch ausgeglichen werden, dass nicht einschlägige Anspruchsgrundlagen „entsprechend“ herangezogen oder Ansprüche direkt aus der Verfassung abgeleitet werden (vgl. hierzu auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285). Konkret ist die Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Form einer gebundenen Entscheidung durch § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen. Diese Regelung oder andere dennoch „entsprechend“ anzuwenden, würde gegen das Gesetzesbindungsgebot verstoßen. Die weiter geäußerte Behauptung, der durch das Gericht beschriebene Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form unabweisbar gebotener Leistungen sei ein (nach dem BVerfG verfassungsrechtlich gebotener) „gesetzlicher Anspruch“, selbst wenn seine „konkrete Ausgestaltung im Einzelfall“ nicht direkt aus dem Gesetz ablesbar sei (LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 10), ist in sich widersprüchlich.

481

f) Soweit der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen die Anwendung von Vorschriften des SGB XII oder des AsylbLG im Rahmen einer „Rechtsfolgenanwendung“ vorschlägt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14), ohne allerdings nähere Ausführungen zur methodischen Grundlage zu machen, handelt es sich der Sache nach ebenfalls um eine Variante des hier unzulässigen Analogieschlusses.

482

4.6 Andere Ansprüche auf Sozialleistungen, die das Existenzminimum bei Vorliegen des Ausschlusstatbestands des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für alle hiervon Betroffenen vollständig sichern könnten, bestehen nicht. Sozialleistungen wie Kindergeld. Kinderzuschlag, Elterngeld und Wohngeld werden nur in bestimmten Lebenssituationen erbracht und sind unabhängig von ihren aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen zur vollständigen Bedarfsdeckung weder konzipiert noch geeignet.

483

4.7 Ein konkreter Anspruch auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums lässt sich auch nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten (so aber Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de; offenlassend: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht). Die Schaffung konkreter Leistungsansprüche im Rahmen einer Übergangsregelung durch das BVerfG (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 100 ff.) stellt nicht die unmittelbare Ableitung eines konkreten Anspruchs aus der Verfassung dar – in einem solchen Fall, wäre die dem Normenkontrollverfahren zu Grunde liegende Regelung nicht für verfassungswidrig erklärt worden, weil sie die Grundrechtsverwirklichung nicht verhindert hätte – sondern ein verfassungsprozessrechtliches Hilfsinstrument, um bis zur Behebung des verfassungswidrigen Zustands durch den Gesetzgeber die Grundrechte vorläufig zu wahren. Die vorläufige Regelung entbindet den Gesetzgeber nicht aus der sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebenden Pflicht, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136). Das Fehlen eines gesetzlichen Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums kann daher nicht richterrechtlich kompensiert werden (vgl. Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 287).

484

Soweit im Übrigen in den Entscheidungen des BVerfG von einem unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch die Rede ist, soll hiermit wohl lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass (nur) die Gewährung derjenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind, nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135).

485

4.8 Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist demnach verfassungswidrig, weil sie ohne Kompensationsmöglichkeit in einem anderen Leistungssystem durch einen konkreten gesetzlichen Leistungsanspruch bestimmte Gruppen von im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftigen Grundrechtsträgern mit tatsächlichem Aufenthalt im Inland von Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließt (s.o. unter I.9.2).

486

5. Die durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterbliebene Grundrechtsverwirklichung und die somit verfassungsrechtlich defizitäre Gestaltung einfachen Rechts, kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

487

5.1 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht eingeschränkt werden, denn es gewährleistet gerade das Mindestmaß dessen, was jeder Mensch beanspruchen kann. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Unverfügbarkeit resultiert aus der Fundierung des Grundrechts in der Menschenwürdegarantie (zum Ganzen s.o. unter I.6). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen oder Unterlassungen, sodass jeder mögliche sachliche Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Einschränkung hieraus resultierender Ansprüche entfällt.

488

Gesetzliche Leistungsausschlüsse dem Grunde nach – wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelt – bei Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht erfüllen, sind deshalb per se verfassungswidrig und einer Rechtfertigung von vornherein nicht zugänglich. Dementsprechend kann eine derartige Einschränkung auch nicht auf Zumutbarkeitserwägungen oder Verhältnismäßigkeitsprüfungen gleich welcher Art gestützt werden. Für dieses Ergebnis bedarf es nicht erst des Rückgriffes auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (in diese Richtung: Bayerisches LSG, Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 59), da eine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG bereits nicht besteht.

489

a) Hieran vermag auch der wohl zuerst von verschiedenen Senaten des Bayerischen Landessozialgerichts (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 32; Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 37; so auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 26) herangezogene Hinweis auf die Nichtannahmebeschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und 08.10.2014 (1 BvR 886/11), mit denen die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG den grundsätzlichen Leistungsausschluss für Auszubildende und Studierende nach § 7 Abs. 5 SGB II unbeanstandet gelassen hat, nichts zu ändern. Die dort geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 13), obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsehen, stellt einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der im Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik dar und dürfte deshalb nicht aufrechtzuerhalten sein (so bereits SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 220). Keinesfalls rechtfertigen die Ausführungen in diesen Beschlüssen die Annahme, das BVerfG sei generell der Auffassung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums könne eingeschränkt werden (so aber wohl Bayerisches LSG, Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 32: „Dem entnimmt das Beschwerdegericht, dass ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen in bestimmten Lebenssituationen grundsätzlich möglich ist.“).

490

Hiervon abgesehen ist die Situation von Auszubildenden oder Studierenden mit derjenigen der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen in zentralen Punkten nicht vergleichbar (so auch Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 27.11.2015 – L 6 AS 205/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 205/15 B ER - PKH – Rn. 20). Während Auszubildenden und Studierenden im Allgemeinen rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit offensteht, Studium oder Ausbildung abzubrechen und hierdurch die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II zu beseitigen, kann die Ausreise eines vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen in den Herkunftsstaat durch tatsächliche (z.B. wirtschaftliche) Hindernisse erschwert oder unmöglich sein. Darüber hinaus führt eine Ausreise zwar zum Wegfall des Ausschlussgrundes, zugleich aber wegen der hiermit notwendig verbundenen Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland zum Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und damit des Leistungsanspruchs. Anders als im Falle des Auszubildenden oder Studierenden durch Studien- bzw. Ausbildungsabbruch kann der vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffene durch Ausreise den Anspruch auf Leistungen durch vermeintlich zumutbare Handlungen gerade nicht herbeiführen.

491

b) Aus der Uneinschränkbarkeit des Grundrechts folgt, dass das einfache Recht Leistungsausschlüsse nur in Fällen vorsehen darf, in denen eine der (neben dem Menschsein) zwei Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht nicht vorliegt, also entweder kein Aufenthalt im Inland gegeben ist (s.o. unter I.7.2) oder keine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne vorliegt (s.o. unter I.7.3). Leistungseinschränkungen sind bei Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen nur zulässig, soweit auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung (der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs) im Vergleich zu den gesetzlich ausformulierten Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Inhaltsbestimmung) ein quantitativer oder qualitativer Spielraum besteht, der eine tragfähig begründbare Differenzierung erlaubt (s.o. unter I.9.1 und I.9.4).

492

Auf der ersten Ebene der Grundrechtskonkretisierung kommt eine Differenzierung nur auf Grund abweichender Bedarfslagen in Betracht (s.o. unter I.9.4). Das hiernach bestimmte Existenzminimum muss jedoch auch dann durch staatliche Sozialleistungen gewährleistet werden, wenn bestehende Selbsthilfemöglichkeiten (z.B. Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) tatsächlich nicht genutzt werden, gleich aus welchem Grund. Dies gilt entgegen einer weit verbreiteten Auffassung in der Rechtsprechung (vgl. nur LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30; LSG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 und vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2238/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22 f.; Bayerisches LSG, Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 33; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 B ER – Rn. 36 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9 f.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht; s.o. unter A.V.1.3) auch dann, wenn eine Selbsthilfemöglichkeit darin bestehen könnte, in den Herkunftsstaat auszureisen und dort Fürsorgeleistungen in Anspruch zu nehmen (so auch BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 42 mit Erörterungen zur Reichweite des Nachranggrundsatzes).

493

Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis können alle Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht gegeben sein. Die Betroffenen halten sich – definitionsgemäß, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II – im Inland auf und sind im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, was Fälle der Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3) einschließt. Die Regelung ist daher – unabhängig davon, dass in Einzelfällen eine individuelle Grundrechtsverletzung auch fehlen kann – verfassungswidrig. Vor diesem Hintergrund ist es für die verfassungsrechtliche Prüfung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unerheblich, ob im von der Behörde oder dem Gericht zu prüfenden Einzelfall eine Rückkehrmöglichkeit in einen Staat mit existenzsicherndem Sozialhilfesystem besteht, selbst wenn – entgegen der hier vertretenen Auffassung – davon ausgegangen würde, dass bereits eine solcheMöglichkeit die Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne entfallen lassen würde. Denn es lässt sich angesichts der prinzipiellen Reichweite des Ausschlusstatbestands (s.o. unter 2), der Personen jedweder Staatsangehörigkeit (außer der deutschen) treffen kann, nicht ernsthaft behaupten, diese Möglichkeit stünde allen potenziell betroffenen Personen zur Verfügung.

494

5.2 Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kann verfassungsrechtlich auch nicht durch Rückgriff auf Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG gerechtfertigt werden.

495

a) Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG stellt keine Regelung dar, die angesichts dessen, dass auch sekundäres Unionsrecht gegenüber mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht vorrangig sein soll, von der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des deutschen Staates auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dispensieren könnte. Durch die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG wird den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit gelassen, in bestimmten Konstellationen Unionsbürger von den nationalen Sozialhilferegelungen auszunehmen. Dass die Mitgliedstaaten hierbei die Grenzen ihres jeweiligen Verfassungsrechts einhalten müssen, wird hierdurch nicht in Frage gestellt (so auch Kingreen, SGb 2013, S. 137; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 – L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 16). Solange es diesbezüglich bei der bloßen Ermächtigung bleibt und der Ausschluss von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern in bestimmten Fällen nicht zur mitgliedstaatlichen Pflicht erhoben oder unmittelbar durch Unionsrecht festgelegt wird, besteht auch kein Konflikt zwischen den verschiedenen Regelungsebenen. Käme es hingegen tatsächlich zu einer unionsrechtlichen Regelung, die dem deutschen Staat die Gewährung existenzsichernder Leistungen an bestimmte Personengruppen verböte, würde dies eine Überprüfung der auf Eingriffe in Freiheitsrechte gemünzten Rechtsprechung des BVerfG zur zurückgenommenen verfassungsrechtlichen Kontrolldichte bei Rechtsakten der EU (BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 117 – „Solange II“ –; BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 22 BvR 2159/92 – Rn. 70 – „Maastricht“ –; BVerfG, Beschluss vom 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 – Rn. 55 ff. – „Bananenmarktverordnung“ –) erzwingen, weil die Verankerung eines durchsetzbaren Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf europarechtlicher Ebene nicht ersichtlich ist und mit den Konstruktionsprinzipien der EU wohl auch nicht ohne Weiteres vereinbar wäre, solange die EU sich nicht selbst als unmittelbar leistungsverpflichtet konstituiert.

496

b) Hiervon abgesehen wird durch Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eingeräumt, bestimmte freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger von der Gewährung von Sozialhilfeleistungen auszunehmen. Eine Rechtfertigung zum Leistungsausschluss für Angehörige anderer Staaten oder Staatenloser, die über § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind, kann daher von vornherein nicht auf diese Regelung gestützt werden.

497

5.3 Sowohl aus der Uneinschränkbarkeit des Grundrechts als auch auf Grund des (über Unionsbürger hinausgehenden) vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreis ergibt sich, dass auch eine Rechtfertigung für den Leistungsausschluss aus „dem europäischen Konzept einer Freizügigkeit“ ohne Herstellung einer Sozialunion von vornherein nicht in Betracht kommt (so aber LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 10;ähnlich SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 40). Die Freizügigkeit ist lediglich eine tatsächliche Ursache dafür, dass es vielen Menschen möglich ist, sich in Deutschland legal aufzuhalten. Menschen, die von dieser Freizügigkeit Gebrauch machen, begeben sich weder durch den Übertritt über die Staatsgrenze ihrer Menschenrechte, noch können sie ihnen mit dem Argument vorenthalten werden, sie könnten sich auch wieder außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes begeben (anschaulich Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de, am Beispiel des Folterverbots).

498

Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums steht mangels Einschränkungsbefugnis in keinem Fall zur Disposition des Gesetzgebers. Demnach kann auch die einfachrechtliche Zuerkennung oder Aberkennung von Aufenthaltsrechten, wie im FreizügG/EU und im AufenthG geregelt, keinen Ausschluss und keine Einschränkung des Grundrechts rechtfertigen, unabhängig davon, ob das einfache Recht europarechtlich geprägt oder determiniert ist.

499

6. Die von zahlreichen Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit vertretene Auffassung, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße unabhängig von einer Kompensationsmöglichkeit durch ein anderes innerstaatliches Existenzsicherungsleistungssystem nicht gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter A.V.1.3), ist somit nicht haltbar.

500

6.1 In fast allen diesbezüglich ergangenen Gerichtsentscheidungen wird bereits der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG verkannt, indem eine mögliche Verfassungswidrigkeit nur anhand des zu entscheidenden Einzelfalls(so offenbar auch der 14. Senat des BSG in den Urteilen vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R – Rn. 36, B 14 AS 18/14 R – Rn. 34, B 14 AS 33/14 R – Rn. 33 und vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 32), allenfalls allein mit Blick auf die vom Leistungsausschluss betroffenen Unionsbürger geprüft wird (vgl. bereits LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30). Tatsächlich haben die Gerichte bei der Anwendung von Gesetzen deren Verfassungsmäßigkeit abstrakt zu prüfen, wenn sie die entsprechende Vorschrift für entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG halten. Dass es durch die Anwendung der für verfassungswidrig gehaltenen Vorschrift zu einer individuellen Grundrechtsverletzung des Verfahrensbeteiligten kommt, ist hierfür – anders für die Frage der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die Beschwerdebefugnis – nicht maßgeblich. Die Einbeziehung von Personen mit Aufenthaltstiteln nach § 16 Abs. 4 AufenthG und § 18c AufenthG wurde (außerhalb von Mainz) soweit ersichtlich in keiner veröffentlichten Entscheidung angesprochen, obwohl dieser Umstand bereits in der Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales benannt wurde (BT-Drucks. 16/688, S. 13). Vereinzelt wird sogar ausdrücklich behauptet, der Leistungsausschluss betreffe nur Unionsbürger (so SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 41). Auch inhaltlich wird dieser Umstand regelmäßig vollkommen ausgeblendet, was sich vor allem darin zeigt, dass alle Rechtfertigungsvarianten für den Leistungsausschluss ihre Argumente letztendlich aus dem europäischen Freizügigkeitsrecht und aus behaupteten europäischen Menschenrechtsstandards beziehen (vgl. nur LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 – und Bayerisches LSG – Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 31 ff.).

501

6.2 Weiter wird zumeist in eine Art Abwägungsprozess oder Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 40 f.) eingestiegen, ohne die Frage zu thematisieren, ob das Grundrecht überhaupt in dem Sinne einschränkbar ist, dass bestimmte Personengruppen – gleich aus welchen Gründen – von allen existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen werden dürften. Gelegentlich wird die Befugnis zum Leistungsausschluss auch schlicht mit dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers begründet (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30). Wenn tatsächlich eine Einschränkungsbefugnis angenommen wird, erfolgt dies zumeist apodiktisch mit der Behauptung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gelte nicht schrankenlos (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B – Rn. 39). Herangezogen wird auch die aus dem Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 (1 BvR 2556/09 – Rn. 13) entlehnte Formulierung, das Grundgesetz gebiete nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 24, Rn. 27), wobei keine Erwähnung findet, dass es bei der Entscheidung des BVerfG, bei der es um die Frage der Anrechnung bestimmter Einkommensarten ging, gerade auf die Bedarfsabhängigkeit ankam. Die Passage im Beschluss des BVerfG lautet vollständig folgendermaßen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13):

502

„Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung von bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der Gesetzgeber hat vielmehr einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, sonstiges Einkommen des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet wird (…).“

503

Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis geht es weder um bedarfsunabhängige noch um anderweitig voraussetzungslose Gewährung von Sozialleistungen, so dass der Verweis auf diesen Beschluss des BVerfG offensichtlich fehlgeht.

504

Die vorgetragenen Argumente zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses stehen daher regelmäßig ohne Einbindung in eine strukturierte verfassungsrechtliche Prüfung unvermittelt im Raum (vgl. die These des SG Freiburg, „dass es nicht Aufgabe des Sozialleistungssystems sein kann, aufenthaltsrechtliche Vollzugsdefizite durch die Gewährung so im Gesetz nicht vorgesehener existenzsichernder Leistungen zeitlich unbegrenzt „aufzufangen““, SG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER – Rn. 55).

505

Der Frage nach der Einschränkbarkeit könnte jedenfalls auf dem Boden der Rechtsprechung des BVerfG nur mit der Behauptung ausgewichen werden, die betroffenen Personen erfüllten bereits die Voraussetzungen für den verfassungsrechtlichen Gewährleistungsanspruch nicht, d.h. sie seien keine Menschen (s.o. unter I.7.1), sie hielten sich tatsächlich nicht in Deutschland auf (s.o. unter I.7.2) oder sie seien nicht hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3). Da die ersten beiden Behauptungen im Falle des vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreises offensichtlich nicht zutreffen, könnte ein Gewährleistungsanspruch grundsätzlich nur an der fehlenden Bedürftigkeit scheitern (in diese Richtung z. B. SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 113 – mit der These, dass laufende existenzsichernde Leistungen der Bundesrepublik Deutschland im Falle von Unionsbürgern bereits nicht „unbedingt erforderlich“ im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG im Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62 ff. – seien).

506

Hieran knüpft der in der Rechtsprechung weit verbreitete Versuch an, die Vorenthaltung der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat und der dortigen Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen zu rechtfertigen (s.o. unter 5.1 und unter A.V.1.3). Selbst wenn man aber den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für verfassungsmäßig halten würde, wenn die Betroffenen im Herkunftsland existenzsichernde Leistungen erhalten könnten, müsste diese Voraussetzung zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift nicht nur in sämtlichen 31 Staaten des EWR erfüllt sein, sondern auch in allen anderen Staaten der Welt, weil der Leistungsausschluss sich zugleich auch auf das Aufenthaltsrecht aus § 16 Abs. 4 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und auf das Aufenthaltsrecht aus §18c AufenthG bezieht. Diese Aufenthaltstitel sind nicht auf Angehörige bestimmter Staaten, insbesondere nicht auf Unionsbürger beschränkt.

507

Aber schon die Annahme, dass ein vergleichbares Existenzminimum in den anderen EU-Mitgliedstaaten gesichert sei, etwa weil diese sämtlich die Europäische Sozialcharta unterzeichnet hätten (so etwa SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 – S 30 AS 3827/15 ER – Rn. 38; vgl. auch SG Halle (Saale), Beschluss vom 22.01.2016 – S 5 AS 4299/15 ER – Rn. 22 und LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40), ist aus der Luft gegriffen. Aus der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Gewährung von Menschenrechten umstandslos auf deren vollständige Umsetzung in den jeweiligen Signatarstaaten zu schließen, ist, zurückhaltend formuliert, unrealistisch.

508

Dies zeigt aber letztlich nur, dass ein Verweis auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Sozialleistungen in anderen Staaten kein sinnvolles Kriterium zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines Leistungsausschlusses von existenzsichernden Leistungen bei transnationalen Sachverhalten ist. Die Gewährleistungspflicht des deutschen Staates für ein Existenzminimum gilt innerhalb der Staatsgrenzen für deutsche Staatsangehörige, ausländische Staatsangehörige und Staatenlose gleichermaßen und uneingeschränkt und unabhängig davon, ob vergleichbare Ansprüche in einem anderen Staat geltend gemacht werden könnten. Sie endet aber auch an den Staatsgrenzen, sodass ein Verstoß gegen das Existenzsicherungsrundrecht wohl nicht schon dann angenommen werden kann, wenn eine Person rechtmäßig in einen Staat abgeschoben wird, der über kein vergleichbares Existenzsicherungssystem verfügt (vgl. Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 1210.2015, S. 18).

509

Vor diesem Hintergrund ist es auch verfassungsrechtlich unerheblich, ob im von der Behörde oder dem Gericht zu prüfenden Einzelfall eine Rückkehrmöglichkeit in einen Staat mit existenzsicherndem Sozialhilfesystem besteht. Sofern § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für nichtig erklärt wird, fällt der Ausschlusstatbestand für alle hiervon betroffenen Personen weg, unabhängig davon, ob sie selbst zu der Fallgruppe gehören, die die Verfassungswidrigkeit der Norm begründet. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung ist daher in jedem Fall entscheidungserheblich, in dem der Ausschlusstatbestand greift. Deshalb sind die von verschiedenen Gerichten zumeist in Eilverfahren oberflächlich vorgenommenen Prüfungen der in den jeweiligen Herkunftsländern der Betroffenen bestehenden Sozialhilfesysteme (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40: Tschechien; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31: Rumänien; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS 2358/15 B: Slowakei; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27: Italien; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 38: Portugal) rechtlich ebenso bedeutungslos wie die Frage, ob bei dem Betroffenen im konkreten Einzelfall ein Hinderungsgrund für die Rückkehr in den Herkunftsstaat vorliegt.

510

6.3 Auch die zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses herangezogene These, der Gesetzgeber habe mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiteten, den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 26; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 34; SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 - S 30 AS 3827/15 ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1188/15 B ER), ist falsch. Der Nachrang gegenüber anderen Sozialleistungen wird im SGB II über die Einkommensanrechnungsvorschriften oder speziell im Verhältnis zu anderen deutschen Sozialleistungssystemen (§ 5 Abs. 2 SGB II), im SGB XII allgemeiner in § 2 Abs. 1 SGB XII sowie in den dortigen Einkommensanrechnungsvorschriften geregelt. Nachrangigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang lediglich, dass Leistungen nach dem SGB II und SGB XII nur erbracht werden, soweit die Leistungsberechtigten ihren Bedarf nicht durch andere Einkünfte, beispielsweise aus vorrangigen Sozialleistungen decken können. Die Leistungsausschlüsse des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII knüpfen aber tatsächlich nicht an den Umstand an, dass die betroffenen Personen über vorrangige Leistungsansprüche verfügen, sondern ordnen den Leistungsausschluss völlig unabhängig von der Frage an, ob derartige Ansprüche bestehen. Für den Fall, dass tatsächlich Sozialleistungen von ausländischen Trägern bezogen werden, würde der Nachrang ohnehin über die Einkommensanrechnung nach § 11 SGB II oder § 82 SGB XII hergestellt.

511

6.4 Das gelegentlich herangezogene Argument, dass das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) keine Aussage darüber enthalte, inwiefern es dem Gesetzgeber möglich sei, Personen ohne Aufenthaltsrecht Sozialleistungen zu verwehren oder Personen mit einem bestimmten, näher definierten Aufenthaltsrecht (beispielsweise dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche) vom Bezug von Sozialleistungen auszuschließen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 28; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 34), führt nicht weiter. Dass sich die Entscheidung des BVerfG nur über die Vereinbarkeit von Vorschriften des AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bezog, war dem dortigen Streitgegenstand geschuldet und ist für sich genommen selbstverständlich kein Argument für die Verfassungsmäßigkeit irgendeiner anderen Regelung.

512

Aus dem genannten Urteil den Schluss zu ziehen, das BVerfG würde die verfassungsrechtliche Situation im Hinblick auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II anders bewerten, würde eine vertiefte Auseinandersetzung mit den der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) zu Grunde liegenden Prämissen des BVerfG erfordern. Dass einzige erkennbare Argument, was speziell in Bezug auf das genannte Urteil hierfür regelmäßig vorgebracht wird, ist die mangelnde Vergleichbarkeit der Situationen von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG einerseits und Unionsbürgern andererseits, die darauf beruhen soll, dass Asylbewerber, die sich auf politische Verfolgung in ihren Heimatländern berufen, regelmäßig nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren könnten, dies bei der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personengruppe in der Regel aber ohne weiteres möglich sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 35; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 31.08.2015 – L 3 AS 430/15 B – nicht veröffentlicht).

513

Bei Lektüre des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) fällt jedoch auf, dass der Aspekt einer unmöglichen oder unzumutbaren oder auch nur erschwerten Rückkehr in den Herkunftsstaat bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der gerügten Vorschriften des AsylbLG keine Rolle gespielt hat.Ausführlich behandelt wurde hingegen vor allem die Frage, inwiefern ein kurzfristiger Aufenthalt Abweichungen bei der Bedarfsbemessung zulässt (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 74). Es ist auch nicht erkennbar, dass das BVerfG in seinen Leitentscheidungen zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Ansätze für ein Differenzierungskriterium hinsichtlich der Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat formuliert hätte. Gerade das Urteil vom 18.07.2012 spricht eine deutlich andere Sprache (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 94):

514

„Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (…). Art. 1 Abs. 1 GG garantiert ein menschenwürdiges Existenzminimum, das durch im Sozialstaat des Art. 20 Abs. 1 GG auszugestaltende Leistungen zu sichern ist, als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht. Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten (…). Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.“

515

Unabhängig davon, dass sich den Entscheidungen des BVerfG selbst bislang kein Argument für die Auffassung entnehmen lässt, dass die dem Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) zu Grunde liegenden Prämissen für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis nicht gelten könnten, hält die vorgenommene Unterscheidung anhand des Kriteriums der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer näheren Überprüfung nicht stand. Weder setzt ein Anspruch nach § 1 AsylbLG stets voraus, dass die berechtigte Person nicht in den Herkunftsstaat zurückreisen kann oder ihr dies nicht zuzumuten ist, noch kann bei dem von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfassten Personenkreis eine solche Situation ausgeschlossen werden. Leistungen nach dem AsylbLG erhalten insbesondere auch vollziehbar ausreisepflichtige Personen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG). Hiervon können insbesondere Ausländer erfasst sein, die keinen Asylantrag gestellt, ihren Asylantrag zurückgenommen haben oder die nach Ablehnung ihres Asylantrags noch nicht ausgereist oder abgeschoben worden sind (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 1 AsylbLG, Rn. 13, Stand 01.04.2016). Dies kann aber auch grundsätzlich freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger nach einer Verlustfeststellung betreffen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 – L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 17). Sowohl von der Leistungsberechtigung nach § 1 AsylbLG (insbesondere nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) als auch vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II können Personen jeder Staatsangehörigkeit außer der deutschen erfasst sein. Das Differenzierungskriterium der sozialen oder politischen Lage in den jeweiligen Herkunftsstaaten ist für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zwischen nach § 1 AsylbLG leistungsberechtigten und nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen daher von vornherein nicht geeignet.

516

6.5 Unzutreffend ist auch die Auffassung, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht ausschließe, Leistungen nur insoweit vorzuhalten, wie es erforderlich sei, um einen Betroffenen in die Lage zu versetzen, dass er existenzsichernde Leistungen seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen könne und der Staat hierbei allenfalls gehalten sei, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung vorzuhalten (so aber LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22).

517

Hiergegen ist – abgesehen vom grundsätzlichen Einwand, dass der Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums weder von der Staatsangehörigkeit, noch vom rechtmäßigen Aufenthalt, noch von bestimmten Verhaltensweisen abhängen kann – einzuwenden, dass auf Grund der einander ergänzenden Ausschlussregelungen im SGB II und im SGB XII selbst der als notwendig angesehene Anspruch auf Reise- und Verpflegungskosten nicht besteht; allenfalls könnte auf Ermessensleistungen nach dem SGB XII zurückgegriffen werden. Selbst wenn man einen derartigen Anspruch für ausreichend zur Gewährleistung des Existenzminimums halten würde, wäre die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II somit nicht behoben. Darüber hinaus löst dieser Ansatz das Problem der Existenzsicherung für den Fall nicht, dass betroffene Personen tatsächlich nicht ausreisen, wozu sie auf Grund ihres Aufenthaltsrechts, welches eine Voraussetzung für den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II darstellt, schließlich nicht unmittelbar gezwungen werden können. Der elementare Lebensbedarf eines Menschen muss aber in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 72), so dass es mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums fundamental unvereinbar wäre, Menschen durch Vorenthaltung von existenzsichernden Leistungen faktisch zur Ausreise zu zwingen. Eine Pflicht zur Ausreise kann nur aufenthaltsrechtlich erzeugt und durchgesetzt werden.

518

6.6 Auch der Verweis auf den Nichtannahmebeschluss der 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 09.02.2001 (1 BvR 781/98) zu § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG in der Fassung vom 23.03.1994 (so z.B. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22) verfängt nicht (so bereits SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 20 f.). Zunächst handelte es sich bei dieser Entscheidung lediglich um einen Kammerbeschluss, der keine Bindungswirkung über den Einzelfall hinaus nach sich zieht. Im Unterschied zu § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sah die zur Überprüfung stehende Regelung auch keinen vollständigen Leistungsausschluss vor, sondern lediglich eine Beschränkung auf die “nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe”. Zudem stand den dort betroffenen Ausländern jedenfalls andernorts im Inland ein Leistungsanspruch zu, so dass sich der Staat seiner Gewährleistungspflicht auch hinsichtlich regulärer Leistungen nicht vollständig entzogen hatte. Aus heutiger Sicht wäre eine solche Regelung dennoch wohl unter dem Aspekt der mangelnden Bestimmtheit (s.o. unter I.9.3) als verfassungswidrig anzusehen. Es gibt letztlich keinen Grund für die Annahme, dass die genannte Entscheidung nach den Urteilen des BVerfG vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) und vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) noch den Stand der verfassungsrechtlichen Dogmatik wiedergibt (SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 21).

519

6.7 Die Auffassung, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoße, erweist sich nach alldem als unzutreffend. Praktisch wird von den diese Auffassung vertretenden Senaten der Landessozialgerichte sowie den Kammern der Sozialgerichte für ausreichend gehalten, dass die betroffenen Personen aus einem EU-Staat stammen, in den sie zurückkehren können (vgl. nur LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 und Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS 2358/15 B; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 38), wobei dies durch die den Leistungsausschluss konstituierende Regelung weder im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis noch im Hinblick auf die Rückkehrmöglichkeit vorausgesetzt wird.

520

Die Möglichkeit der dortigen Inanspruchnahme von Sozialleistungen und deren Niveau wird, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich geprüft und dann stets bejaht. Würde dieses Kriterium ernst genommen, wäre die Rechtslage im jeweiligen Herkunftsstaat deutlich genauer zu prüfen. Bei verbleibenden Zweifeln müssten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen zugesprochen werden.

521

Die genannte Auffassung läuft daher praktisch darauf hinaus, dass es dem Gesetzgeber jedenfalls nach deutschem Verfassungsrecht freistünde, alle ausländischen Staatsangehörigen von existenzsichernden Leistungen auszuschließen, die zumutbar in ihren Herkunftsstaat zurückreisen könnten. Es gäbe schließlich keinen Grund, weshalb der Gesetzgeber Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht auch oder sogar erst recht bei anderen Aufenthaltszwecken als dem der Arbeitsuche ausschließen dürfte. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums würde auf diese Weise auf ein Grundrecht für Deutsche, unter Umständen auch für Flüchtlinge und Asylberechtigte, reduziert.

522

Dem sind die klaren Ausführungen Kirchhofs führt zum (selbst mitverantworteten) Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) entgegenzuhalten (NZS 2015, S. 4):

523

„In der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz wurde nochmals klargestellt, dass die Menschenwürde nicht etwa nur Deutschen zukommt, sondern jeder Person, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhält. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt also nicht nur für „Hartz-IV-Bezieher“; es bleibt nicht bloßes Deutschen- oder Bürgerrecht. Ob Deutscher, Angehöriger eines Mitgliedstaates der EU oder Staatsangehöriger eines Drittstaates — Mensch ist man immer.

524

Es mag sein, dass soziale Leistungen dieser Art auf Personen aus ärmeren Ländern anziehende Wirkungen entfalten. Solange der deutsche Staat sie indessen auf seinem Territorium aufnimmt, beherbergt oder auch nur duldet, sind sie in diesem bescheidenen Umfang auch leistungsberechtigt. Vorwürfe, mit dieser Rechtsprechung würde der Zuzug nach Deutschland angeregt, übersehen, dass das Grundrecht auf eine Gewährleistung menschenwürdiger Existenz eine Folge zwingenden Verfassungsrechts ist, die einen Aufenthalt in Deutschland voraussetzt. Wer hier Anreizeffekte vermeiden will, müsste das eigentlich ursächliche Aufenthaltsrecht ändern. Dessen Konsequenz einer finanziellen Versorgung von Menschen, die nicht selbst ihren Lebensunterhalt bestreiten können, hängt völlig vom Aufenthalt in Deutschland ab; erst dann entfaltet das Menschenrecht seine Wirkung.“

525

Die oben zitierten Entscheidungen vieler Sozialgerichte und Landessozialgerichte stehen mithin in einem leicht zu erkennenden Widerspruch zum aktuellen Stand der durch das BVerfG entwickelten Grundrechtsdogmatik. Dieser Widerspruch wird jedoch nicht reflektiert und sodann offensiv unter Begründungsaufwand vertreten – was im Sinne einer diskursiven Zukunftsoffenheit der Verfassungsrechtsdogmatik legitim wäre –, sondern mit Hilfe einer selektiven und bisweilen sinnentstellenden Heranziehung von Versatzstücken der Judikatur des BVerfG und unter Behauptung einer Übereinstimmung mit dieser negiert. Dass auf diese Weise in großem Umfang und entgegen der Rechtsprechung des zuständigen Revisionsgerichts sogar im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die vorläufige Verpflichtung zur Erbringung existenzsichernder Leistungen abgelehnt wird, ist nicht zu rechtfertigen.

526

7. Die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wird nicht dadurch kompensiert, dass hiervon Betroffene wegen der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII einen Anspruch auf Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII haben könnten (s.o. unter I.10). Zwischen beiden Leistungssystemen besteht kein Zusammenhang in dem Sinne, dass unabhängig von den für verfassungswidrig gehaltenen Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB II ein Nachrangverhältnis bestünde, Betroffene also unabhängig von dem Leistungsausschluss im vorrangigen System hilfsweise auf das nachrangige System zurückgreifen könnten. Denn allein der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II führt wegen § 21 Satz 1 SGB XII zu einer Öffnung des Leistungssystems des SGB XII für den betroffenen Personenkreis. Es besteht daher kein logischer Vorrang der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII gegenüber derjenigen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

527

Würde dies anders gesehen, müsste allerdings geprüft werden, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch auf Grund eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung verfassungswidrig ist, soweit der betroffene Personenkreis bei Nichtigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dem SGB XII und nicht dem SGB II zugeordnet würde. Anhaltspunkte hierfür ergeben sich anhand der Heterogenität des vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreises einerseits und des nicht erfassten Personenkreises anderseits reichlich (s.o. unter 2.).

III.

528

Auch § 7 Abs. 5 SGB II verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG.

529

Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II (1) effektiv betroffene Personenkreis (2) erfüllt grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (3). Für diesen Personenkreis fehlt es an einem formell-gesetzlichen, hinreichend bestimmten Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (4). Die sich hieraus ergebende unterlassene Grundrechtsgewährleistung kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden (5).

530

1. § 7 Abs. 5 SGB II lautet:

531

„Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes oder der §§ 51, 57 und 58 des Dritten Buches dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.“

532

§ 7 Abs. 6 SGB II lautet:

533

„Absatz 5 findet keine Anwendung auf Auszubildende,

534

1. die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung oder aufgrund von § 60 des Dritten Buches keinen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe haben,

535

2. deren Bedarf sich nach § 12 Absatz 1 Nummer 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, nach § 62 Absatz 1 oder § 124 Absatz 1 Nummer 1 des Dritten Buches bemisst oder

536

3. die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund von § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.“

537

2. Vom Leistungsausschluss erfasst sind demnach Auszubildende, die eine nach dem BAföG oder nach den §§ 51, 57 und 58 SGB III dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolvieren und keinen der in § 7 Abs. 6 SGB II geregelten Ausnahmetatbeständen erfüllen. § 7 Abs. 6 SGB II greift bestimmte Fallkonstellationen auf, in denen Auszubildende dem Grunde nach keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung bzw. Berufsausbildungsförderung haben (Nr. 1), nur eine geringe Ausbildungsförderung erhalten (Nr. 2) oder wegen Erreichen der Altersgrenze keine Ausbildungsförderung gewährt bekommen (Nr. 3) (vgl. Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 308, Stand 14.03.2016), wobei jeweils weitere Voraussetzungen hinzukommen müssen. Umstritten, aber vorliegend nicht klärungsbedürftig ist die Frage, ob auch Personen vom Ausschluss erfasst sind, die gemäß § 122 SGB III Ausbildungsgeld unter entsprechender Anwendung der Vorschriften über die Berufsausbildungsbeihilfe erhalten (verneinendKador in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, § 122 Rn. 15, 5. Auflage 2013; bejahend BSG, Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 37/14 R – Rn. 18 m.w.N.; Treichel, NZS 2013, S. 805 ff.).

538

2.1 Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II greift bereits ein, wenn die betroffene Person eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolviert, unabhängig davon, ob sie Leistungen nach §§ 51, 57 oder 58 SGB III oder nach dem BAföG tatsächlich bezieht oder die persönlichen Voraussetzungen für eine Förderung erfüllt. Dies legt bereits der Wortlaut des § 7 Abs. 5 SGB II nahe, da das Bezugswort zum Terminus „dem Grunde nach förderungsfähig“ in § 7 Abs. 5 SGB II „Ausbildung“ und nicht etwa „Auszubildende“ ist. Zwar ließe sich auch mit dieser Formulierung isoliert betrachtet noch vereinbaren, wegen der Verwendung des Relativpronomens „deren“ zwischen „Auszubildende“ und „Ausbildung“ auf die Förderungsfähigkeit der konkreten Ausbildung abzustellen, allerdings ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang mit den Rückausnahmeregelungen in § 7 Abs. 6 Nr. 1 und Nr. 3 SGB II, dass der Leistungsausschluss abgesehen von den dort genannten Ausnahmefällen auch dann greift, wenn kein Anspruch auf Leistungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III besteht (so im Ergebnis auch BSG, Urteil vom 22.08.2012 – B 14 AS 197/11 R – Rn. 14; BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R – Rn. 17 m.w.N.; ausführlich mit Erläuterungen zur Systematik, Gesetzgebungsgeschichte und Sinn und Zweck: BSG, Urteil vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R – Rn. 20 ff.). Das Fehlen individueller Voraussetzungen für eine Förderung ist mithin unerheblich (vgl. auch Thie in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 7 Rn. 113; Wolff-Dellen in: Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 52, 3. Auflage 2011).

539

Es ändert sich somit nichts an der Förderungsfähigkeit der Ausbildung dem Grunde nach im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II, wenn Auszubildende (einschließlich Studierende) tatsächlich keinen Anspruch auf Leistungen nach dem BAföG haben, z.B. wegen mangelnder Eignung (§ 9 BAföG), wegen Überschreitens der Altersgrenze (§ 10 BAföG), bei Überschreiten der Förderungshöchstdauer (§ 15a BAföG) oder wegen des Fehlens der Voraussetzungen für die Förderung einer weiteren Ausbildung bei einem nach Maßgabe des Gesetzes unbegründeten Ausbildungs- und Fachrichtungswechsel (§ 7 Abs. 2, 3 BAföG). Die Ausbildung ausländischer Studierender ist im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II dem Grunde nach förderungsfähig, auch wenn sie tatsächlich keine Ausbildungsförderung erhalten, weil sie die in § 8 BAföG aufgeführten aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 297, Stand 14.03.2016). Entsprechendes gilt für Auszubildende, die eine nach §§ 51, 57 oder 58 SGB III förderungsfähige Ausbildung absolvieren und als Ausländer auf Grund der in § 59 Abs. 1 SGB III angeordneten entsprechenden Anwendung der Absätze 1, 2, 4 und 5 des § 8 BAföG (ausgenommen wiederum Fälle des § 59 Abs. 2, Abs. 3 SGB III), wegen bereits abgeschlossener Erstausbildung nach § 57 Abs. 2 Satz 2 SGB III oder wegen der vorzeitigen Lösung eines vorangegangenen Ausbildungsverhältnisses nach § 57 Abs. 3 SGB III keinen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe haben.

540

Der Leistungsausschluss betrifft demnach auch Personen, die keine Ausbildungsförderungsleistungen nach dem SGB III oder nach dem BAföG erhalten, unabhängig davon, ob und in welcher Höhe sie über Einkommen oder Vermögen verfügen.

541

2.2. Vom Leistungsausschluss ausgenommen sind gemäß § 27 Abs. 2 SGB II Mehrbedarfe bei Schwangerschaft (§ 21 Abs. 2 SGB II), für Alleinerziehende (§ 21 Abs. 3 SGB II), bei kostenaufwändiger Ernährung aus medizinischen Gründen (§ 21 Abs. 5 SGB II), bei unabweisbaren, laufenden, besonderen Bedarfen (§ 21 Abs. 6 SGB II) und der Sonderbedarf für Erstausstattungen für Bekleidung und bei Schwangerschaft und Geburt (§ 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II), soweit diese nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen gedeckt sind.

542

2.3 Nach näherer Maßgabe des § 27 Abs. 3 SGB II erhalten vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffene Auszubildende einen Zuschuss zu ihren ungedeckten, angemessenen Unterkunfts- und Heizungskosten, wenn sie Berufsausbildungsbeihilfe oder Ausbildungsgeld nach dem SGB III oder Leistungen nach dem BAföG beziehen oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht beziehen. Personen, die einem individuellen Leistungsausschlussgrund nach dem SGB III oder nach dem BAföG unterliegen, haben diesen Anspruch nicht.

543

2.4 Nach § 27 Abs. 4 SGB II können Personen, die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffen sind, bei Vorliegen einer besonderen Härte Leistungen als Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erbracht werden. Die Gewährung der Leistungen steht im Ermessen der Behörde. Zu der Frage, unter welchen Umständen eine „besondere Härte“ vorliegt, hat das BSG bislang drei Fallgruppen entwickelt (BSG, Beschluss vom 23.08.2012 – B 4 AS 32/12 B – Rn. 20):

544

- Es ist wegen einer Ausbildungssituation Hilfebedarf entstanden, der nicht durch BAföG oder Berufsausbildungsbeihilfe gedeckt werden kann und es besteht deswegen begründeter Anlass für die Annahme, dass die vor dem Abschluss stehende Ausbildung nicht beendet werden kann und das Risiko zukünftiger Erwerbslosigkeit droht.

545

- Die bereits weit fortgeschrittene und bisher kontinuierlich betriebene Ausbildung ist aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls wegen einer Behinderung oder Krankheit gefährdet.

546

- Eine nach den Vorschriften des BAföG förderungsfähige Ausbildung stellt objektiv belegbar die einzige Zugangsmöglichkeit zum Arbeitsmarkt dar.

547

2.5 Gemäß § 27 Abs. 5 SGB II können unter den Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 SGB II (Sicherung der Unterkunft oder Behebung einer vergleichbaren Notlage) nach Ermessen der Behörde Schulden übernommen werden.

548

3. Die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personen sind Grundrechtsträger und können hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne sein.

549

Es handelt sich um Menschen (s.o. unter I.7.1), die sich, um von § 7 Abs. 5 SGB II überhaupt betroffen sein zu können, in Deutschland tatsächlich aufhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und im einfachrechtlichen Sinne hilfebedürftig sein (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) müssen. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ schließt den regelmäßigen tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland (s.o. unter I.7.2) logisch mit ein.

550

Die Grundrechtsrelevanz der Regelung wird nicht dadurch beseitigt, dass in Folge von Freibetrags- und Ausnahmeregelungen bei der Berücksichtigung von Einkommen und Schonvermögensregelungen auch Personen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen und vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II betroffen sein können, deren Existenzsicherung nicht akut gefährdet ist, bei denen der Leistungsausschluss also nicht mit einer individuellen Grundrechtsverletzung einhergeht. Denn der Leistungsausschluss betrifft jedenfalls auch Personen, die ihr materielles Existenzminimum nicht aus eigener Kraft sichern können und deshalb im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind (s.o. unter II.3).

551

Irrelevant ist auch der Umstand, dass vom Leistungsausschluss durch Einbeziehung von nach § 58 SGB III förderungsfähigen Ausbildungen auch Personen erfasst sind, die sich zumindest zeitweise im Ausland aufhalten und in dieser Zeit die (verfassungsrechtliche) Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Aufenthalts im Inland nicht erfüllen (s.o. unter I.7.2). In vielen Fällen dürften die betroffenen Personen bereits mangels gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben.

552

4. Für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personenkreis fehlt es bereits an einem formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.2). In Folge dessen ist § 7 Abs. 5 SGB II verfassungswidrig.

553

4.1 Nach der die zweite Vorlagefrage betreffenden Regelung des § 7 Abs. 5 SGB II besteht kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die hierfür vorgesehenen Ausnahmeregelungen sind für einen erheblichen Teil des betroffenen Personenkreises nicht einschlägig.

554

4.1.1 Die obligatorischen Ausnahmereglungen des § 7 Abs. 6 SGB II gelten nur für die dort aufgeführten Lebenssituationen.

555

4.1.2 Die Leistungen nach § 27 Abs. 2 SGB II decken nur Mehrbedarfe, nicht jedoch den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Sie sind daher evident nicht dazu geeignet, das Existenzminimum zu gewährleisten. Leistungen nach § 27 Abs. 3 SGB II sind lediglich ergänzend zu Leistungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III zu erbringen. Die Personen, die von den Leistungsausschlusstatbeständen des BAföG oder des SGB III betroffen sind, profitieren hiervon nicht.

556

4.1.3 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist auch nicht deshalb gewahrt, weil das Gesetz in § 27 Abs. 4 SGB II die Möglichkeit vorsieht, dass bei Vorliegen einer besonderen Härte Leistungen als Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erbracht werden können.

557

Die nach 27 Abs. 4 SGB II bestehende Möglichkeit, in besonderen Härtefällen Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu erhalten, stattet den betroffenen Personenkreis nicht mit dem verfassungsrechtlich geforderten formell-gesetzlichen Anspruch aus, weil der zuständigen Behörde ein Ermessen nicht nur über Art und Höhe, sondern auch über das „Ob“ der Leistung eingeräumt wird (s.o. unter I.9.2 und unter I.9.3).

558

Auf Grund der Verwendung des (besonders) unbestimmten Rechtsbegriffs der „besondere(n) Härte“ (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 20 ff.; BSG, Urteil vom 01.07.2009 – B 4 AS 67/08 R – Rn. 17 ff.; BSG, Beschluss vom 23.08.2012 – B 4 AS 32/12 B – Rn. 20) als Leistungsvoraussetzung und der Einräumung von Ermessen ist diese Vorschrift zudem wegen ihrer nicht ausreichenden Bestimmtheit zur verfassungskonformen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ungeeignet (s.o. unter I.9.3). Auf Grund der Verwendung des Begriffspaares „besondere Härte“ lässt sich keine hinreichend sichere Verbindung zwischen einer gesetzgeberischen Entscheidung zur Einräumung eines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zur Umsetzung in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis ziehen. Es zeigt sich gerade in der Verwendung dieser Begriffe, dass eine flächendeckende Gewährleistung des Existenzminimums für den betroffenen Personenkreis nicht Ziel der Regelung ist.

559

4.2 Kompensationsmöglichkeiten in anderen Leistungssystemen bestehen nicht.

560

a) Auf Leistungen nach dem SGB XII kann bereits deshalb nicht zurückgegriffen werden, weil der betroffene Personenkreis – anders als im Falle des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nicht im Sinne des § 21 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II betrifft nur die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne der §§ 19 ff. SGB II (exklusive Mehrbedarfe und ggf. Beiträge). Für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem 1. Abschnitt des 3. Kapitels gilt der Leistungsausschluss nicht (so auch Wolff-Dellen in Löns/Herold-Tews, § 7 Rn. 54, 3. Auflage 2011). Die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personen sind demnach dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II und in Folge dessen gemäß § 21 Satz 1 SGB XII von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII ausgeschlossen.

561

Im Übrigen ist für die Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ein gleichgerichteter Ausschlusstatbestand enthalten. Ein wesentlicher Unterschied zum SGB II besteht hier nur insofern, als gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII in besonderen Härtefällen Leistungen auch als Beihilfe und nicht nur als Darlehen erbracht werden können.

562

b) Leistungen der Ausbildungsförderung nach dem BAföG und Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe dem SGB III erhalten nur diejenigen Personen, die eine förderungsfähige Ausbildung absolvieren und keinen individuellen Ausschlusstatbestand erfüllen (s.o. unter 2.1). In Fällen des Anspruchsausschlusses wegen bereits abgeschlossener Erstausbildung (§ 57 Abs. 2 SGB III) oder der vorzeitigen Lösung eines vorangegangenen Ausbildungsverhältnisses (§ 57 Abs. 3 SGB III) besteht nur unter weiteren Voraussetzungen die Möglichkeit, Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe im Ermessenswege zu erbringen.

563

5. Die durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II unterbliebene Grundrechtsverwirklichung und die somit verfassungsrechtlich defizitäre Gestaltung einfachen Rechts, kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

564

5.1 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht eingeschränkt werden, denn es gewährleistet gerade das Mindestmaß dessen, was jeder Mensch beanspruchen kann. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Unverfügbarkeit resultiert aus der Fundierung des Grundrechts in der Menschenwürdegarantie (zum Ganzen s.o. unter I.6). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen oder Unterlassungen, so dass jeder mögliche sachliche Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Einschränkung hieraus resultierender Ansprüche entfällt.

565

a) Gesetzliche Leistungsausschlüsse dem Grunde nach – wie in § 7 Abs. 5 SGB II geregelt – bei Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht erfüllen, sind deshalb per se verfassungswidrig und einer Rechtfertigung von vornherein nicht zugänglich. Dementsprechend kann eine derartige Einschränkung auch nicht auf Zumutbarkeitserwägungen oder Verhältnismäßigkeitsprüfungen gleich welcher Art gestützt werden. Eine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG besteht nicht.

566

Hieraus folgt, dass das einfache Recht Leistungsausschlüsse nur in Fällen vorsehen darf, in denen mindestens eine der (neben dem Menschsein) zwei Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht nicht vorliegt, also kein Aufenthalt im Inland gegeben ist (s.o. unter I.7.2) und/oder keine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne vorliegt (s.o. unter I.7.3). Leistungseinschränkungen sind bei Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen nur zulässig, soweit auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung, der gesetzlichen Fixierung des konkreten Leistungsanspruchs, im Vergleich zu den gesetzlich ausformulierten Mindestanforderungen ein quantitativer oder qualitativer Spielraum besteht, der eine tragfähig begründbare Differenzierung erlaubt.

567

Auf der ersten Ebene der Grundrechtskonkretisierung kommt eine Differenzierung nur auf Grund abweichender Bedarfslagen in Betracht (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73; s.o. unter I.9.4). Das hiernach bestimmte Existenzminimum muss jedoch auch dann durch staatliche Sozialleistungen gewährleistet werden, wenn bestehende Selbsthilfemöglichkeiten (z.B. Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) tatsächlich nicht genutzt werden, gleich aus welchem Grund.

568

b) Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personenkreis können alle Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gegeben sein. Sie halten sich – definitionsgemäß, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II – im Inland auf und sind im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, was Fälle der Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3) notwendig einschließt. Die Regelung ist daher – unabhängig davon, dass in Einzelfällen eine individuelle Grundrechtsverletzung auch fehlen kann – verfassungswidrig.

569

5.2 Der zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II regelmäßig angeführte Zweck, eine (verdeckte) Ausbildungsförderung durch Leistungen nach dem SGB II zu verhindern, insbesondere unter Umgehung der dortigen Anspruchsvoraussetzungen und der unter Umständen niedrigeren Leistungshöhe (BSG, Urteil vom 19.08.2010 – B 14 AS 24/09 R – Rn. 15; BSG, Urteil vom 22.08.2012 – B 14 AS 197/11 R – Rn. 13; BSG, Urteil vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R – Rn. 21; BSG, Urteil vom 17.02.2016 – B 4 AS 2/15 R – Rn. 23; vgl. auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 12.02.2010 – L 1 SO 84/09 – Rn- 38; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.06.2013 – L 2 AS 1518/12 – Rn. 26) ist nicht geeignet, den Leistungsausschluss zu legitimieren. Die hierin zum Ausdruck kommenden bildungspolitischen Zielsetzungen mögen als solche legitim sein und zu hochschul- oder berufsbildungsrechtlichen Maßnahmen berechtigen, sie stehen aber nicht in einem inhaltlich-argumentativen Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Die Ausbildungsförderungssysteme des SGB III und des BAföG sind nicht so ausgestaltet, dass sie allen hilfebedürftigen Auszubildenden einen Leistungsanspruch zur Verfügung stellten, der zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs geeignet wäre.

570

Es ist kein verfassungsrechtliches Argument ersichtlich, weshalb bestimmten Personen allein auf Grund dessen, dass sie eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, kein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zustehen sollte, gilt dies doch im Übrigen für alle hilfebedürftigen Menschen, die sich tatsächlich im Inland aufhalten (s.o. unter I.7). Das immer weder vorgebrachte Argument, keine zweite Ebene der Ausbildungsförderung durch Fürsorgeleistungen schaffen zu wollen, lenkt den Blick auf die von den betroffenen Personen ausgeübten Aktivitäten und vernachlässigt deren sonstige Lebensumstände. Hierzu trägt die missverständliche Rede vom „ausbildungsgeprägten Bedarf“ (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.07.1994 – 5 B 25/94 – Rn. 5 f. m.w.N.) bei, der auch den allgemeinen Lebensunterhalt umfassen soll, obwohl dieser tatsächlich im Wesentlichen nicht wegen der Ausbildung, sondern auf Grund fundamentaler menschlicher Bedürfnisse gedeckt werden muss. Die durch das Existenzsicherungsgrundrecht zu sichernden grundlegenden Bedürfnisse des Menschen bestehen unabhängig davon, welchen Aktivitäten die betroffene Person konkret nachgeht.

571

Hinter den Rechtfertigungsversuchen mag die Befürchtung stehen, dass ein Leben am materiellen Existenzminimum, aber mit vergleichsweise breitem Zugang zu Bildung und sozialer Teilhabe, wie es dem Hochschulstudium zugeschrieben wird, für so viele Menschen attraktiv sein könnte, dass sich hieraus entweder ein Ressourcenverteilungsproblem insbesondere an Hochschulen ergeben oder Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an Stelle des Studiums oder an Stelle einer nicht bedarfsdeckenden Ausbildung zu gering werden könnten. Unabhängig von der Plausibilität solcher Erwägungen wären hierin zum Ausdruck kommende staatliche oder kollektive Interessen aber von vornherein nicht dazu geeignet, Einschränkungen des unverfügbaren individuellen Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu rechtfertigen.

572

5.3 Das Argument, dass es den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II Betroffenen regelmäßig zumutbar sei, ihre Ausbildung oder ihr Studium abzubrechen, um den Leistungsausschlussgrund zu beseitigen, taugt zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bereits deshalb nicht, weil das Grundrecht nicht unter einer Einschränkungsbefugnis steht.

573

Der Ausbildungsabbruch stellt keine Selbsthilfemöglichkeit dar, so dass es auf dessen Zumutbarkeit nicht ankommt. Durch den Abbruch der Ausbildung oder des Studiums wird die Hilfebedürftigkeit weder beseitigt noch verringert. Gerade die in Folge des Abbruchs bei Wegfall des Ausschlusstatbestands zu erbringende existenzsichernde Sozialleistung belegt nicht den Wegfall der Hilfebedürftigkeit, sondern ist die leistungsrechtliche Konsequenz ihres Fortbestehens.

574

Der Ausbildungsabbruch kann im Einzelfall sogar zu einer Vergrößerung der Hilfebedürftigkeit führen, wenn beispielsweise eine nicht bedarfsdeckende, aber bedarfsmindernde Ausbildungsvergütung gezahlt wird oder eine nicht bedarfsdeckend vergütete Nebentätigkeit rechtlich oder tatsächlich mit dem Studierendenstatus verknüpft ist.

575

Durch den Ausbildungsabbruch selbst erschließen sich den betroffenen Personen auch nicht notwendigerweise andere Selbsthilfeoptionen, beispielsweise durch Arbeitsangebote. Derartige Selbsthilfeoptionen sind zudem nicht zwangsläufig mit einem Abbruch der Ausbildung oder des Studiums verbunden (z.B. Nebentätigkeiten). Ob die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung oder an Stelle der Ausbildung möglich und zumutbar ist, um die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen oder zu verringern, ist eine hiervon zu unterscheidende Frage, die nach der aktuellen Gesetzeslage im Zusammenhang mit der Verhängung von Sanktionen relevant werden könnte (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II). Allein die für sich genommen plausible Annahme, dass die Durchführung einer Ausbildung oder eines Studiums im Einzelfall ein psychologisches Hindernis für die Aufnahme einer bedürftigkeitsverringernden Erwerbstätigkeit sein kann, ist nicht dazu geeignet, eine Rechtfertigung dafür zu bieten, allen abstrakt sich in einer solchen Situation befindlichen Personen keine existenzsichernden Leistungen zu gewähren.

576

Demzufolge ist auch der Hinweis des BVerfG auf die in § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II geregelte Obliegenheit für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 13), nicht zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses geeignet.

577

5.4 Die in den Nichtannahmebeschlüssen des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) weiter geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 - 1 BvR 886/11 - Rn. 13), obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsehen, stellt daher einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der zuerst im Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik dar. Es lässt sich den Entscheidungsbegründungen nicht entnehmen, inwiefern die zur Voraussetzung der Gewährung existenzsichernder Leistungen gemachte Verhaltenserwartung des Abbruchs der Ausbildung oder des Studiums mit der behaupteten Unverfügbarkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sein könnte. Es ist auch auf Grund dieser Beschlüsse des BVerfG nicht ersichtlich, weshalb allein der Umstand, dass eine Person eine abstrakt förderungsfähige, aber konkret nicht geförderte Ausbildung durchführt, die Vorenthaltung von Leistungen zur Gewährung des Existenzminimums rechtfertigen können sollte.

578

Soweit das BVerfG darauf abstellt, § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. konkretisiere den Nachrang gegenüber vorrangigen besonderen Sozialleistungssystemen zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Gesetzgeber gehe im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, dass das menschenwürdige Existenzminimum, soweit eine durch die Ausbildung bedingte Bedarfslage entstanden sei, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III zu decken sei (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 22), vermag dies nicht zu überzeugen. Unter einer nachrangigen Leistung ist eine Leistung zu verstehen, die nur dann zum Zuge kommt, wenn eine vorrangige Leistung nicht greift (vgl. § 104 SGB X und § 2 Abs. 1 SGB XII; zum Begriff und zur Wiederherstellung des Nachrangs in SGB XII und SGB II vgl. Kunkel in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, 3. Auflage 2012, S. 91 ff., und Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, 3. Auflage 2012, S. 263 ff.). In § 7 Abs. 5 SGB II ist hingegen geregelt, dass eine Leistung unabhängig davon nicht erbracht wird, ob eine anderweitige Leistungspflicht tatsächlich besteht. Deshalb geht auch das Argument des 4. Senats des BSG fehl, es sollten nicht mehrere Träger zur Deckung ein und desselben Bedarfes zuständig sein (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 18).

579

In diesem Sinne nachrangig sind die Leistungen nach dem SGB II hingegen beispielsweise im Verhältnis zu Leistungen nach dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG), nicht jedoch im Verhältnis zu Leistungen nach dem BAföG (vgl. Thie in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 7 Rn. 112).

580

Warum es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, dass der Gesetzgeber von der – für bestimmte Fallgruppen offensichtlich unzutreffenden – Annahme ausgehe, dass das menschenwürdige Existenzminimum vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG bzw. nach dem SGB III zu decken sei, erörtert das BVerfG nicht näher.

581

Mit dem Verweis auf eine denkbare Verletzung der teilhaberechtlichen Dimension des Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 23 f.BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 14) lässt sich weder die fehlende Existenzsicherung rechtfertigen, noch eine Beschränkung der verfassungsrechtlichen Prüfung auf die jeweiligen Ausschlussvorschriften im BAföG bzw. im SGB III begründen. Es ist kein rechtssystematischer Grund dafür ersichtlich, warum eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bei Auszubildenden und Studierenden allein in Folge der Wirkung von Ausschlussvorschriften im BAföG oder im SGB III eintreten können sollte und nicht gleichfalls durch Ausschlussvorschriften im SGB II oder im SGB XII. Der Ausschluss von Leistungen wegen der Durchführung einer abstrakt förderungsfähigen Ausbildung im SGB II (oder im SGB XII) steht normhierarchisch auf einer Ebene mit dem Ausschluss von Leistungen beispielsweise wegen der Überschreitung der Altersgrenze im BAföG. Beide führen gleichermaßen dazu, dass zur Existenzsicherung grundsätzlich geeignete Leistungen nicht gewährt werden. Ein logisches Rangverhältnis zwischen beiden die Verfassung (möglicherweise) verletzenden Vorschriften besteht nicht, so dass kein Grund dafür erkennbar ist, nur eine von beiden Ausschlussvorschriften unter dem Blickwinkel des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einer verfassungsrechtlichen Prüfung zu unterziehen. Dies gilt unabhängig davon, dass der Verfassungsverstoß durch verschiedene Maßnahmen beseitigt werden könnte (s.o. unter I.10).

582

5.5 Auch das Argument, dass, wenn jemand eine Ausbildung betreibt, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung einer Ausbildung vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfüllt, es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung handele, die nicht die Konsequenz haben könne, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieser Ausbildung Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach einem System (SGB II) zu gewähren (BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 28/06 R – Rn. 29), ist zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses nicht geeignet.

583

In diesem Argument kommt der Sache nach nichts Anderes zum Ausdruck, als die unzutreffende Vorstellung, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einschränkbar sei. Denn erst hierdurch würde die Möglichkeit eröffnet, bestimmte Verhaltensweisen von Betroffenen, die nicht unmittelbar ihre Bedürftigkeit oder deren Überwindung betreffen, zum Gegenstand von Ausschlussregelungen zu machen. Eine derartige Einschränkung ist mit der aus der Menschenwürdegarantie abgeleiteten Annahme der Unverfügbarkeit des Grundrechts nicht vereinbar. Würde die zitierte Auffassung des BSG zutreffen, könnten Leistungsausschlüsse an jegliches unerwünschte Verhalten des Betroffenen anknüpfen, sofern hierin eine „selbst zu verantwortende Entscheidung“ erblickt werden kann und mit dem Ausschluss irgendwelche politischen Zwecke verfolgt werden. Dabei ist die Aufnahme oder Fortführung einer Ausbildung oder eines Studiums für sich genommen nicht einmal eine besonders verwerfliche oder vorwerfbare Handlung. Der hieraus resultierende Leistungsausschluss steht vielmehr sogar in einem gesetzlichen Zielkonflikt mit der sanktionsbewehrten Obliegenheit der Leistungsberechtigten, eine zumutbare Ausbildung aufzunehmen oder fortzuführen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II).

584

Bei einer Verallgemeinerung der genannten Auffassung würden die Grundrechtsträger exakt zu jener Verhandlungsmasse der Staats- und Gemeinschaftszwecke, die die Fundierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Art. 1 Abs. 1 GG eigentlich verhindern soll (s.o. unter I.5.2).

585

6. Aus dem Umstand, dass der Leistungsausschluss an den Tatbestand nach anderen Leistungssystemen förderungsfähiger Ausbildungen anknüpft, folgt im Übrigen nicht, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Ausschlussregelungen nur in den dortigen Systemen zu prüfen wäre. Die dortigen Ausschlussgründe stehen nicht in einem bestimmten Rangverhältnis zum Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II (s.o. unter I.10 und unter 5.4).

IV.

586

Die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II sind zur Überzeugung der Kammer auf Grund des Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verfassungswidrig (s.o. unter II und III). Auf die Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II kommt es im vorliegenden Verfahren an (s.o. unter A.IV). Das Gericht hat das Verfahren daher nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG über die Gültigkeit der Vorschriften einzuholen.

C.

587

Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar.

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Tenor

1. Der Bescheid vom 19.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2015 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Krankengeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 14.03.2015 bis zum 22.06.2015 zu zahlen.

3. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zahlung von Krankengeld für den Zeitraum vom 14.03.2015 bis zum 22.06.2015.

2

Der 1967 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er war seit dem 01.11.2011 als Hausmeister beim DRK-Kreisverband B K sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Zum 31.12.2014 endete das Arbeitsverhältnis auf Grund eines Aufhebungsvertrages wegen anhaltender Arbeitsunfähigkeit des Klägers.

3

Seit dem 20.02.2014 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Maßgebliche Diagnosen waren Diabetes mellitus Typ 2 mit neurologischen Komplikationen (E11.40 G), diabetische Polyneuropathie (G63.2 G), Läsion des Nervus ulnaris (G56.2 G L) und Neuralgie (M79.23 G L), später auch Zervikalneuralgie (M54.2 G), lumbale Spinalkanalstenose, cervicale Bandscheibendegeneration und C8-Syndrom links.Eine entsprechende erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sowie diverse Folgebescheinigungen und Auszahlscheine wurden durch den Facharzt für Chirurgie Dr. G ausgestellt. Weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen stellten die Allgemeinmedizinerinnen Frau Dr. M (04.03.2014) und Frau Dr. G -A (10.03.2014) aus.

4

Bis zum 02.04.2014 erhielt der Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall von seinem Arbeitgeber.

5

Mit Schreiben vom 14.04.2014 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie ihm Krankengeld in Höhe von 319,12 Euro für die Zeit bis zum 10.04.2014 überwiesen habe. Das Schreiben war mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen, nach der gegen diesen Bescheid Widerspruch erhoben werden könne. Weitere gleichartige Schreiben und entsprechende Überweisungen erfolgten bis März 2015 in ungefähr monatlichem Rhythmus. Zuletzt teilte die Beklagte mit Schreiben vom 19.03.2015 mit, dass sie für die Zeit bis zum 13.03.2015 einen Betrag von 1.059,50 Euro überwiesen habe.

6

In der Folgezeit stellte Dr. G weitere Bescheinigungen über die Arbeitsunfähigkeit des Klägers aus. Zuletzt bescheinigte er auf einem Auszahlschein vom 17.02.2015 die fortbestehende Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich bis zum 13.03.2015. Als maßgebliche Diagnosen nannte er C8-Syndrom links, HWS-Degeneration und diabetische Polyneuropathie.

7

Auf einem weiteren Auszahlschein vom 18.03.2015 attestierte Dr. G erneut Arbeitsunfähigkeit auf Grund der Diagnosen lumbale Spinalkanalstenose, cervicale Bandscheibendegeneration, C8-Syndrom links und diabetische Polyneuropathie voraussichtlich bis zum 15.04.2015.

8

Mit Bescheid vom 19.03.2015 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er ab dem 20.02.2014 arbeitsunfähig erkrankt sei. Das Beschäftigungsverhältnis des Klägers habe am 31.12.2014 geendet. Durch die Krankengeldzahlung bleibe seine Mitgliedschaft erhalten. Aktuell lägen als Nachweis für die Arbeitsunfähigkeit zwei Auszahlscheine von Dr. G vom 17.02.2015 (Zeitraum 17.02.2015 bis 13.03.2015) und vom 18.03.2015 (Zeitraum 18.03.2015 bis 15.04.2015) vor. Die ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit sei Voraussetzung für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und für den Anspruch auf Krankengeld. Der Anspruch auf Krankengeld entstehe nach § 46 SGB V bei Krankenhausbehandlung von ihrem Beginn an bzw. im Übrigen von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folge. Die Mitgliedschaft nach § 192 SGB V bleibe erhalten, solange Anspruch auf Krankengeld bestehe. Am 17.02.2015 sei der Kläger von der Beklagten darüber informiert worden, dass seine Arbeitsunfähigkeit lückenlos bescheinigt sein müsse, da ansonsten die Mitgliedschaft, die durch die Zahlung von Krankengeld aufrechterhalten werde, ende. Im Falle des Klägers sei durch Dr. G ein Nachweis der Arbeitsunfähigkeit bis zum 13.03.2015 erbracht worden. Erst am 18.03.2015 sei die weitere Arbeitsunfähigkeit durch Dr. G ärztlich festgestellt worden. Hierdurch sei die Arbeitsunfähigkeit nicht lückenlos nachgewiesen. Dies habe zur Folge, dass der Anspruch auf Krankengeld nach § 46 SGB V und die Mitgliedschaft nach § 192 SGB V zum 13.03.2015 geendet hätten. Alleine der Tag der ärztlichen Feststellung sei für die Beurteilung des Anspruchs auf Krankengeld maßgebend. Aus diesen Gründen könne die Krankengeldzahlung bis zum 13.03.2015 erfolgen.

9

Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 24.03.2015 (Eingang 25.03.2015) Widerspruch. Zur Begründung trug er vor, dass er wegen starkem Durchfall nicht habe zum Arzt gehen können. Der Arztbesuch wäre ihm frühestens am Montag, den 16.03.2015 möglich gewesen. Außerdem habe ihm eine Mitarbeiterin der Beklagten mitgeteilt, dass es ausreiche, wenn er sich die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beim nächsten Arztbesuch am 18.03.2015 ausfüllen lassen würde. Der Kläger legte anlässlich des Widerspruchs eine ärztliche Bescheinigung von Dr. G vor, wonach der Kläger seit dem 20.02.2014 bis zum Datum der Ausstellung der Bescheinigung (26.03.2015) und voraussichtlich bis zum 15.05.2015 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt sei.

10

Dr G stellte am 15.04.2015, 08.05.2015 und 29.05.2015 weitere Auszahlscheine bei im Wesentlichen gleichbleibenden Diagnosen aus, zuletzt ohne Angabe einer voraussichtlichen Dauer, aber mit Nennung des nächsten geplanten Praxisbesuchs am 26.06.2015.

11

Mit Bescheid vom 10.06.2015 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger Arbeitslosengeld ab dem 16.04.2015 bis zum 16.01.2016. Am 02.07.2015 wurde der Kläger auf Veranlassung der Agentur für Arbeit sozialmedizinisch untersucht. Der Gutachter Dr. T kam hierbei zu dem Ergebnis, dass im Untersuchungszeitpunkt eine leichte vollschichtige Tätigkeit mit einigen qualitativen Einschränkungen möglich sei. Für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Hausmeister bestehe „keine vollständige Eignung“. Von einer dauerhaften Leistungseinschränkung sei auszugehen.

12

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.07.2015 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zurück. Die BSG-Urteile vom 26.06.2007 (B 1 KR 2/07 R, B 1 KR 8/07 R, B 1 KR 37/06 R), vom 10.05.2012 (B 1 KR 19/11 R) und vom 04.03.2014 (B 1 KR 17/13 R) sagten aus, dass ein Entstehen des Krankengeldanspruchs davon abhänge, ob zum Zeitpunkt des Eintritts der Anspruchsvoraussetzungen eine Versicherung mit Anspruch auf Krankengeld bestehe. Außerdem werde ausgesagt, dass die Voraussetzungen des Anspruchs auf Krankengeld bei befristeter Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für jeden Bewilligungsabschnitt erneut festgestellt werden müssten. Es sei nicht nach der Art der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Erst- oder Folgebescheinigung) zu unterscheiden. Insbesondere im letzten Urteil des BSG werde darauf hingewiesen, dass die weitere Arbeitsunfähigkeit vor Ablauf jedes Krankengeldbewilligungsabschnittes erneut ärztliche festgestellt werden müsse und dafür eventuell der hausärztliche Notdienst in Anspruch zu nehmen wäre. Der Kläger gebe an, dass er am 13.03.2015 wegen starkem Durchfall nicht habe zum Arzt gehen können. Bis dahin sei auch die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit bescheinigt worden. Obwohl die Problematik wegen der zunächst vorliegenden Arbeitsunfähigkeitslücke am 17.02.2015 bereits ausführlich mit dem Kläger besprochen worden sei, habe er nicht alles versucht, um die weitere Arbeitsunfähigkeit am 13.03.2015 lückenlos nachzuweisen. Dies hätte zum Beispiel durch einen Hausbesuch seines Hausarztes oder eines Notfallarztes erfolgen können. Somit habe ab dem 18.03.2015 grundsätzlich ein neuer Bewilligungsabschnitt vorgelegen. Nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V bleibe die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger solange erhalten, solange Anspruch auf Krankengeld bestehe. Der Anspruch habe mit der Krankmeldung vom 17.02.2015 am 13.03.2015 geendet. Der neue Anspruch auf Krankengeld entstehe am 19.03.2015. Da der Kläger jedoch zu diesem Zeitpunkt kein Mitglied mit Anspruch auf Krankengeld mehr gewesen sei, sei eine Krankengeldzahlung nicht möglich. Ein Anspruch auf Krankengeld nach § 19 SGB V bestehe nicht. Der Kläger sei seit dem 14.03.2015 freiwillig krankenversichert.

13

Der Kläger hat am 31.08.2015 die vorliegende Klage erhoben. Er wendet sich insbesondere gegen den Vorwurf, seine Arbeitsunfähigkeit sei nicht nachgewiesen. Der Kläger habe am Freitag, den 15.03.2015, nicht zum Arzt gehen können, da er unter starkem Durchfall gelitten habe. Er sei insulinpflichtig und müsse Metformin nehmen. Dieses Medikament führe zu akuten Durchfallerkrankungen. Er sei daher gar nicht in der Lage gewesen, vor dem Wochenende oder über das Wochenende zum Arzt zu gehen. Letztlich habe ein Arztbesuch dann am 18.03.2015 stattgefunden. Der Arztbesuch wäre frühestens am Montag, den 16.03.2015 möglich gewesen. Dies sei allerdings verhindert worden durch ein Gespräch mit einer Mitarbeiterin der Beklagten. Unabhängig davon, ob er einen früheren Arzttermin hätte erhalten können, sei die Vorgehensweise ausdrücklich von der Beklagtenseite gestattet worden. Es könne ihm nicht negativ ausgelegt werden, dass er sich an die Rücksprache mit Frau L (Mitarbeiterin der Beklagten) gehalten habe.

14

Der Kläger beantragt,

15

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 19.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.2015 zu verurteilen, dem Kläger Krankengeld für den Zeitraum vom 14.03.2015 bis zum 22.06.2015 in gesetzlicher Höhe zu zahlen.

16

Die Beklagte beantragt,

17

die Klage abzuweisen.

18

Zur Begründung verweist sie auf ihren Widerspruchsbescheid.

19

Zur weiteren Darstellung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

I.

20

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

21

Die Klage richtet sich gegen den Bescheid vom 19.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2015. Streitgegenstand ist ein Anspruch des Klägers auf Krankengeld für den Zeitraum vom 14.03.2015 bis zum 22.06.2015.

22

Das Gericht konnte gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG zur Leistung dem Grunde nach verurteilen. Nach dieser Regelung ist Voraussetzung für den Erlass eines Grundurteils, dass gemäß § 54 Abs. 4 SGG oder § 54 Abs. 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Diese Voraussetzung ist bei dem streitgegenständlichen Anspruch auf Krankengeld aus § 44 SGB V erfüllt. Da der Kläger im vorliegenden Fall lediglich den Erlass eines Grundurteils beantragt hat, durfte das Gericht hierüber gemäß § 123 SGG nicht hinausgehen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 130 Rn. 2e, 11. Auflage 2014).

II.

23

Die Klage ist begründet.

24

Der Bescheid vom 19.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

25

Der Kläger hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld für den Zeitraum vom 14.03.2015 bis zum 22.06.2015 gegen die Beklagte.

26

Der Kläger kann die Zahlung von Krankengeld für den streitigen Zeitraum schon auf Grund einer wirksamen Dauerbewilligung von Krankengeld verlangen. Die unbefristete Dauerbewilligung ist zunächst bestandskräftig geworden und daher zwischen den Beteiligten bindend (1). In Folge der Rechtswidrigkeit des die Aufhebung der Leistungsbewilligung verfügenden Bescheids vom 19.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2015 und der hieraus resultierenden Aufhebung durch das vorliegende Urteil (2) entfaltet die Bewilligungsentscheidung weiterhin Wirksamkeit, so dass der Kläger die Zahlung von Krankengeld für den beantragten Zeitraum vom 14.03.2015 bis zum 22.06.2015 verlangen kann (3).

27

1. In der erstmaligen Auszahlung von Krankengeld an den Kläger durch Überweisung eines Betrags von 319,12 Euro für den Zeitraum vom 03.04.2014 bis zum 10.04.2014 (mitgeteilt mit Schreiben vom 14.04.2014) liegt ein Dauerverwaltungsakt, der die unbefristete Bewilligung von Krankengeld auch für die Folgezeit regelt (vgl. SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 32; alle Entscheidungen zitiert nach juris). Die Leistungsbewilligung ist durch die Leistungsauszahlung konkludent „auf andere Weise“ im Sinne des § 33 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erfolgt.

28

1.1 In Fällen, in denen die Krankenkasse keine förmliche Verwaltungsentscheidung erlassen hat, kommt in der für den Versicherten erkennbaren Auszahlung von Krankengeld zugleich auch dessen Bewilligung durch Verwaltungsakt zum Ausdruck.

29

Nach § 31 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist.

30

Die Auszahlung erfüllt die Voraussetzungen für einen Verwaltungsakt nach § 31 Satz 1 SGB X (so bereits BSG, Urteil vom 16.09.1986 – 3 RK 37/85 – Rn. 12 ff. unter Aufgabe der überkommenen Rechtsprechung zum „Schalterakt“). Der Auszahlung von Krankengeld geht außer in den Fällen eines behördlichen Versehens eine Entscheidung der Krankenkasse als Behörde (§ 1 Abs. 2 SGB X) voraus, der betroffenen Person Krankengeld zu leisten und hiermit in der Regel in Reaktion auf eine Antragstellung (§ 19 Satz 1 Viertes Buch SozialgesetzbuchSGB IV) – beispielsweise durch Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – eine Entscheidung zur Regelung eines Einzelfalls zu treffen. Die Verfügung ist insofern auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet, als der betroffenen Person im Wege der Auszahlung die positive Entscheidung über den Anspruch auf Krankengeld mitgeteilt wird, sofern nicht zuvor bereits eine förmliche Mitteilung hierüber erfolgt ist.

31

Mit der Auszahlung bzw. Überweisung des Krankengeldes an den Versicherten erfolgt eine ausreichende Bekanntgabe dieser Entscheidung (§ 37 SGB X). Der Verwaltungsakt wird somit auf andere Weise – durch konkludentes Handeln – erlassen (§ 33 Abs. 2 SGB X; BSG, Urteil vom 16.09.1986 – 3 RK 37/85 – Rn. 15).

32

1.2 Derartige Krankengeldauszahlungen sind entgegen der vom BSG erstmals im Urteil vom 16.09.1986 (3 RK 37/85) vertretenen Auffassung regelmäßig nicht als befristete oder „abschnittsweise“ Bewilligungsentscheidungen auszulegen (vgl. eingehend SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 37 ff.).

33

1.2.1 Nachdem die frühere Rechtsprechung des BSG noch davon ausging, dass die Auszahlung von Krankengeld als solche keinen Verwaltungsakt darstelle (vgl. BSG, Urteil vom 23.11.1966 – 3 KR 86/63 – Rn. 20 ff.), begann das BSG mit dem Urteil vom 16.09.1986, die Krankengeldauszahlung als konkludent verfügten, befristeten Bewilligungsverwaltungsakt auszulegen (BSG, Urteil vom 16.09.1986 – 3 RK 37/85 – Rn. 12 ff.). Hierbei wurde die eigentlich nur für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 Lohnfortzahlungsgesetz – LFZG – i.d.F. vom 27.07.1969; § 5 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz – EFZG –) erforderliche ärztliche Prognose der Dauer der Arbeitsunfähigkeit als wesentlicher Bezugspunkt für die Inhaltsbestimmung eines Verwaltungsaktes herangezogen. Das BSG hatte sich dabei an der Praxis der Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für einen bestimmten Zeitraum orientiert und war davon ausgegangen, dass Krankenkassen in der Regel Krankengeld für einen auf diese Weise bescheinigten Zeitraum zahlen und konkludent bewilligen (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1986 – 3 RK 37/85 – Rn. 18). Das BSG stützte die Interpretation, dass mit der Krankengeldauszahlung die Leistung konkludent nur für eine bestimmte Zeit bewilligt worden sein könnte, darauf, dass der Arzt den Versicherten regelmäßig nur für eine bestimmte Zeit arbeitsunfähig “schreibt“ (BSG, Urteil vom 16.09.1986 – 3 RK 37/85 – Rn. 18).

34

Ungeprüft blieb jedoch in dieser und allen späteren Entscheidung des BSG (BSG, Urteil vom 08.02.2000 – B 1 KR 11/99 R – Rn. 12; Urteil vom 13.07.2004 – B 1 KR 39/02 R – Rn. 15; Urteil vom 22.03.2005 – B 1 KR 22/04 R – Rn. 29; Urteil vom 10.05.2012 – B 1 KR 20/11 R – Rn. 13 f.; Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 31/13 R – Rn. 10; Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 35/14 R – Rn. 15 ff., hier insbesondere Rn. 24) die Frage, ob und unter welchen Maßgaben eine Krankenkasse überhaupt berechtigt wäre, die Gewährung von Krankengeld, auf das bei Vorliegen der Voraussetzungen ein Anspruch besteht (§ 38 Erstes Buch SozialgesetzbuchSGB I), mit einer Nebenbestimmung im Sinne einer Befristung zu verbinden (§ 32 Abs. 1 SGB X; darauf hinweisend schon SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 41). Vielmehr unterstellt das BSG, dass die Krankenkassen in der Regel Krankengeld für einen bestimmten (Abrechnungs-) Zeitraum gewähren(BSG, Urteil vom 16.09.1986 – 3 RK 37/85 – Rn. 16). Das BSG belegt diese These in tatsächlicher Hinsicht jedoch nicht. Angesichts der verbreiteten Krankenkassenpraxis, keine schriftlichen Verwaltungsakte zu erlassen, dürfte dies auch kaum möglich gewesen sein.

35

1.2.2 Wenn ein Versicherter bei der Krankenkasse Krankengeld beantragt hat, eine förmliche Entscheidung hierüber zwar nicht ergeht, er aber nach einiger Zeit eine erste Zahlung erhält, kann der Versicherte dem Handeln der Krankenkasse zunächst entnehmen, dass er tatsächlich einen bestimmten Betrag erhalten hat, möglicherweise anhand des Überweisungsträgers auch noch, für welchen Zeitraum die Zahlung erfolgt. Als zu Grunde liegende Entscheidung der Krankenkasse kann er dieser Auszahlung zugleich entnehmen, dass die Krankenkasse seinen Anspruch auf Krankengeld offenbar positiv verbeschieden hat. Hierin liegt die Bewilligung von Krankengeld (SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 43). Bei dem Krankengeld nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) handelt es sich materiell-rechtlich um eine in Zeiteinheiten bemessene Leistung (§ 47 Abs. 1 Satz 6 SGB V: „Das Krankengeld wird für Kalendertage gezahlt.“). Aus diesem Grund wäre ein Krankengeld bewilligender Verwaltungsakt nicht hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X, wenn der Umfang der zeitlichen Geltung unklar bliebe.

36

Um zu bestimmen, welchen Inhalt ein solcher durch schlüssiges Verhalten in Kraft gesetzter Verwaltungsakt hinsichtlich seiner zeitlichen Wirkung hat, muss zunächst untersucht werden, welche Möglichkeiten des Handelns der Behörde rechtlich und tatsächlich zur Verfügung stehen. Rein tatsächlich haben Krankenkassen verschiedene Möglichkeiten, über den Zeitraum der Gewährung von Krankengeld zu entscheiden. Die Krankenkasse kann

37

- Krankengeld ab einem bestimmten Zeitpunkt ohne zeitliche Einschränkung bewilligen (unbefristete Bewilligung),
- Krankengeld ab einem bestimmten Zeitpunkt bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft bewilligen (befristete Bewilligung) oder
- Krankengeld für einen abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit bewilligen (befristete oder endgültig abgeschlossene Bewilligung).

38

Die reine Auszahlung von Krankengeld für einen bestimmten Zeitraum, der entweder (beispielsweise im Überweisungsformular) ausdrücklich genannt wird oder sich aus dem überwiesenen Geldbetrag errechnen lässt, kann darüber hinaus entweder so ausgelegt werden, dass eine Leistungsbewilligung nur für einen bestimmten oder bestimmbaren Zeitraum erfolgen sollte, oder dass die Leistungsbewilligung ohne zeitliche Einschränkung erfolgen und auf dieser Bewilligungsentscheidung beruhend lediglich eine abschnittsweise Auszahlung erfolgen sollte.

39

Richtigerweise ist bei der Auslegung einer (nur) konkludenten Bewilligungsentscheidung davon auszugehen, dass die Behörde – sofern möglich – eine rechtlich zulässige Entscheidung getroffen hat, wenn sich nicht mit hinreichender Klarheit etwas Gegenteiliges ergibt. Eine Auslegung, die zu einem rechtlich unzulässigen Inhalt des Bewilligungsbescheides führt, ist im Zweifel, das heißt, wenn eine rechtmäßige Auslegungsalternative besteht, nicht die Richtige (BSG, Urteil vom 28.06.1990 – 4 RA 57/89 – Rn. 31).

40

a) Rechtlich zulässig ist ohne weiteres eine Entscheidung der Krankenkasse, Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung zu bewilligen, sofern alle Anspruchsvoraussetzungen im Entscheidungszeitpunkt gegeben sind. Eine solche Entscheidung entspricht der Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB V und enthält keine Nebenbestimmung, die den zusätzlichen Anforderungen des § 32 SGB X genügen müsste.

41

b) Regelmäßig rechtswidrig ist hingegen die Befristung der Krankengeldbewilligung im Sinne des § 32 Abs. 2 Nr. 1 SGB X bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft.

42

Die Befristung der Bewilligung von Krankengeld ist nach Maßgabe der anzuwendenden gesetzlichen Regelungen grundsätzlich nicht zulässig. Denn gemäß § 32 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn diese durch Rechtsvorschrift zugelassen ist, oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden. Die Gewährung von Krankengeld steht bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 44 ff. SGB V nicht im Ermessen der Krankenkasse, ist also eine gebundene Entscheidung im Sinne des § 38 SGB I. Eine der beiden Alternativen des § 32 Abs. 1 SGB X (Ermächtigung oder Sicherstellungsfunktion) müsste daher erfüllt sein, damit eine Nebenbestimmung zur Krankengeldbewilligung zulässig wäre. In den einschlägigen Vorschriften des SGB V findet sich, anders als in anderen Leistungsgesetzen, die laufende Geldleistungen vorsehen (vgl. etwa § 102 Abs. 2 bis 4 SGB VI, § 41 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II, § 44 Abs. 3 Satz 1 SGB XII), keine Rechtsvorschrift im Sinne des § 32 Abs. 1 1. Alt. SGB X, die eine Befristung zuließe. Die Vorschrift des § 48 Abs. 1 SGB V enthält keine gesetzlich vorgesehene Befristungsmöglichkeit im Sinne des § 32 Abs. 1 1. Alt. SGB X, sondern legt die materiell-rechtlich mögliche Leistungshöchstdauer fest. Ein bloßer Hinweis hierauf wäre daher ebenfalls keine Befristung der Leistung, sondern hätte lediglich deklaratorische Wirkung (so schon SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 44).

43

Ob anlässlich der Bewilligung von Krankengeld Nebenbestimmungen denkbar sind, die im Sinne des § 32 Abs. 1 2. Alt. SGB X sicherstellen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden, ist äußerst zweifelhaft. § 32 Abs. 1 2. Alt. SGB X räumt die Möglichkeit einer Nebenbestimmung ausdrücklich nur ein, wenn diese sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt „werden“, nicht jedoch zu dem Zweck, das Fortbestehen der gesetzlichen Voraussetzungen zu überprüfen (oder gar zu beseitigen, worauf das Konstrukt der „abschnittsweisen Bewilligung“ des 1. Senats des BSG hinausläuft). Im Fall einer Krankengeldbewilligung kann jedenfalls eine Befristung erkennbar nicht der Sicherstellung der gesetzlichen Voraussetzungen für den Krankengeldanspruch (in der Regel das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit) dienen. Ziel und Zweck der Befristung der Krankengeldbewilligung wäre wohl allein die Vermeidung des nach § 48 SGB X vorgesehenen Verfahrens zur Aufhebung der Bewilligungsentscheidung bei Änderung der Verhältnisse und der hiermit verbundenen Beschränkungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X bei rückwirkender Aufhebung. Eine Überprüfung hinsichtlich des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen und erforderlichenfalls eine Korrektur der Entscheidung ist jedoch auch in diesem gesetzlich vorgesehenen Verfahren möglich und muss daher nicht durch eine Befristung sichergestellt werden (so bereits SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 45 f.).

44

c) Eine Entscheidung der Krankenkasse, Krankengeld für einen abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit zu bewilligen, ist dann rechtmäßig, wenn die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Krankengeld zum Ende des Zeitraums nicht mehr vorgelegen haben. In einem solchen Fall handelt es sich bei der Festlegung des Bewilligungszeitraums um eine Inhaltsbestimmung der Hauptverfügung des Verwaltungsakts (zum Begriff vgl. Korte, NZS 2014, S. 857 f.), nicht um eine Nebenbestimmung, deren Rechtmäßigkeit an § 32 SGB X zu messen wäre.

45

Bewilligt die Krankenkasse hingegen Krankengeld für einen abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit, obwohl die Anspruchsvoraussetzungen über den Endzeitpunkt hinaus vorliegen, handelt sie rechtswidrig, unabhängig davon, ob auch hierin eine (unzulässige) Befristung im Sinne des § 32 Abs. 2 Nr. 1 SGB X gesehen werden kann. Denn sofern der gemäß § 19 Satz 1 SGB IV erforderliche Antrag des Versicherten nicht von vornherein auf eine zeitlich begrenzte Leistungsgewährung gerichtet ist, bedeutet die Bewilligung nur eines Teils der beantragten und zustehenden Leistung eine rechtswidrige Ablehnung des Leistungsantrags im Übrigen. Selbst wenn hiermit ausdrücklich oder nach dem Willen der Behörde nur eine vorläufige Begrenzung der Bewilligungsentscheidung vorgenommen werden soll, wäre eine solche Entscheidung rechtswidrig. Denn die Behörde hat gemäß § 8 SGB X das Verwaltungsverfahren grundsätzlich mit einem Verwaltungsakt abzuschließen und ist nicht dazu befugt, das Verfahren vorzeitig oder nur vorläufig zu beenden (vgl. Lang in: Diering/Timme/Waschull, SGB X, § 8 Rn. 18, 3. Auflage 2011). Relevante Umstände hat der Leistungsträger grundsätzlich abschließend festzustellen. Der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 Abs. 1, Abs. 2 SGB X) zwingt ihn zur vollständigen und abschließenden Sachverhaltsermittlung einschließlich Beweiserhebung und -würdigung (Korte, NZS 2014, S. 856). Wenn die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Krankengeld zum Entscheidungszeitpunkt noch vorliegen, ist die Krankenkasse demnach dazu verpflichtet, Krankengeld unbefristet zu bewilligen.

46

Wenn die Krankenkasse bei der rückwirkenden Bewilligungsentscheidung bis zu einem bestimmten Tag in der Vergangenheit unzutreffend davon ausgeht, dass die Anspruchsvoraussetzungen über diesen Endzeitpunkt hinaus nicht mehr vorliegen, handelt es sich ebenfalls um eine rechtswidrige Ablehnungsentscheidung im Übrigen.

47

d) Vor diesem Hintergrund ist entgegen der Rechtsauffassung des BSG grundsätzlich davon auszugehen, dass mit der Auszahlung eines Krankengeldbetrages ohne vorherige förmliche Bescheidung eine unbefristete Bewilligung von Krankengeld bekanntgegeben wird, weil diese bei Fortbestehen der Anspruchsvoraussetzungen regelmäßig die einzige rechtmäßige Entscheidungsmöglichkeit der Krankenkasse darstellt.

48

Gegen die Unterstellung befristeter Krankengeldbewilligungen spricht zudem, dass Nebenbestimmungen wie eine Befristung oder eine auflösende Bedingung wegen der rechtlichen Konsequenz einer Beendigung der Wirksamkeit durch Erledigung des Verwaltungsaktes – ohne klarstellenden „actus contrarius“ – so bestimmt wie möglich, verständlich und widerspruchsfrei verfügt sein müssten (vgl. Korte, NZS 2014, S. 853; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 32 Rn. 13 m.w.N.), bei einer gebundenen Entscheidung nur ausnahmsweise zulässig sind und ihrerseits eine Ermessensbetätigung der Behörde erfordern (SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 43).

49

1.3 Im vorliegenden Fall erfolgte keine „abschnittsweise“ bzw. befristete Krankengeldbewilligung. Die Bewilligung von Krankengeld nur für einen bestimmten Zeitabschnitt könnte im Einzelfall nur angenommen werden, wenn in der konkreten Bewilligungsentscheidung eine entsprechende Befristung der Leistung auch tatsächlich – zwar rechtswidrig, aber wirksam und ggf. bestandskräftig – erfolgt wäre.

50

Vorliegend fehlt es an einer solchen Entscheidung.Das Schreiben vom 14.04.2014 und ebenso die im Wesentlichen gleichlautenden Mitteilungen der Beklagten in der Folgezeit enthalten eine derartige Befristung nicht. Ein Verfügungssatz über die Bewilligung von Krankengeld ist in den Schreiben nicht enthalten. Es wird lediglich mitgeteilt, dass Krankengeld für einen bestimmten Zeitraum ausgezahlt wurde. Für den Empfänger eines solchen Schreibens ist anhand der verwendeten Formulierung nicht erkennbar, dass hiermit eine Befristung der (konkludenten) Krankengeldbewilligung erfolgt sein könnte (vgl. SG Mainz, Urteil vom 21.03.2016 – S 3 KR 255/14 – Rn. 71).

51

Demnach ist im vorliegenden Fall von einer konkludenten, unbefristeten Bewilligung von Krankengeld durch Auszahlung der Leistung auszugehen, die die Gewährung von Krankengeld für die Folgezeit bis auf weiteres beinhaltet. Diese Bewilligungsentscheidung ist bestandskräftig geworden und daher zwischen den Beteiligten bindend (§ 77 SGG).

52

2. Diese konkludent verfügte Krankengeldbewilligung ist durch den Bescheid vom 19.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2015 nicht rechtmäßig aufgehoben worden.

53

Der angefochtene Bescheid vom 19.03.2015 lässt sich als Aufhebungsverfügung gegenüber der konkludenten Bewilligungsentscheidung interpretieren. Obwohl die Beklagte unzutreffend davon ausging, dass es einer Aufhebungsentscheidung vorliegend nicht bedurfte, hat sie insbesondere mit den Formulierungen: „Dies hat zur Folge, dass Ihr Anspruch auf Krankengeld nach § 46 SGB V und Ihre Mitgliedschaft nach § 192 SGB V zum 13.03.2015 geendet haben“ und „Aus diesen Gründen kann die Krankengeldzahlung bis 13.03.2015 erfolgen“ hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass an der Krankengeldbewilligung ab dem 14.03.2015 nicht mehr festgehalten wird. Der Verwaltungsakt ist in diesem Sinne hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 SGB X).

54

Die Aufhebungsentscheidung ist allerdings rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligungsentscheidung sowohl für die Zukunft (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X) als auch für die Vergangenheit (§ 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X) nicht vorlagen. Offenbleiben kann vor diesem Hintergrund, ob die vor Erlass des Bescheids unterbliebene Anhörung nach § 24 Abs. 1 SGB X im Rahmen des Widerspruchsverfahrens nachgeholt und der Verfahrensfehler somit nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt wurde.

55

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (2.1) mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung (2.2) eintritt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

56

1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich
oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (2.3).

57

2.1 Bei der unbefristeten Bewilligung von Krankengeld handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X (vgl. zuletzt SG Speyer, Urteil vom 11.07.2016 – S 19 KR 369/14 – Rn. 27 f.).

58

Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn der Verwaltungsakt in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe bzw. Bindungswirkung hinaus Wirkungen erzeugt, das heißt, wenn er nicht nur ein einmaliges Ge- oder Verbot oder eine einmalige Gestaltung der Rechtslage regelt, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert (Brandenburg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 48 SGB X, Rn. 51; BSG, Urteil vom 16.02.1984 – 1 RA 15/83 – Rn. 23).

59

Im Falle der unbefristeten Bewilligung von Krankengeld erstreckt sich die Regelungswirkung des Verwaltungsakts über den Zeitpunkt der Bekanntgabe hinaus, weil der Begünstigte auf Grundlage der Bewilligungsentscheidung weitere Zahlungen von der Krankenkasse verlangen kann, solange der Verwaltungsakt wirksam ist.

60

2.2 Die Voraussetzungen für eine (rückwirkende) Aufhebung der Bewilligungsentscheidung sind vorliegend bereits deshalb nicht erfüllt, weil eine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage zum 14.03.2015 bzw. zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Aufhebungsverfügung nicht nachgewiesen werden kann. Wesentlich im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind alle Änderungen, die dazu führen, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den Verwaltungsakt nicht hätte erlassen dürfen (BSG, Urteil vom 06.11.1985 – 10 RKg 3/84 – Rn. 11). Maßgeblicher Vergleichszeitpunkt im Hinblick auf den Eintritt der Änderung ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Ausgangsverwaltungsaktes (vgl. Brandenburg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 48 SGB X, Rn. 65), hier also der Zeitpunkt der Entgegennahme der ersten Krankengeldüberweisung.

61

Soweit die Beklagte die Bewilligungsentscheidung rückwirkend zum 14.03.2015 aufgehoben hat, müsste eine solche Änderung spätestens zu diesem Datum eingetreten sein. Im Hinblick auf die Aufhebungswirkung für die Zukunft müsste die Änderung spätestens zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids vom 19.03.2015 (ausweislich des Widerspruchsschreibens spätestens am 24.03.2015) eingetreten sein.

62

Eine solche Änderung in den Verhältnissen konnte im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen werden. Der Kläger hatte über den 13.03.2015 hinaus und bis zum Ablauf der von der Beklagten mitgeteilten Anspruchshöchstdauer am 22.06.2015 aller Wahrscheinlichkeit nach auch materiell-rechtlich einen Anspruch auf Krankengeld, so dass die Beklagte ab dem 14.03.2015 weiterhin unbefristet (§ 32 Abs. 1 SGB X) Krankengeld hätte bewilligen müssen.

63

Der Kläger war über den 13.03.2015 hinaus im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB V versichert (2.2.1), er war aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin arbeitsunfähig (2.2.2) und er gehörte nach wie vor nicht zu den in § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten ausgeschlossenen Versichertengruppen. Die „Lücke“ zwischen den Auszahlscheinen des Dr. G vom 17.02.2015 (voraussichtliche Arbeitsunfähigkeitsdauer bis zum 13.03.2015) und vom 18.03.2015 (voraussichtliche Arbeitsunfähigkeitsdauer bis zum 15.04.2015) hat keine Auswirkungen auf den materiellen Krankengeldanspruch und stellt deshalb keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen dar (2.2.3). Eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen würde es auch nicht darstellen, wenn der Kläger die Arbeitsunfähigkeit nach dem 13.03.2015 nicht erneut gemeldet hätte (2.2.4). Auch im anschließenden Arbeitslosengeldbezug ab dem 16.04.2015 liegt keine wesentliche Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen (2.2.5).

64

2.2.1 Der Kläger war über den 13.03.2015 hinaus mit Anspruch auf Krankengeld bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Die Versicherungspflicht ergibt sich aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, da der Kläger bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit gegen Arbeitsentgelt beschäftigt war. Nach dem Ende der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber blieb dieses Versicherungsverhältnis auf Grund des tatsächlichen Bezuges von Krankengeld bzw. durch den Anspruch auf Krankengeld gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V auch in der hier streitigen Zeit erhalten.

65

Die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V ist zugleich Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Krankengeldanspruchs und Rechtsfolge des Krankengeldanspruchs bzw. des tatsächlichen Krankengeldbezugs. Für die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Krankengeld reicht es demnach aus, wenn der Versicherte zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs versicherungspflichtig ist, ohne nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB V vom Krankengeldanspruch ausgeschlossen zu sein. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Krankengeldanspruchs am 21.02.2014, dem Tag nach der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (§ 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F.), war der Kläger gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V versichert.

66

Diesbezüglich hat sich zum 14.03.2015 keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen ergeben, da von einem Fortbestehen des materiellen Anspruchs auf Krankengeld über diesen Zeitpunkt hinaus auszugehen ist (siehe sogleich).

67

2.2.2 Es ist davon auszugehen, dass der Kläger über den 13.03.2015 hinaus arbeitsunfähig in Folge von Krankheit war.

68

Der Maßstab für die Arbeitsunfähigkeit richtet sich nach dem Umfang des Versicherungsschutzes im jeweils konkret bestehenden Versicherungsverhältnis. Arbeitsunfähigkeit ist gegeben, wenn der Versicherte seine zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalls konkret ausgeübte Arbeit wegen Krankheit nicht (weiter) verrichten kann (vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2000 – B 1 KR 11/99 R). Bei Verlust des Arbeitsplatzes nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit ist Maßstab für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit abstrakt die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung (BSG, Urteil vom 14.02.2001 – B 1 KR 30/00 R – Rn. 13 f.).

69

Die Kammer konnte sich keine Überzeugung dahingehend bilden, dass der Kläger am für die rückwirkende Aufhebungsentscheidung maßgeblichen Zeitpunkt, dem 14.03.2015, sowie im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vom 14.03.2015 bis zum 22.06.2015, wieder dazu in der Lage war, die zuvor von ihm ausgeübte Hausmeistertätigkeit wieder aufzunehmen. Dagegen sprechen die vorliegenden medizinischen Befunde, die für den hier streitgegenständlichen Zeitraum keinerlei Hinweis für eine Verbesserung des Gesundheitszustands des Klägers enthalten. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Erkrankungen des Klägers ausweislich der von Dr. G ausgestellten Auszahlscheine über den 13.03.2015 hinaus unverändert fortbestanden haben. Auch der Gutachter der Bundesagentur für Arbeit Dr. T kommt im Gutachten vom 02.07.2015 noch zu dem Ergebnis, dass der Kläger seine vormalige Tätigkeit als Hausmeister noch nicht wieder hätte ausüben können. Das Auftreten der so genannten „Bescheinigungslücke“ vom 14.03.2015 bis zum 17.03.2015 hatte seine Ursache erkennbar nicht darin, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers in dieser Zeit zum Besseren verändert hätte. Nach den Angaben des Klägers bestand der Grund hierfür im Gegenteil in einer vorübergehenden Verschlechterung des Gesundheitszustands in Folge einer Durchfallerkrankung.

70

Für eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse gegenüber dem vorherigen Gesundheitszustand des Klägers zum 14.03.2015 findet sich letztlich kein Anhaltspunkt. Die objektive Beweislast für eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse trifft im Rahmen des § 48 Abs. 1 SGB X die Behörde, vorliegend also die Beklagte. Demzufolge ist hier von einem Fortbestehen des die Arbeitsunfähigkeit bedingenden Gesundheitszustands des Klägers über den 13.03.2015 und über den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Aufhebungsentscheidung vom 19.03.2015 spätestens am 24.03.2015 hinaus auszugehen.

71

2.2.3 Eine wesentliche Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen stellt es auch nicht dar, wenn zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bzw. Auszahlscheine nicht „lückenlos“ bzw. sogar überlappend aufeinander folgen (in dem Sinne, dass die zweite Bescheinigung nicht spätestens an dem Tag ausgestellt wird, bis zu dem nach der vorangegangenen Bescheinigung die Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich andauern sollte), wie dies vorliegend hinsichtlich der Auszahlscheine des Dr. G vom 17.02.2015 (voraussichtliche Arbeitsunfähigkeitsdauer bis zum 13.03.2015) und vom 18.03.2015 (voraussichtliche Arbeitsunfähigkeitsdauer bis zum 15.04.2015) der Fall war.

72

a) Hinsichtlich der rechtlichen Bedeutung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Anspruch auf Krankengeld nach § 44 Abs. 1 1. Alt. SGB V sind folgende Unterscheidungen zu beachten:

73

aa) Arbeitsunfähigkeit in Folge Krankheit ist in allen Fällen des § 44 Abs. 1 1. Alt. SGB V Voraussetzung für den Anspruch auf Krankengeld. Die Arbeitsunfähigkeit muss im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren über die Bewilligung von Krankengeld objektiv nachgewiesen werden. Hierzu kann jedes geeignete Beweismittel herangezogen werden (§ 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X; §§ 103, 106, 118 SGG). Arbeitsunfähigkeit ist ein körperlicher, geistiger oder seelischer Zustand, der unabhängig von seiner Dokumentation besteht.

74

bb) Vom objektiven Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit ist die ärztliche Feststellung als Entstehungsvoraussetzung für den Krankengeldanspruch zu unterscheiden. Nur in den Fällen des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V (Krankengeldanspruch wegen Arbeitsunfähigkeit, sofern nicht Versicherte nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V, nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz – KSVG – und nach § 44 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V betroffen sind) ist für die Entstehung des Anspruchs eine einmalige ärztliche Feststellung erforderlich. Im Übrigen genügt für die Entstehung des Anspruchs der tatsächliche Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (§ 47b Abs. 1 Satz 2 SGB V), der Beginn einer stationären Behandlung (§ 46 Satz 1 Nr. 1 SGB V) oder der Ablauf einer Karenzzeit gerechnet vom tatsächlichen Beginn der Arbeitsunfähigkeit an (§ 46 Satz 3 SGB V n.F.). Die ärztliche Feststellung in diesem Sinne ist die Schlussfolgerung aus einer persönlichen ärztlichen Untersuchung, also der aus der Wahrnehmung des tatsächlichen Zustands des Patienten durch den Arzt gezogene Schluss auf die Arbeitsunfähigkeit (SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 38). Diese Schlussfolgerung ist eine kognitive Leistung, die ebenso wie die Arbeitsunfähigkeit unabhängig von ihrer Dokumentation ist. Für die Entstehung eines Krankengeldanspruchs muss die ärztliche Feststellung und ihr Zeitpunkt daher nicht schriftlich oder auf andere Weise dokumentiert werden. Die ärztliche Feststellung in diesem Sinne ist daher nicht mit der hierüber ausgestellten Bescheinigung, etwa der „Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ oder dem Auszahlschein gleichzusetzen (zur notwendigen Differenzierung vgl. auch BSG, Urteil vom 10.05.2012 – B 1 KR 19/11 R – Rn. 26). Ob ein Arzt Arbeitsunfähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt festgestellt hat, kann erforderlichenfalls auch noch im Rahmen der gerichtlichen Beweiserhebung durch eine Befragung des Arztes ermittelt werden (SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 39; anders offenbar das LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21.04.2016 – L 5 KR 217/15 – Rn. 14 und Beschluss vom 02.05.2016 – L 5 KR 64/16 B ER – nicht veröffentlicht –; ähnlich bereits LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.10.2014 – L 5 KR 157/14 – Rn. 16, das eine Dokumentation der ärztlichen Feststellung nach außen verlangt, allerdings ohne zu klären, gegenüber wem und in welcher Form die Dokumentation erfolgen muss und ohne Nennung einer Rechtsgrundlage; kritisch hierzu bereits SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 160/15 – Rn. 71).

75

cc) Von der tatsächlichen ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ist die Prognose des Arztes über deren voraussichtliche Dauer zu unterscheiden (anders LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.10.2014 – L 5 KR 30/14 – nicht veröffentlicht, unter Berufung auf Brandts in: KassKomm/ SGB V § 46 Rn. 12: Feststellung der AU für die Zukunft sei stets eine ärztliche Prognose; vgl. auch die insofern paradoxe Formulierung des BSG im Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 25/14 R – Rn. 13: der Arzt habe sich „Gewissheit“ zu verschaffen, (…) wie lange die AU „voraussichtlich“ noch andauern wird; vgl. SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 41). Die Angabe eines Arztes in einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, der Patient sei voraussichtlich bis zu einem bestimmten Datum arbeitsunfähig, ist keine „Feststellung“ im Sinne des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V. Im Regelfall dürfte ein Arzt nicht in der Lage sein „festzustellen“, bis wann eine Arbeitsunfähigkeit dauern wird. Er kann nur feststellen, dass sie im Zeitpunkt der Untersuchung besteht. Die Angabe einer voraussichtlichen Dauer ist lediglich eine Prognose im Sinne einer ärztlichen Vorhersage des vermuteten Krankheitsverlaufs. Anders als in § 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist für einen Anspruch auf Krankengeld nach den Vorschriften des SGB V eine Bescheinigung über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit im Sinne einer ärztlichen Prognose nicht erforderlich (SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 41).

76

dd) Von der ärztlichen Feststellung als solcher zu unterscheiden ist die in der Praxis übliche Dokumentation der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, des Vorliegens von Arbeitsunfähigkeit und ihrer voraussichtlichen Dauer auf formularmäßigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Dass diese meistens verwendet werden, ist lediglich eine tatsächliche Nebenfolge der Vorschriften zum arbeitsrechtlichen Entgeltfortzahlungsanspruch. Soweit an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 SGB V zur Ausstellung von Bescheinigungen über die Arbeitsunfähigkeit verpflichtet sind und dies auch in den Regelungen der §§ 74, 275 Abs. 1a Satz 1, 277 Abs. 2 Satz 1, § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V Niederschlag findet, hat dies keine Auswirkungen auf den Begriff der ärztlichen Feststellung im Sinne des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V. Diese Regelungen gehören nicht zur für den Anspruch auf Krankengeld einschlägigen Normtextmenge, da sie nicht die Rechtsposition des Versicherten gegen die Krankenkasse betreffen. Dasselbe gilt für die Vorschrift des § 275 Abs. 1a Satz 2 SGB V, wonach eine Prüfung durch den MDK unverzüglich „nach Vorlage der ärztlichen Feststellung über die Arbeitsunfähigkeit“ zu erfolgen hat. Die Verkörperung der ärztlichen Feststellung wird hier zwar semantisch vorausgesetzt, da nur ein körperlicher Gegenstand „vorgelegt“ werden kann, jedoch nicht als Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Krankengeld normiert (SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 59). Entsprechendes gilt für die von den Krankenkassen und Ärzten regelmäßig verwendeten Auszahlscheine, die zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit und zur Abwicklung der Leistungsfälle dienen, deren Vorliegen aber gleichfalls keine Anspruchsvoraussetzung darstellt.

77

ee) Von der ärztlichen Feststellung und den verschiedenen Bescheinigungsformen ist wiederum die Meldung der Arbeitsunfähigkeit (§ 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V) zu unterscheiden. Die Meldung der Arbeitsunfähigkeit ist eine Tatsachenmitteilung, die der Krankenkasse zugehen muss. Hierfür ist weder eine bestimmte Form vorgeschrieben, noch muss die Meldung durch eine bestimmte Person erfolgen (so bereits BSG, Urteil vom 12.11.1985 – 3 RK 35/84 – Rn. 12 bezüglich der Vorgängerregelung des § 216 Abs. 3 RVO). Erforderlich ist lediglich, dass die Identität des Versicherten erkennbar ist und die Arbeitsunfähigkeit dieses Versicherten behauptet wird. Nicht erforderlich ist ein Hinweis auf die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (a. A. BSG, Urteil vom 12.11.1985 – 3 RK 35/84 – Rn. 12). Diese stellt lediglich eine Tatbestandsvoraussetzung für den Anspruch auf Krankengeld dar, deren Vorliegen von der Krankenkasse nach Antragstellung von Amts wegen zu ermitteln ist (SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 172). Das Fehlen der Meldung führt nach näherer Maßgabe des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zum Ruhen des Anspruchs, so dass die Meldung eine Anspruchsvoraussetzung lediglich für die Zahlung von Krankengeld ist. In der Meldung der Arbeitsunfähigkeit durch den Versicherten gegenüber der Krankenkasse ist regelmäßig auch der erforderliche Antrag auf Krankengeld (§ 19 Satz 1 SGB IV) zu sehen. Eine rückwirkende Antragstellung ist möglich.

78

b) In § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V wird neben dem Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit (§ 44 Abs. 1 1. Alt. SGB V) für die Entstehung des Anspruchs zusätzlich eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit vorausgesetzt. Zudem war in § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V in der vorliegend noch maßgeblichen, bis zum 22.07.2015 gültigen Fassung ein so genannter „Karenztag“ normiert. In den von der Norm erfassten Fällen entsteht der Anspruch daher erst einen Tag nach der ärztlichen Feststellung.

79

Der materielle Anspruch des Klägers auf Krankengeld ist somit am Tag nach der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit am 20.02.2014 entstanden und hätte erst mit Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit oder mit Eintritt eines anderen Ausschlussgrundes geendet (vgl. zur Fortdauer des Krankengeldanspruchs insgesamt SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 37 ff.; SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 –Rn. 61 ff. und sogleich). Letztendlich endete der materiell-rechtliche Anspruch des Klägers auf Krankengeld spätestens mit dem Ablauf der Anspruchshöchstdauer nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB V am 22.06.2015.

80

Insofern hat sich weder zum 14.03.2015 noch bis zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 19.03.2015 eine Änderung in den Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ergeben.

81

c) Für die Aufrechterhaltung des materiellen Krankengeldanspruchs bis zum Ende der Anspruchshöchstdauer (§ 48 Abs. 1 SGB V) oder bis zum Ausschluss (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB V) bzw. Wegfall (§ 51 Abs. 3 Satz 1 SGB V) des Anspruchs genügt es im Übrigen auch in den Fällen des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V (alte oder neue Fassung), dass die Arbeitsunfähigkeit tatsächlich seit Entstehung des Anspruchs fortbesteht.

82

§ 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V regelt nur den Beginn des Krankengeldanspruchs (so bereits LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 02.11.1999 – L 4 KR 10/98 – Rn. 27; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.08.2002 – L 4 KR 144/00 – Rn. 36). Wenn auf dem Formular, auf dem die ärztliche Feststellung dokumentiert ist, zugleich eine Prognose für ein voraussichtliches Ende der Arbeitsunfähigkeit getroffen wird, folgt hieraus – entgegen der Auffassung des 1. Senats des BSG (zuletzt mit Urteilen vom 16.12.2014 – B 1 KR 31/14 R; B 1 KR 35/14 R; B 1 KR 37/14 R) und des 5. Senats des LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.10.2014 – L 5 KR 157/14 – Rn. 15; Urteil vom 21.04.2016 – L 5 KR 217/15 – Rn. 13; Urteil vom 04.02.2016 – L 5 KR 65/15 – Rn. 21; so auch die nicht veröffentlichten Urteile und Beschlüsse vom 09.01.2014 – L 5 KR 108/13 –, vom 20.03.2014 – L 5 KR 214/13 –, vom 30.04.2014 – L 5 KR 201/13 –, vom 02.10.2014 – L 5 KR 30/14 –, vom 06.11.2014 – L 5 KR 83/14 –, vom 20.11.2014 – L 5 KR 149/13 –, vom 04.12.2014 – L 5 KR 105/14 –, vom 18.06.2015 – L 5 KR 230/14 –, vom 02.07.2015 – L 5 KR 165/14 –, vom 05.11.2015 – L 5 KR 74/15 und L 5 KR 98/15 –, vom 19.11.2015 – L 5 KR 221/14 –, vom 18.02.2016 – L 5 KR 180/15 –, vom 17.03.2016 – L 5 KR 167/15 –, vom 02.06.2016 – L 5 KR 207/15 –, vom 07.07.2016 – L 5 KR 179/15 –, vom 09.09.2014 – L 5 KR 158/14 B ER –, vom 01.10.2014 – L 5 KR 192/14 B ER –, vom 02.05.2016 – L 5 KR 64/16 B ER –, vom 07.05.2015 – L 5 KR 50/15 B ER – und vom 06.07.2016 – L 5 KR 144/16 B ER) – keine zeitliche Begrenzung des Krankengeldanspruchs (SG Trier, Urteil vom 24.04.2013 – S 5 KR 77/12 – Rn. 21 ff.; SG Mainz, Urteil vom 24.09.2013 – S 17 KR 247/12 – Rn. 32 ff., SG Speyer, Urteile vom 22.11.2013 – S 19 KR 600/11 – Rn. 39 ff. und vom 07.04.2014 – S 19 KR 10/13 – Rn. 43 ff.; SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 – S 3 KR 298/12 – Rn. 48 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 17.07.2014 – L 16 KR 146/14 – Rn. 22 ff., L 16 KR 429/13 – Rn. 26 ff., L 16 KR 160/13 – Rn. 25 ff., L 16 KR 208/13 – Rn. 24 ff.; SG Speyer, Beschlüsse vom 08.09.2014 – S 19 KR 519/14 ER – Rn. 31 ff. und vom 03.03.2015 – S 19 KR 10/15 ER – Rn. 33 ff.; SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 41 ff.; SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 61 ff.; SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 409/14 – Rn. 56 ff.;SG Mainz, Urteil vom 21.03.2016 – S 3 KR 255/14 – Rn. 88 ff.; Knispel, NZS 2014, S. 561 ff.; Schröder, ASR 2015, S. 160 f.).

83

Dies folgt zwingend aus einer semantischen Auslegung des Gesetzestextes unter Berücksichtigung der auf dem Gesetzesbindungsgebot beruhenden Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts.

84

§ 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V in der bis zum 22.07.2015 gültigen Fassung lautet:

85

"Der Anspruch auf Krankengeld entsteht (…) im übrigen von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt."

86

Demzufolge markiert der Tag der ärztlichen Feststellung – abgesehen von den Fällen des § 47b Abs. 1 Satz 2 SGB V, des § 46 Satz 1 Nr. 1 SGB V und des § 46 Satz 3 SGB V n.F. – den Entstehungszeitpunkt des Krankengeldanspruchs für den folgenden Tag. Ab dem Folgetag besteht ein Anspruch auf Krankengeld, soweit und solange die sonstigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind. Maßgeblich für die Entstehung des Krankengeldanspruchs ist (bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen) mithin nur, dass am Vortag ein Arzt die Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat. Nicht relevant ist, welche Angaben der Arzt hinsichtlich einer möglichen Dauer oder ggf. im Hinblick auf einen früheren Beginn der Arbeitsunfähigkeit gemacht hat. Über das Ende des Krankengeldanspruchs enthält § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. keine Aussage. In § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. ist auch nicht von mehreren „Arbeitsunfähigkeiten“ oder „Feststellungen von Arbeitsunfähigkeit“ die Rede; die Begriffe werden im Singular verwendet. Stattdessen ist in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB V ausdrücklich geregelt, dass Versicherte Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung erhalten, für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit jedoch für längstens 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren, gerechnet vom Tage des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an.

87

Aus § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. geht des Weiteren nicht hervor, dass sich die „ärztliche Feststellung“ auf einen bestimmten Zeitraum beziehen kann oder muss. Dass der Vertragsarzt eine Prognose über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit abzugeben hat, ergibt sich lediglich aus der auf Grund von § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) erlassenen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-Richtlinie) sowie im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG (vgl. SG Speyer, Urteil vom 22.11.2013 – S 19 KR 600/11 – Rn. 37). In § 1 Abs. 1 der AU-Richtlinie wird terminologisch zwischen der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und der Bescheinigung über ihre voraussichtliche Dauer differenziert. Diese Differenzierung steht im Einklang mit der gesetzlichen Regelung des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. und entspricht der Sachlogik. Ein Arzt kann zu einem bestimmten Zeitpunkt feststellen, dass Arbeitsunfähigkeit vorliegt; im Hinblick auf die Zukunft kann er anhand eines gegenwärtigen Zustands nur Aussagen über die Wahrscheinlichkeit treffen, dass noch Arbeitsunfähigkeit vorliegen wird, d.h. eine Prognose abgeben. Ob eine Prognose sich als zutreffend erweist, kann nur im Nachhinein festgestellt werden.

88

Es ist begrifflich mithin streng zu unterscheiden zwischen der von § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. geforderten „ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit“, der nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geforderten Prognose der Dauer der Arbeitsunfähigkeit und einer ärztlichen Bescheinigung sowohl über das Datum der Feststellung als auch über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit (s.o. unter 2.2.3 a). Dass ein Vertragsarzt gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 SGB V dazu verpflichtet ist, eine Bescheinigung über die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit auszustellen, berührt die Entstehung des Krankengeldanspruchs nach § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. nicht. Die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ist nicht mit der hierüber ausgestellten Bescheinigung (Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder Auszahlschein) gleichzusetzen (SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 39). Eine ärztliche Bescheinigung ist – anders als beim Anspruch auf Entgeltfortzahlung gegen den Arbeitgeber (§ 5 Abs. 1 EFZG) – demnach weder eine Voraussetzung für die Entstehung noch für den Fortbestand des Anspruchs auf Krankengeld nach dem SGB V. Demzufolge ist auch die auf den formularmäßigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgesehene Abgabe einer Prognose über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit für den Anspruch auf Krankengeld nach dem SGB V gänzlich irrelevant (vgl. ausführlich SG Speyer, Urteil vom 22.05.2015 – S 19 KR 959/13 – Rn. 41 m.w.N.).

89

Aus dem Wortlaut des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. ergibt sich somit ausschließlich eine Regelung für den Entstehungszeitpunkt des Krankengeldanspruchs, nicht für dessen zeitliche Begrenzung. Weitere materielle Wirkungen der ärztlichen Feststellung lassen sich anhand des Gesetzes nicht begründen.

90

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 310, zum Ganzen Rn. 304 ff., 10. Auflage 2009). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Deshalb verstößt das BSG gegen Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG, wenn es seine Rechtsauffassung auf eine „ergänzende Auslegung des Gesetzes“ stützt (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 37/14 R – Rn. 15) und postuliert, dass „das SGB V die Tatbestände der Beendigung eines Krg-Anspruchs nicht ausdrücklich vollständig in allen denkmöglichen Verästelungen“ regle und diese „geringere Normdichte (…) ihren sachlichen Grund in der Vielgestaltigkeit der Möglichkeiten der Beendigung“ habe (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 37/14 R – Rn. 13).

91

Aus den gleichen Gründen scheitert auch Dreher (jurisPR-SozR 3/2015 Anm. 2 zum Urteil des BSG vom 04.03.2014 – B 1 KR 17/13 R) mit dem Versuch, für die Rechtsauffassung des BSG eine kohärente Begründung zu entwickeln. Er räumt zunächst ein, dass der Gesetzeswortlaut das Erfordernis einer ärztlichen Feststellung auf den Fall der Entstehung des Krankengeldanspruchs beschränkt und § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. zum Anspruchsende oder -wegfall keine eigene Aussage trifft. Dennoch vertritt er die Auffassung, dass der Krankengeldanspruch von vornherein – gegen den Wortlaut des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB V – zeitlich begrenzt entstehe, wenn und soweit das ihn begründende „Beweissicherungsverfahren“ (gemeint ist der in § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F. vorausgesetzte „Gang zum Arzt“) nur eine zeitlich begrenzte Aussage ermögliche. Damit werde nicht die Entscheidungsbefugnis über den Anspruch auf den Arzt übertragen, sondern lediglich die Beweissicherung „dem Gesetzeswortlaut entsprechend“ in vollem Umfang dem Versicherten überantwortet. Die nach und nach entstehenden zeitlich begrenzten Ansprüche seien als Teile eines einheitlichen, aber „gestückelten“ Anspruchs aufzufassen.

92

Für diese Theorie fehlt es an jeglichem Anhaltspunkt im Gesetzestext des SGB V. Zeitliche Beschränkungen des Krankengeldanspruchs ergeben sich ausschließlich aus § 48 SGB V. Soweit Dreher meint, diese Einschränkung mittels einer Auslegung des Begriffs des „Entstehens“ begründen zu können, ist dies abwegig. Das Wort „entstehen“ hat in keiner denkbaren Verwendungsweise die Bedeutung von „Begrenzung“, „Untergang“ oder „Wegfall“. Es bedeutet schlicht das Gegenteil. Dass die Beweissicherung „dem Gesetzeswortlaut entsprechend“ dem Versicherten überantwortet werde, ist daher eine unsinnige Behauptung, die deshalb auch ohne Bezugnahme auf einen konkreten Gesetzeswortlaut auskommen muss.

93

Ebenso haltlos ist die nicht weiter begründete These des LSG Rheinland-Pfalz im Urteil vom 02.10.2014 (L 5 KR 30/14 – nicht veröffentlicht), es sei mit dem Wortlaut des Gesetzes ohne weiteres vereinbar, dass nicht nur die Entstehung, sondern auch der Fortbestand des Anspruchs auf Krankengeld von der vorherigen ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit abhängig sei. Gerade hierfür gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt im Gesetzeswortlaut des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a.F.

94

Soweit das BSG sogar meint, der Gesetzeswortlaut des § 46 SGB V (a.F.) trage die Auffassung nicht, dass die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur für die Entstehung des Krankengeldanspruchs Bedeutung habe (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 37/14 R – Rn. 13), trifft dies offensichtlich nicht zu. Diese für jedermann erkennbar falsche Behauptung ist umso erstaunlicher, als eine unbefangene Gesetzeslektüre genügt, um sie zu widerlegen. Die entsprechende Vorschrift regelt ausdrücklich nichts anderes, als die Entstehung des Anspruchs.

95

Die Annahme, dass das Fortbestehen eines Krankengeldanspruchs nach Ablauf eines „Bewilligungsabschnitts“ oder nach Ablauf des auf einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angegebenen voraussichtlichen Enddatums einer erneuten ärztlichen Feststellung spätestens am letzten Tag vor Ablauf bedürfe, verstößt gegen das Gesetzesbindungsgebot und ist deshalb unter Geltung des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V sowohl in der bis zum 22.07.2015 geltenden als auch in der neuen Fassung keine rechtswissenschaftlich vertretbare Position.

96

Darüber hinaus wird die hier vertretene Auffassung gestützt durch die Gesetzessystematik (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 75 ff.) und durch den Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 81 ff.). Sie wird zudem bestätigt durch die historische Entwicklung des Gesetzes (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 86 ff.) und die Gesetzesbegründung (vgl. SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 90 ff.). Auf hiervon unabhängige Erwägungen zu „Sinn und Zweck“ der Regelung kommt es daher nicht an, wobei auch anhand dieses Maßstabs keine Argumente für die Auffassung des 1. Senats des BSG sprechen (vgl. SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 94 ff.). Letztere resultiert aus einer fehlerbehafteten Entwicklung der Rechtsdogmatik und führt zu abwegigen Ergebnissen (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 98 ff.). Durch die Neuregelung des § 46 Satz 2 SGB V mit dem Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) mit Wirkung zum 23.07.2015 hat sich diesbezüglich weder für die Zukunft noch für die Vergangenheit Wesentliches geändert (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 – Rn. 153 ff.;SG Speyer, Urteil vom 30.11.2015 – S 19 KR 409/14 – Rn. 75 ff.).

97

2.2.4 Die Arbeitsunfähigkeit wurde der Beklagten fristgerecht gemeldet, sodass der Anspruch seit dem 14.03.2015 nicht gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ruhte.

98

Nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 1 SGB V ruht der Anspruch auf Krankengeld, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird. Dies gilt nach dem zweiten Halbsatz der Regelung nicht, wenn die Meldung (s.o. unter 2.2.4 a) ee)) innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt.

99

Die Arbeitsunfähigkeit ist der Beklagten lange vor dem vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum durch Vorlage der Erstbescheinigung und zahlreicher weiterer Bescheinigungen gemeldet worden. Da davon auszugehen ist, dass seit dem 20.02.2014 durchgehend Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat, war anschließend keine weitere Meldung der Arbeitsunfähigkeit mehr notwendig, um das Eintreten des Ruhens nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu verhindern (so bereits LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 02.11.1999 – L 4 KR 10/98 – Rn. 30; SG Mainz, Urteil vom 24.09.2013 – S 17 KR 247/12 – Rn. 45 ff.; SG Speyer, Urteil vom 22.11.2013 – S 19 KR 600/11 – Rn. 42 ff.;SG Trier, Urteil vom 21.11.2013 – S 1 KR 44/13 – Rn. 29).

100

Das BSG vertritt demgegenüber die Rechtsauffassung, dass die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse vor jeder erneuten Inanspruchnahme des Krankengelds erneut gemeldet werden muss, auch wenn die Arbeitsunfähigkeit seit ihrem Beginn ununterbrochen bestanden hat (BSG, Urteil vom 08.02.2000 – B 1 KR 11/99 R – Rn. 17; BSG, Urteil vom 10.05.2012 – B 1 KR 20/11 R – Rn. 18; offen gelassen noch BSG, Urteil vom 20.04.1999 – B 1 KR 15/98 R – Rn. 14). Diese Auffassung widerspricht dem Wortlaut des § 49 Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 2 SGB V, in dem nur der Beginn der Arbeitsunfähigkeit als Bezugspunkt für die Meldeobliegenheit genannt wird, nicht der Beginn eines „Krankengeldbewilligungsabschnitts“ oder eines „Feststellungszeitraumes“. Dass hier zu Lasten der Versicherten über den Wortlaut hinweggegangen wird, deutet das BSG selbst in der Begründung zum Urteil vom 08.02.2000 an: "Anders als es der Wortlaut des § 49 Abs.1 Nr 5 Halbs 2 SGB V nahezulegen scheint (...)" (BSG, Urteil vom 08.02.2000 – B 1 KR 11/99 R – Rn. 17). Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip, so dass der Auffassung des BSG nicht gefolgt werden darf. Unausgesprochen vollzieht das BSG hier einen Analogieschluss, dessen Voraussetzungen jedoch nicht gegeben sind und vom BSG auch nicht dargelegt werden (vgl. bereits SG Mainz, Urteil vom 24.09.2013 – S 17 KR 247/12 – Rn. 45 ff.). Auch vor dem Hintergrund des Optimierungsgebots des § 2 Abs. 2 SGB I und des Gesetzesvorbehalts des § 31 SGB I ist die durch das BSG vorgenommene Vervielfältigung der Meldeobliegenheit des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V rechtswissenschaftlich nicht vertretbar (SG Speyer, Urteil vom 22.11.2013 – S 19 KR 600/11 – Rn. 42 ff.).

101

Im Übrigen hat sich diesbezüglich keine Änderung in den Verhältnissen zum 14.03.2015 im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ergeben.

102

2.2.5 Der Anspruch auf Krankengeld ruhte auch nicht auf Grund tatsächlichen Bezugs von Arbeitslosengeld durch den Kläger ab dem 16.04.2015.

103

Nach § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V ruht der Anspruch auf Krankengeld (u.a.) solange Versicherte Arbeitslosengeld beziehen. Diese Ruhensvorschrift greift jedoch nur im Falle des Bezugs von Arbeitslosengeld in der Form der Leistungsfortzahlung im Krankheitsfall nach § 146 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) (Siefert in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, § 156 Rn. 36, 5. Auflage 2013; BSG, Urteil vom 10.03.1987 - 3 RK 31/86 - Rn. 10ff.; BSG, Urteil vom 03.06.2004 - B 11 AL 55/03 R). Denn nur auf diese Weise ist das Konkurrenzverhältnis zwischen der Ruhensvorschrift des § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V und derjenigen des § 156 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III, die ihrerseits regelt, dass der Arbeitslosengeldanspruch bei Zuerkennung eines Anspruchs auf Krankengeld ruht, widerspruchsfrei aufzulösen (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2006 – B 1 KR 6/06 R – Rn. 22 m.w.N.; Brinkhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 49 SGB V, Rn. 35). Diese aus systematischen Gründen zwingende enge Auslegung des § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V ist mit dem Wortlaut der Regelung vereinbar. Die Formulierung, dass der Anspruch ruht, "solange" Arbeitslosengeld bezogen wird, lässt die Interpretation zu, dass nur solche Fälle erfasst sind, in denen während des laufenden Arbeitslosengeldbezugs die Arbeitsunfähigkeit und damit die Leistungsvoraussetzung für den Krankengeldanspruch eintritt, d.h. solange der bereits begonnene Arbeitslosengeldbezug noch andauert (SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 – S 3 KR 298/12 – Rn. 85 ff.).

104

Bei dem Arbeitslosengeldbezug des Klägers ab dem 16.04.2015 handelte es sich nicht um einen Fall der Leistungsfortzahlung im Krankheitsfall im Sinne des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB III, da der Kläger nicht erst während des Bezugs von Arbeitslosengeld arbeitsunfähig erkrankt ist. Der Anspruch auf Krankengeld ruhte demzufolge nicht.

105

Im Übrigen würde selbst für den Fall, dass der Arbeitslosengeldbezug ab dem 16.04.2015 materiell-rechtlich zum Ruhen des Krankengeldanspruchs führen würde, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X erst ab diesem Zeitpunkt anzunehmen sein. Eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die erst nach Erlass des Aufhebungsbescheides eintritt, macht den Aufhebungsbescheid aber nicht rechtmäßig.

106

2.2.6 Der Kläger hatte demnach auch über den 13.03.2015 hinaus aller Wahrscheinlichkeit nach einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Krankengeld, so dass eine wesentliche Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen zum 14.03.2015 oder zu einem früheren Zeitpunkt nicht nachgewiesen werden kann. Die Voraussetzung für eine Aufhebung der Bewilligung von Krankengeld zum 14.03.2015 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X lagen demnach nicht vor.

107

2.3 Darüber hinaus liegen auch die weiteren Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht vor. Da bereits nicht nachzuweisen ist, dass sich hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit des Klägers zum 14.03.2015 oder zu einem früheren Zeitpunkt eine Änderung ergeben hat, liegt erst recht kein Anhaltspunkt dafür vor, dass der Kläger selbst Kenntnis (oder grob fahrlässige Unkenntnis) von einer Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und damit vom Wegfall des materiell-rechtlichen Anspruchs auf Krankengeld gehabt haben könnte. Die „nicht fristgerechte“ Erstellung einer „Folgebescheinigung“ der Arbeitsunfähigkeit bzw. die „Lückenlosigkeit“ von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder Auszahlscheinen ist wiederum kein Ausschlussgrund für den Anspruch auf Krankengeld (s.o. unter 2.2.3 c), so dass es vorliegend nicht darauf ankommt, ob der Kläger über die diesbezügliche Rechtsauffassung der Beklagten bzw. des BSG informiert war.

108

2.4 Der Bescheid vom 19.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.07.2015 ist daher rechtswidrig und war aufzuheben.

109

3. Die Beklagte war gemäß § 54 Abs. 4 SGG antragsgemäß (vgl. § 123 SGG) dem Grunde nach zur Zahlung von Krankengeld für den Zeitraum vom 14.03.2015 bis zum 22.06.2015 zu verurteilen. Der Kläger hat seinen Antrag auf das Ende der Anspruchshöchstdauer nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB V begrenzt.

110

Der Anspruch auf Krankengeld ist nicht gemäß § 107 Abs. 1 SGB X teilweise für den Zeitraum vom 16.04.2015 bis zum 22.06.2015 in Folge der Zahlung von Arbeitslosengeld durch die Bundesagentur für Arbeit erloschen. Nach dieser Regelung gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch zwischen den Leistungsträgern nach §§ 102 bis 105 SGB X besteht.

111

3.1 Die Bundesagentur für Arbeit hat nicht vorläufig geleistet (§ 102 SGB X). Der Bewilligungsbescheid vom 10.06.2015 enthält keinen Vorläufigkeitsvorbehalt.

112

3.2 Die Leistungsverpflichtung der Bundesagentur für Arbeit ist auch nicht nachträglich entfallen (§ 103 SGB X). Soweit der Arbeitslosengeldanspruch gemäß § 156 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III auf Grund des Krankengeldanspruchs ruhte, war dies von vornherein der Fall, da dem Kläger Krankengeld mit der konkludenten Bewilligungsentscheidung bereits vor der Zeit der Arbeitslosengeldbewilligung zuerkannt war. Durch die noch andauernde aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Klägers vom 25.03.2015 (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG) galt dies trotz der Aufhebungsentscheidung der Beklagten vom 19.03.2015. Die Leistungsverpflichtung der Bundesagentur für Arbeit bestand daher ab dem 16.04.2015 von vornherein nicht, so dass ein Erstattungsanspruch nach § 103 SGB X nicht gegeben ist.

113

3.3 Aus demselben Grund besteht auch kein Erstattungsanspruch aus § 104 SGB X. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger gemäß § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X nur, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. In Folge der Krankengeldbewilligung durch die Beklagte war die Bundesagentur für Arbeit von vornherein nicht verpflichtet, dem Kläger Arbeitslosengeld zu zahlen, da ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nach § 156 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III bereits auf Grund der Zuerkennung eines Anspruchs auf Krankengeld ruht und nicht etwa nur in Fällen der tatsächlichen Zahlung von Krankengeld.

114

3.4 Die Bundesagentur für Arbeit hat auch keinen Erstattungsanspruch aus § 105 SGB X. Nach dieser Vorschrift ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen des § 102 SGB X vorlagen. Es muss ein (sachlich und/oder örtlich und/oder funktional) unzuständiger Leistungsträger gehandelt haben. Von § 105 SGB X wird nur der Fall erfasst, dass unter Verstoß gegen die sachliche und/oder örtliche und/oder funktionale Zuständigkeit geleistet worden ist. Dies impliziert, dass es sich um eine Leistung handeln muss, die abstrakt-generell in den Zuständigkeitsbereich des leistenden Leistungsträgers fällt (Prange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 105 SGB X, Rn. 33). Im vorliegenden Fall hat aber die Bundesagentur für Arbeit nicht unter Verstoß gegen die Zuständigkeitsvorschriften Krankengeld geleistet, sondern entsprechend ihrer Zuständigkeit Arbeitslosengeld geleistet. Dass die Leistungsbewilligung auf Grund des Ruhens des Anspruchs nach § 156 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III rechtswidrig war, ändert nichts an der Tatsache, dass die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen ihrer Zuständigkeit gehandelt hat.

115

Die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Krankengeld war daher nicht in Folge einer teilweisen Erfüllung des Anspruchs durch andere Leistungsträger zu begrenzen.

116

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Sie entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

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Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 14.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.05.2012 verurteilt, dem Kläger Krankengeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 23.11.2011 bis zum 05.02.2012 zu zahlen.

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zahlung von Krankengeld.

2

Der 1958 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er war bis einschließlich Februar 2011 bei der Verbandsgemeinde K… als Gemeindearbeiter sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

3

Durch den Hausarzt Herrn L… wurde bei dem Kläger am 17.01.2011 Arbeitsunfähigkeit festgestellt bis voraussichtlich zum 30.01.2011. Laut Eingangsstempel ist diese Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am 25.01.2011 bei der Beklagten eingegangen. Maßgebliche Diagnose war Kreuzschmerz (M54.5), später als Lumboischialgie bezeichnet. Herr L… stellte am 31.01.2011 eine Folgebescheinigung aus. Demnach sollte der Kläger voraussichtlich bis zum 13.02.2011 arbeitsunfähig sein. Am 14.02.2011 erfolgte eine weitere Folgebescheinigung mit voraussichtlicher Arbeitsunfähigkeit bis zum 27.02.2011.

4

Ab dem 28.02.2011 attestierte Herr L… die Arbeitsunfähigkeit des Klägers auf einem von der Beklagten zur Verfügung gestellten Auszahlschein. Am 18.02.2011 stellte er die Arbeitsunfähigkeit "bis auf weiteres" fest. Nachdem die Beklagte auf dem Auszahlschein vermerkt hatte, dass der Arzt immer ein voraussichtliches "Bis-Datum" eintragen solle, wurden in der Folgezeit Daten angegeben, bis zu denen die Arbeitsunfähigkeit voraussichtliche bestehen werde.

5

Herr L… stellte bei dem Kläger
am 19.03.2011 Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 13.04.2011,
am 13.04.2011 Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 05.05.2011,
am 05.05.2011 Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 08.06.2011,
am 07.06.2011 Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 13.07.2011,
am 14.07.2011 Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 11.08.2011,
am 16.08.2011 Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 13.09.2011 und
am 13.09.2011 Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 13.10.2011 fest.

6

Ab dem 28.09.2011 befand sich der Kläger in akutstationärer Behandlung. Eine Arbeitsunfähigkeit wurde am 29.09.2011 durch Dr. F… ( … Kliniken) ausgestellt. Auf dem Auszahlschein wurde durch die Fachärzte für Chirurgie K… und Dr. F am 13.10.2011 eine Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 13.11.2011 attestiert.

7

Nach dem Ende der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber zahlte die Beklagte dem Kläger für den Zeitraum vom 28.02.2011 bis zum 25.10.2011 Krankengeld.

8

Auf Grund einer Bewilligungsentscheidung durch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Rheinland-Pfalz absolvierte der Kläger vom 26.10.2011 bis zum 22.11.2011 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der …-Klinik …. Für diese Zeit erhielt der Kläger Übergangsgeld von der DRV Rheinland-Pfalz.

9

Eine Entlassungsanzeige der …-Klinik ging am 23.11.2011 bei der Beklagten ein. Hierin wird die Entlassungsform "arbeitsunfähig" angegeben.

10

Im vorläufigen Entlassungsbericht der …-Klinik vom 21.11.2011 wird unter dem Stichwort "Sozialmedizinische Empfehlung" festgehalten:

11

"Arbeitsunfähig bis einschl. der stufenweisen Wiedereingliederung, geplant ab dem 05.12.2011. Sofern die SWE vom Arbeitgeber abgelehnt würde, empfehlen wir AU bis einschl. der Reha-Nachsorgemaßnahme mit Beendigung in ca. 2 Monaten."

12

Der Arbeitgeber stimmte einer stufenweisen Wiedereingliederung jedoch nicht zu. Der Kläger absolvierte in der Folgezeit zur Nachsorge eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme bis zum 27.01.2012.

13

Am 02.02.2012 rief der Kläger bei der Beklagten an und teilte mit, dass der Arzt den Auszahlschein nicht weiter ausfüllen wolle. Am 06.02.2012 teilte der Kläger telefonisch mit, dass er bis zum 22.11.2011 in der Rehabilitationsmaßnahme gewesen sei und im Anschluss am Nachsorgeprogramm teilgenommen habe. Die Wiedereingliederung habe er nicht machen können, da sein Arbeitgeber nicht zugestimmt habe. Er sei arbeitsunfähig entlassen worden, habe sich aber nicht von seinem behandelnden Arzt krankschreiben lassen. Er habe gedacht, dies sei nicht erforderlich, da er von dem Arzt in der Rehaklinik gesagt bekommen habe, dass er weiterhin Geld von der Rentenversicherung bekommen würde, dies aber manchmal länger dauere. Er habe nicht gewusst, dass er gar kein Geld bekomme, weil ja die Wiedereingliederung nicht durchgeführt worden sei. Er habe abgewartet, ob Geld gezahlt werde.

14

Am 06.02.2012 bescheinigte der behandelnde Arzt Herr L… auf dem Auszahlschein eine Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich 01.04.2012. Auf einer zusätzlich ausgestellten ärztlichen Bescheinigung vom 06.02.2012 stellte Herr L… heraus, dass der Kläger seit dem 28.02.2011 aus gesundheitlichen Gründen durchgehend arbeitsunfähig gewesen sei.

15

Mit Bescheid vom 14.02.2012 stellte die Beklagte das Ruhen des Krankengeldanspruchs für die Zeit vom 23.11.2011 bis zum 05.02.2012 fest. Zur Begründung führte sie aus, dass die Zahlung von Krankengeld voraussetze, dass die Arbeitsunfähigkeit vertragsärztlich festgestellt sei. Grundsätzlich gelte, dass die Arbeitsunfähigkeit durchgehend vom behandelnden Arzt bescheinigt sein müsse. Rückwirkende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen seien nicht zulässig. Nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ruhe der Anspruch auf Krankengeld, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet werde. Bis zum 25.10.2011 habe die Beklagte auf Grund der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bzw. des Auszahlscheines Krankengeld gewährt. Vom 26.10.2011 bis zum 22.11.2011 habe der Kläger an einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme teilgenommen. Gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 3 SGB V ruhe der Anspruch auf Krankengeld auch, soweit und solange Versicherte Übergangsgeld bezögen. Für die Zeit vom 23.11.2011 bis 05.02.2012 habe der Kläger sowohl die Arbeitsunfähigkeit verspätet gemeldet als auch ärztlicherseits nicht zeitnah und lückenlos bescheinigen lassen. Die Zahlung von Krankengeld ruhe daher für diesen Zeitraum gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V.

16

Ab dem 06.02.2012 zahlte die Beklagte dem Kläger wieder Krankengeld.

17

Gegen den Bescheid vom 14.02.2012 legte der Kläger am 28.02.2012 Widerspruch ein. Zur Begründung übersandte er den vorläufigen Entlassungsbericht der …-Klinik, woraus sich eindeutig ergebe, dass Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich der Rehanachsorgemaßnahme mit Beendigung in zwei Monaten durch die Rehaärzte bescheinigt worden sei. Die Anschlussrehabehandlung sei auch bis Ende Januar 2012 erfolgt. Eine weitere Folgebescheinigung sei nicht erforderlich gewesen.

18

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.05.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die letzte Arbeitsunfähigkeitsmeldung mit der Entlassungsmitteilung der …-Klinik vom 22.11.2011 erfolgt sei, in der mitgeteilt worden sei, dass am Entlassungstag am 22.11.2011 Arbeitsunfähigkeit bestand. Die danach nächste Arbeitsunfähigkeitsmeldung sei erst mit Vorlage des Krankengeld-Auszahlungsscheins erfolgt. Dieser sei am 09.02.2012 bei der Beklagten eingegangen und habe eine ärztliche Bestätigung der Arbeitsunfähigkeit vom 06.02.2012 bis zum 01.04.2012 enthalten. Für die Zeit vom 23.11.2011 bis zum 05.02.2012 sei die Arbeitsunfähigkeit nicht innerhalb der Wochenfrist gemeldet worden, so dass das Krankengeld gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ruhe. Der Widerspruchsausschuss wies weiter darauf hin, dass nicht streitig sei, ob der Kläger in der Zeit vom 23.11.2011 bis zum 05.02.2012 arbeitsunfähig gewesen sei.

19

Der Kläger hat am 12.06.2012 Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, dass entgegen der Auffassung der Beklagten eine Meldung der Arbeitsunfähigkeit erfolgt sei. Die Arbeitsunfähigkeit sei bis zum Ende der Rehamaßnahme bescheinigt worden. Dem Kläger sei während der Rehamaßnahme von den dortigen Ärzten mitgeteilt worden, dass er auch während der Nachsorgerehabehandlung keine weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung benötige. Ausweislich der Entlassungsanzeige vom 22.11.2011 sei als Entlassungsform "arbeitsunfähig" mitgeteilt worden. Es handele sich daher nicht lediglich um eine Empfehlung. In Fällen wie dem vorliegenden, in dem gegen die Entscheidung der Behörde Rechtsbehelfe/Rechtsmittel eingelegt würden, seien weitere Bescheinigungen nicht erforderlich. Vielmehr reiche die Angabe, dass Arbeitsunfähigkeit tatsächliche bestehe, aus. Eine solche Anzeige liege in den Mitteilungen und Feststellungen der ...-Klinik allemal vor.

20

Der Kläger beantragt,

21

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 14.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.05.2012 zu verurteilen, dem Kläger Krankengeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 23.11.2011 bis zum 05.02.2012 zu zahlen.

22

Die Beklagte beantragt,

23

die Klage abzuweisen.

24

Zur Begründung verweist sie auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Ergänzend führt sie aus, dass zur Verwirklichung des Krankengeldanspruchs eine weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am 23.11.2011 durch einen Vertragsarzt notwendig gewesen wäre, die auch Angaben über den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit hätte enthalten müssen. Sie ist der Auffassung, dass eine weitere Arbeitsunfähigkeit nach Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme am 21.11.2011 lediglich empfohlen worden sei. Lasse ein Versicherter nicht rechtzeitig vor Fristablauf der bisherigen Krankschreibung die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit feststellen, ende der Anspruch auf Krankengeld mit dem Ende des aktuellen Bewilligungsabschnitts. In der Zeit vom 26.10.2011 bis zum 22.11.2011 (Dienstag) habe der Kläger eine stationäre Leistung zur Rehabilitation durchgeführt und Übergangsgeld bezogen. Die Entlassung sei arbeitsunfähig erfolgt. In diesem Zeitraum ruhe der Anspruch auf Krankengeld gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 3 SGB V. Für den lückenlosen Nachweis einer weiterhin bestehenden Arbeitsunfähigkeit werde es in Fällen, in denen die Versicherten arbeitsunfähig aus einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation entlassen würden, als ausreichend angesehen, wenn die weitere Arbeitsunfähigkeit am darauffolgenden Arbeitstag (hier: Mittwoch, der 23.11.2011) festgestellt werde. Im vorliegenden Fall sei die Arbeitsunfähigkeit erst am 06.02.2012 ärztlich bescheinigt worden. Für die Zeit vom 23.11.2011 bis zum 05.02.2012 sei keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht worden. Die weiterhin bestehende Arbeitsunfähigkeit sei daher nicht lückenlos nachgewiesen.

25

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

26

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 i.V.m. Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

27

Die Klage ist auch begründet.

28

Der Kläger hat dem Grunde nach (§ 130 SGG) einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld für den Zeitraum vom 23.11.2011 bis zum 05.02.2012 gegen die Beklagte. Der Bescheid vom 14.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.05.2012 ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

29

Gemäß § 44 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuches (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung behandelt werden und wenn sie nicht zu den in § 44 Abs. 2 S. 1 SGB V genannten ausgeschlossenen Versichertengruppen gehören. Gemäß § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V entsteht der Anspruch auf Krankengeld von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt.

I.

30

Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum mit Anspruch auf Krankengeld bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Die Versicherungspflicht des Klägers ergibt sich aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, da der Kläger als Arbeiter oder Angestellter gegen Arbeitsentgelt beschäftigt war. Nach dem Ende der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber am 27.02.2011 endete zwar das Beschäftigungsverhältnis gegen Entgelt (§ 7 Abs. 3 S. 1, S. 3 SGB IV), das Versicherungsverhältnis blieb jedoch gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V durch den tatsächlichen Bezug von Krankengeld bzw. durch den Anspruch auf Krankengeld erhalten. Der Bezug von Übergangsgeld im Zeitraum vom 26.10.2011 bis zum 22.11.2011 ist für das Fortbestehen des Versicherungsverhältnisses unschädlich, da der Anspruch auf Krankengeld in dieser Zeit gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 3 SGB V lediglich ruht.

II.

31

Der Kläger war im Zeitraum vom 23.11.2011 bis zum 05.02.2012 auf Grund von Rückenbeschwerden in Form einer Lumboischialgie arbeitsunfähig. Maßstab für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit ist die zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit konkret ausgeübte Beschäftigung. Dies war im Falle des Klägers eine Beschäftigung als Gemeindearbeiter mit körperlich anstrengenden Tätigkeiten. Dass der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum arbeitsunfähig war, ist zwischen den Beteiligten unstreitig und lässt sich anhand der dokumentierten Arztkontakte und Behandlungen auch nachvollziehen. Unmittelbar vor dem streitgegenständlichen Zeitraum wurde der Kläger in einer Rehabilitationsklinik stationär behandelt und arbeitsunfähig entlassen. Die avisierte Wiedereingliederungsmaßnahme in seinen bisherigen Arbeitsplatz wurde arbeitgeberseitig abgelehnt. Stattdessen nahm der Kläger an einer ambulanten Nachsorgemaßnahme teil. Sein behandelnder Arzt Herr L… hat am 06.02.2012 auch bezüglich des hier streitgegenständlichen Zeitraums Arbeitsunfähigkeit attestiert. Auch in der Folgezeit war der Kläger noch arbeitsunfähig, so dass kein Anhaltspunkt dafür vorliegt, dass er zwischenzeitlich vorübergehend arbeitsfähig gewesen sein könnte.

III.

32

Die Arbeitsunfähigkeit des Klägers war für den betroffenen Zeitraum auch ärztlich festgestellt. Anspruch auf Krankengeld entsteht nach § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt. Die Arbeitsunfähigkeit des Klägers wurde durch den behandelnden Hausarzt Herrn L… am 17.01.2011 festgestellt. Solange die Arbeitsunfähigkeit besteht, genügt für die Entstehung des Krankengeldanspruchs eine erste ärztliche Feststellung. Denn § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V regelt nur den Beginn des Krankengeldanspruchs. Wenn die ärztliche Feststellung eine Prognose für ein voraussichtliches Ende der Arbeitsunfähigkeit beinhaltet, wird hierdurch der Anspruch auf Krankengeld nicht begrenzt (SG Trier, Urteil vom 24.04.2013 - S 5 KR 77/12; entgegen BSG, Urteil vom 10.05.2012 - B 1 KR 19/11 R - Rn. 18; BSG, Urteil vom 22.03.2005 - B 1 KR 22/04 - Rn. 28 ff.).

33

Das BSG vertritt demgegenüber die Auffassung, dass der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf des zuletzt bescheinigten Arbeitsunfähigkeitszeitraum endet, wenn der Versicherte keine weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen beibringt (BSG, Urteil vom 22.03.2005 - B 1 KR 22/04 - Rn. 30), was regelmäßig zur Folge hat, dass auch das den Krankengeldanspruch begründende und durch die Krankengeldzahlung aufrechterhaltene Versicherungsverhältnis endet (§ 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V).

34

Zur Begründung dieser Auffassung führt das BSG beispielhaft im Urteil vom 22.03.2005 (B 1 KR 22/04 R - Rn. 29 ff.) aus:

35

"Der Anspruch auf Krg setzt, sofern es sich nicht um Krg wegen Krankenhausaufenthalts handelt (vgl § 46 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V), grundsätzlich die vorherige ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit voraus (vgl § 46 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB V). Einzelheiten zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit sind in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung (AU-Richtlinien) sowie im Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) geregelt. Nach § 31 BMV-Ä darf die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und ihrer voraussichtlichen Dauer sowie die Ausstellung der Bescheinigung nur auf Grund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen. Nach den AU-Richtlinien soll die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für Krg-Bezieher auf der hierfür vorgesehenen "Bescheinigung für die Krankengeldzahlung" (vgl § 6 Abs 1 Satz 1 AU-Richtlinien - in der Praxis auch als "Auszahlschein" bezeichnet) in der Regel nicht für einen mehr als sieben Tage zurückliegenden und nicht mehr als zwei Tage im Voraus liegenden Zeitraum erfolgen. Ist es auf Grund der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufs offensichtlich sachgerecht, können längere Zeiträume der Arbeitsunfähigkeit bescheinigt werden (vgl § 6 Abs 2 AU-Richtlinien). Demgemäß wird das Krg in der Praxis jeweils auf Grund der vom Vertragsarzt ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entsprechend der voraussichtlichen Arbeitsunfähigkeit abschnittsweise gezahlt. Nach der Rechtsprechung des BSG ist hierin regelmäßig die Entscheidung der Krankenkasse zu sehen, dass dem Versicherten ein Krg-Anspruch für die laufende Zeit der vom Vertragsarzt bestätigten Arbeitsunfähigkeit zusteht, dh ein entsprechender Verwaltungsakt über die zeitlich befristete Bewilligung von Krg vorliegt. Hat der Arzt dem Versicherten für eine bestimmte Zeit Arbeitsunfähigkeit attestiert und gewährt die Krankenkasse auf Grund einer solchen Bescheinigung Krg, kann der Versicherte davon ausgehen, dass er für diese Zeit Anspruch auf Krg hat, soweit die Kasse ihm gegenüber nichts anderes zum Ausdruck bringt (...). Zwar wäre eine Bewilligung von Krg durch einen Verwaltungsakt nicht nur abschnittsweise, sondern auch auf Dauer (auf unbestimmte Zeit bzw bis zur Erschöpfung der Anspruchsdauer) ebenfalls denkbar; in der Praxis kommen derartige Fälle indessen nur ausnahmsweise und nur in atypischen Konstellationen vor; ob eine solche atypische Krg-Bewilligung vorliegt, ist im jeweiligen Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln. Jedenfalls wird mit der Krg-Bewilligung auch über das - vorläufige - Ende der Krg-Bezugszeit entschieden. Wenn der Versicherte keine weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen beibringt, endet der Anspruch auf Krg mit Ablauf des zuletzt bescheinigten Arbeitsunfähigkeitszeitraums; (...). Wird das Krg (...) abschnittsweise gewährt, ist das Vorliegen der leistungsrechtlichen Voraussetzungen des Krg für jeden weiteren Bewilligungsabschnitt neu zu prüfen. Erst wenn nach ggf vorausgegangener Krg-Gewährung eine erneute ärztliche Bescheinigung (vgl § 46 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB V) vorgelegt wird, besteht für die Krankenkasse überhaupt Anlass, die weiteren rechtlichen Voraussetzungen des Krg-Anspruchs und damit eines neuen Leistungsfalles zu prüfen."

36

Diese Auffassung vermag angesichts des Gesetzeswortlautes des § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V und der gesetzlichen Systematik nicht zu überzeugen. Die Kammer schließt sich insoweit ausdrücklich der Auffassung des SG Trier im Urteil vom 24.04.2013 (S 5 KR 77/12 - Rn. 21 ff.) an, in dem es u.a. heißt:

37

"Das Gesetz bestimmt indes nicht, wann dieser (einmal entstandene) Anspruch endet. Auch schriftliche Bescheide über Beginn, Dauer und/oder Ende dieser Sozialleistung werden von der Beklagten (und den sonstigen Krankenkassen) nicht, nicht regelhaft bzw. nicht zeitnah erteilt. Auch hier hat die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 21.02.2012 erst nachträglich mitgeteilt, sein Anspruch auf Krankengeld habe nur bis einschließlich 28.11.2011 bestanden. Ob es sich dabei um eine erstmalige Bewilligung, eine Aufhebung einer Bewilligung nach §§ 45, 48 SGB 10 (vgl. dazu etwa die vom Bundesversicherungsamt im Rundschreiben vom 12. November 2010 II2 – 5123.5 – 823/2008 - vertretene Rechtsauffassung) handelt oder um eine bloße Information über die nach Meinung der Beklagten kraft Gesetzes eingetretene Rechtslage, bleibt dabei unklar. Obwohl mit einem solchen Verwaltungsverfahren zugleich jegliche Chance vertan wird, Versicherte gleich zu Beginn des Leistungsbezuges über die näheren Bedingungen der Leistungsgewährung angemessen zu informieren, billigt die sozialgerichtliche Rechtsprechung dieses eher rudimentäre Verwaltungsverfahren - welches in anderen Sozialleistungsbereichen nahezu undenkbar wäre - letztlich mit der Fiktion einer "abschnittsweisen Krankengeld-BewiIIigung auf der Grundlage befristeter Arbeitsunfähigkeits-Feststellungen ab dem zweiten Bewilligungsabschnitt" (so die Formulierung im BSG-Urteil vom 10.05.2012, Rz 18, BSGB a.a.O). Damit wird die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsfeststellung, in der es indes lediglich heißt: "voraussichtlich arbeitsunfähig bis" faktisch als Grundlage einer "befristeten" Bewilligung bis genau zu diesem "voraussichtlichen" Ende der Arbeitsunfähigkeit angesehen. Ein Bescheidtenor (so denn ein Bewilligungsbescheid überhaupt erteilt würde) müsste dementsprechend konsequent etwa lauten: "Sie haben Anspruch auf Krankengeld. Der Anspruch beginnt am … Der Anspruch ist befristet bis/endet voraussichtlich …". Derartig unbestimmte Bescheide würden zu Recht in keinem anderen Sozialleistungsbereich als wirksam befristete Bewilligungen verstanden. Allein die Befristung wäre schon viel zu unbestimmt. Noch weniger könnte man einem Versicherten, bei dem im Übrigen nahtlos Arbeitsunfähigkeit attestiert wurde und den die Krankheit zweifellos ununterbrochen arbeitsunfähig macht, angesichts solcher "Bescheide" oder bloßen Fiktionen solcher Bescheide entgegenhalten, er hätte noch an dem "voraussichtlich" letzten Tag seine Arbeitsunfähigkeit erneut attestieren lassen müssen, um zu verhindern, dass sein "voraussichtlich" befristeter Anspruch auf Krankengeld neu entstehen kann."

38

Wie das SG Trier zu Recht ausführt, regelt § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V ausschließlich den Entstehungszeitpunkt des Anspruchs auf Krankengeld. Der Anspruch entsteht demnach von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung folgt. Wann der Anspruch auf Krankengeld endet, ist in § 46 SGB V nicht geregelt. Demzufolge endet der Anspruch dann, wenn die Anspruchsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, d.h. die Arbeitsunfähigkeit und/oder stationäre Behandlung auf Kosten der Krankenkasse endet (§ 44 Abs. 1 SGB V), das Versicherungsverhältnis ganz endet (§ 44 Abs. 1 SGB V) oder der Versicherte in eine Versichertengruppe ohne Anspruch auf Krankengeld fällt (§ 44 Abs. 2 SGB V), des Weiteren bei Erreichen der Anspruchshöchstdauer (§ 48 SGB V) oder bei Ausschluss oder Wegfall des Krankengelds nach §§ 50, 51 SGB V.

39

Wenn das BSG zur Begründung seiner Auffassung zutreffend ausführt, dass das Krankengeld in der Regel abschnittweise gewährt werde und das Vorliegen der leistungsrechtlichen Voraussetzungen des Krankengelds für jeden weiteren Bewilligungsabschnitt neu zu prüfen sei (BSG, Urteil vom 22.03.2005 - B 1 KR 22/04 - Rn. 31), folgt hieraus gerade nicht, dass die Arbeitsunfähigkeit erneut ärztlich festgestellt werden muss. Denn allein durch die befristete Bewilligung des Krankengelds wird der materiell-rechtliche Anspruch auf Krankengeld nicht unterbrochen, sondern lediglich für einen bestimmten Zeitraum positiv festgestellt. Aus dem Gesetz ergibt sich weder ein Anhaltspunkt dafür, dass der Krankengeldanspruch mit dem Tag des durch den Arzt prognostizierten Endes der Arbeitsunfähigkeit endet, noch dafür, dass der materielle Anspruch auf Krankengeld mit dem Ende des verbeschiedenen Bewilligungszeitraums untergeht.

40

Allenfalls wäre daran zu denken, dass der ursprüngliche Antrag auf Krankengeld durch die befristete Bewilligungsentscheidung verbraucht sein könnte und deshalb gemäß § 19 S. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) ein neuer Antrag auf Krankengeld erforderlich wäre. Entsprechend hat das BSG zum "Fortzahlungsantrag" im SGB II entschieden (Urteil vom 18.01.2011 - B 4 AS 99/10 R - vor dieser Entscheidung allerdings sehr umstritten). Im Unterschied zum SGB II ist allerdings die Rückwirkung des Antrags bei Leistungen nach dem SGB V nicht ausgeschlossen, so dass diese Sichtweise keine praktischen Konsequenzen hätte. Der Versicherte kann jederzeit einen neuen Antrag auf Krankengeld stellen. Im vorliegenden Fall hat der Kläger mit seinem Telefonanruf am 02.02.2012 zum Ausdruck gebracht, dass er Krankengeld für die hier streitgegenständliche Zeit begehrt, so dass das Antragserfordernis gewahrt ist.

41

Der Krankengeldanspruch muss dementsprechend nicht erst im Sinne des § 46 S. 1 SGB V neu entstehen, weil der Bewilligungsabschnitt endet. Über das Fortbestehen des Anspruchs muss nach Ende eines Bewilligungsabschnitts durch die Krankenkasse lediglich neu entschieden werden. Hierbei sind selbstverständlich sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erneut zu prüfen, d.h. in erster Linie, ob tatsächlich Arbeitsunfähigkeit besteht und seit der ärztlichen Feststellung durchgehend bestanden hat.

42

Durch die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit des Klägers durch Herrn L… am 17.01.2011 ist der Krankengeldanspruch gemäß § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V somit entstanden.

43

Abgesehen davon ist auch im vorläufigen Entlassungsbericht der ...-Klinik die Arbeitsunfähigkeit des Klägers ab dem 21.11.2011 festgestellt worden. Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit muss weder durch einen Vertragsarzt noch auf dem durch § 5 Abs. 1 oder § 6 Abs. 1 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien vorgesehenen Vordruck erfolgen, um die Voraussetzungen des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V zu erfüllen (BSG, Urteil vom 10.05.2012 - B 1 KR 20/11 R). Derartige Voraussetzungen lassen sich dem Wortlaut des § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V nicht entnehmen. Es ist dort lediglich von einer "ärztlichen Feststellung" die Rede.

IV.

44

Entgegen der Auffassung der Beklagten ruht der Anspruch im streitgegenständlichen Zeitraum nicht.

45

Gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ruht der Anspruch auf Krankengeld, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird. Dies gilt nach dem zweiten Halbsatz der Regelung nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt. Die Meldung der Arbeitsunfähigkeit ist laut Verwaltungsakte der Beklagten erstmals am 25.01.2011 erfolgt. An diesem Tag ist die Erstbescheinigung der Arbeitsunfähigkeit bei der Beklagten eingegangen. Da seitdem durchgehend Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat, war anschließend keine weitere Meldung des Klägers mehr notwendig, um das Eintreten des Ruhens nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu verhindern (so bereits LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 02.11.1999 - L 4 KR 10/98).

46

Das BSG vertritt demgegenüber die Auffassung, dass die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse vor jeder erneuten Inanspruchnahme des Krankengelds auch dann angezeigt (d.h. gemeldet im Sinne des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V) werden muss, wenn sie seit ihrem Beginn ununterbrochen bestanden hat. Dies habe auch bei ununterbrochenem Leistungsbezug zu gelten, wenn wegen der Befristung der bisherigen Attestierung der Arbeitsunfähigkeit über die Weitergewährung des Krankengeldes neu zu befinden sei (BSG, Urteil vom 10.05.2012 - B 1 KR 20/11 R - Rn. 18 m.w.N.).

47

Diese Auffassung hat das BSG erstmals im Urteil vom 08.02.2000 (B 1 KR 11/99 R - Rn. 17) wie folgt begründet:

48

"Anders als es der Wortlaut des § 49 Abs 1 Nr 5 Halbs 2 SGB V nahezulegen scheint, muß die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse vor jeder erneuten Inanspruchnahme des Krankengeldes auch dann angezeigt werden, wenn sie seit ihrem Beginn ununterbrochen bestanden hat. Die Meldepflicht ist auf den jeweiligen konkreten Leistungsfall bezogen; sie soll gewährleisten, daß die Kasse über das (Fort-)Bestehen der Arbeitsunfähigkeit informiert und in die Lage versetzt wird, vor der Entscheidung über den Krankengeldanspruch und gegebenenfalls auch während des nachfolgenden Leistungsbezugs den Gesundheitszustand des Versicherten durch den medizinischen Dienst überprüfen zu lassen, um Zweifel an der ärztlichen Beurteilung zu beseitigen und gegebenenfalls Maßnahmen zur Sicherung des Heilerfolges und zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit einleiten zu können (vgl § 275 Abs 1 Nr 3 SGB V). Ein Bedürfnis nach Überprüfung besteht aber nicht nur bei der erstmaligen, sondern auch bei jeder weiteren Bewilligung von Krankengeld. Dementsprechend muß die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse erneut gemeldet werden, wenn nach einer vorübergehenden leistungsfreien Zeit wieder Krankengeld gezahlt werden soll (BSGE 31, 125, 129 = SozR Nr 49 zu § 183 RVO Bl Aa 50; BSGE 38, 133, 135 = SozR 2200 § 182 Nr 7 S 7; BSGE 56, 13, 14 = SozR 2200 § 216 Nr 7 S 19). Dasselbe hat auch bei ununterbrochenem Leistungsbezug zu gelten, wenn wegen der Befristung der bisherigen Krankschreibung über die Weitergewährung des Krankengeldes neu zu befinden ist. Auch dann muß der Versicherte die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig vor Fristablauf ärztlich feststellen lassen und seiner Krankenkasse melden, wenn er das Ruhen des Leistungsanspruchs vermeiden will."

49

Gegen diese Auffassung spricht deutlich und maßgeblich der Wortlaut des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V. Im ersten Halbsatz ist bereits nur die Rede davon, dass "die Arbeitsunfähigkeit" gemeldet werden muss, was keinen Anhaltspunkt dafür bietet, dass eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit mehrmals gemeldet werden müsste. Aus dem zweiten Halbsatz ("dies gilt nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt") geht demgegenüber noch eindeutiger vor, dass eine einmalige Meldung ausreicht. Denn hier wird auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgestellt, nicht etwa auf den Beginn eines Krankengeldbewilligungsabschnitts oder eines ärztlichen Feststellungszeitraums. Der Beginn einer über einen längeren Zeitraum bestehenden Arbeitsunfähigkeit ändert sich nicht dadurch, dass ein Krankengeldbewilligungsabschnitt endet. Die Rechtsprechung des BSG in den o.g. Urteilen widerspricht damit dem Gesetzeswortlaut. Durch die Formulierung "anders als es der Wortlaut des § 49 Abs 1 Nr 5 Halbs 2 SGB V nahezulegen scheint" (BSG, Urteil vom 08.02.2000 - B 1 KR 11/99 R - Rn. 17) wird dieser Umstand lediglich verschleiert.

50

Noch in den älteren Entscheidungen des BSG zu § 216 Abs. 3 S. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO), auf die im o.g. Urteil Bezug genommen wird, ist das Gericht von einer entsprechenden Anwendung dieser fast wortgleichen Vorgängerregelung des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ausgegangen, weil es offenbar gesehen hat, dass die eigene Judikatur mit dem Wortlaut der Regelung nicht in Einklang zu bringen war (BSG, Urteil vom 17.04.1970 - 3 RK 41/69 - Rn. 20; BSG, Urteil vom 20.09.1974 - 3 RK 31/73; BSG, Urteil vom 19.10.1983 - 3 RK 29/82). Die in diesen Entscheidungen vorgenommene Analogiebildung hatte allerdings nur Konstellationen zum Gegenstand, in denen zwischenzeitlich wegen Überschreitung der Anspruchshöchstdauer der Anspruch auf Krankengeld weggefallen war und es nach Ablauf der Blockfrist zu einem erneuten Anspruch auf Krankengeld wegen der gleichen Erkrankung gekommen ist. Abgesehen davon, dass auch die Rechtsprechung des BSG zur entsprechenden Anwendung des § 216 Abs. 3 S. 1 RVO fragwürdig gewesen sein dürfte, weil es an einer für die Analogiebildung erforderlichen Regelungslücke fehlte, ist die Interessenlage mit Konstellationen, in denen dem Grunde nach durchgehend ein Krankengeldanspruch besteht, nicht vergleichbar. Wesentliches Argument war, dass es die Kontrollpflicht der Krankenkasse überspannen würde, das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit auch während der leistungsfreien Zeiten laufend überwachen zu müssen (BSG, Urteil vom 17.04.1970 - 3 RK 41/69 - Rn. 20).

51

Hiermit sind die Fälle eines durchgehend fortbestehenden Anspruchs auf Krankengeld, auf die das BSG erstmals in seinem Urteil vom 08.02.2000 (B 1 KR 11/99 R - Rn. 17) diese Judikatur übertragen hat, nicht vergleichbar. Dass ein Bedürfnis nach Überprüfung nicht nur bei der erstmaligen, sondern auch bei jeder weiteren Bewilligung von Krankengeld bestehe (BSG a.a.O.), vermag eine Analogiebildung zu Lasten der Versicherten oder eine "Rechtsfortbildung contra legem" keinesfalls zu rechtfertigen. Im Normtext des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V lässt sich kein begrifflicher Ausgangspunkt für die Interpretation des BSG finden. Der Wortlaut eines Gesetzes steckt jedoch die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 310, zum Ganzen Rn. 304 ff., 10. Aufl. 2009). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG). Die Bindung an den Gesetzestext folgt aus der schriftlichen Fixierung der Gesetzestexte als auf Grund der Einhaltung des von der Verfassung vorgeschriebenen Verfahrens allein verbindliche Eingangsdaten für die Rechtsprechung. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstieße daher gegen Gesetzesbindung und Gewaltenteilungsprinzip. Für das Sozialgesetzbuch gilt zudem die Regelung des § 31 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), nachdem Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuches nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Auch dies spricht gegen die vom BSG vorgenommene Ausweitung der Meldepflicht.

52

Dies zu Grunde gelegt ist im Falle des Klägers die Meldung der Arbeitsunfähigkeit am 25.01.2011 mit Wirkung auch für den streitgegenständlichen Zeitraum erfolgt. Eine erneute Meldung war nicht erforderlich.

53

Abgesehen davon ist die Entlassungsanzeige der ...-Klinik der Beklagten am 23.11.2011 und damit innerhalb einer nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu bestimmenden Wochenfrist zugegangen. Diese Entlassungsanzeige genügt den Anforderungen an eine Meldung der Arbeitsunfähigkeit. In der Entlassungsanzeige wurde sowohl der Entlassungstag genannt als auch die Entlassungsform als "arbeitsunfähig" bezeichnet. Dass die Entlassungsanzeige durch die Klinikverwaltung (und nicht durch einen Arzt) erstellt worden ist, steht der Wirksamkeit der Meldung nicht entgegen. Die Meldung nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V muss nicht durch einen Arzt erfolgen. Ein Arztvorbehalt ist dem Wortlaut des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V nicht zu entnehmen und auch nicht erforderlich, da für das Entstehen eines Anspruchs auf Krankengeld ohnehin eine ärztliche Feststellung erforderlich ist.

V.

54

Der Kläger hat demzufolge für den Zeitraum vom 23.11.2011 bis zum 14.02.2012 einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld in gesetzlicher Höhe.

55

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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Tenor

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.

2. Dem Bundesverfassungsgericht werden folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

a) Ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

b) Ist § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917), mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

Tatbestand

1

Die Kläger begehren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab dem 01.11.2015.

2

Der am …..geborene Kläger zu 1 ist usbekischer Staatsangehöriger und lebt seit mehreren Jahren in Deutschland. Er ist mit der am ……. geborenen Klägerin zu 2 verheiratet und beide sind Eltern der am …… in Deutschland geborenen Klägerin zu 3. Auch die Klägerinnen zu 2 und 3 sind usbekische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1 lebt seit dem Jahr 2006 in Deutschland, die Klägerin zu 2 seit 2011, die Klägerin zu 3 seit ihrer Geburt.

3

Der Kläger zu 1 hat von Oktober 2007 bis November 2015 ein Studium der Humanmedizin an der Universität ….. absolviert und das Studium am 18.11.2015 mit dem mündlich-praktischen Teil der Ärztlichen Prüfung (§ 30 der Approbationsordnung für Ärzte) abgeschlossen. Die Exmatrikulation erfolgte am 14.12.2015. Er verfügte während des Studiums über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und übte neben dem Studium verschiedene Erwerbstätigkeiten aus.

4

Unter dem 06.10.2011 hatte Frau …….. sich in einer Verpflichtungserklärung gemäß § 68 Abs. 1 AufenthG gegenüber der beigeladenen Stadt …. dazu verpflichtet, die Kosten für den Lebensunterhalt des Klägers zu 1 für die Dauer seines tatsächlichen Aufenthaltes zu tragen.

5

Der Kläger zu 1 ist bereits seit mehreren Jahren mit wechselnden Arbeitsverträgen beim ….Klinikum in …… im dortigen Schlaflabor in Teilzeit beschäftigt. Die Auszahlung des Nettolohnes erfolgt hierbei jeweils im Folgemonat. Der Kläger zu 1 erzielt hierbei schwankendes Einkommen auf Grundlage eines Stundenlohnes von derzeit 11,68 Euro im Umfang von derzeit regelmäßig 3,90 Wochenstunden. Der zuletzt gültige Arbeitsvertrag vom 27.11.2013 war auf den 31.12.2015 befristet. Durch Änderung des Vertrags zum 15.12.2015 wurde der Vertrag entfristet, so dass der Kläger zu 1 nunmehr in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis steht.

6

Seit dem 24.11.2015 verfügt der Kläger zu 1 über eine von der mit Beschluss vom 04.03.2016 gemäß §§ 75 Abs. 2, 106 Abs. 3 Nr. 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladenen Stadt ….. erteilte Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche nach dem Studium nach § 16 Abs. 4 AufenthG. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist ihm gestattet. Der Aufenthaltstitel ist bis zum 22.05.2017 befristet. Die Klägerin zu 2 verfügt seit dem 24.11.2015, ebenfalls befristet bis zum 22.05.2017, über eine Aufenthaltserlaubnis wegen Ehegattennachzugs nach § 30 AufenthG. Auch ihr ist eine Erwerbstätigkeit erlaubt. Die Klägerin zu 3 besitzt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG wegen ihrer Geburt im Bundesgebiet.

7

Die Kläger wohnen seit dem 01.06.2015 gemeinsam in einer 41 m² großen Wohnung zur Miete. Mietvertragspartner sind auf Mieterseite sowohl der Kläger zu 1 als auch die Klägerin zu 2. Für die Überlassung der Wohnung haben die Kläger zu 1 und 2 eine monatliche Bruttowarmmiete in Höhe von 450 Euro zu entrichten.

8

Mit Bescheid vom 22.09.2015 hatte die Familienkasse ……. der Klägerin zu 2 Kindergeld für die Klägerin zu 3 in Höhe von 188 Euro monatlich ab April 2015, befristet bis August 2032 bewilligt.

9

Mit Bescheid ebenfalls vom 22.09.2015 hatte die Beigeladene der Klägerin zu 2 Elterngeld für die Betreuung und Erziehung der Klägerin zu 3 auf Grund eines Antrags vom 08.09.2015 für den Zeitraum vom 14.05.2015 bis zum 13.10.2015 in Höhe von insgesamt 1.500 Euro bewilligt. Als Zahltermin für den Gesamtbetrag wurde der 01.10.2015 festgesetzt.

10

Am 26.11.2015 beantragten die Kläger anlässlich einer persönlichen Vorsprache des Klägers zu 1 beim Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

11

Im Antragsformular gab der Kläger zu 1 am 07.12.2015 an, über Bargeld in Höhe von ca. 1.500 Euro zu verfügen. Die Existenz von sämtlichen abgefragten weiteren Vermögenswerten verneinte er. Die Kläger gaben darüber hinaus an, dass die Klägerin zu 2 über Einkommen in Form des Kindergelds für die Klägerin zu 3 in Höhe von 188 Euro monatlich verfüge. Weitere Einnahmen wurden nicht angegeben.

12

Der Kläger zu 1 verfügt über ein Girokonto bei der ….. Bank (Kontonummer ……). Das Konto wies am 30.10.2015 einen positiven Saldo von 3.510,83 Euro auf, der bis zur nächsten Abbuchung am 02.11.2015 Bestand hatte. Am 28.10.2015 hatte der Kläger zu 1 eine Überweisung in Höhe von 3.257 Euro von Herrn ……. erhalten. Am 29.10.2015 war dem Kläger eine Vergütung von 1.050,71 Euro aus seiner Erwerbstätigkeit ausgezahlt worden. Am gleichen Tag erfolgte eine weitere Zahlung des Arbeitgebers in Höhe von 144,52 Euro. Am 30.10.2015 hatte der Kläger zu 1 einen Betrag von 1.000 Euro auf das Girokonto der Klägerin zu 2 überwiesen.

13

Die Klägerin zu 2 verfügt ebenfalls über ein Girokonto bei der Deutschen Bank (Kontonummer ………). Das Konto wies am 31.10.2015 einen positiven Saldo von 1.183,32 Euro auf, der bis zur nächsten Abbuchung am 02.11.2015 Bestand hatte. Am 28.09.2015 hatte die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit der Klägerin zu 2 einen Betrag von 1.128 Euro überwiesen. Am 01.10.2015 hatte die Klägerin zu 2 eine Zahlung von Elterngeld in Höhe von 1.500 Euro erhalten. Am 07.10.2015 hatte die Klägerin zu 2 einen Betrag von 2.500 Euro abgehoben. Am 20.10.2015 hatte sie Kindergeld in Höhe von 188 Euro erhalten. Nachdem der Kontostand am 29.10.2015 bei 183,32 Euro lag, erfolgte am 30.10.2015 die Überweisung von 1.000 Euro durch den Kläger zu 1.

14

Am 11.11.2015 erhielt der Kläger zu 1 eine Überweisung in Höhe von 175 Euro von Frau ……… mit dem Verwendungszweck „für Interneteinkauf Danke“. Am 24.11.2015 hob der Kläger zu 1 einen Betrag von 2.100 Euro ab. Am 27.11.2015 wurde dem Kläger eine Vergütung in Höhe von 807,20 Euro aus seiner Erwerbstätigkeit ausgezahlt. Am 30.11.2015 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben von 1.271,85 Euro.

15

Mit Bescheid vom 07.12.2015 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) dem Grunde nach für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 23.09.2016 auf Basis eines kalendertäglichen Leistungssatzes von 17,46 Euro. In Folge der Verhängung einer Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitslosmeldung wurde dem Kläger zu 1 jedoch für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 30.11.2015 kein Arbeitslosengeld gezahlt. Für den Zeitraum vom 01.12.2015 bis zum 31.08.2016 wurde Nebeneinkommen in Höhe des vollen kalendertäglichen Leistungssatzes von 17,46 Euro angerechnet, so dass auch für diesen Zeitraum zunächst effektiv kein Arbeitslosengeld bewilligt wurde. Lediglich für die Zeit vom 01.09.2016 bis zum 23.09.2016 wurde die Zahlung von Arbeitslosengeld in Höhe von kalendertäglich 1,30 Euro, insgesamt 39 Euro, verfügt. Hierbei wurde auf den Leistungssatz von 17,46 Euro Nebeneinkommen in Höhe von 16,16 Euro täglich angerechnet.

16

Mit Schreiben vom 08.12.2015 forderte der Beklagte den Kläger zur Mitwirkung auf und verlangte neben der Vorlage der Bescheide über die Bewilligung von Arbeitslosengeld und Elterngeld, von Kopien der Lohnabrechnungen und von Kontoauszügen eine Stellungnahme zur Überweisung von 3.257 Euro am 28.10.2015 auf das Konto des Klägers zu 1.

17

Der Kläger zu 1 nahm mit Schreiben vom 14.12.2015 dahingehend Stellung, dass er Herrn …….. am 07.10.2015 ca. 3.300 Euro Bargeld geliehen habe. Aus den Kontoauszügen sei ersichtlich, dass an diesem Tag vom Konto seiner Ehefrau (der Klägerin zu 2) 2.500 Euro und von seinem eigenen Konto 800 Euro abgehoben worden seien. Seine Ehefrau habe kurz zuvor Elterngeld und Kindergeld rückwirkend ausgezahlt bekommen. Das geliehene Geld habe Herr …. am 28.10.2015 in voller Höhe auf das Konto des Klägers zu 1 überwiesen, wovon er wiederum 1.000 Euro auf das Konto seiner Frau überwiesen habe. Dies könne anhand der Kontoauszüge nachvollzogen werden.

18

Mit Bescheid vom 15.12.2015 lehnte der Beklagte den Antrag vom 26.11.2015 ab. Hierbei führte der Beklagte wörtlich aus:

19

„Sehr geehrter Herr ……,

20

leider muss Ihr Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch SozialgesetzbuchSGB II vom 26.11.2015 abgelehnt werden.

21

Sie haben keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, weil Sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche haben.

22

Die Entscheidung beruht auf § 7 Absatz 1 Satz 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

23

Ihr Aufenthaltstitel begründet sich auf § 16 Abs. 4 AufenthG. Demnach sind Sie und Ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

24

Beachten Sie bitte, dass Sie einen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII beim zuständigen Sozialamt stellen können.“

25

Am 18.12.2015 beantragten die Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) bei der Beigeladenen. Im Antragsformular (unterzeichnet am 04.01.2016) gaben sie unter anderem an, über Bargeld in Höhe von ca. 1.000 Euro zu verfügen.

26

Am 29.12.2015 erhielt der Kläger zu 1 zwei Gehaltszahlungen in Höhe von zusammen 203,42 Euro.

27

Am 31.12.2015 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben in Höhe von 513,38 Euro, am 04.01.2016 über ein Guthaben in Höhe von 53,38 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am 31.12.2015 über ein Guthaben von 416,59 Euro.

28

Mit Bescheid vom 06.01.2016 lehnte die Beigeladene den Antrag der Kläger auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ab. Zur Begründung führte sie aus, dass aus den vorgelegten Unterlagen hervorgehe, dass der Kläger zu 1 einen Aufenthaltstitel nach § 16 Abs. 4 AufenthG habe, der der Arbeitsplatzsuche nach dem Studium diene. Die Ablehnung ergebe sich aus § 23 Abs. 3 SGB XII. Demnach hätten Ausländer, die eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, sowie deren Angehörige keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Das Aufenthaltsrecht des Klägers zu 1 begründe sich aus § 16 Abs. 4 AufenthG und diene dem Zweck der Arbeitsplatzsuche, sodass der Kläger zu 1 und seine Angehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII hätten.

29

Gegen den Bescheid des Beklagten vom 15.12.2015 erhoben alle drei Kläger mit Schreiben vom 07.01.2016 Widerspruch. Zur Begründung führten sie aus, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht greife, da das Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG ein Annex des Aufenthaltsrechts zum Zwecke der Ausbildung darstelle. Da dieses Aufenthaltsrecht auch eine Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit umfasse, könne spätestens ab dem Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme diese nicht mehr als Aufenthaltserlaubnis allein zum Zwecke der Arbeitsplatzsuche angesehen werden. Da der Kläger zu 1 einer Erwerbstätigkeit nachgehe, sei auch dieser Gesichtspunkt vorliegend gegeben. Dies sei auch nachvollziehbar, denn Sinn und Zweck von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei es, zu verhindern, dass Personen zur Arbeitsuche einreisen und dann Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Sinn und Zweck der Norm sei gerade nicht, Menschen, die bereits seit längerer Zeit aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht haben, von den Leistungen auszuschließen. Die gesetzgeberische Intention des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II habe ferner eindeutig darauf gezielt zu verhindern, dass EU-Bürger im Wege der Freizügigkeit einreisen und sofort Sozialleistungen kassieren. Für Fälle von Drittstaatsangehörigen sei die Regelung nicht erdacht worden. Es sei auch nicht erkennbar, weshalb es notwendig sein sollte, erwerbsfähige Drittstaatsangehörige, die ansonsten unzweifelhaft einen Anspruch nach dem SGB XII hätten, anders zu behandeln, als erwerbsfähige Deutsche, denn Leistungseinsparungen könnten hierdurch nicht erzielt werden. Die Drittstaatsangehörigen könnten allenfalls weniger Pflichten bei der Integration in den Arbeitsmarkt haben.

30

Am 07.01.2016 stellten die Kläger auch einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht (SG) Mainz (Az. S 11 AS 7/16 ER).

31

Am 19.01.2016 erhoben die Kläger Widerspruch gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016. Zur Begründung führten sie aus, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.) nach der neuesten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Verweis auf den Terminsbericht Nr. 61/15 des BSG vom 16.12.2015) bei tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland, insbesondere wenn dieser rechtmäßig sei, die Bejahung eines Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB XII gebiete. Diese Rechtsprechung sei auf die Kläger anwendbar und vorliegend zu berücksichtigen. Die Kläger hätten somit einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII gegen die Beigeladene.

32

Über den Widerspruch der Kläger gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016 wurde bislang noch nicht entschieden.

33

Am 21.01.2016 zahlte die Familienkasse 566 Euro Kindergeld für die Monate November und Dezember 2015 sowie Januar 2016 an die Klägerin zu 2.

34

Mit Beschluss vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) verpflichtete die 11. Kammer des SG Mainz die auch im dortigen Verfahren beigeladene Stadt …. zur vorläufigen Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII für den Regelbedarf in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 07.01.2016 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30.06.2016.

35

Am 28.01.2016 erhielt der Kläger zu 1 Arbeitsentgelt in Höhe von 291,31 Euro für den Monat Januar 2016 ausgezahlt. Am 29.01.2016 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben von 282,09 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am gleichen Tag über ein Guthaben von 704,76 Euro auf ihrem Girokonto.

36

Die Beigeladene führte den Beschluss vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) mit einem Bescheid vom 05.02.2016 aus und bewilligte den Klägern vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt ab dem 07.01.2016 für den Monat Januar 2016 in Höhe von insgesamt 531,50 Euro und für den Monat Februar 2016 in Höhe von 571,08 Euro.

37

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.01.2016 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 15.12.2015 zurück. Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt noch aus den Unterlagen ersichtlich. Der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.

38

Am 11.02.2016 überwies die Beigeladene dem Kläger zu 1 in Ausführung des Bescheids vom 05.02.2016 und des Beschlusses des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) einen Betrag von 1.102,58 Euro.

39

Mit Änderungsbescheid vom 11.02.2016 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld für den Zeitraum vom 01.12.2015 bis zum 23.09.2016 in Höhe von monatlich 523,80 Euro bei einem täglichen Zahlbetrag von 17,46 Euro. Für die Zeit vom 01.12.2015 bis zum 31.01.2016 erfolgte eine Nachzahlung in Höhe von 1.047,60 Euro, die dem Kläger zu 1 am 16.02.2016 überwiesen wurde. Am 29.02.2016 erfolgte die Auszahlung von Arbeitslosengeld in Höhe von 523,80 Euro für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016.

40

Die Beigeladene hat am 24.02.2016 Beschwerde gegen den Beschluss vom 27.01.2016 zum Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz eingelegt (Az. L 3 AS 98/16 B ER). Das Beschwerdeverfahren ist noch anhängig.

41

Am 26.02.2016 erhielt der Kläger zu 1 eine Entgeltzahlung in Höhe von 166,35 Euro.

42

Die Kläger haben am 26.02.2016 die vorliegende Klage erhoben. Die Klageerhebung erfolgte zunächst fristwahrend. Die Kläger regten zunächst an, die Klage ruhend zu stellen, bis geklärt sei, ob das Sozialamt Leistungen nach dem SGB XII zu erbringen habe. Hintergrund sei, dass der Beklagte als Verpflichteter in Betracht komme, das Gericht aber in dem Verfahren S 11 AS 7/16 ER die vorläufige Auffassung vertreten habe, der Anspruch der Kläger richte sich nach dem SGB XII und nicht nach dem SGB II.

43

Die Kläger beantragen,

44

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 zu verurteilen, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 01.11.2015 in gesetzlicher Höhe zu zahlen,

45

hilfsweise die Beigeladene unter Aufhebung des Bescheids vom 06.01.2016 zu verurteilen, den Klägern Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII ab dem 01.11.2015 in gesetzlicher Höhe zu zahlen.

46

Der Beklagte beantragt,

47

die Klage abzuweisen.

48

Zur Begründung trägt er vor, dass die Klage ausweislich des Beschlusses des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) keine Aussicht auf Erfolg habe. Auf den Beschluss des LSG Rheinland-Pfalz vom 11.02.2016 (L 3 AS 668/15 B ER) werde verwiesen.

49

Die Beigeladene nimmt unter Verweis auf einen Hinweis des 3. Senats des LSG Rheinland-Pfalz im Verfahren L 3 AS 98/16 B ER dahingehend Stellung, dass hilfebedürftige Personen, die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien, schon nach § 21 Satz 1 SGB XII keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten könnten. Für diese Auslegung spreche der Wortlaut des Gesetzes und die den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmende gesetzgeberische Absicht. Der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz nehme auch Bezug auf die Rechtsfrage, ob eine verfassungskonforme Auslegung des SGB II einen Anspruch der Kläger auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Hilfegewährung nach § 42a SGB II begründe. Der Senat sehe diese Rechtsfrage als im Hauptsacheverfahren klärungsbedürftig an. Weiter führe der Senat aus, dass er auf Grund des bisherigen Vortrags der Kläger (im dortigen Beschwerdeverfahren) nicht feststellen könne, dass im vorliegenden Fall die gesetzlichen Voraussetzungen einer Leistung von Sozialhilfe nach Ermessen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII vorlägen. Vor diesem Hintergrund spreche Vieles dafür, dass das LSG Rheinland-Pfalz die rechtliche Einschätzung der Beigeladenen teile und diese im vorliegenden Fall daher nicht zu Leistungen von Sozialhilfe nach Ermessen verpflichtet werden könne.

50

Am 30.03.2016 erhielt der Kläger zu 1 eine Entgeltzahlung in Höhe von 166,35 Euro. An diesem Tag verfügte er auf seinem Girokonto über ein Guthaben in Höhe von 647,49 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am 30.03.2016 über ein Guthaben auf ihrem Girokonto in Höhe von 314,89 Euro. Am 31.03.2016 überwies die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld in Höhe von 523,80 Euro für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis zum 31.03.2016.

51

Mit einem Schreiben vom 04.04.2016 teilte die Beigeladene den Klägern zu 1 und 2 mit, dass in Folge der Mitteilung weiterer Einkünfte nunmehr eine Anpassung der vorläufigen Leistungen erfolge. Demnach hätten die Kläger im Februar Arbeitslosengeld I in Höhe von 1.571,40 Euro erhalten. Das Arbeitseinkommen in Höhe von 237 Euro für den Monat Februar 2016 sei abzüglich der Freibeträge genauso wie das Kindergeld bei der Ermittlung des Anspruchs in Höhe von 571,08 Euro für den Monat Februar bereits berücksichtigt worden. Das Einkommen in Höhe von 1.571,40 Euro aus dem Arbeitslosengeld I reiche daher aus, um den monatlichen Regelbedarf in gesetzlicher Höhe zu decken. Da die Leistungen für den Monat Februar 2016 zum Zeitpunkt der Mitteilung bereits an die Kläger ausgezahlt worden seien, sei eine Überzahlung in Höhe von 571,08 Euro entstanden. Der monatliche Regelbedarf für den Monat März 2016 betrage 965 Euro. Davon seien das Erwerbseinkommen abzüglich der Freibeträge nach § 82 Abs. 3 SGB XII in Höhe von 116,44 Euro, das Kindergeld in Höhe von 190 Euro sowie Arbeitslosengeld I in Höhe von monatlich 523,80 Euro in Abzug zu bringen. Damit verbleibe ein nicht durch Einkommen gedeckter Bedarf in Höhe von 134,76 Euro. Dieser Betrag werde jedoch nicht an die Kläger ausgezahlt, sondern mit der entstandenen Überzahlung im Monat Februar 2016 in Höhe von 571,08 Euro verrechnet.

52

Auf Anfrage des Gerichts teilten die Kläger mit, dass sie keinerlei rechtliche Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), zu Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) oder zur Schweiz haben. Im letzten Jahr der Studienzeit des Klägers zu 1 hätten die Kläger ihren Lebensunterhalt durch Nebenjobs des Klägers zu 1 als Mitarbeiter im Schlaflabor des …. Klinikums ….. und durch die monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 300 Euro für das Praktische Jahr, durch Kindergeld und zeitweise durch Elterngeld bestritten. Von Frau …… habe es keine Zahlungen gegeben.

53

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.04.2016 teilte der Kläger zu 1 mit, dass er für die Erteilung eines Aufenthaltstitels eine Verpflichtungserklärung benötigt habe. Diese sei durch seine Kollegin Frau ………. unterzeichnet worden. Er habe aber nie die Absicht gehabt, Geld von ihr in Anspruch zu nehmen und von ihr auch nie Geld erhalten. Er habe seinen Lebensunterhalt bislang selbst finanziert.

54

Das Gericht hat die Prozessakten zum Verfahren S 11 AS 7/16 ER bzw. L 3 AS 98/16 B ER einschließlich der dort beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Beigeladenen beigezogen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

A.

55

Der Rechtsstreit ist gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auszusetzen und es sind Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darüber einzuholen, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, soweit Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen vom Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind, und ob § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917) mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, soweit Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) oder der §§ 51, 57 und 58 SGB Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) dem Grunde nach förderungsfähig ist, über § 27 SGB II hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II haben.

56

Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG (konkrete Normenkontrolle) hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist zu begründen, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des Gerichts abhängig und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die Vorschrift unvereinbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2014 – 2 BvL 2/11 – Rn. 5 – alle Gerichtsentscheidungen zitiert nach juris, wenn nicht anders angegeben). Die Voraussetzungen für die Durchführung eines konkreten Normenkontrollverfahrens sind vorliegend erfüllt.

57

Die Überzeugung der Kammer von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II beruht darauf, dass es dem Gesetzgeber nach Maßgabe des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verwehrt ist, Personen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten, bei Vorliegen von Hilfebedürftigkeit von sämtlichen existenzsichernden Sozialleistungssystemen auszuschließen.

58

Die Überzeugung der Kammer von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II beruht darauf, dass es dem Gesetzgeber nach Maßgabe des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verwehrt ist, die Gewährung jeder Art von existenzsichernden Leistungen von Handlungen oder Unterlassungen der betroffenen Personen abhängig zu machen, die weder zur Feststellung der Leistungsvoraussetzungen erforderlich noch unmittelbar dazu führen, die Hilfebedürftigkeit der Betroffenen zu beseitigen.

I.

59

Die Zuständigkeit des BVerfG ist gegeben, da das vorlegende Gericht Vorschriften eines Bundesgesetzes für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar hält (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GG).

II.

60

Die vorlegende Kammer ist als Spruchkörper des Sozialgerichts Mainz ein vorlageberechtigtes Gericht im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG.

III.

61

Bei den als verfassungswidrig gerügten Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II handelt es sich um Vorschiften eines formellen, nachkonstitutionellen Bundesgesetzes. Sie sind daher vorlagefähig.

IV.

62

Die Vorlagefragen sind für das dem Beschluss zu Grunde liegende Klageverfahren entscheidungserheblich.

63

Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist ein Vorlageverfahren nur dann zulässig, wenn es für die Entscheidung auf die Gültigkeit des für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes ankommt.

64

Dies setzt – wenn nicht die Zulässigkeitsvoraussetzungen selbst Gegenstand der Vorlage sind – zunächst voraus, dass die dem Vorlagebeschluss zu Grunde liegende Klage zulässig ist (1) und dass im Falle der – hier vorliegenden – Leistungsklage die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen (2). Ferner muss es für die Entscheidung des Gerichts auf die Gültigkeit der zur Prüfung vorgelegten Normen ankommen. Dies setzt voraus, dass bei Gültigkeit der Regelungen ein anderes Entscheidungsspektrum eröffnet wird, als bei deren Nichtigkeit (3). Der Klage dürfte auch nicht aus einem anderen Rechtsgrund stattzugeben sein (4).

65

1. Die Klage ist zulässig. Das Gericht ist zur Sachentscheidung berufen.

66

1.1 Die Kläger haben ihre Klage frist- und formgerecht erhoben. Das Widerspruchsverfahren gegen den in erster Linie streitgegenständlichen Bescheid des Beklagten vom 15.12.2015 ist durchgeführt und abgeschlossen worden.

67

1.2 Obwohl dem Gericht bislang keine schriftliche Vollmacht vorliegt, ist gemäß § 73 Abs. 6 Satz 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einstweilen von einer wirksamen Bevollmächtigung des die Kläger vertretenden Rechtsanwalts auszugehen. Das Gericht hat einen Mangel der Vollmacht nur dann von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn als Bevollmächtigter kein Rechtsanwalt auftritt.

68

1.3 Die Kläger sind klagebefugt im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 SGG, da sie geltend machen, durch den angefochtenen Verwaltungsakt in ihren Rechten verletzt zu sein.

69

1.4 Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage, mit der die Kläger die Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 und die Zahlung von Geldleistungen nach dem SGB II verlangen, ist nach §§ 54 Abs. 4, 56 SGG statthaft. Der Streitgegenstand wurde im Sinne des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG hinreichend bestimmt. Eine exakte Bezifferung des geltend gemachten Anspruchs ist nicht erforderlich. § 92 Abs. 1 Satz 3 SGG enthält hinsichtlich der Bestimmtheit des Antrags lediglich eine Sollvorschrift. Aus dem systematischen Zusammenhang mit der Regelung zum Grundurteil in § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG ergibt sich zudem, dass bei Geldleistungen keine Bezifferung des Antrags erfolgen muss. Nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG kann zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt werden, wenn gemäß § 54 Abs. 4 SGG oder § 54 Abs. 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Aus der Befugnis des Gerichts, ein Grundurteil zu erlassen, folgt die Statthaftigkeit einer entsprechenden unbezifferten Antragstellung. Im Übrigen lässt sich das klägerische Begehren in hinreichender Bestimmtheit dem Vorbringen in der Klageschrift, in dem vorangegangenen Widerspruchsverfahren und im vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entnehmen.

70

1.5 Der für die Zulässigkeit der gegenüber der reinen Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG vorrangigen Anfechtungs- und Leistungsklage erforderliche Ausgangsverwaltungsakt (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2006 – B 2 U 24/04 R – Rn. 24) liegt auch bezüglich der Klägerinnen zu 2 und 3 vor. Der angefochtene Verwaltungsakt vom 15.12.2015 ist bei verständiger Würdigung an alle drei Kläger gerichtet. Zwar wird sowohl in der Anrede als auch im weiteren Text nur der Kläger zu 1 direkt angesprochen, auch soweit auf seinen Antrag Bezug genommen wird. Allerdings lässt sich dem Satz „Demnach sind Sie und Ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen“ mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass der Leistungsantrag für alle drei Kläger abgelehnt wurde. Der nur abstrakt umschriebene, abgesehen vom Kläger zu 1 nicht namentlich genannte Adressatenkreis erschließt sich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 Zehntes Buch SozialgesetzbuchSGB X) aus der vorangegangenen Antragstellung aller drei Kläger und aus deren Lebensumständen.

71

Der Bescheid ist auch gegenüber allen Klägern wirksam bekanntgegeben worden (§ 37 Abs. 1 SGB X). Auch diesbezüglich ist es unschädlich, dass der Bescheid in der Anrede nur an den Kläger zu 1 gerichtet war, da der Bescheid an die gemeinsame Wohnadresse übersandt wurde, der Verwaltungsakt aus dem Bescheidtext hinreichend deutlich erkennbar auch an die Klägerin zu 2 gerichtet war und zudem in Folge der Umstände der Antragstellung und der nachfolgenden Widerspruchs- und Klageerhebung auch durch die Klägerin zu 2 von einer Bevollmächtigung des Klägers zu 1 durch die Klägerin zu 2 ausgegangen werden kann (vgl.Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 38 Rn. 40, Stand 10.03.2015). Auf eine gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II nur für die Antragstellung und die Entgegennahme von Leistungen geltende Vertretungsvermutung kommt es daher nicht an (für die Erstreckung der Vermutungswirkung u.a. auch auf die Entgegennahme von ablehnenden Bescheiden z.B. Schoch in: LPK-SGB II, § 38 Rn. 19, 5. Auflage 2013).

72

Selbst wenn jedoch angenommen würde, dass gegenüber den Klägerinnen zu 2 und 3 noch keine Entscheidung über den Leistungsantrag durch den Beklagten vorliegt und die kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen der Klägerinnen in Folge dessen als unzulässig angesehen würden, führte dies nicht zu einem Wegfall der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen, weil beide jedenfalls auch für die vom Kläger zu 1 gestellten Klageanträge von entscheidungserheblicher Bedeutung sind.

73

1.6 Zulässiger Streitgegenstand ist zunächst der Bescheid vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 (§ 95 SGG). In zeitlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand vorerst und vorbehaltlich einer zukünftigen Begrenzung des Antrags auf den letzten mündlichen Verhandlungstag der Tatsacheninstanzen begrenzt (BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 4 AS 99/11 R – Rn. 11). Zum Zeitpunkt des Vorlagebeschlusses der Kammer ist dies der 18.04.2016. Dass für den zukunftsoffenen streitgegenständlichen Zeitraum der Sachverhalt naturgemäß noch nicht abschließend aufgeklärt ist, stellt kein Zulässigkeitshindernis für das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dar, weil sich die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der entscheidungserheblichen Normen jedenfalls für den bereits zurückliegenden Zeitraum stellt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 129).

74

1.7 Gemäß § 75 Abs. 5 SGG kommt auch eine Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers zur Zahlung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII in Betracht (vgl. BSG Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R; BSG, Urteil vom 17.03.2016 – B 4 AS 32/15 R). Insoweit wäre auch der Ablehnungsbescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016 Gegenstand des Verfahrens. Auf Grund der fristgerechten Erhebung des Widerspruchs durch die Kläger am 19.01.2016 ist bislang keine Bestandskraft eingetreten. Der Abschluss des Vorverfahrens ist insoweit keine Sachurteilsvoraussetzung (vgl. Groß in Lüdtke, SGG, § 75 Rn. 16, 4. Auflage 2012).

75

2. Die Kläger erfüllen abgesehen von den den Gegenstand der Vorlagefragen bildenden Ausschlussregelungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (für die Zeit ab dem 24.11.2015) und § 7 Abs. 5 SGB II (bei dem Kläger zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015) alle Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II.

76

2.1 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind – vorbehaltlich der hier verfahrensgegenständlichen Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Beide sind älter als 15 Jahre und haben die für beide Kläger nach § 7a Satz 2 SGB II maßgebliche Altersgrenze von 67 Jahren noch nicht erreicht. Die Klägerin zu 3 hat das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet und kann deshalb nur in Abhängigkeit einer grundsätzlichen Leistungsberechtigung ihrer Eltern einen Anspruch auf Sozialgeld nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 SGB II haben.

77

2.2 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Kläger leben in Mainz. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kläger nur vorübergehend in Deutschland aufhalten könnten, sind nicht erkennbar. Die aktuellen Aufenthaltstitel sind bis zum 22.05.2017 befristet. Für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts kommt es auf aufenthaltsrechtliche Aspekte im Übrigen nicht an (BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R – Rn. 18 f.).

78

2.3 Der Kläger zu 1 hat den nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II erforderlichen Antrag gestellt. Der Antrag vom 26.11.2015 wirkt gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 SGB II im Hinblick auf die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den 01.11.2015 zurück. Die Antragstellung wirkt gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II auch zu Gunsten der Klägerinnen zu 2 und 3.

79

2.4 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II, insbesondere ist beiden die Aufnahme einer Beschäftigung als Nebenbestimmung zur Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bzw. § 30 AufenthG erlaubt (§ 8 Abs. 2 Satz 1 SGB II).

80

2.5 Die Kläger sind für den größeren Teil des bisherigen streitgegenständlichen Zeitraums hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Hilfebedürftigkeit liegt gemäß § 9 Abs. 1 SGB II vor, wenn jemand seinen eigenen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus dem zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen, sichern kann und die nötige Hilfe nicht von anderen erhält. In Folge der Einkommens- und Vermögenszurechnungsregelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II, nach der jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig gilt, sofern der gesamte Bedarf nicht aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist („horizontale Berechnungsmethode“), kommt es für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nur darauf an, dass der Gesamtbedarf der Kläger durch Einkommen oder Vermögen der Kläger zu irgendeinem Zeitpunkt in den streiterheblichen Zeiträumen nicht vollständig gedeckt war.

81

Im Hinblick auf die erste Vorlagefrage ist diesbezüglich der Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 18.04.2016 relevant, weil der Kläger zu 1 seit dem 24.11.2015 über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügt. Für die zweite Vorlagefrage ist der Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 von Bedeutung, weil der Kläger zu 1 am 18.11.2015 sein Studium abgeschlossen hat.

82

Die Voraussetzung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II ist im vorliegenden Fall zeitweise erfüllt, weil dem Gesamtbedarf der Kläger zum Lebensunterhalt jedenfalls in der Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.01.2016 und vom 01.03.2016 bis zum 31.03.2016 kein Einkommen oder Vermögen gegenüberstand, das den Bedarf vollständig hätte decken können.

83

2.5.1 Bei dem Kläger zu 1 und bei der Klägerin zu 2 ist jeweils für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 360 Euro monatlich (§ 20 Abs. 4 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2015 vom 15.10.2014 (BGBl. Teil I S. 1620) auszugehen, für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Regelbedarf in Höhe von 364 Euro monatlich (§ 20 Abs. 4 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2016 vom 22.10.2015 (BGBl. Teil I S. 1792)), da sie als Partner miteinander in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 a) SGB II leben und das 18. Lebensjahr vollendet haben.

84

Bei der Klägerin zu 3 ist für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 234 Euro monatlich (§ 23 Nr. 1 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2015 vom 15.10.2014 (BGBl. Teil I S. 1620)) auszugehen, für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Regelbedarf in Höhe von 237 Euro monatlich (§ 23 Nr. 1 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2016 vom 22.10.2015 (BGBl. Teil I S. 1792)), da sie das 6. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

85

Darüber hinaus ist von einem Gesamtbedarf für Unterkunft und Heizung nach §§ 19 Abs. 1 Satz 3, 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 450 Euro – nachgewiesen durch Mietvertrag, Mietbescheinigung und Abbuchungen auf Kontoauszügen – monatlich auszugehen. Ob der Unterkunfts- und Heizungsbedarf richtigerweise nach Maßgabe der mietvertraglichen gesamtschuldnerischen Verpflichtung hälftig (je 225 Euro) zwischen dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 (so SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 289 ff.) oder nach dem Kopfteilprinzip zu je einem Drittel (je 150 Euro) zwischen allen Bedarfsgemeinschaftsmitgliedern aufzuteilen ist (so z.B. BSG, Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 1/06 R – Rn. 28 f.; BSG, Urteil vom 31.10.2007 – B 14/11b AS 7/07AS 7/07 R – Rn. 19; BSG, Urteil vom 23.05.2013 – B 4 AS 67/12 R – Rn. 19), spielt für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen keine Rolle, weil sich der Gesamtbedarf hierdurch nicht ändert. Die Frage, ob die Aufwendungen der Kläger für Unterkunft und Heizung angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II sind, kann vorliegend offenbleiben, da die Kläger mangels Kostensenkungsaufforderung jedenfalls keine Kostensenkungsobliegenheit trifft und daher die Kosten nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II bis auf Weiteres unabhängig von ihrer Angemessenheit in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen sind. Die Frage, ob § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II verfassungswidrig ist (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschlüsse vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 und S 3 AS 370/14), ist daher im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich.

86

Bei dem Kläger zu 1 ist somit für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 ein monatlicher Gesamtbedarf in Höhe von 585 Euro und für die Zeit ab dem 01.01.2016 in Höhe von 589 Euro auszugehen. Bei einer Berücksichtigung der Unterkunftsbedarfe nach Kopfteilen läge der Gesamtbedarf bei 510 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 und bei 514 Euro ab dem 01.01.2016. Entsprechendes gilt für die Klägerin zu 2.

87

Bei der Klägerin zu 3 ist der individuelle Gesamtbedarf mit dem Regelbedarf identisch, so dass für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Bedarf von 234 Euro monatlich und für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Bedarf von 237 Euro auszugehen ist. Bei Zugrundelegung der „Kopfteilmethode“ ergäbe sich allerdings ein weiterer Bedarf nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 150 Euro monatlich, somit ein monatlicher individueller Gesamtbedarf von 384 Euro bzw. 387 Euro.

88

Für die aus dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 (§ 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II und § 7 Abs. 3 Nr. 3 a) SGB II) sowie der Klägerin zu 3 (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) bestehende Bedarfsgemeinschaft ist somit für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 ein Gesamtbedarf in Höhe von 1.404 Euro monatlich, für die Zeit ab dem 01.01.2016 in Höhe von 1.415 Euro zu Grunde zu legen.

89

2.5.2 Vermögen haben die Kläger zur Bedarfsdeckung nicht einzusetzen.

90

Nach § 12 Abs. 1 SGB II sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Gemäß § 12 Abs. 2 SGB II sind vom verwertbaren Vermögen jedoch Freibeträge abzusetzen.

91

Zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums am 01.11.2015 verfügte der Kläger zu 1 über einen positiven Saldo von 3.510,83 Euro auf seinem Girokonto. Die Klägerin zu 2 verfügte auf ihrem Girokonto über einen positiven Saldo von 1.183,32 Euro. Hinzu kommt nach den Angaben des Klägers zu 1 zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Bargeldbetrag von ca. 1.500 Euro, so dass für den maßgeblichen Zeitpunkt des Beginns des potenziellen Bewilligungszeitraums (vgl. Radüge in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 12 Rn. 41, Stand 08.09.2015) am 01.11.2015 von einem Gesamtvermögen der Kläger in Höhe von ca. 4.700 Euro auszugehen ist.

92

Die kurz vor Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums erfolgten größeren Vermögensverschiebungen sind anhand der Erklärungen des Klägers zu 1 nachvollziehbar. Durch die Nachzahlung von Kindergeld in Höhe von 1.128 Euro am 28.09.2015 und von Elterngeld in Höhe von 1.500 Euro am 01.10.2015 war der Kläger zu 1 im Oktober 2015 dazu in der Lage, Herrn …kurzfristig einen Geldbetrag in Höhe von ca. 3.250 Euro zu leihen, den er noch im gleichen Monat zurückerhielt. Der Vorgang lässt sich anhand der Kontoauszüge des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 und der Erläuterungen des Klägers zu 1 nachvollziehen.

93

Als Vermögensfreibetrag ist gemeinsam für den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 ein Betrag von 9.900 Euro, ab Februar 2016 von 10.050 Euro zu berücksichtigen. Dieser errechnet sich aus dem Grundfreibetrag für den Kläger zu 1 von 4.650 Euro bzw. 4.800 Euro gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II (31 bzw. 32 Lebensjahre x 150 Euro), aus dem Grundfreibetrag für die Klägerin zu 2 in Höhe von 3.750 Euro (25 Lebensjahre x 150 Euro) und dem jeweiligen Anschaffungsfreibetrag von 750 Euro gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB II, zusammen 1.500 Euro.

94

Das Vermögen des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 lag demnach zu Beginn des Bewilligungszeitraums am 01.11.2015 deutlich unter der maßgeblichen Vermögensfreigrenze. Daher kann vorliegend offenbleiben, ob der Anschaffungsfreibetrag für die Klägerin zu 3 in Höhe von weiteren 750 Euro ebenfalls bei dem Vermögen des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 zu berücksichtigen ist (so Geiger in LPK-SGB II, § 12 Rn. 35, 5. Auflage 2013), da das Gesamtvermögen der Kläger am 01.11.2015 und in der Folgezeit stets unter dem jedenfalls anzusetzenden Freibetrag von 9.900 Euro bzw. 10.050 Euro lag. Der Grundfreibetrag der Klägerin zu 3 nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a SGB II in Höhe von weiteren 3.100 Euro spielt mangels eigenem Vermögen der Klägerin zu 3 keine Rolle.

95

In Folge der Rückwirkung des Antrags auf den 01.11.2015 sind nach diesem Zeitpunkt durch die Kläger erzielte Vermögenszuwächse im jeweiligen Zuflussmonat als Einkommen im Sinne des § 11 SGB II zu behandeln. Der kumulierte Vermögensfreibetrag des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 wurde durchgehend seit dem 01.11.2015 bis mindestens zum 31.03.2016 deutlich unterschritten.

96

2.5.3 Die Kläger verfügen jedoch über anzurechnendes Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, das den Bedarf mindert und zeitweilig vollständig deckt.

97

Als Einkommen zu berücksichtigen ist für den Monat November 2015 das Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung des Klägers zu 1 in Höhe von 807,20 Euro. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 141,44 Euro, mithin ein Gesamtfreibetrag von 241,44 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 665,76 Euro. Hinzu kommt – vorbehaltlich einer abweichenden abschließenden rechtlichen Würdigung – die Zahlung von 175 Euro durch Frau …. am 11.11.2015, so dass sich für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 30.11.2015 ein anzurechnendes Gesamteinkommen des Klägers zu 1 von 840,76 Euro errechnet. Das Einkommen der Klägerin zu 2 aus Kindergeld ist nach § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II in Höhe von 188 Euro vollständig bei der Klägerin zu 3 anzurechnen, da es zur Sicherung des Lebensunterhalts der Klägerin zu 3 benötigt wird. Das insgesamt somit maximal zu berücksichtigende Einkommen von 1.028,76 Euro reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.404 Euro nicht aus.

98

Im Monat Dezember 2015 ist als Einkommen die an den Kläger zu 1 gezahlte Vergütung in Höhe von 203,42 Euro zu berücksichtigen. Nach Abzug des Freibetrags nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro und des Freibetrags nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Höhe von 20,68 Euro verbleibt ein anzurechnendes Einkommen von 82,74 Euro. Weitere Einnahmen hatten die Kläger in diesem Monat nicht, insbesondere wurde in diesem Monat kein Kindergeld ausgezahlt. Das Einkommen reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.404 Euro nicht aus.

99

Als Einkommen des Klägers zu 1 für den Monat Januar 2016 ist zunächst die Vergütung in Höhe von 291,31 Euro zu berücksichtigen. Nach Abzug des Freibetrags nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro und des Freibetrags nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Höhe von 38,26 Euro verbleibt ein anzurechnendes Einkommen von 153,05 Euro. Im Monat Januar 2016 ist darüber hinaus die Zahlung von Kindergeld in Höhe von 566 Euro als Einkommen zu berücksichtigen. Der Bedarf der Klägerin zu 3 (237 Euro bzw. 387 Euro) wird hierdurch gemäß der Zuordnungsregel des § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II vollständig gedeckt, so dass die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 31.01.2016 keinen Anspruch auf Sozialgeld hat. Der Differenzbetrag von 329 Euro (179 Euro) ist als Einkommen der Klägerin zu 2 nach Abzug der Versicherungspauschale von 30 Euro nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) in Höhe von 299 Euro (149 Euro) zu berücksichtigen. Das zur Anrechnung bei dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 insgesamt zu berücksichtigende Einkommen in Höhe von 452,05 (302,05 Euro) reicht zur Deckung des Bedarfs des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 in Höhe von zusammen 1.178 Euro (1.028 Euro) nicht aus.

100

Im Monat Februar 2016 ist als Einkommen des Klägers zu 1 Arbeitslosengeld I in Höhe von 1.571,40 Euro als laufende Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen. Für die Qualifizierung einer Einnahme als laufende Einnahme reicht es aus, wenn sie in einem Gesamtbetrag erbracht wird, aber nach dem zu Grunde liegenden Rechtsgrund regelmäßig zu erbringen gewesen wäre (BSG, Urteil vom 24.04.2015 – B 4 AS 32/14 R – Rn. 16). Dies ist vorliegend der Fall, weil dem Kläger zu 1 im Februar 2016 Arbeitslosengeld für insgesamt drei Monate ausgezahlt wurde. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist das im Februar 2016 ausgezahlte Arbeitslosengeld daher vollständig und ausschließlich im Februar 2016 als Einkommen auf den Bedarf der Kläger anzurechnen. Eine Versicherungspauschale nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V ist nicht abzusetzen, weil bei dem Kläger zu 1 im Februar 2016 auch Einnahmen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 166,35 Euro zu berücksichtigen sind. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 13,27 Euro, folglich ein Gesamtfreibetrag von 113,27 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 53,08 Euro. Der Erwerbstätigenfreibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II enthält bereits den Absetzbetrag für Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II, so dass für eine zusätzliche Heranziehung der Versicherungspauschale nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V bei den Einnahmen aus Arbeitslosengeld kein Raum bleibt. Des Weiteren ist im Februar 2016 bei der Klägerin zu 3 Einkommen aus Kindergeld in Höhe von 190 Euro zu berücksichtigen. Die Auszahlung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt durch die Beigeladene in Höhe von 1.102,58 Euro im Februar 2016 ist bei der Einkommensanrechnung nicht zu berücksichtigen, da diese in Ausführung der Verpflichtung zur vorläufigen Leistung durch den Beschluss des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) erfolgte. Das anzurechnende Gesamteinkommen beträgt somit 1.814,48 Euro. Der Gesamtbedarf der Kläger in Höhe von 1.415 Euro ist durch das Einkommen der Kläger im Februar 2016 daher gedeckt. Da es sich bei sämtlichen im Monat Februar 2016 zufließenden Einnahmen (Arbeitslosengeld, Arbeitsentgelt, Kindergeld) um laufende Einnahmen im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II handelt, ist das Einkommen trotz Bedarfsdeckung nicht nach § 11 Abs. 3 Satz 3 SGB II über einen Zeitraum von sechs Monaten gleichmäßig zu verteilen (vgl. Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 11, Rn. 70.2, Stand 28.12.2015). Die rechnerische Bedarfsdeckung führt vielmehr dazu, dass die Kläger für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016 mangels Hilfebedürftigkeit unabhängig von der ersten Vorlagefrage keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben.

101

Im Monat März 2016 ist als Einkommen des Klägers zu 1 Arbeitslosengeld I in Höhe von 523,80 Euro zu berücksichtigen. Weiter erhielt der Kläger eine Vergütung in Höhe von 166,35 Euro. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 13,27 Euro, folglich ein Gesamtfreibetrag von 113,27 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 53,08 Euro. Die Klägerin zu 2 erhielt eine Kindergeldzahlung in Höhe von 190 Euro. Das anzurechnende Gesamteinkommen von 766,88 Euro reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.415 Euro nicht aus.

102

2.5.4 Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger entgegen ihrer Erklärung seit dem 01.11.2015 weitere Einnahmen aus anderen Quellen gehabt haben könnten.

103

Der Kläger zu 1 hat insbesondere glaubhaft versichert, dass er zu keinem Zeitpunkt Zahlungen von Frau ….. erhalten hat. Darauf, ob die Verpflichtungserklärung vom 06.10.2011 – die sich ohnehin nur auf den Kläger zu 1 bezieht – weiterhin Bestand hat oder beispielsweise auf Grund des Wechsels des Aufenthaltszwecks mit dem Ende des Studiums zwischenzeitlich entfallen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 – 1 C 33/97 – Rn. 34), kommt es daher vorliegend nicht an. Im Übrigen verschafft eine Verpflichtungserklärung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG lediglich eine Regressmöglichkeit für die öffentliche Hand, nicht jedoch einen unmittelbaren Unterhaltsanspruch des Aufenthaltsberechtigten gegen den Erklärenden (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09.10.2015 – L 5 AS 643/15 B ER – Rn. 30), so dass auch kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich ist, dass der Kläger zu 1 einen zivilrechtlichen Anspruch auf Unterhaltsleistungen gegen Frau …..haben könnte.

104

Die Kläger haben neben den bei der Einkommensanrechnung berücksichtigten keine weiteren Sozialleistungen erhalten. Einen Anspruch auf Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz (BKGG) hatten die Kläger jedenfalls bis zum 31.03.2016 nicht, da selbst bei Gewährung des Höchstbetrags nach § 6a Abs. 2 Satz 1 BKGG von 140 Euro die Hilfebedürftigkeit in den Monaten, in denen sie vorlag, nicht nach dem Maßstab des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BKGG vermieden worden wäre.

105

2.6 Abgesehen von den als verfassungswidrig gerügten Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II sind die Kläger nicht aus anderen Gründen von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

106

2.6.1 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II von der Leistungsberechtigung ausgenommen, da sie sich bereits länger als drei Monate in Deutschland aufhalten.

107

Sie sind auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ausgeschlossen, da sie nicht Leistungsberechtigte nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sind. Insbesondere sind sie nicht vollziehbar ausreisepflichtig im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG und waren dies zu keinem Zeitpunkt seit dem 01.11.2015, da sie stets über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG, nach § 16 Abs. 4 AufenthG (Kläger zu 1) oder nach § 30 AufenthG (Klägerin zu 2) verfügten.

108

Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ergibt sich auch nicht daraus, dass die Kläger einen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG in analoger Anwendung haben könnten. Selbst wenn man eine analoge Heranziehung entgegen der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung der erkennenden Kammer zur der Leistungsansprüche des AsylbLG zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für möglich hielte (so z.B. Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, S. 117 f., 3. Auflage 2012), würde hieraus nicht folgen, dass der auf diese Weise berechtigte Personenkreis im regelungstechnischen Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG wäre. Denn die Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung nach § 1 AsylbLG lägen gerade nicht vor. Um einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II auch für diesen Personenkreis anzunehmen, bedürfte es daher einer weiteren analogen Anwendung dieser Vorschrift für Personen, die nach dem AsylbLG analog leistungsberechtigt wären. Für eine solche doppelte Analogie ist kein Sachgrund erkennbar, weil der betroffene Personenkreis gerade wegen eines ohnehin schon vorhandenen Leistungsausschlussgrundes auf Leistungen nach dem AsylbLG analog verwiesen würde.

109

2.6.2 Die Kläger sind auch nicht nach § 7 Abs. 4 SGB II oder § 77 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 7 Abs. 4a SGB II a.F. von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.

110

2.6.3 Seit dem 19.11.2015 ist der Kläger zu 1 auch nicht mehr gemäß § 7 Abs. 5 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Bis zum 23.11.2015 waren die Kläger wiederum nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil der Kläger zu 1 über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck des Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG und die Klägerinnen zu 2 und 3 über hieraus abgeleitete Aufenthaltsrechte verfügten.

111

3. Die Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist für die durch das Gericht zu treffende Sachentscheidung über die Ansprüche der Kläger entscheidungserheblich. Das Gleiche gilt für die Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II.

112

3.1 Entscheidungserheblichkeit im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG liegt vor, wenn bei Gültigkeit der Vorschrift ein Entscheidungsspektrum eröffnet wird, das eine Abweichung von der Entscheidung bei Nichtigkeit der Vorschrift (3.2) ermöglicht (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 127).

113

3.1.1 Im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wäre die Klage für die Zeit ab dem 24.11.2015 hinsichtlich des Hauptantrags (Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Leistungen nach dem SGB II an die Kläger) abzuweisen.

114

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

115

a) Der Kläger zu 1 wäre seit dem 24.11.2015 nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

116

Die Ausschlussregelung erfasst auch Ausländer, die – wie der Kläger zu 1 – über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügen (so auchWolff-Dellen in Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 11, 3. Auflage 2011; Thie in LPK-SGB II, § 7 Rn. 27, 5. Auflage 2013¸ Hänlein in: Gagel, SGB II, § 7 Rn. 71, beck-online; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 93, Stand 14.03.2016; SG Mainz, Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht; in diesem Sinne auch die Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales: BT-Drucks. 16/688, S. 13).

117

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom 29.08.2013 kann einem Ausländer zum Zweck des Studiums an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule oder vergleichbaren Ausbildungseinrichtung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AufenthG umfasst der Aufenthaltszweck des Studiums auch studienvorbereitende Maßnahmen. Nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Abschluss des Studiums für bis zu 18 Monate zur Suche eines diesem Abschluss angemessenen Arbeitsplatzes, sofern er nach den Bestimmungen der §§ 18, 19, 19a und 21 AufenthG von Ausländern besetzt werden darf, verlängert werden. Gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 AufenthG berechtigt die Aufenthaltserlaubnis während dieses Zeitraums zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Aus dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geht mithin hervor, dass der nach dieser Vorschrift verliehene Aufenthaltstitel zum Zwecke der Suche eines Arbeitsplatzes erteilt wird.

118

Die Auffassung von Brühl/Schoch (in: LPK-SGB II, 3. Auflage 2009, § 7 Rn. 34; implizit aufgegeben in der Folgeauflage durch Thie/Schoch in: LPK-SGB II, 4. Auflage 2011, § 7 Rn. 27), dass es bei den genannten Drittstaatsangehörigen kein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche gebe (Verweis auf §§ 4-6, 16-38a AufenthG) und dies auch für die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Studienabschluss nach § 16 Abs. 4 AufenthG, die einen Annex des Aufenthaltsrechts zum Zweck der Ausbildung darstelle, gelten dürfte, trifft nicht zu. Dass das vorherige Vorliegen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG ist, führt nicht dazu, dass Letztere weiterhin zum Zwecke des Studiums erteilt wird. Die Verlängerung des Aufenthaltsrechts nach erfolgreichem Studium gemäß § 16 Abs. 4 AufenthG dient gerade nicht mehr der Ausbildung, sondern der Arbeitsplatzsuche. Für andere bzw. weitere Zwecksetzungen gibt der Wortlaut des § 16 Abs. 4 AufenthG keine Anhaltspunkte. Dass hierbei eine Erwerbstätigkeit gestattet wird, führt nicht dazu, dass die Ausübung einer Erwerbstätigkeit selbst zum Zweck dieses Aufenthaltsrechts wird. Auch wirkt der Aufenthaltszweck der Durchführung eines Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG nicht im Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG fort. Dieser Zweck wurde in diesen Fällen bereits erreicht und hat sich erledigt, weshalb zur anschließenden Arbeitsplatzsuche ein anderer Aufenthaltstitel erforderlich wird. Mit der Möglichkeit, die Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche um bis zu 18 Monate zu verlängern ist mithin ein Wechsel des Aufenthaltszwecks verbunden (Christ in Kluth/Heusch, BeckOK-AuslR, § 16 AufenthG Rn. 51, beck-online, Stand 01.11.2015).

119

Auch der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Ausschluss nicht greifen soll, wenn zu einem früheren Zeitpunkt oder auch unmittelbar vor Erlangung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht zu anderen Zwecken bestand. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem betroffenen Personenkreis weder um EU-Bürger handelt, auf die die Ausschlussmöglichkeit der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38/EG), abzielt, noch eine Einreise zum Zwecke der Arbeitssuche vorgelegen haben muss (vgl. Brandmayer in: BeckOK-SGB II, § 7 Rn. 9, beck-online, Stand: 01.12.2015).

120

Ob der Kläger zu 1 die materiellen Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht erfüllt, das nicht dem Zweck der Arbeitsuche dient – wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt –, ist vorliegend unerheblich. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der EU oder durch Rechtsverordnung etwas Anderes bestimmt ist oder auf Grund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht. Dementsprechend besteht ein Aufenthaltsrecht außer in den zuletzt genannten Fällen erst dann, wenn ein Aufenthaltstitel erteilt wurde und nicht bereits ab dem Zeitpunkt, an dem die tatsächlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen.

121

Anders als potenziell bei Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer sich bei unfreiwilliger, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) verlängern kann (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.10.2015 – L 20 AS 2197/15 B ER – Rn. 8 ff.), ändert die Arbeitslosigkeit und der Arbeitslosengeldbezug des Klägers zu 1 nichts an dem Zweck des ihm erteilten Aufenthaltstitels.

122

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind im Falle des Klägers zu 1 ab dem 24.11.2015 mithin erfüllt.

123

b) Die Klägerin zu 2 wäre als Familienangehörige des Klägers zu 1 ebenfalls gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II seit dem 24.11.2015 von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

124

Familienangehörige im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Personen, die zu der Person, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt, in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen und über ein Aufenthaltsrecht allein auf Grund des Verwandtschaftsverhältnisses zu der Person mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche verfügen. Sofern die erste Person ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 2a FreizügG/EU verfügt, ergibt sich der vom Leistungsausschluss mitbetroffene Kreis der Familienangehörigen aus einzelnen Tatbeständen des § 3 FreizügG/EU. Sofern die erste Person über eine Aufenthaltserlaubnis aus § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG verfügt, ergibt sich der Kreis der mitbetroffenen Familienangehörigen aus den Regelungen zum Familiennachzug gemäß §§ 27, 30, 32, 33 AufenthG. Ausgenommen sind wiederum diejenigen Familienangehörigen, die über ein eigenständiges, d.h. nicht dem Aufenthaltsrecht der ersten Person gemäß § 27 Abs. 4 Satz 1 AufenthG akzessorisches Aufenthaltsrecht beispielsweise nach den §§ 31, 34 Abs. 2 oder 35 AufenthG verfügen.

125

Die Klägerin zu 2 verfügt als Ehefrau des Klägers zu 1 über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG in Abhängigkeit vom Aufenthaltstitel des Klägers zu 1. Ob die Klägerin zu 2 die materiellen Voraussetzungen für ein vom Aufenthaltstitel des Klägers zu 1 unabhängiges Aufenthaltsrecht erfüllt, das seinerseits nicht dem Zweck der Arbeitsuche dient – wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt –, ist vorliegend wiederum unerheblich (s.o. unter a).

126

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind im Falle der Klägerin zu 2 ab dem 24.11.2015 mithin ebenfalls erfüllt.

127

c) Die Klägerin zu 3 wäre im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie in diesem Fall nicht als Angehörige mindestens eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II leben würde.

128

d) Den Klägern kommt der Umstand nicht zu Gute, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf Grund des Verstoßes gegen zwingendes und unmittelbar geltendes Recht der Europäischen Union bei Unionsbürgern nicht anzuwenden ist. Die Regelung verstößt zwar gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen System der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) gerechtfertigt werden (SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 41 ff.; a.A. ohne nähere Begründung: EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63, dem die meisten Spruchkörper der Sozialgerichtsbarkeit ohne weitere sachliche Auseinandersetzung folgen). Die Kläger unterfallen, da sie nicht Staatsangehörige eines (anderen) EU-Mitgliedstaates (bzw. eines der übrigen EWR-Staaten oder der Schweiz, vgl.Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 27.1, Stand 26.01.2015) sind, gemäß Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 jedoch nicht dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung.

129

e) Die VO (EG) 883/2004 findet bei den Klägern auch nicht auf Grund von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 Anwendung. Nach dieser Vorschrift gilt u.a. die VO (EG) 883/2004 auch für Drittstaatsangehörige, die ausschließlich auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die genannte Verordnung fallen, sowie für ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich „in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft“. Unbeschadet der Unbestimmtheit der Regelung im Hinblick auf die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betreffenden Lage (vgl. Bokeloh, ZESAR 2016, S. 71), sind die Voraussetzungen des Art. 1 VO (EG) 1231/2010 im Fall der Kläger nicht gegeben, da diese über keinerlei rechtliche Beziehungen zu anderen EU-Mitgliedstaaten (bzw. zu den anderen EWR-Staaten oder der Schweiz) verfügen.

130

3.1.2 Im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II wäre die Klage des Klägers zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 abzuweisen.

131

a) Nach § 7 Abs. 5 SGB II in der seit dem 01.04.2012 geltenden Fassung haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) oder der §§ 51, 57 und 58 des SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, über die Leistungen nach § 27 SGB II hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

132

Auf Grund dessen, dass das Bezugswort zum Terminus „dem Grunde nach förderungsfähig“ in § 7 Abs. 5 SGB II „Ausbildung“ und nicht etwa „Auszubildende“ ist, kommt es für das Eingreifen des Ausschlusstatbestands nicht darauf an, ob im Einzelfall tatsächlich eine Förderung nach dem BAföG oder dem SGB III erfolgt (so im Ergebnis auch BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R – Rn. 17 m.w.N.). Das Fehlen individueller Voraussetzungen für eine Förderung ist unerheblich und ändert nichts an der Förderungsfähigkeit dem Grunde nach, auch wenn Auszubildende keine Leistungen nach dem BAföG erhalten, z.B. wegen mangelnder Eignung (§ 9 BAföG), wegen Überschreitens der Altersgrenze (§ 10 BAföG), bei Überschreiten der Förderungshöchstdauer (§ 15a BAföG) oder wegen des Fehlens der Voraussetzungen für die Förderung einer weiteren Ausbildung bei einem nach Maßgabe des Gesetzes unbegründeten Ausbildungs- und Fachrichtungswechsel (§ 7 Abs. 2, 3 BAföG). Die Ausbildung eines ausländischen Studenten ist dem Grunde nach förderungsfähig, auch wenn er tatsächlich keine Ausbildungsförderung erhält, weil er – wie der Kläger zu 1 – die in § 8 BAföG aufgeführten aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 297, Stand 14.03.2016).

133

b) Bei dem Kläger zu 1 liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für diesen Leistungsausschluss für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 vor.

134

Das Studium der Humanmedizin an der Universität …., einer staatlichen Hochschule im Inland, gehört nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BAföG zu den nach dem BAföG förderungsfähigen Ausbildungen.

135

Nach § 15b Abs. 3 Satz 1 BAföG endet die Ausbildung mit dem Bestehen der Abschlussprüfung des Ausbildungsabschnitts oder, wenn eine solche nicht vorgesehen ist, mit der tatsächlichen planmäßigen Beendigung des Ausbildungsabschnitts. Hiervon abweichend ist nach § 15b Abs. 3 Satz 2 BAföG, sofern ein Prüfungs- oder Abgangszeugnis erteilt wird, das Datum dieses Zeugnisses maßgebend; für den Abschluss einer Hochschulausbildung ist stets der Zeitpunkt des letzten Prüfungsteils maßgebend. Auf den Zeitpunkt der Exmatrikulation (vorliegend der 14.12.2015) kommt es demnach nicht an.

136

Die dem Grunde nach durch Leistungen des BAföG förderungsfähige Ausbildung des Klägers zu 1 ist demnach seit dem 18.11.2015 beendet und der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II bis zu diesem Zeitpunkt begrenzt.

137

c) Eine Rückausnahme nach § 7 Abs. 6 SGB II liegt im Falle des Klägers zu 1 nicht vor. Der Kläger hat insbesondere nicht im Sinne des § 7 Abs. 6 Nr. 1 SGB II auf Grund des § 2 Abs. 1a BAföG keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung, weil er keine Ausbildungsstätte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BAföG (weiterführende allgemeinbildenden Schulen und Berufsfachschulen) besucht hat. Der Bedarf des Klägers würde sich nicht entsprechend § 7 Abs. 6 Nr. 2 SGB II nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 BAföG bemessen, weil der Kläger keine Berufsfachschule oder Fachschulklasse besucht hat. Auch § 7 Abs. 6 Nr. 3 SGB II greift nicht, weil der Kläger zu 1 keine der dort genannten Abendschultypen besucht hat. Die an nach dem SGB III förderungsfähige Ausbildungen anknüpfenden Rückausnahmen in § 7 Abs. 6 SGB II sind für das Hochschulstudium des Klägers zu 1 ebenfalls nicht einschlägig.

138

d) Der Kläger zu 1 hat weder einen Anspruch auf Leistungen in Höhe der Mehrbedarfe nach § 27 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 21 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 oder Abs. 6 SGB II noch gegenwärtig auf Erstausstattungsleistungen nach § 27 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II.

139

Ergänzende Leistungen gemäß § 27 Abs. 3 SGB II kommen ebenfalls nicht in Betracht, weil der Kläger zu 1 in der Zeit vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 weder Berufsausbildungsbeihilfe oder Ausbildungsgeld nach dem SGB III oder Leistungen nach dem BAföG erhalten hat, noch diese Leistungen nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten hat.

140

e) Der Kläger zu 1 begehrt im vorliegenden Verfahren die zuschussweise Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II, so dass auch die theoretische Möglichkeit, Darlehensleistungen nach § 27 Abs. 4 Satz 1 SGB II für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auf Grund einer Ermessensentscheidung zu erhalten, sofern der Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 5 SGB II eine besondere Härte bedeuten würde, an der (teilweisen) Klageabweisung für den Fall der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II nichts ändern würde. Im Übrigen wäre hier wohl das Vorliegen einer besonderen Härte zu verneinen, weil der Kläger zu 1 zum Zeitpunkt der Wirkung der Antragstellung am 01.11.2015 noch über ausreichendes Vermögen verfügte, um sein Studium erfolgreich abschließen zu können (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.08.2008 – L 34 B 1550/08 AS ER – Rn. 8; BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 R – Rn. 46). Die begehrte Verurteilung zur Leistung könnte selbst bei Annahme eines besonderen Härtefalls nur unter der Voraussetzung einer Ermessensreduzierung auf Null erfolgen, die bereits auf Grund des noch vorhandenen Schonvermögens nicht in Betracht kommt.

141

3.2 Der Kläger zu 1 hätte für den Fall, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II für nichtig erklärt würde einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015. Für die Zeit vom 19.11.2015 bis zum 23.11.2015 hat er unabhängig von den Vorlagefragen einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 hätte er für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, ebenfalls einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II.

142

Die Klägerin zu 2 hat für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, hätte sie für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 ebenfalls einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II.

143

Die Klägerin zu 3 hat für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 einen Anspruch auf Sozialgeld gemäß §§ 7 Abs. 2, 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, hätte sie für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und für die Zeit vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 ebenfalls einen Anspruch auf Sozialgeld.

144

4. Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen wird ferner nicht dadurch beseitigt, dass der streitgegenständliche Bescheid aus einem anderen Rechtsgrund aufzuheben wäre und/oder den Klägern aus anderen Rechtsgründen Leistungen nach dem SGB II seit dem 01.11.2015 zustehen könnten. Insbesondere liegen weder wirksame Bewilligungsbescheide noch Zusicherungen im Sinne des § 34 SGB X vor, die den Beklagten unabhängig von der materiellen Rechtslage zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an die Kläger verpflichten könnten.

145

5. Die im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit relevante Frage, ob nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II oder nach § 7 Abs. 5 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossene Personen – insbesondere auch die Kläger – Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG haben können, berührt die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nicht. Denn in einem solchen Fall hätte die durch das Gericht zu treffende Entscheidung einen anderen Inhalt. An Stelle des Beklagten wäre die Beigeladene zu einer anderen als der im Hauptantrag begehrten Leistung zu verurteilen. Insbesondere im Hinblick auf unterschiedliche Einkommens- und Vermögensanrechnungsvorschriften wären Leistungen in insgesamt niedrigerer Höhe und unter abweichender Verteilung zwischen den Klägern zu gewähren.

146

6. Im Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wäre der Beklagte daher unter (Teil-)Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 sowie zur Zahlung von Sozialgeld an die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 zu verurteilen, da die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen gegeben sind.

147

Im Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit auch des § 7 Abs. 5 SGB II wäre der Beklagte unter (Teil-)Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 dem Grunde nach zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an den Kläger zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 zu verurteilen.

148

Unabhängig vom Ausgang des Vorlageverfahrens wird der Beklagte unter (Teil-) Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2015 dem Grunde nach zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an die Klägerin zu 2 und zur Zahlung von Sozialgeld an die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 zu verurteilen sein. Denn in diesem Zeitraum verfügte der Kläger zu 1 noch über ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke des Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG, so dass die Klägerin zu 2 nicht als dessen Familienangehörige nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen war. Der Leistungsausschluss des Klägers zu 1 nach § 7 Abs. 5 SGB II gilt anders als der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht auch für Familienangehörige. Die Klägerin zu 3 hat für diese Zeit einen Anspruch auf Sozialgeld jedenfalls auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Bedarfsgemeinschaft der Klägerin zu 2 nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II.

149

Unabhängig vom Ausgang des Vorlageverfahrens wird die Klage abzuweisen sein, soweit die Klägerin zu 3 die Zahlung von Sozialgeld für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 31.01.2016 begehrt und soweit alle Kläger Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016 begehren.

150

7. Die erste Vorlagefrage ist somit entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, da die Klage im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II für den Zeitraum ab dem 24.11.2015 für alle Kläger abzuweisen wäre, bei Nichtigkeit der Vorschrift der Klage für den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 jedenfalls für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.03.2016 und für die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 31.03.2016 hingegen stattzugeben wäre.

151

Die zweite Vorlagefrage ist entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, da die Klage im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 abzuweisen wäre, bei Nichtigkeit der Vorschrift der Klage jedoch auch für diesen Zeitraum stattzugeben wäre.

V.

152

Die Kammer ist von der Verfassungswidrigkeit der genannten Vorschriften überzeugt.

153

Die Kammer hat sich mit der Frage der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (1.) und des § 7 Abs. 5 SGB II (2.) einschließlich der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung und der zu dieser Thematik veröffentlichten Rechtsprechung und Literatur auseinandergesetzt.

154

1. Nachdem der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zunächst vor allem im Hinblick auf dessen mögliche Europarechtswidrigkeit Gegenstand zahlreicher Gerichtsentscheidungen und rechtswissenschaftlicher Diskussionen war, steht seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15.09.2015 (C-67/14) die Frage der Verfassungswidrigkeit der Regelung stärker im Fokus. Hierbei wurden bislang – soweit ersichtlich – ausschließlich Entscheidungen veröffentlicht, die ausländische Staatsangehörige aus Staaten der EU oder deren Familienangehörige betreffen. In der Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig oder zumindest verfassungsrechtlich bedenklich sei (1.1). Des Weiteren wird in verschiedenen Varianten die Auffassung vertreten, dass ein vollständiger Leistungsausschluss von ausländischen Staatsangehörigen wohl gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstieße, ein derartiger Verstoß aber durch „verfassungskonforme Auslegung“ und/oder Heranziehung anderer Normen vermieden werden könne (1.2). Eine dritte Auffassung hält mit unterschiedlichen Begründungen den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unabhängig von anderen existenzsichernden Ansprüchen gegen inländische Leistungsträger für verfassungsgemäß (1.3). In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Verfassungsmäßigkeit eines vollständigen Leistungsausschlusses von ausländischen Staatsangehörigen wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überwiegend bezweifelt, jedenfalls aber für klärungsbedürftig gehalten (1.4).

155

1.1 Die Auffassung, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist, wird in dieser Klarheit – soweit anhand veröffentlichter Entscheidungen ersichtlich – bislang nur von der erkennenden Kammer und der 22. Kammer des SG Hamburg vertreten. Bereits zuvor wurden in der Rechtsprechung allerdings deutliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung geäußert.

156

1.1.1 Der 2. Senat des LSG Sachsen-Anhalt hat im Rahmen einer Folgenabwägung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU (bis zur Feststellung der Ausländerbehörde, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht bestehe) nicht ausreisepflichtigen Antragstellern rumänischer Staatsangehörigkeit festgestellt, dass das Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums greife, solange sie sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und damit im Geltungsbereich des GG aufhielten. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schütze und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden könne (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Die Antragsteller (des dortigen Verfahrens) könnten zur Deckung ihres menschenwürdigen Existenzminimums nicht auf Leistungen nach § 23 SGB XII oder Leistungen nach dem AsylbLG zurückgreifen. Denn nach § 23 Abs. 3 Satz 1 XII hätten Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, und ihre Familienangehörigen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Das AsylbLG gelte für die Antragsteller nicht, weil sie nicht zu dem in § 1 Abs. 1 AsylbLG genannten Personenkreis gehörten. Ob die Antragsteller möglicherweise Ansprüche auf Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII hätten, weil § 21 Satz 1 SGB XII gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen sein könnte, dass für betroffene Unionsbürger ein Leistungsanspruch nach dem SGB II "dem Grunde nach" gerade nicht bestehe und damit der Leistungsausschluss des § 21 Satz 1 SGB XII nicht greife (Bezugnahme auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.10.2012 – 19 AS 1393/12 B ER u.a. – Rn. 71) sei zweifelhaft, wenn sich der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 23 Abs. 3 Satz 1 XII dafür entschieden habe, Versuche, den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durch Rückgriff auf § 23 SGB XII zu umgehen, zu unterbinden (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 01.11.2013 – L 2 AS 841/13 B ER – Rn. 36 f.; ausdrücklich aufgegeben allerdings mit Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40).

157

1.1.2 Im Urteil vom 27.11.2013 weist der 6. Senat des Hessischen LSG (L 6 AS 378/12 – Rn. 63) ergänzend darauf hin, dass ein Totalausschluss von Leistungen zur Sicherung der Menschenwürde allein auf Grund einer Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit am Maßstab der Entscheidungen des BVerfG vom 07.02.2012 (1 BvL 14/07) und vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) verfassungswidrig sein dürfte.

158

In einem Beschluss vom 07.04.2015 (L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 54) hat der 6. Senat des Hessischen LSG das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums der Ausdehnung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Wege einer Analogie auf Personen, deren Aufenthalt allein auf Grund der Freizügigkeitsvermutung legal ist, entgegengehalten. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlange bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger dürfe nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet sei. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthalte (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 31 BvL 3/09, 1 BvL 41 BvL 4/09 – Rn. 136).

159

1.1.3 Auch der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen hält in einem im Wesentlichen zusprechenden Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter Bezugnahme auf das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) fest, dass der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in die Erwägungen einzubeziehen sei, wonach das Existenzminimum eines Ausländers auch bei kurzer Aufenthaltsdauer oder kurzer Aufenthaltsperspektive in Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein müsse. Dieser Anspruch könne weder auf Grund migrationspolitischer Erwägungen – zur Minimierung von Anreizen sozialleistungsmotivierter Wanderbewegungen – verringert, noch könne pauschal nach Aufenthaltstiteln differenziert werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.03.2015 – L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 27).

160

1.1.4 Die vorlegende 3. Kammer des SG Mainz vertritt im Beschluss vom 02.09.2015 die Auffassung, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen das Grundrecht auf Gewährleistungen eines menschenwürdigen Existenzminimums verstößt (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER – Rn. 38 ff. mit Anmerkung Blischke, jurisPR-SozR 4/2016 Anm. 2). Die Begründung fußt im Wesentlichen darauf, dass Leistungsausschlüsse dem Grunde nach, die trotz bestehender Hilfebedürftigkeit eintreten und durch kein anderes existenzsicherndes Leistungssystem (z.B. durch Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG) aufgefangen werden, per se verfassungswidrig seien, da sie evident die Gewähr dafür entzögen, ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sei (Verweis auf SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 219). Das Grundrecht sei – unbeschadet der Beschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) – dem Grunde nach unverfügbar und insoweit – wie es der überkommenen Dogmatik der Menschenwürdegarantie entspreche – abwägungsfest (Bezugnahme auf Baer, NZS 2014, S. 3). Als Menschenrecht stehe das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Ein völliger Ausschluss von Leistungen lasse sich nicht mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG vereinbaren. Ein Rückgriff auf die Auffangregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII sei auf Grund deren systematischer Stellung ausgeschlossen. Eine verfassungskonforme Auslegung sei nur unter Beachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlautes und unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik zulässig. Andernfalls würde die Verfassungskonformität der "ausgelegten" Vorschrift durch einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG und zugleich gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz erkauft. Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums könne nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden.

161

1.1.5 Dieser Auffassung hat sich die (seinerzeit mit der 3. Kammer personalidentische) 12. Kammer des SG Mainz mit Beschluss vom 12.11.2015 (S 12 AS 946/15 ER – Rn. 61 ff.; vgl. auch Krämer, SozSich plus 2016, S. 12) unter Auseinandersetzung mit dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) und der hierzu wiederum ergangenen sozialgerichtlichen Rechtsprechung angeschlossen.

162

1.1.6 Auch die 22. Kammer des SG Hamburg vertritt die Auffassung, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren ist (SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER –Rn. 20 f.). Nach der maßgeblichen Rechtsprechung des BVerfG hänge der individuelle Leistungsanspruch gegen den Staat auf Sicherung des Existenzminimums nicht vom Aufenthaltsstatus, sondern lediglich vom tatsächlichen Aufenthalt im Staatsgebiet ab. Insofern könne der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) auch nicht auf die Inanspruchnahme von existenzsichernden Sozialleistungen in dessen Herkunftsstaat Bulgarien verwiesen werden, etwa weil in allen EU-Staaten ein hinreichendes Mindestsicherungsniveau garantiert sein sollte. Denn auch eine prognostiziert kurze Aufenthaltsdauer rechtfertige keine Einschränkung des Grundrechts. Ein gegenüber dem Existenzsicherungsniveau deutscher Staatsbürger abgesenktes Leistungsniveau könne nicht durch migrationspolitische Erwägungen gerechtfertigt werden. Umso weniger könne ein einfachgesetzlicher vollständiger Entzug notwendiger Leistungen gerechtfertigt werden. Sofern den durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen keine den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechende andere Leistung zustehe, liege ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums vor. Schließlich sei hervorzuheben, dass dem Einzelnen aus verfassungsrechtlichen Gründen einfachgesetzlich ein Leistungsanspruch einzuräumen sei. Die Einräumung einer bloßen Leistungsmöglichkeit ohne Normierung der Leistungsinhalte, beispielsweise im Rahmen einer nicht näher konkretisierten Ermessensvorschrift, sei unzureichend und damit verfassungswidrig. Dem könne nicht durchgreifend entgegengehalten werden, dass das BVerfG in einem Nichtannahmebeschluss vom 09.02.2001 (1 BvR 781/98 – Rn. 25) es unter bestimmten Bedingungen für in der Regel ausreichend gehalten habe, unabweisbare Hilfe in Form von Reise- und Verpflegungskosten zu leisten. Zum einen habe den dort betroffenen Ausländern jedenfalls andernorts im Inland ein Leistungsanspruch zugestanden. Zum anderen könne nicht davon ausgegangen werden, dass die genannte Entscheidung nach den Entscheidungen des BVerfG zur Regelleistung und zum AsylbLG noch den Stand der verfassungsrechtlichen Dogmatik wiedergebe. Vor der Entscheidung zur Regelleistung im Jahr 2010 sei noch nicht einmal geklärt gewesen, ob die Sicherung des Existenzminimums als subjektive Grundrechtsposition des Einzelnen anzusehen sei.

163

1.1.7 Der 6. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen betont im Beschluss vom 30.11.2015 (L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 16 ff.), dass auch nach der Entscheidung des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) die mitgliedsstaatlichen Grundrechte trotz der Einschlägigkeit des Unionsrechts ihre eigenständige Funktion behielten (Hinweis auf Kingreen, NVwZ 2015, S. 1506). Auf der Grundlage gerade auch der Rechtsprechung des BVerfG bestünden berechtigte Bedenken, ob die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der geltenden Form verfassungsgemäß sei. Denn das BVerfG habe in seiner Entscheidung zum AsylbLG (Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10,1 BvL 2/11) ausgeführt, Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG begründe einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zustehe. Insofern müsse ein Leistungsanspruch eingeräumt werden. Soweit diesem Anspruch entgegengehalten werde, es stehe dem Antragsteller frei, in sein Heimatland zurückzukehren, habe dieser Einwand seine sozialpolitische Bedeutung, aber keinen inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Denn der Gewährleistungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG entspreche deshalb ein Leistungsanspruch des Grundrechts-/Menschenrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde des Einzelnen schütze und diese Würde in solchen Notlagen nur oder doch zumindest in erster Linie durch materielle Unterstützung gesichert werden könne. Der Einwand beantworte schlicht die Frage nicht, auf welche Weise und in welchem Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur Ausreise sichergestellt werde, wenn der Betroffene nicht zur Ausreise verpflichtet sei – erst die (vollziehbare) Verpflichtung zur Ausreise würde diese Ausländer dem AsylbLG als Sicherungssystem zuweisen (Hinweis auf § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG).

164

1.2 Die für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG und andere Sozialgerichte halten die Gewährung von existenzsichernden Leistungen trotz der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II an die betroffenen Personen für möglich und gehen aus diesem Grund implizit oder ausdrücklich von der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II aus.

165

1.2.1 Der 16. Senat des Bayerischen LSG hält den zeitlich unbeschränkten völligen Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, der durch den gleich formulierten Ausschluss von Sozialhilfe in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII flankiert werde, im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das vom BVerfG aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet werde, für bedenklich (Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 59 f.). Da es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um kein Grundrecht nur für Deutsche, sondern um ein Menschenrecht handele, gelte es auch für Ausländer, die sich in Deutschland aufhielten, vor allem wenn dieser Aufenthalt rechtmäßig sei. Zwar gestehe das BVerfG dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der zur Gewährleistung dieses Existenzminimums zu erbringenden Leistungen einen Gestaltungsspielraum zu. Es frage sich aber, ob nicht der zeitlich unbegrenzte Ausschluss jeglicher Leistungen für Ausländer, die sich rechtmäßig zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, in den von Art. 19 Abs. 2 GG für unantastbar erklärten Wesensgehalt dieses Grundrechts eingreife. Ob der zeitlich unbefristete Ausschluss von Leistungen an arbeitsuchende Unionsbürger mit der Begründung gerechtfertigt werden könne, dass diese auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen werden könnten (Hinweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30), dürfe zumindest zweifelhaft sein. Ferner sei im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zweifelhaft, ob eine durch sachliche Gründe zu rechtfertigende Ungleichbehandlung darin liege, dass Ausländer, die vollziehbar ausreisepflichtig seien, wenigstens gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG das "reduzierte" Existenzminimum nach dem AsylbLG erhielten, dagegen Ausländer, die die Unionsbürgerschaft besäßen und sich legal in Deutschland aufhielten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ohne zeitliche Begrenzung von jeglichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen seien. Ohne sich endgültig auf eine Rechtsgrundlage festzulegen, verpflichtete der Senat den dortigen Antragsgegner zur Gewährung vorläufiger Leistungen in der nach dem AsylbLG vorgesehenen Höhe (Bayerisches LSG, Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 69).

166

1.2.2 Der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 14) weist darauf hin, dass in der Literatur mit überzeugenden Argumenten die Auffassung vertreten werde, dass selbst hilfebedürftigen Ausländern, bei denen ein Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 SGB XII bzw. eine Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 8 Abs. 2 SGB II vorliege, zumindest Leistungen analog § 1a AsylbLG vom Leistungsträger nach dem SGB XII zur Verfügung gestellt werden müssten, wenn sie nicht Mittel zur Ausreise erhielten. Darüber hinaus gehende Leistungen stünden im Ermessen der Sozialhilfeträger.

167

In einer späteren Entscheidung hält der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für klärungsbedürftig, jedoch im Falle des Eingreifens dieses Leistungsausschlusses in Übereinstimmung mit seiner früheren Entscheidung einen Anspruch auf Sozialhilfe im Ermessenswege für möglich, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.09.2015 – L 19 AS 1260/15 B ER – Rn. 27 und 29; ähnlich derselbe Senat mit Beschluss vom 30.09.2015 – L 19 AS 1491/15 B ER – Rn. 27 unter Hinweis auf den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG. i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG, wonach das Existenzminimum eines Ausländers auch bei kurzer Aufenthaltsdauer oder kurzer Aufenthaltsperspektive in Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein müsse).

168

1.2.3 Der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14) hält es im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für möglich, den beigeladenden Sozialhilfeträger im Rahmen der Folgenabwägung zu verpflichten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossenen Personen Regelbedarfe nach § 27a SGB XII zu gewähren. Zwar hätten Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe (§ 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII). Es begegne jedoch rechtlichen Bedenken, Neu-EU-Bürger bei einem rechtmäßigen Aufenthalt in der BRD von jeglicher staatlicher Unterstützung selbst bei untragbaren Verhältnissen auszuschließen. Solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU festzustellen, entspreche es der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen (Verweis auf BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R – Rn. 4). Erst mit der Verlustfeststellung sei die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU begründet. Auch würde sich eine Schlechterstellung der Unionsbürger aus den Beitrittsgebieten gegenüber aus entfernteren Ländern stammenden Antragstellern nach dem AsylbLG ergeben. Zur Überzeugung des Senats komme bei untragbaren Verhältnissen unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Wertungen nach Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG eine Mindestsicherung nach dem SGB XII bzw. AsylbLG im Wege einer Rechtsfolgenanwendung in Betracht.

169

1.2.4 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f.; vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 – L 15 AS 202/14 B ER – Rn. 21 ff.) erklärt, dass er die in Rechtsprechung und Literatur verschiedentlich geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Ausschluss von arbeitsuchenden Unionsbürgern von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowohl nach dem SGB II als auch nach dem SGB XII nicht teile. Dabei übersehe er nicht, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG dem Grunde nach unverfügbar sei und durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden müsse. Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlten, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen seien, sei der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben könne aber dadurch Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf Mindestsicherung nach dem SGB XII eingeräumt werde. Es sei – soweit ersichtlich – in der sozialhilferechtlichen Literatur unumstritten, dass auch bei Vorliegen von Leistungsausschlussgründen Ausländern, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, ein Anspruch auf die nach den Umständen des Einzelfalls unabweisbar gebotenen Leistungen erhalten bleibe (Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 4). Welche Leistungen unabweisbar seien, hänge von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland komme in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht (Überbrückungsleistungen). Sei die Rückkehr im Einzelfall vorerst nicht möglich, seien längerfristige Leistungen zu erbringen, die das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum sicherten. Diese könnten sich an den Leistungen nach dem AsylbLG orientieren. Einem solchen Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe stehe nicht § 21 Satz 1 SGB XII entgegen, wonach Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt seien, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten. Der verfassungsrechtlich gebotene Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums lasse sich bei Unionsbürgern, die dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterlägen, im Rahmen des Regelungsgefüges des SGB II nicht verwirklichen. Im Rahmen des SGB XII werde dieser Anspruch aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, des § 1 a AsylbLG oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitet. Nach Auffassung des Senats bestehe bei arbeitsuchenden Unionsbürgern, die ohne ausreichende Existenzmittel in die Bundesrepublik eingereist seien und auf dem Arbeitsmarkt bislang weder als Arbeitnehmer noch als Selbstständige Fuß gefasst hätten, eine atypische Bedarfslage, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) rechtfertige. § 21 Satz 1 SGB II stehe der Anwendung dieser Norm, die sich nicht im 3. Kapitel des SGB XII über die Hilfe zum Lebensunterhalt finde, nicht entgegen.

170

1.2.5 Auch der 7. Senat des Hessischen LSG hält grundsätzlich einen Anspruch auf Gewährung von Hilfen in sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII gegen den Sozialhilfeträger für möglich, weil das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dem Grunde nach unverfügbar sei und durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden müsse (Hessisches LSG, Beschluss vom 18.09.2015 – L 7 AS 431/15 B ER – Rn. 21).

171

1.2.6 Der 4. Senat des LSG Hamburg vertritt unter Anschluss an den 7. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER) die Auffassung, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem nationalen Verfassungsrecht vereinbar sei. Den verfassungsrechtlichen Vorgaben könne aus Sicht des Senats dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen eingeräumt werde (Bezugnahme auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER). Welche Leistungen unabweisbar seien, hänge dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland komme in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht. Es könne dahingestellt bleiben, ob ein solcher Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, des § 1a AsylbLG oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG herzuleiten sei oder ob in entsprechenden Fällen von einer atypischen Bedarfslage auszugehen sei, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII rechtfertige. Aus der Entscheidung des BVerfG zum AsylblG (Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 2/11) folge nichts Anderes. In jener Entscheidung sei es um die Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs nach § 3 AsylbLG gegangen. Nur in diesem Zusammenhang habe das BVerfG ausgeführt, dass Leistungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren begründet werden müssten und die Höhe der Leistungsansprüche nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenziert werden dürfe. Hier jedoch gehe es um einen Leistungsausschluss, der seine Rechtfertigung in dem europäischen Konzept einer Freizügigkeit finde, ohne dass zugleich (schon) eine so genannte Sozialunion hergestellt sei. Dieses Konzept sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wobei der Senat davon ausgehe, dass in sämtlichen Mitgliedsstaaten der EU deren grundlegende, in Art. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgelegten Werte, wozu Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte gehörten, gewährleistet seien. Weiter habe das BVerfG in jener Entscheidung ausgesprochen, dass die Hilfebedürftigen nicht auf freiwillige Leistungen verwiesen werden dürften, sondern der Gesetzgeber ihnen ein entsprechendes subjektives Recht einräumen müsse. Dem genüge der oben beschriebene Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen, der – wie etwa auch der Anspruch nach § 1a oder § 11 Abs. 2 AsylbLG bzw. nach § 23 SGB XII – ein gesetzlicher Anspruch sei, selbst wenn seine konkrete Ausgestaltung im Einzelfall nicht direkt aus dem Gesetz ablesbar sei. Anders als bei der Bemessung der Leistungen nach § 3 AsylbLG stoße der Gesetzgeber wegen der Individualität und Situationsbezogenheit dieses Anspruchs an sachbezogene Grenzen. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Vielmehr beruhe er auf sachgerechten Gründen, nämlich dem bereits erwähnten europäischen Konzept der Freizügigkeit einerseits und dem grundsicherungsrechtlichen Grundsatz der Selbsthilfe andererseits. EU-Bürger seien nämlich typischerweise ohne weiteres im Stande, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren und dort unter adäquaten, menschenwürdigen Umständen zu leben. Insoweit sei ihre Situation mit der in § 11 Abs. 2 AsylbLG geregelten Lage derjenigen Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG vergleichbar, denen bei Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung im Bundesgebiet nur die unabweisbar gebotene Hilfe zu leisten sei. Zwar möge es im Hinblick auf § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG Fälle geben, in denen ausländische Nicht-EU-Bürger Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, obwohl sie ebenfalls ohne weiteres in ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten. Darin liege aber – abgesehen von der politischen Diskussion über Rechtsänderungen in diesem Bereich – kein relevanter Gleichheitsverstoß, weil der Gesetzgeber bei der ihm nur möglichen typisierenden Betrachtung nicht von der gleichmäßigen Gewähr adäquater, menschenwürdiger Umstände außerhalb der EU ausgehen müsse (LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9 ff.).

172

1.2.7 Der 4. Senat des BSG vertritt in zwei Urteilen vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R und B 4 AS 44/15 R) die Auffassung, dass Personen, die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen sind, ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII zustehen kann. Hierbei hat er zu Grunde gelegt, dass der Ausschluss arbeitsuchender Unionsbürger von SGB II-Leistungen auch für diejenigen Unionsbürger greife („erst-recht“), die über kein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügigG/EU oder dem AufenthG verfügen. Auch bei fehlender Freizügigkeitsberechtigung seien aber zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen. Im Falle eines verfestigten Aufenthalts, den das BSG bei einem Aufenthaltszeitraum von mehr als sechs Monaten annimmt, sei dieses Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen sei (BSG, Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.). Die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist, hat der 4. Senat des BSG in diesen Entscheidungen nicht ausdrücklich erörtert.

173

Der 4. Senat des BSG hat seine Rechtsprechung mit Urteilen vom 17.02.2016 (B 4 AS 24/14 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht) und vom 17.03.2016 (B 4 AS 32/15 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht), in der letzten Entscheidung allerdings von einer Nichtanwendung der Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 SGB XII bei einem Angehörigen eines EFA-Signatarstaates ausgehend, aufrechterhalten.

174

1.2.8 Der 14. Senat des BSG hat sich dem 4. Senat mit Urteilen vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R) und vom 20.01.2016 (B 14 AS 15/15 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht – und B 14 AS 35/15 R) angeschlossen und hierbei auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II angesprochen, allerdings keine verfassungsrechtlichen Bedenken gesehen. Der Leistungsausschluss zu Lasten der Klägerinnen und Kläger der dortigen Verfahren sei insbesondere schon deshalb mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar, weil den jeweiligen Klägerinnen und Klägern existenzsichernde Leistungen durch den beigeladenen bzw. beizuladenden Sozialhilfeträger nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu gewähren seien (BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R – Rn. 36; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 18/14 R – Rn. 34; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 33; BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 32). Der 14. Senat des BSG führt zur Begründung des sozialhilferechtlichen Anspruchs an, dass es auf die Möglichkeit einer Heimkehr des Ausländers in sein Herkunftsland in diesem Zusammenhang nicht ankomme. Diese Möglichkeit sei im Hinblick auf die Ausgestaltung des genannten Grundrechts als Menschenrecht schon verfassungsrechtlich jedenfalls solange unbeachtlich, wie der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland von den zuständigen Behörden faktisch geduldet werde. Ungeachtet dessen finde der Verweis auf eine so verstandene Selbsthilfe in dieser Lage nach dem derzeit geltenden Recht auch sozialhilferechtlich keine Grundlage. Zwar erhalte Sozialhilfe nach dem Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XII nicht, wer sich – vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens – selbst helfen könne oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhalte. Diese Vorschrift sei jedoch nach der Rechtsprechung des Sozialhilfesenats des BSG keine eigenständige Ausschlussnorm, sondern ihr komme regelmäßig nur im Zusammenhang mit ergänzenden bzw. konkretisierenden sonstigen Vorschriften des SGB XII Bedeutung zu; ein Leistungsausschluss ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII sei mithin allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließe und Ansprüche ohne Weiteres realisierbar seien (Hinweis auf BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R – Rn. 25). Für die Annahme einer solchen Ausnahmelage fehle indes – nachdem eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für einen Verweis auf die Rückkehr in das Heimatland nach geltendem Recht im SGB XII nicht bestehe – ohne Begründung einer Ausreisepflicht des Ausländers als Ergebnis eines ausländerbehördlichen Verfahrens schon im Ansatz jeder Anhaltspunkt (BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 42).

175

1.2.9 Dem BSG haben sich inzwischen – jeweils im Rahmen von Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und vorbehaltlich einer Prüfung im Hauptsacheverfahren – die 17. Kammer des SG Darmstadt (Beschluss vom 04.12.2015 – S 17 SO 211/15 ER – Rn. 28 ff.), der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschlüsse vom 16.12.2015 – L 7 AS 1466/15 B ER – Rn. 14, vom 17.12.2015 – L 7 AS 1711/15 B ER – Rn. 12, vom 04.03.2016 – L 7 AS 2143/15 B ER – Rn. 14, vom 22.03.2016 – L 7 AS 354/16 B ER, L 7 AS L 7 AS 355/16 B – Rn. 10und vom 07.04.2016 – L 7 AS 288/16 B ER – Rn. 20 f.), der 25. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 21.12.2015 – L 25 AS 3035/15 B ER – Rn. 8), die 128. Kammer des SG Berlin (Beschluss vom 04.01.2016 – S 128 AS 25271/15 – Rn. 32 ff.), der 28. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 15.01.2016 – L 28 AS 3053/15 B ER – Rn. 8), die 3. Kammer des SG Kassel (Beschluss vom 21.01.2016 – S 3 AS 217/15 ER – Rn. 46), die 11. Kammer des SG Mainz (Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht), die 62. Kammer des SG Dortmund (Beschluss vom 11.02.2016 – S 62 SO 43/16 ER – Rn. 23 ff.), der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschlüsse vom 24.02.2016 – L 19 AS 1834/15 B ER, L 19 ASL 19 AS 1835/15 B – Rn. 18,vom 24.03.2016 – L 19 AS 289/16 B ER – Rn. 28 und vom 14.04.2016 – L 19 AS 576/16 B ER – Rn. 2), die 26. Kammer des SG Neuruppin (Beschluss vom 22.03.2016 – S 26 AS 378/16 ER – Rn. 20 ff.) und der 6. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.04.2016 – L 6 AS 2249/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 21/16 B – Rn. 20) angeschlossen (grundsätzlich dem BSG folgend, eine Ermessensreduzierung auf Null jedoch ablehnend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 23 SO 46/16 B ER, L 23 SOL 23 SO 47/16 B ER PKH –, Rn. 21 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 15 SO 53/16 B ER – Rn. 23 ff. und LSG Hamburg, Beschluss vom 14.04.2016 – L 4 AS 76/16 B ER – Rn. 8 ff.).

176

1.2.10 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen geht zwar im Beschluss vom 07.03.2016 (L 15 AS 185/15 B ER – Rn. 16 f.) mit dem BSG davon aus, dass Hilfe zum Lebensunterhalt als Ermessensleistung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII erbracht werden kann, hält die vom BSG vorgesehene Differenzierung zwischen einem Aufenthalt von bis zu sechs Monaten und einem darüberhinausgehenden Aufenthalt nicht für zulässig. Das BVerfG habe im Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) festgestellt, dass der Anspruch auf Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen gleichermaßen zustehe, er seinem Umfang nach zwischen unterschiedlichen Gruppen Hilfebedürftiger nur dann differenzierend zu bemessen sei, wenn und soweit sich eine verschiedene Bedürfnislage feststellen lasse und er im Übrigen der Konkretisierung durch vom Gesetzgeber auszugestaltende Normen bedürfe. Soweit sich hieraus Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des grundsätzlichen Anspruchsausschlusses nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII und seiner Ergänzung durch die auf Einzelfälle beschränkte Ermächtigung zu einer Leistungsgewährung nach Ermessen in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ergeben würden, wären diese nicht auf EU-Bürger mit einem Aufenthalt von mehr als sechs Monaten beschränkt. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG seien die Anforderungen der Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG an die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums vom Beginn eines Aufenthalts im Bundesgebiet an durchgängig zu verwirklichen. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines dem Wortlaut von § 23 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 1 Satz 3 SGB XII folgenden Normverständnisses, das von der Geltung eines allgemeinen Anspruchsausschlusses für arbeitssuchende und ihnen gleichzustellende Ausländer sowie einer nur im Einzelfall eröffneten Möglichkeit zu einer Leistungsbewilligung im Ermessenswege ausgehe, wären damit ganz genereller Art und angesichts des nach seinem eindeutigen Wortlaut klaren Ausnahmecharakters von § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII nur durch eine Richtervorlage nach Art. 100 GG zu klären. Der Senat halte allerdings den Anspruchsausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII und die auf Einzelfälle begrenzte Ermächtigung zu Ermessensleistungen in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII für verfassungsrechtlich unbedenklich. Gerade die Ausübung von Ermessen erlaube es nämlich dem zuständigen Sozialhilfeträger, der individuellen Lebenssituation hilfebedürftiger Ausländer Rechnung zu tragen. An ihr habe sich auch nach der Rechtsprechung des BVerfG die Hilfegewährung auszurichten (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 66, 69). Daran, dass das soziokulturelle Existenzminimum gewährleistet werden müsse, bleibe der Sozialhilfeträger auch im Rahmen einer ihm eröffneten Ermessensentscheidung gebunden.

177

1.2.11 Die 32. Kammer des SG Halle (Saale) (Beschluss vom 14.04.2016 – S 32 AS 1109/16 ER – Rn. 37 ff.) folgt zwar dem BSG dahingehend, dass Ermessensleistungen nach § 21 Abs. 1 Satz 3 SGB XII für den vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis grundsätzlich möglich seien, sieht aber das Ermessen erst eröffnet, wenn die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht besteht.

178

1.3 Insbesondere seit Bekanntgabe des Urteils des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) und verstärkt seit Bekanntwerden der Urteile des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 43/15 R und B 4 AS 44/15 R) wird von zahlreichen Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit vertreten, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei verfassungsgemäß und es sei entgegen der Auffassung der beiden für das SGB II zuständigen Senate des BSG weder nach geltendem Recht möglich noch verfassungsrechtlich geboten, hiervon betroffenen Personen Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII oder sonstige existenzsichernde Leistungen zu gewähren.

179

1.3.1 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen vertrat bereits mit Beschluss vom 26.02.2010 (L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30) die Auffassung, dass Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 3 GG durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verletzt werde. Der Staat sei zwar verpflichtet, dem mittellosen Bürger die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern. Dabei sei dem Gesetzgeber allerdings im Rahmen der Entscheidung, in welchem Umfang Fürsorgeleistungen unter Berücksichtigung vorhandener Mittel gewährt werden könnten, ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet (Hinweis auf Beschluss des BVerfG vom 29.05.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86). Danach sei nicht zu beanstanden, wenn Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für arbeitsuchende Unionsbürger europarechtskonform nicht gewährt und diese damit auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen würden.

180

1.3.2 Der 2. Senat des LSG Sachsen-Anhalt kam in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren unter Aufgabe der im Beschluss vom 01.11.2013 (L 2 AS 841/13 B ER – Rn. 36 f., s.o. unter 1.1.1) geäußerten Auffassung zu dem Ergebnis, dass die gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossene Antragstellerin des dortigen Verfahrens einen Leistungsanspruch, solange sie noch in der BRD lebe, auch nicht aus dem Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 GG herleiten könne. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schütze und diese in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden könne (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Allerdings bestehe hier die Besonderheit, dass die Unionsbürgerin ihren Existenzsicherungsanspruch auch in ihrem Herkunftsland geltend machen könne, da in der EU gewisse soziale Mindeststandards bestünden, auf die sich die Mitgliedstaaten geeinigt hätten. Nach Art. 13 der Europäischen Sozialcharta vom 18.10.1961 (ESCh) verpflichteten sich die Vertragsparteien sicherzustellen, dass jedem der nicht über ausreichende Mittel verfüge und sich diese auch nicht selbst oder von anderen verschaffen könne, ausreichende Unterstützung gewährt werde. Die Tschechische Republik (Herkunftsstaat der Antragstellerin des dortigen Verfahrens) habe dieses Abkommen und diesen Artikel am 03.11.1999 ratifiziert. Die Antragstellerin habe damit einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen innerhalb der EU. Ein Anspruch darauf, ihre existenzsichernden Leistungen in einem bestimmten EU-Mitgliedstaat erhalten zu müssen, bestehe nicht. Gegebenenfalls müsse der Antragstellerin ermöglicht werden nach Tschechien zurückkehren zu können, um ihre Rechte dort wahrnehmen zu können. Anders als bei einem Asylsuchenden, der sich auf das Grundrecht aus Art. 16 GG stütze, gebe es auch keinen rechtlich beachtlichen Hinderungsgrund für eine Rückkehr in dieses Heimatland (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40).

181

1.3.3 Der 1. Senat des LSG Baden-Württemberg vertritt in einem Beschluss vom 29.06.2015 (L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39) die Auffassung, dass der dortige Antragsteller slowakischer Staatsangehörigkeit einen Leistungsanspruch nicht unmittelbar aus dem Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 GG herleiten könne. Dieses Grundrecht stehe als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsbürgern, die sich in der BRD aufhalten, gleichermaßen zu. Ein von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung daraus abgeleiteter individueller Leistungsanspruch bedürfe der Ausgestaltung durch ein Gesetz; sein Umfang könne nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden; vielmehr stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (Hinweis auf Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62-66). Darüber hinaus gelte auch das Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht schrankenlos: Anders als ein vollziehbar ausreisepflichtiger ehemaliger Asylbewerber, dessen Rückkehr in das (eventuell von Seiten der Behörden gar nicht sicher zu ermittelnde) Herkunftsland sowohl erhebliche tatsächliche als auch rechtliche Probleme (Abschiebungshindernisse) entgegen stehen könnten, sei der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) als Unionsbürger nicht gehindert, sich innerhalb des so genannten Schengen-Raumes frei zu bewegen, weshalb einer sofortigen Rückkehr in sein Heimatland nichts entgegen stehe.

182

1.3.4 Der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz lehnte mit Beschluss vom 31.08.2015 (L 3 AS 430/15 B – nicht veröffentlicht) bezogen auf nach seiner Auffassung vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit der Begründung ab, dass die von den dortigen Klägern angeführte Rechtsprechung des BVerfG zur Höhe der Leistungen nach dem AsylbLG auf den dem Gericht vorliegenden Fall nicht übertragbar sei, da die betroffenen Personengruppen, einerseits Asylbewerber, andererseits freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger, sich nicht in vergleichbaren Notlagen befänden. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers, unterschieds- und voraussetzungslos Sozialleistungen auch an Ausländer ohne Recht zum Aufenthalt zu erbringen, bestehe auch nach dieser Rechtsprechung nicht.

183

Mit einem Beschluss vom 05.11.2015 (L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 21 ff.) hat der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz unter Aufhebung des Beschlusses der vorlegenden Kammer vom 02.09.2015 (S 3 AS 599/15 ER) seine Auffassung bekräftigt, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verfassungswidrig sei. Das Grundgesetz gebiete nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13). Vielmehr liege es in der politischen Verantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums zu bestimmen, welche Leistungen in welcher Höhe zur Existenzsicherung gewährt werden und die hierbei erforderlichen Wertungen vorzunehmen. In Ausübung seines Gestaltungsspielraums habe der parlamentarische Gesetzgeber – nach Auffassung des Senats ausreichende – Regelungen bezüglich der Gewährung von Leistungen zur Existenzsicherung getroffen. Nach der Willensbildung des parlamentarischen Gesetzgebers könnten solche heute nach dem SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG beansprucht werden. Der gemeinsame verfassungsrechtliche Kern aller drei heutigen Existenzsicherungssysteme sei das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Die erfolgten Differenzierungen hinsichtlich der Leistungshöhe in Abhängigkeit von den Besonderheiten bestimmter Personengruppen seien zulässig (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73) und schlössen die strukturelle Gleichwertigkeit der drei Leistungssysteme nicht aus. Unter Berücksichtigung der bestehenden Regelungen zur Gewährung von Leistungen zur Existenzsicherung sei das Grundrecht des (kolumbianischen) Antragstellers des dortigen Verfahrens auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht verletzt. Er könne darauf verwiesen werden, Leistungen seines Heimatlandes zur Sicherung seines Lebensunterhaltes in Anspruch zu nehmen oder von seinem Freizügigkeitsrecht innerhalb des Hoheitsgebiets der EU Gebrauch zu machen. Mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, habe der Gesetzgeber den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch der aus dem gesetzlichen Leistungsausschluss resultierende faktische Zwang ins Herkunftsland zurückkehren oder in einen anderen Mitgliedstaat reisen zu müssen, weil es dem Antragsteller nicht möglich sei, seinen Lebensunterhalt in der BRD sicherzustellen, stelle keine Verletzung seines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dar. Er sei vergleichbar mit der Situation von Auszubildenden und Studenten, die ihre Arbeitskraft für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssten (Hinweis auf BVerfG, Beschlüsse vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 und vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11). Der dem GG verpflichtete Gesetzgeber habe auch keine aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG resultierende verfassungsrechtliche Pflicht über die bereits getroffenen Regelungen hinaus jedem Menschen, der sich – aus welchen Gründen auch immer, also legal oder illegal – in der BRD aufhalte, voraussetzungslose Sozialleistungen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13) zu gewähren und die drei heutigen Existenzsicherungssysteme um eine weitere Regelung zu ergänzen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den Grundsätzen, die der 1. Senat in seiner Entscheidung vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) für die nach dem AsylbLG zu gewährenden Leistungen aufgestellt habe. Insbesondere sei hieraus nicht der Schluss zu ziehen, das BVerfG habe hier grundlegend entschieden, dass jeder Mensch, der – aus welchen Gründen auch immer – in die BRD einreise und sich hier aufhalte, generell und voraussetzungslos über die bereits bestehenden Existenzsicherungssysteme Anspruch auf (dauerhafte) staatliche Leistungen zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums unmittelbar aus der Verfassung habe. Abgesehen davon, dass ausdrücklich nur über § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und § 3 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 AsylbLG sowie § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 und § 3 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG (jeweils in der Fassung der Bekanntmachung vom 05.08.1997, BGBl. Teil I S. 2022) zu entscheiden gewesen sei, ergebe sich insbesondere aus der Begründung, dass diese Erwägungen nicht allgemein in dem vom SG (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER) angenommenen Sinne zu verstehen seien, sondern mit Blick auf die konkrete Fragestellung, nämlich ob die nach dem AsylblG für diesen Personenkreis zu gewährenden Leistungen unter Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG ausreichten, die entsprechenden Regeln also verfassungsgemäß seien.

184

Diese Rechtsauffassung hat der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz mit Beschlüssen vom 11.02.2016 (L 3 AS 668/15 B ER – Rn. 18 ff. unter Aufhebung von SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER) und vom 18.02.2016 (L 3 AS 19/16 B ER – nicht veröffentlicht) aufrechterhalten.

185

1.3.5 Auch nach Auffassung des 20. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22 f.) begegnet der Leistungsausschluss keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere könne der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) einen Leistungsanspruch nicht aus dem Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1, 20 GG herleiten. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum eingeräumt sei. Dies schließe es jedenfalls nicht aus, die Leistungen nur insoweit vorzuhalten, wie es erforderlich sei, um einen Betroffenen in die Lage zu versetzen, dass er existenzsichernde Leistungen seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen könne. Sei ein Unionsbürger in der Lage, ohne weiteres in sein Herkunftsland zu reisen, um dort existenzsichernde Leistungen in Anspruch zu nehmen, sei der Staat im Rahmen seiner Gewährleistungsverpflichtung allenfalls gehalten, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung (Hinweis auf BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09.02.2001 – 1 BvR 781/98 – zu § 120 Abs. 5 BSHG), vorzuhalten. Soweit angenommen werde, dass der vollständige Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II „ohne anderweitige Kompensationsmöglichkeit eine Sicherung des Existenzminimums dem Grunde nach“ ausschließe (Hinweis auf SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER), werde verkannt, dass bei einem Unionsbürger, der sich ohne Aufenthaltsrecht im Sinne des Art. 7 RL 2004/38/EG im Inland aufhalte und der nicht aus anerkennenswerten, schwerwiegenden Gründen an der Rückreise gehindert sei, gerade eine „Kompensationsmöglichkeit“ durch Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen im Herkunftsland bestehe. Im der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall bestehe dabei in Polen ein System der Fürsorgeleistungen, welches einen Anspruch für Personen vermittle, deren Nettoeinkommen 542 PLN monatlich nicht erreiche. Diese Personen erhielten Sozialhilfe in Form von Geld- und Sachleistungen. Anders als der Personenkreis, für den das AsylbLG einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen vermittle, seien Personen aus Mitgliedstaaten der EU in der Regel in der Lage, kurzfristig in ihren Herkunftsstaat zu reisen. Daher könne die Gewährleistungsverpflichtung aus Art. 1, 20 GG für den Personenkreis der Anspruchsberechtigten nach dem AsylbLG, die gerade nicht in jedem Fall kurzfristig in ein anderes Land ausreisen könnten, um dort ihre Existenz zu sichern, auch höhere und länger andauernde Leistungen zur Existenzsicherung umfassen, als für ausländische Staatsbürger, die ihrer Notlage kurzfristig selbst begegnen könnten. Bei diesem Personenkreis könne sich die Gewährleistungsverpflichtung darin erschöpfen, sie bei den Bemühungen der Selbsthilfe durch reine Nothilfemaßnahmen zu unterstützen. Über solche Leistungen (Reise- und Verpflegungskosten) sei hier nicht zu entscheiden gewesen, da der Antragsteller diese nicht geltend gemacht habe (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22).

186

1.3.6 Der 2. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen unternimmt in seinem Beschluss vom 29.09.2015 (L 2 AS 1582/15 B ER – Rn. 5; ähnlich derselbe Senat mit Beschluss vom 09.11.2015 – L 2 AS 1714/15 B ER – Rn. 4 und der 6. Senat des LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 13.10.2015 – L 6 AS 454/15 B ER – nicht veröffentlicht) keine verfassungsrechtliche Prüfung, sondern stellt lediglich fest, dass mit dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) nunmehr abschließend geklärt sei, dass der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II enthaltene Leistungsausschluss für Ausländer nicht europarechtswidrig und damit als geltendes Bundesrecht anwendbar sei.

187

1.3.7 Der 7. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 31 ff.) ist der Auffassung, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Das BVerfG habe in den Beschlüssen vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) den Ausschluss von Leistungen nach SGB II für Auszubildende gemäß § 7 Abs. 5 SGB II gebilligt. Der Leistungsausschluss sei – nach Auffassung des BVerfG – schon deswegen nicht zu beanstanden, weil während eines Studiums die Arbeitskraft nicht, wie von § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II verlangt, zur Beschaffung des Lebensunterhalts eingesetzt werde. Im Übrigen verweise das BVerfG auf eine vorrangige Förderung durch das BAföG, das in den betreffenden Fällen aber nicht zum Tragen gekommen sei. Dem entnehme der Senat, dass ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen in bestimmten Lebenssituationen grundsätzlich möglich sei. Soweit das BVerfG in diesen Beschlüssen annehme, dass Betroffene gezwungen sein könnten, ihre Lebensumstände gravierend zu ändern ("Der faktische Zwang, eine Ausbildung abbrechen zu müssen ..."), sei das vergleichbar mit dem faktischen Zwang, dass vom SGB II-Bezug ausgeschlossene Ausländer in ihr Heimatland zurückkehren und wie alle anderen dortigen Bewohner mit den Sozialleistungen bzw. Erwerbsmöglichkeiten im Heimatland zurechtkommen müssten bis sie ein neues Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat begründen könnten. Hierin unterscheide sich auch die Situation der hier Betroffenen grundlegend von der Situation der Asylsuchenden, die nicht auf diese Möglichkeit verwiesen werden könnten (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).

188

1.3.8 Der 16. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 31 ff.) hat ebenfalls keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums stehe als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsbürgern, die sich in der BRD aufhielten, grundsätzlich gleichermaßen zu (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Der Staat sei im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, die materiellen Voraussetzungen für Hilfebedürftige zur Verfügung zu stellen. Migrationspolitische Erwägungen seien nicht geeignet, die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde zu relativieren. Ein daraus abgeleiteter individueller Leistungsanspruch bedürfe allerdings der Ausgestaltung durch ein Gesetz. Hinsichtlich dessen Umfang stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Auch inländischen Staatsangehörigen gewährleiste die Verfassung nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09). Der Umfang des Leistungsanspruches ergebe sich weder aus Artikel 1 Abs. 1 GG noch aus der Verfassung. Er hänge von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation sowie den wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab. Dieses Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sei nicht verletzt. Die Antragstellerin (des dem Senat vorliegenden Verfahrens) könne darauf verwiesen werden, Leistungen ihres Heimatlandes zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes in Anspruch zu nehmen. Mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus der Arbeitsuche ableiteten, habe der Gesetzgeber den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert. Dies sei nicht zu beanstanden. Der faktische Zwang ins Herkunftsland zurückkehren zu müssen, weil es der Antragstellerin nicht möglich sei, ihren Lebensunterhalt in der BRD sicherzustellen, stelle keine Verletzung der Art. 1 Abs. 2, 20 Abs. 1 GG dar. Er sei vergleichbar mit der Situation von Auszubildenden und Studenten, die ihre Arbeitskraft für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssten. Das BVerfG habe die Leistungsausschlüsse für Studenten und Auszubildende gemäß § 7 Abs. 5 SGB II gebilligt (Hinweis auf Beschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 und vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11), mit der Folge, dass die Betroffenen letztlich gezwungen seien, ihre Ausbildung abzubrechen und ihre Arbeitskraft zur Beschaffung Ihres Lebensunterhaltes einzusetzen. Hierin unterscheide sich auch die Situation der Antragstellerin (des dortigen Verfahrens) grundlegend von der Situation der in den Anwendungsbereich des AsylbLG fallenden Asylsuchenden. Die Antragstellerin sei als Unionsbürgerin anders als Asylsuchende nicht daran gehindert, sich innerhalb des so genannten "Schengen-Raumes" frei zu bewegen oder in ihr Herkunftsland Portugal zurückzukehren. Soweit sie vortrage, auf Grund einer Erkrankung derzeit nicht arbeitsfähig zu sein, sei festzustellen, dass auch ihr Heimatstaat Portugal die ESCh unterzeichnet und ratifiziert habe. Portugal habe sich damit verpflichtet sicherzustellen, dass jedem, der nicht über ausreichende Mittel verfüge und sich diese auch nicht selbst oder von anderen, insbesondere durch Leistungen aus einem System der sozialen Sicherheit verschaffen könne, ausreichende Unterstützung und Krankenbehandlung gewährt werden (Verweis auf Artikel 13 ESCh – „Das Recht auf Fürsorge“). Auch tatsächlich verfüge Portugal über steuerfinanzierte und beitragsunabhängige Systeme für alle Einwohner, die sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befinden (Verweis auf die Quelle: www.sozialkompass.eu). Unberührt vom Leistungsausschluss blieben Ansprüche auf Hilfen zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII. Solche seien aber nicht Gegenstand des Eilverfahrens. Die Antragstellerin müsse also in Konsequenz der Entscheidung des Senats damit rechnen, ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik (vorübergehend) aufgeben und sich an das Fürsorgesystem ihres Herkunftsstaates Portugal wenden zu müssen, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichern könne. Dass die Verweisung der Antragstellerin auf die Inanspruchnahme dieser Leistungen in ihrem Heimatstaat gegen Art. 1 GG oder Art. 20 GG verstoßen würde, vermöge der Senat nicht zu erkennen.

189

1.3.9 Auch der 6. Senat des LSG Rheinland-Pfalz sieht in einem Beschluss vom 02.11.2015 (L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht) im Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II keinen Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht, das der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfe, gelte nicht schrankenlos. Der Gesetzgeber habe daher bei der Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes II berücksichtigen dürfen, dass Unionsbürger regelmäßig in der Lage seien, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und die dortigen Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Da der Senat keine Hinweise darauf habe, dass die (bulgarische) Beschwerdeführerin des dortigen Verfahrens aus gesundheitlichen oder anderen schwerwiegenden Gründen gehindert wäre, nach Bulgarien zurückzukehren, müsse nicht entschieden werden, ob in diesem Falle ausnahmeweise ein konkreter Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet werden könne.

190

1.3.10 Seither hat eine große Anzahl von Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit Entscheidungen veröffentlicht, in denen die Verfassungswidrigkeit ebenso wie die Europarechtswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verneint wird und – insbesondere nach den Urteilen des 4. Senats des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 43/15 R und B 4 AS 44/15 R) und in kritischer Auseinandersetzung mit diesen – die Möglichkeit der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII abgelehnt wird (SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 – S 30 AS 3827/15 ER – Rn. 30 ff.; SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 26 ff.; SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 –Rn. 89 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.01.2016 – L 29 AS 20/16 B ER, L 29 ASL 29 AS 21/16 B ER PKH – Rn. 22 ff.; SG Halle (Saale), Beschluss vom 22.01.2016 – S 5 AS 4299/15 ER – Rn. 20 ff.; SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 22 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 – L 9 AS 1335/15 B ER – Rn. 56 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 22.02.2016 – S 95 SO 3345/15 ER – Rn. 42 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 02.03.2016 – S 205 AS 1365/16 ER – Rn. 22 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 17 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.03.2016 – L 9 AS 1580/15 B ER – Rn. 50 ff.; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 28 ff.; SG Speyer, Urteil vom 29.03.2016 – S 5 AS 493/14 – Rn. 49 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 07.04.2016 – S 92 AS 359/16 ER – Rn. 15 ff.; SG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER –, Rn. 33 ff.; SG Dortmund, Beschluss vom 18.04.2016 – S 32 AS 380/16 ER – Rn. 76 ff.; SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 3966/12 – Rn. 42 ff.; SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 46 ff.; differenzierter: SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 82 ff.).

191

Das Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) wird hierbei regelmäßig unkritisch quasi als „geltende Rechtslage“ hingenommen, während dem 4. und dem 14. Senat des BSG nahezu durchgängig unter Verweis auf einen behaupteten Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot und/oder des Gewaltenteilungsprinzips auch rhetorisch massiv entgegengetreten wird – bei ebenso durchgängiger Erweiterung des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII auf Personen ohne materielles Aufenthaltsrechts über den Gesetzeswortlaut hinaus (in diesem Punkt in Übereinstimmung mit dem BSG). In verfassungsrechtlicher Hinsicht werden hierbei die aus den vorstehend wiedergegebenen Entscheidungen bekannten Begründungsansätze variiert. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wird hierbei ausdrücklich nicht in Frage gestellt.

192

Dass hierbei selbst Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz und gelegentlich auch auf Prozesskostenhilfe entgegen der mehrfach bekräftigten Rechtsauffassung des für entsprechende Hauptsacheverfahren zuständigen Revisionsgerichts abgelehnt werden, wird mitunter deutlich kritisiert, weil hierdurch effektiver Rechtsschutz im Bereich existenzieller Bedürfnisse vereitelt wird (vgl. Wenner, SozSich 2016, S. 44; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 SGB XII, Stand 08.04.2016; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.04.2016 – L 6 AS 2249/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 21/16 B – Rn. 23 ff., SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 94 ff.).

193

1.4 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Verfassungsmäßigkeit eines vollständigen Leistungsausschlusses von ausländischen Staatsangehörigen wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überwiegend bezweifelt, jedenfalls aber für klärungsbedürftig gehalten.

194

1.4.1 Pattar stellt nach Erörterung europarechtlicher und völkerrechtlicher Zusammenhänge fest, dass sich ein weiterer Einwand gegen den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aus dem in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG wurzelnden Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums herleiten lasse. Wer von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen sei, erhalte auf dem ersten Blick keinerlei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Daneben liege im vollständigen Ausschluss von Leistungen eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG, die sich in das Inland begeben hätten, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erhalten. Diese Personen erhielten trotz ihres rechtswidrigen Aufenthalts nach § 1a AsylbLG immerhin unabweisbar gebotene Leistungen. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses müssten deshalb auch die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossenen Personen mindestens analog § 1a AsylbLG Leistungen erhalten. Zuständig hierfür seien aber nicht die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sondern die Träger der Sozialhilfe als Träger des letzten Auffangsystems (Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, S. 117 f., 3. Auflage 2012).

195

1.4.2 Palsherm vertritt Bezug nehmend auf die Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII die Auffassung, dass, falls ein nach dieser Vorschrift ausgeschlossener Ausländer auch nicht unter das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) falle, ihm wegen des Teilhabemoments von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG jedenfalls dasjenige gewährt werden müsse, was den Kern eines menschenwürdigen Existenzminimums ausmache (Palsherm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, § 28 SGB I, Rn. 20, Stand 20.02.2012).

196

1.4.3 Kingreen stellt fest, dass der generelle Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verstoße, dass aber auch Differenzierungen hinsichtlich des Leistungszeitraums und -umfangs bei einem nicht nur kurzfristigen Aufenthalt nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar wären Statt oder vor einer Vorlage an den EuGH sei daher in einem geeigneten Fall auch die Vorlage an das BVerfG in Betracht zu ziehen (Kingreen, SGb 2013, S. 139).

197

Im Nachgang zum Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) führt Kingreen aus, dass das BVerfG in einer Reihe von Entscheidungen klargestellt habe, dass Ungleichbehandlungen wegen der Staatsangehörigkeit beim Sozialleistungsbezug an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen und die Rechtfertigungsanforderungen insoweit besonders hoch seien, weil die Staatsangehörigkeit von Umständen abhänge, die der Einzelne nicht beeinflussen könne. Daher dürfe der Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung sei nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Dies werde sich insbesondere bei Personen, die sich nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhielten, kaum begründen lassen (Kingreen, NVwZ 2015, S. 1506).

198

1.4.4 Frerichs vertritt unter Berufung auf das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 95) die Auffassung, dass der Gesetzgeber nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet sei, für alle Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten, vom ersten Tage an gesetzliche Regelungen vorzusehen, die nach einem inhaltlich transparenten und folgerichtigen Verfahren ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherstellen und gegen den Staat einen Rechtsanspruch auf die entsprechenden materiellen Leistungen einräumen. Dabei dürfe er – abweichend vom allgemeinen Grundsicherungsrecht – für bestimmte Personengruppen eigenständige Regelungen treffen, die sich allerdings an den prozeduralen Vorgaben zur Ermittlung des Leistungsumfangs messen lassen müssten, die im Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 aufgestellt worden seien (Frerichs, ZESAR 2014, S. 283). Hinsichtlich des nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB II und § 23 Ab. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossenen Personenkreises dränge sich die Frage auf, ob der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Pflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hinreichend nachkomme. Er habe für diese Personen keinen gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums normiert. Dies sei aber verfassungsrechtlich geboten. Dieser verfassungsrechtlichen Fragestellung durch richterliche Rechtsfortbildung zu begegnen, sei sehr problematisch. Die bisherigen Lösungsansätze, den Betroffenen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger auf eine „Mindestsicherung“ nach Maßgabe des § 23 Abs. 5 SGB XII, § 73 SGB XII oder § 1a AsylbLG zuzuerkennen (Verweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14 und vom 28.11.2012 – L 7 AS 2109/11 B ER – Rn. 14; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f.; SG Darmstadt, Beschluss vom 29. 10. 2013 – S 16 AS 534/13 ER – Rn. 83; Mangold/Pattar, VSSR 2008, S. 243, 267), seien nicht überzeugend. Eine Anlehnung an das Leistungsniveau eines für diese Personengruppe an sich nicht vorgesehenen Existenzsicherungssystems (SGB XII, AsylbLG) sei methodisch im Wege der Analogie nicht möglich. Es fehle schon an einer sich aus Systematik und Sinn und des Gesetzes ergebenden Lücke, weil der Gesetzgeber mit den Leistungsausschlüssen bewusst die nach Unionsrecht nur in engen Grenzen zulässigen Möglichkeiten habe nutzen wollen, um die Zahlung von Sozialleistungen an Unionsbürger zu beschränken (Hinweis auf BT-Drucks. 16/5065, S. 234 und BT-Drucks. 17/13322, S. 30). Auch sei der Rückgriff auf § 73 SGB XII, nach dem Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden könnten, rechtlich heikel. Eine „sonstige“ Lebenslage setze nämlich eine atypische Bedarfslage voraus, die nicht bejaht werden könne, wenn der Gesetzgeber sie gesehen und im Sinne eines Leistungsausschlusses geregelt habe (Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

199

1.4.5 Löbich konstatiert, dass es äußerst fraglich erscheine, ob ein absoluter Leistungsausschluss von Sozialleistungen für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger noch im Einklang mit den vom BVerfG gemachten Ausführungen zum Anspruch auf ein menschenwürdesicherndes Existenzminimum stehe. Verfassungsrechtlich gelte jedenfalls, dass solange nicht festgestellt sei, dass eine Person ausreisen könne, ihr ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten sei und sie gerade nicht darauf verwiesen werden dürfe, dieses im Ausland zu suchen. Ein vollständiger Leistungsausschluss komme auch bei Unionsbürgern mit Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche verfassungsrechtlich nicht in Betracht (Löbich, ZESAR 2015, S. 426 f.).

200

1.4.6 Thym hält in Auseinandersetzung mit dem Urteil des EuGH vom 11.11.2014 (C-333/13) fest, dass früher oder später das BVerfG darüber zu befinden haben werde, ob der Klägerin des dortigen Verfahrens ein Grundsicherungsanspruch nach dem GG zustehe, obgleich sie im europäischen Freiheitsraum jederzeit in den Heimatstaat reisen könne und mithin strukturell nicht im gleichen Maße von deutscher Unterstützung abhänge wie etwa Asylbewerber (Thym, NJW 2015, S. 134).

201

1.4.7 Wilksch (JuWissBlog, https://www.juwiss.de/90-2015/) bezeichnet in Auseinandersetzung mit den Urteilen des BSG vom 03.12.2015 die von diesem unter Verweis auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII eingeräumte Ermessensentscheidung als unzulässige migrationspolitische Relativierung des Existenzminimums und vertritt die Auffassung, dass das BSG zur Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII hätte kommen müssen.

202

1.4.8 Wunder hält einen Leistungsausschluss für EU-Bürger bis zu Ausreise zwar für europarechtskonform aber nicht für mit dem GG vereinbar. Sie hält es allerdings wohl für möglich, einen Leistungsanspruch unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG abzuleiten und bis zur Verabschiedung einer einfachgesetzlichen Regelung den Leistungsumfang an vergleichbare existenzsichernde Leistungen anzulehnen (Wunder, SGb 2015, S. 622).

203

1.4.9 Farahat weist in einer Besprechung des Urteils des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) darauf hin, dass die Mitgliedstaaten Arbeitsuchende wegen Art. 14 Abs. 4 b) RL 2004/38/EG weiterhin auch dann nicht ausweisen dürften, wenn sie im Aufenthaltsstaat noch nicht gearbeitet hätten oder länger als sechs Monate arbeitslos seien, ein Aufenthaltsrecht ihnen also zustehe. Allerdings dürften ihnen in diesem Fall nach dem Urteil des EuGH jegliche Sozialleistungen im Aufenthaltsstaat verweigert werden. Es liege auf der Hand, dass diese Lösung die Gefahr einer dauerhaften sozialen Exklusion im Aufenthalts-Mitgliedsstaat produziere. Unionsrechtlich sei es nun nämlich möglich, dass Unionsbürger in ihrem Aufenthalts-Mitgliedstaat zwar nicht ausgewiesen werden dürften, allerdings keinen Anspruch auf soziale Inklusion hätten. Diese Lücke werde in Deutschland künftig verfassungsrechtlich zu schließen sein. Das BVerfG habe in seiner Entscheidung zum AsylbLG bereits klargestellt, dass „migrationspolitische Erwägungen (…) von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das (…) Existenzminimum rechtfertigen“ könnten. Vor diesem Hintergrund erscheine es unwahrscheinlich, dass sich der automatische Leistungsausschluss arbeitssuchender Unionsbürger mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbaren lasse. Zu denken sei etwa an einen Anspruch auf Leistungen analog AsylbLG oder aber die Finanzierung einer „Rückreise“ in den Anwendungsbereich eines Leistungsanspruchs (Farahat, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de).

204

1.4.10 Sokołowski stellt im Rahmen einer europarechtlichen Abhandlung fest, dass die Auslegung (des § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II), die den Anspruch der Unionsbürger auf das Arbeitslosengeld II anerkenne, sich auch auf Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG stütze. Das Sozialstaatsprinzip und der Schutz der Menschenwürde verpflichteten den Staat, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein auch den Unionsbürgern zu sichern. Diese Grundrechte und Staatsprinzipien gälten nach herrschender Meinung nicht nur für Deutsche. Das BVerfG habe bereits entschieden, dass eine grundlose Ungleichbehandlung von Ausländern und Deutschen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07). Wenn der Ausschluss von Ausländern, die Nichtunionsbürger sind, vom Kindergeld und Landeserziehungsgeld für verfassungswidrig erklärt worden sei, verstoße der Ausschluss der Unionsbürger auf Arbeitsuche aus dem Arbeitslosengeld-II-System gegen Art. 3. Abs. 3 GG. Durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II würden Letztere schlechter gestellt als illegal eingereiste Asylbewerber in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts, die Leistungen nach § 1a AyslbLG erhielten. Daraus ergebe sich unabhängig vom Anwendungsvorrang des Europarechts das Gebot, das SGB II und das FreizügG/EU so auszulegen, dass die notwendige Konformität mit dem GG erreicht werde (verfassungskonforme Auslegung), d.h. hilfebedürftigen Unionsbürgern das Arbeitslosengeld II unter denselben Voraussetzungen wie den Deutschen zu gewähren. Hervorzuheben sei auch, dass es verfassungsrechtlich zweifelhaft erscheine, potenzielle „Sozialtouristen“ von der Einreise nach Deutschland abzuschrecken, indem denjenigen, die bereits eingereist seien, Leistungen verwehrt würden (Sokołowski, ZESAR 2015, S. 483; ähnlich bereits ders., ZESAR 2011, S. 377).

205

1.4.11 Leopold konstatiert, dass auf Grund der Rechtsprechung des BVerfG bestehende verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Leistungsausschluss von Ausländerinnen und Ausländern durch die Klärung unionsrechtlicher sowie staatsvertragsrechtlicher Aspekte noch nicht beseitigt würden. Ungeachtet unionsrechtlicher Gleichbehandlungsansprüche stelle sich die Frage, ob der in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgesehene Leistungsausschluss mit dem Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 GG zu vereinbaren sei (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7, Rn. 102, Stand: 14.03.2016).

206

1.4.12 Kanalan hält der u.a. von der 149. Kammer des SG Berlin vertretenen Auffassung, dass die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, da es Unionsbürgern anders als Asylbewerbern regelmäßig möglich sei, ohne drohende Gefahren für hochrangige Rechtsgüter in ihr Heimatland zurückzukehren und dort staatliche Unterstützungshandlungen zu erlangen (SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 36) entgegen, dass sie mit der dargestellten Begründung ein grundsätzlich defizitäres Verständnis des Menschenrechts auf das Existenzminimum enthalte. Das BVerfG habe unmissverständlich in seinem Urteil zum AsylbLG zum Ausdruck gebracht, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht aus Art. 1 Abs. 1 (i.V.m. Art. 20 Abs. 1) GG auch ausländischen Staatsangehörigen, die sich in Deutschland aufhalten, unabhängig von einem materiellen Aufenthaltsrecht zustehe. Es sei insbesondere ohne Relevanz, dass das Sozialrechtssystem eine Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus vornehme und mit dem AsylbLG ein Sonderregime für bestimmte Personengruppen geschaffen habe. Das verfassungsrechtlich garantierte Menschenrecht auf Existenzminimum ergebe sich dem Grunde nach aus der Verfassung und sei insoweit unabhängig vom Recht auf Aufenthalt oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe. Es gelte für alle Menschen und habe somit einen universellen Charakter. Wenn der Gesetzgeber diesen Anspruch nicht gesetzlich sichere, was unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG voraussetze, liege ein Verfassungsverstoß vor. In diesem Fall ergebe sich der Anspruch (dem Grunde nach) aus der Verfassung (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 66). Indem aber das SG Berlin anführe, dass die Unionsbürger, die nicht einmal über ein materielles Aufenthaltsrecht verfügten, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben könnten, verdeutliche dies, dass es das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht durchdrungen habe. Ein weiterer entscheidender Punkt, der demonstriere, dass weder das SG Berlin noch andere ähnlich argumentierende Gerichte den Kern des Menschenrechts auf das Existenzminimum erfasst hätten, sei der Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat und die Inanspruchnahme der Sozialleistungen des Herkunftsstaates. Dieser Argumentationsansatz sei die Folge eines grundlegend defizitären Verständnisses. Denn der Leistungsanspruch auf das Existenzminimum ergebe sich aus Art. 1 Abs. 1 GG, welcher dem Grunde nach unverfügbar sei (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62). Hieraus folge, dass der Anspruch unabhängig von einem bestimmten Verhalten der Betroffenen bestehe und somit jegliche Versagung der Leistungen mit Berufung auf ein Verhalten des Betroffenen die Menschenwürde tangiere, also einen Verfassungsverstoß darstelle. Die Gewährleistung dieses Anspruchs könne weder unter eine Bedingung gestellt noch vom Verhalten der Betroffenen abhängig gemacht werden (Hinweis auf SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER). Diese Feststellung, die bei mehreren Sozialgerichten auf Ablehnung stoße, werde insbesondere durch einen Vergleich mit dem Folterverbot deutlich. Weil Folter stets einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstelle, sei das Folterverbot absolut. Die Anwendung von Folter mit dem Argument, dass der Betroffene einer Verletzung seiner Menschenwürde entgehen könne, in dem er ein bestimmtes Verhalten vornehme, dürfte kaum überzeugen. So habe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Zusammenhang mit Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgeführt, dass der Schutz des Art. 3 EMRK absolut sei und unabhängig vom Verhalten – sogar unabhängig von der Verwerflichkeit des Verhaltens – der betreffenden Person Geltung beanspruche. Wenn dies aber so sei, könne der Hinweis auf die Ausreisemöglichkeit und Verweis auf die Sozialleistungen des Herkunftsstaates nicht überzeugen. Vielmehr bestehe der Anspruch vom ersten Moment der Bedürftigkeit an (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 99), ohne dass es dabei auf ein Verhalten der Betroffenen ankäme. Dies sei, was der Menschenwürdeschutz verlange (Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de).

207

Kanalan hält jedoch eine Lösung des Problems durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für möglich. Die Regelung sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass Unionsbürger auch im Falle des Aufenthaltsrechts zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland einen Anspruch auf die Leistungen der Grundsicherung haben, und zwar in verfassungskonformer Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II vom ersten Tag des Aufenthalts im Inland soweit Bedürftigkeit vorliege. Ein Verweis auf die Leistungen des SGB XII überzeuge aus den zutreffenden Gründen, die das SG Berlin (Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13) ausgeführt habe nur für Personen, die nicht unter den Anwendungsbereich des SGB II fielen, also insbesondere Erwerbsunfähige. Es ergebe sich auch ein weiterer Lösungsweg – in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG – unmittelbar aus der Verfassung. Danach hätten Unionsbürger einen Anspruch auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG. Der konkrete Inhalt und Umfang richte sich nach den einschlägigen Bestimmungen des SGB II und SGB XII – u.a. für Erwerbsunfähige. Dass dieser Anspruch praktisch der Ausnahmefall sein dürfte, aber theoretisch dennoch möglich sei, habe das BVerfG selbst in seiner Entscheidung zum AsylbLG demonstriert. Das BVerfG habe für die Leistungen nach dem AsylbLG das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) für die Bestimmung der Höhe der Leistungen zu Grunde gelegt und die neuen Bedarfe ermittelt (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 100 f.) (Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de).

208

1.4.13 Steffen stellt unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15 R) fest, dass das BSG die Frage nach der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses von existenzsichernden Leistungen nach einem „Voraufenthalt“ von sechs Monaten über eine Ermessensregel im SGB XII „löse“. Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sei aber dem Grunde nach unverfügbar und müsse nach den ausdrücklichen Vorgaben des BVerfG gerade unabhängig von der Aufenthaltsdauer und von der Aufenthaltsperspektive durch einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch gewährleistet werden. Er dürfe gerade nicht in das Ermessen gestellt werden (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Das BSG entziehe sich mit dieser Entscheidung einer Vorlage an das BVerfG (Steffen, ANA-ZAR 2016, S. 3).

209

1.4.14 Kötter zieht aus dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) die Schlussfolgerung, dass der Blick wieder frei werde für Fragen, die sich aus der deutschen Rechtsordnung mit Blick auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergäben, insbesondere auf die Frage seiner Vereinbarkeit mit dem GG. Das BVerfG habe in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Leistungen nach dem AsylbLG explizit festgestellt, dass das sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Menschenrecht sei, das „deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten,“ gleichermaßen zustehe. Nach dem Wortlaut der Entscheidung komme es dabei weder auf die Dauer noch auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts an, was auch die Beschränkung des Grundrechts im Rahmen von Regelungen des Aufenthaltsrechts ausschließen würde. Nach dem Urteil des BVerfG sei eine fortdauernde Anwendung der verfassungswidrigen Normen „angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen“ nicht hinnehmbar. Der elementare Lebensbedarf der Leistungsberechtigten sei in dem Augenblick zu befriedigen, in den er entstehe. Ein bloßer Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Heimatmitgliedstaat genüge daher den Begründungsanforderungen an die Einschränkung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins wohl nicht. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II könne daher verfassungswidrig sein, wenn er Unionsbürger während ihres Aufenthalts in Deutschland abschließend vom Anspruch auf Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließe. Etwas Anderes könne dann gelten, wenn Unionsbürger hilfsweise existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII beziehen könnten (Kötter, info also 2016, S. 6).

210

1.4.15 Auch Greiser stellt fest, dass der europarechtlich zulässige vollständige Ausschluss von Leistungen wenn noch keine Verbindung zur Gesellschaft bestehe bzw. eine unangemessene Belastung vorläge, gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoßen würde. Zumindest eine Mindestsicherung sei auch in diesem Fall zu gewähren (Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Anhang zu § 23, Rn. 119, Stand 23.12.2015). Im Übrigen vertritt er die Auffassung, dass das Urteil des BSG vom 03.12.2015 (B 3 AS 44/15 R) einen dogmatisch gut begründeten und praktisch handhabbaren Ausgleich zwischen den verfassungsrechtlichen Vorgaben auf der einen und dem einfachen Recht auf der anderen Seite darstelle. Insbesondere sei positiv zu bewerten, dass das BSG dem „Ob“ einer Leistungsgewährung bei einem verfestigten Aufenthalt nicht die Rückkehrmöglichkeit ins Heimatland entgegengestellt habe. Das Gericht erstrecke damit für diesen Fall die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf EU-Bürger. Auf der anderen Seite schaffe das BSG in den ersten sechs Monaten einen gewissen Spielraum, zumindest was die Höhe der Leistungen angehe. Hier wäre nach Auffassung von Greiser eine Differenzierung danach, ob ein Aufenthaltsrecht besteht, wünschenswert gewesen. Der Weg, dieses Ergebnis über einen Anspruch auf Sozialhilfe zu „konstruieren“, stelle sich – im Rahmen des geltenden Rechts – als sachgerecht dar. Gegen diese Lösung sei vorgebracht worden, in den Gesetzgebungsmaterialien habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass erwerbsfähige Ausländer von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen sein sollen (§ 21 SGB XII). Der subjektive Wille des Gesetzgebers sei aber nur nach der so genannten subjektiv-historischen Auslegung (allein) entscheidend. In der Rechtsprechung des BSG sei aber wohl die objektiv-historische Auslegung vorherrschend, die nach dem im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers frage. Zudem handele es sich vorliegend um eine verfassungskonforme Auslegung. Diese habe grundsätzlich Vorrang vor der subjektiv-historischen. Sei eine verfassungskonforme Auslegung möglich, so sei nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht relevant, dass eine nicht mit der Verfassung vereinbare Auslegung eher dem subjektiven Willen des Gesetzgebers entspräche. Eine Auslegung, die dazu führe, dass EU-Bürger, die unter den Ausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen, in keinem Fall Leistungen erhalten würden, sei mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht vereinbar (Greiser, jM 2016, S. 159).

211

1.4.16 Lenze hält dem BSG (bezugnehmend u.a. auf die Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R) anlässlich einer Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) hingegen vor, sich im Rahmen einer unzulässigen Rechtsfortbildung über den klaren Willen des Gesetzgebers in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hinweggesetzt und durch den Rückgriff auf das SGB XII außerdem in die föderale Finanzierungsverantwortung für die Grundsicherung nach § 46 SGB II eingegriffen zu haben (Lenze, NJW 2016, S. 555).

212

1.4.17 Coseriu führt in seiner Kommentierung zu § 23 SGB XII aus, dass ein völliger Ausschluss von Leistungen sich nicht mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG vereinbaren lasse. Zwar stehe es im sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers, für Ausländer besondere Regelungen zur Sicherung ihres Lebensbedarfs zu entwickeln, nicht aber, Leistungen, die zur Deckung des Lebensunterhaltes dienen, gänzlich zu versagen. Es bestehe nämlich die Verpflichtung des Staates, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren und dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gewähre Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhalten, gleichermaßen zustehe (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 73, Stand 08.04.2016). Ein genereller Leistungsausschluss würde auch dazu führen, dass Ausländer, die eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen, schlechter gestellt würden als Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG, die sich in das Bundesgebiet begeben hätten, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen, weil dieser Personenkreis, zu denen sogar vollziehbar Ausreisepflichtige gehörten, nach § 1a AsylbLG (immerhin) die nach den Umständen unabweisbar gebotenen Leistungen erhielte (Coseriu, a.a.O., Rn. 74). Zur Lösung dieses Konflikts sei eine verfassungskonforme Auslegung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII geboten, die gerade keinen absoluten, rechtsvernichtenden Charakter der zur Verhütung von Missbrauch dienenden Bestimmung gebiete. Der Ausländer, der sich mit dem dort genannten Ziel in den Geltungsbereich des SGB XII begebe, sei lediglich vom (Rechts-)Anspruch auf die in § 23 Abs. 1 SGB XII vorgesehenen Leistungen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss lasse aber gleichwohl – gegebenenfalls modifiziert – eine Hilfegewährung im Ermessenswege nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu, weil es Lebenssachverhalte geben könne, bei denen nach dem auch bei der Anwendung des § 23 SGB XII zu berücksichtigenden Gesamtverständnis des Sozialhilferechts die Leistung von (unter Umständen eingeschränkter) Hilfe selbst dann möglich bleiben müsse, wenn der Ausländer Leistungen der Sozialhilfe missbräuchlich in Anspruch nehme (Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 10.12.1987 – 5 C 32/85) (Coseriu, a.a.O., Rn. 75). Der Einwand des SG Berlin (Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13), ein Unionsbürger könne im Gegensatz zu einem Asylbewerber regelmäßig in sein Heimatland zurückkehren und dort gegebenenfalls Sozialleistungen erhalten, habe keinen inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG und lasse die Frage unbeantwortet, auf welche Weise und in welchem Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur Ausreise sichergestellt werde, wenn der Betroffene nicht zur Ausreise verpflichtet sei (Coseriu, a.a.O., Rn. 63.4). Zwar möge die Auffassung des BSG (Bezugnahme auf das Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R), nach Ablauf von sechs Monaten sei das Ermessen auf Null reduziert, angreifbar sein, einen gänzlichen Ausschluss zu bejahen, wie das LSG Rheinland-Pfalz meine (Bezugnahme auf den Beschluss vom 11.02.2016 – L 3 AS 668/15 B ER), würde aber nicht nur eine völlige Missachtung der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG, sondern auch des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG bedeuten. Der Ausweg, den das LSG Rheinland-Pfalz hierzu suche (Inanspruchnahme von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Heimatlandes), sei absurd und lasse sich mit dem GG nicht in Einklang bringen (Coseriu, a.a.O., Rn. 63.6).

213

1.5 Die vorlegende Kammer ist nach Auswertung der vertretenen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung, dass die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist. Eine verfassungskonforme Auslegung ist – auch über den vom BSG eingeschlagenen Weg der Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII – nicht möglich.

214

2. Die mögliche Verfassungswidrigkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II, gemäß der Parallelregelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und nach den Vorgängerregelungen im ab dem 01.01.1976 geltenden § 31 Abs. 4 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in der Fassung des Gesetzes vom 18.12.1975 (BGBl. Teil I, S. 3091) und seit dem 01.01.1982 in § 26 (Abs.1) Satz 1 BSHG zunächst in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.1981 (BGBl. Teil I S. 1523) und seither in verschiedenen Fassungen bis zum 31.12.2004 wurde bisher in Rechtsprechung (2.1) und Literatur (2.2) vergleichsweise selten thematisiert.

215

2.1 Die Rechtsprechung geht bislang weit überwiegend von der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 5 SGB II aus.

216

2.1.1 Die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG hat sich in zwei veröffentlichten Nichtannahmebeschlüssen mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung befasst.

217

a) Im Beschluss vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11 – Rn. 21 ff.) kommt sie zu dem Schluss, dass eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im der Verfassungsbeschwerde zu Grunde liegenden Fall nicht vorliege. § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. konkretisiere den Nachrang gegenüber vorrangigen besonderen Sozialleistungssystemen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Hinweis auf § 3 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB II). Der Gesetzgeber gehe im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, dass das menschenwürdige Existenzminimum, soweit eine durch die Ausbildung bedingte Bedarfslage entstanden sei, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III zu decken sei. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. führe (im Falle der Beschwerdeführerin) dazu, dass ihr für die Dauer ihrer Ausbildung keine Grundsicherungsleistungen (über Leistungen für Mehrbedarf für Alleinerziehende hinaus) gewährt würden. Dies beruhe auf den Vorgaben des BAföG, insbesondere zur Altersgrenze der Förderung und sei keine im dem Beschluss zu Grunde liegenden Verfahren zu klärende Frage zum SGB II. Der faktische Zwang, eine Ausbildung abbrechen zu müssen, weil keine Sozialleistungen die Existenz sicherten, berühre die teilhaberechtliche Dimension des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 und dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 8.05.2013 – 1 BvL 1/08 – Rn. 36 f.). Der Gesetzgeber habe mit den Vorschriften des BAföG jedoch hierfür ein besonderes Sozialleistungssystem geschaffen. Dabei habe der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums entschieden, dass eine möglichst frühzeitige Aufnahme der Ausbildung angestrebt wird (Hinweis auf BT-Drucks. 8/2467, S. 15 und BT-Drucks. 11/610, S. 16 f.). Ermöglicht werde im Allgemeinen, bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eine der Begabung entsprechende Ausbildung zu beginnen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 15.09.1980 – 1 BvR 715/80). Ob sich der Ausschluss der Beschwerdeführerin von der Förderung einer Ausbildung vor der Verfassung rechtfertigen lasse, sei damit nicht gesagt, aber auch nicht zu entscheiden.

218

b) Im Beschluss vom 08.01.2014 (1 BvR 886/11 – Rn. 13 ff.) kommt die 3. Kammer des BVerfG ebenfalls zu dem Ergebnis, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im der Verfassungsbeschwerde zu Grunde liegenden Fall nicht verletzt sei. Nach § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II müssten erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einsetzen; dies tue der Beschwerdeführer (des dortigen Verfahrens) nicht, wenn er studiere. Daher schließe § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. im Fall des Beschwerdeführers die Gewährung dieser Grundsicherungsleistungen aus. Soweit durch die Ausbildung existenzielle Bedarfe entstünden, würden diese insofern vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III gedeckt. Über die dortige Altersgrenze der Förderung hätten die Gerichte im vorliegenden Verfahren nicht entschieden. Daher gehe auch die Rüge einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG in diesem Verfahren ins Leere. Der faktische Zwang, ein Studium abbrechen zu müssen, weil keine Sozialleistungen zur Verfügung stehen, berührt zwar die teilhaberechtliche Dimension des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber habe mit den Vorschriften des BAföG jedoch ein besonderes Sozialleistungssystem zur individuellen Förderung der Hochschulausbildung durch den Staat geschaffen, das diese Teilhabe sichern solle. Seine Regelungen über Förderungsvoraussetzungen sowie Art, Höhe und Dauer der Leistungen seien auf die besondere Lebenssituation der Studierenden zugeschnitten, die auf öffentliche Hilfe bei der Finanzierung ihres Studiums angewiesen seien. Der Gesetzgeber habe die Förderung so ausgestaltet, dass eine möglichst frühzeitige Aufnahme der Ausbildung gefördert werde, denn im Allgemeinen müsse bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eine der Begabung entsprechende Ausbildung begonnen werden. § 10 Abs. 3 Satz 2 BAföG lasse Ausnahmen bei einer Ausbildungsaufnahme in höherem Alter zu. Es sei so derzeit möglich, ein Erststudium gefördert zu absolvieren. Ob sich insofern der Ausschluss des Beschwerdeführers von der Förderung für ein Studium nach Ausbildung und Erwerbstätigkeit vor der Verfassung rechtfertigen lässt, sei damit nicht gesagt, aber auch nicht zu entscheiden.

219

2.1.2 Nach Auffassung des 5. Senats des BVerwG (Beschluss vom 18.07.1994 – 5 B 25/94 – Rn. 5 f.) war die dem jetzigen § 7 Abs. 5 SGB II in wesentlicher Hinsicht entsprechende Ausschlussregelung des § 26 Satz 1 BSHG a.F. mit dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar. Angesichts der Weite und Unbestimmtheit dieses Grundsatzes lasse sich aus ihm regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend sei lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben seiner Bürger schaffe (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 21 BvL 26/84, 1 BvL 41 BvL 4/86 – Rn. 83). Dass diese Mindestvoraussetzungen bei Personen, die nach dem BAföG gefördert würden und zufolge des § 26 Satz 1 BSHG a.F. daneben grundsätzlich keine Hilfe zum Lebensunterhalt nach Sozialhilferecht erhalten könnten, in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise unterschritten würden, könne nicht angenommen werden. Die gegenteilige Einschätzung des Klägers (des dortigen Verfahrens) beruhe zum einen darauf, dass dieser, was die Höhe der Ausbildungsförderung nach dem BAföG angehe, mit dem Erhöhungsbetrag nach § 13 Abs. 2a BAföG (a.F.) für die Krankenversicherung von Auszubildenden an Hochschulen Leistungen unberücksichtigt lasse, die nicht nur nach Sozialhilferecht, sondern auch im Rahmen der Ausbildungsförderung gewährt werden könnten. Zum anderen bleibe in der dem Beschluss zu Grunde liegenden Beschwerde auch unerwähnt, dass nach der Rechtsprechung des BVerwG durch § 26 Satz 1 BSHG a.F. der Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nur für einen ausschließlich ausbildungsgeprägten Bedarf ausgeschlossen werde. Nicht berührt werde deshalb der Anspruch auf solche Leistungen, die zwar nach ihrer Zuordnung im Gesetz Hilfe zum Lebensunterhalt seien, jedoch einen Bedarf beträfen, der durch besondere, von der Ausbildung unabhängige Umstände bedingt sei (Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 17.01.1985 – 5 C 29/84 – Rn. 8 ff.; BVerwG, Beschluss vom 13.05.1993 – 5 B 47/93 – Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 14.10.1993 – 5 C 16/91 – Rn. 6). Neben Ausbildungsförderung nach dem BAföG könnten daher z.B. sozialhilferechtliche Leistungen wegen besonderer, nicht ausbildungsbezogener Belastungen durch Krankheit, Behinderung, Schwangerschaft oder Kinderpflege und -erziehung in Betracht kommen. Abgesehen davon sei es, was in der Rechtsprechung des BVerwG seit langem geklärt sei, auch Auszubildenden an Hochschulen grundsätzlich zumutbar, durch gelegentliche – insbesondere in die vorlesungsfreie Zeit fallende – Nebentätigkeit, bei der es sich nicht um die Aufnahme einer mit der Ausbildung unvereinbaren Erwerbstätigkeit handeln würde, einen Verdienst zu erzielen, der ausreiche, mindestens den Unterschiedsbetrag abzudecken, der sich etwa ergebe, wenn dem Betrag der gewährten Ausbildungsförderung der Betrag gegenübergestellt werde, der als Hilfe zum Lebensunterhalt nach Maßgabe der Vorschriften des BSHG in Betracht kommen könnte (Bezugnahme u.a. auf BVerwG, Urteil vom 24.04.1975 – V C 9.74 – Rn. 16). Der Auszubildende habe es danach in der Hand, im Bedarfsfall die Sozialleistungen, die er aus Mitteln der Ausbildungsförderung und gegebenenfalls – beim Vorliegen eines nicht ausbildungsgeprägten Bedarfs – im Rahmen des Sozialhilferechts erhalte, im Wege der Selbsthilfe aufzustocken.

220

2.1.3 Der 8. Senat des OVG Nordrhein-Westfalen ist im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerwG ebenfalls der Ansicht, dass es sowohl mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als auch mit dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar sei, dass § 26 Satz 1 BSHG a.F. Personen, die eine im Rahmen des BAföG dem Grunde förderungsfähige Ausbildung absolvieren, von der Hilfe zum Lebensunterhalt grundsätzlich ausschließe (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.02.1995 – 8 B 540/95 – Rn. 6).

221

2.1.4 Nach Auffassung des damaligen 14. Senats des BSG begegnet der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 24.12.2003 (BGBl. Teil I, S. 2954) keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar führe der Ausschluss sowohl im SGB II als auch im SGB XII dazu, dass im Einzelfall für Ausbildungszeiten überhaupt keine staatliche Sozialleistung zur Verfügung gestellt werde. Der Gesetzgeber stelle aber grundsätzlich ein besonderes System der Ausbildungsförderung zur Verfügung, mit dem er den Lebensunterhalt während einer Ausbildung sichere. Er sei verfassungsrechtlich nicht gehalten, darüber hinaus Ausbildungszeiten auch außerhalb dieses Systems zu fördern. Soweit jemand eine Ausbildung betreiben wolle, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung einer Ausbildung vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfülle, handele es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Sie könne zumindest nicht die Konsequenz haben, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieser Ausbildung Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach einem System (SGB II) zu gewähren, das der Existenzsicherung von Personen diene, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Einkommen erzielen wollen würden und nur wegen des Fehlens einer Erwerbsmöglichkeit (vorübergehend) der Unterstützung bedürften. Wegen der Ausbildung wäre die Klägerin (des dortigen Verfahrens) nämlich kaum in der Lage, ihren Lebensunterhalt durch eine von der Bundesagentur für Arbeit vermittelte Erwerbstätigkeit selbst zu sichern. Etwaige Härten würden dabei durch § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II (a.F.) abgefedert. Angesichts der insgesamt pauschalierten Höhe der Leistungen nach dem BAföG würde die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, jedenfalls in der Zeit vor dem Inkrafttreten des § 22 Abs. 7 SGB II zum 01.01.2007 auch zu einer nicht zu rechtfertigenden Privilegierung von Personen führen, die eine förderungsfähige Ausbildung absolvierten, aber die besonderen Voraussetzungen einer Ausbildungsförderung nach den spezialgesetzlichen Vorschriften nicht erfüllten (BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 28/06 R – Rn. 29; ähnlich: BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 36/06 R – Rn. 28).

222

2.1.5 Dieser Auffassung hat sich der 14. Senat des LSG Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 18.07.2008 (L 14 B 774/08 AS PKH – Rn. 2) ohne weitere Begründung angeschlossen.

223

2.1.6 Im Urteil vom 30.09.2008 stellt auch der 4. Senat des BSG unter Bezugnahme auf die Urteile vom 06.09.2007 (B 14/7b AS 28/06 R und B 14/7b AS 36/06 R) ohne weitere Ausführungen fest, dass eine verfassungswidrige Benachteiligung durch den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II nicht ersichtlich sei (BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 30). Die Ausschlussregelung sei auf die Erwägung zurückzuführen, dass bereits die Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder gemäß §§ 60 bis 62 SGB III (a.F.) auch die Kosten des Lebensunterhalts umfasse und deshalb im Grundsatz die Grundsicherung nicht dazu diene, durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderungsfähigen Ausbildung zu ermöglichen. Die Ausschlussregelung solle die nachrangige Grundsicherung mithin davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene zu ermöglichen (BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 14).

224

Im Urteil vom 27.09.2011 führt der 4. Senat des BSG aus, dass es der Sinn der Regelung des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II (a.F.) sei, Ausbildungsförderleistungen nur durch die dafür vorgesehenen Systeme (BAföG oder SGB III) zu gewährleisten. Ausbildungsförderung durch Leistungen aus den Fürsorgesystemen (SGB II und SGB XII) solle daher weitestgehend verhindert werden (BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 160/10 R – Rn. 19).

225

In einem weiteren Urteil vom 27.09.2011 konstatiert der 4. Senat des BSG – ohne allerdings ausdrücklich eine verfassungsrechtliche Prüfung vorzunehmen –, dass es, da grundsätzlich die Sicherung des Lebensunterhalts bei förderungsfähigen Ausbildungen durch ein anderes Sozialleistungssystem erfolgen solle als die Grundsicherung für Arbeitsuchende, in der Ausbildungssituation keiner Leistungen der Grundsicherung bedürfe. Soweit ein Student ein Studium betreiben möge, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung dessen vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfülle, handele es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Sie könne zumindest nicht die Konsequenz haben, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieses Studiums Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren, ohne dass der Student dem Gesamtsystem des SGB II unterläge. Wegen der Ausbildung sei er nämlich kaum in der Lage, seinen Lebensunterhalt durch eine von der Bundesagentur für Arbeit vermittelte Erwerbstätigkeit selbst zu sichern (BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 145/10 R – Rn. 23).

226

In einem Urteil vom 28.03.2013 hat der 4. Senat des BSG seine Auffassung bekräftigt, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne und der Gesetzgeber nicht gehalten sei, außerhalb des besonderen Systems zur Ausbildungsförderung den Lebensunterhalt während der Ausbildung sicherzustellen (BSG, Urteil vom 28.03.2013 – B 4 AS 59/12 R – Rn. 20).

227

In einem Urteil vom 02.04.2014 (B 4 AS 26/13), indem der nach dem BAföG geförderte dortige Kläger einen Zuschuss zu den ungedeckten Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 7 SGB II (a.F.) (heute weitgehend übernommen in § 27 Abs. 3 SGB II) begehrt hat, ohne dessen spezielle Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen, führt der 4. Senat des BSG aus, dass dem Ausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. die Erwägung zu Grunde liege, dass bereits die Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder eine Förderung gemäß §§ 60 bis 62 SGB III (a.F.) auch die Kosten des Lebensunterhalts umfasse und die Grundsicherung nach dem SGB II nicht dazu dienen solle, durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderungsfähigen Ausbildung zu ermöglichen. Die Ausschlussregelung im SGB II solle die nachrangige Grundsicherung (Bezugnahme auf § 3 Abs. 3 SGB II) mithin davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene zu ermöglichen. Es sollten nicht mehrere Träger zur Deckung ein und desselben Bedarfs zuständig sein (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 18). Soweit der Kläger geltend mache, der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 i.V.m. Art. 20 GG (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 134 und BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09) erfordere seine Einbeziehung in den Kreis der nach § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. Leistungsberechtigten, vermöge der Senat dem nicht zu folgen. Der Kläger berufe sich darauf, aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG folge die staatliche Garantie der Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins erforderlich seien. Insoweit übersehe er jedoch, dass er zur Finanzierung seines Lebensunterhalts staatliche Mittel in Gestalt der Leistungen nach dem BAföG erhalten habe, insbesondere erhöhte Unterkunftsleistungen. Für Studierende, die in einer Unterkunft außerhalb des Elternhauses wohnten, habe § 13 Abs. 3 BAföG im streitigen Zeitraum im Fall der Unterdeckung bei den Unterkunftskosten eine pauschalierte Erhöhung der Leistungen hierfür um 72 Euro monatlich auf insgesamt 218 Euro vorgesehen. Inwieweit auch im BAföG – wie im SGB II – die Deckung der angemessenen tatsächlichen Aufwendungen gewährleistet werden müsse, habe hier keiner Prüfung bedurft. Der Kläger begehre ausschließlich Leistungen nach dem SGB II. Das SGB II habe jedoch wegen der Pauschalierung bei den Unterkunftskosten im BAföG nur in genau definierten Härtefällen eine Aufstockung der Ausbildungsförderungsleistungen durch § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. vorgesehen. Soweit der Kläger über die geregelten Ausnahmefälle des § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. hinaus einen weitergehenden gesetzlich nicht vorgesehenen Anspruch geltend mache, rüge er daher keine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung des Existenzminimums, sondern eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 27). Eine Verletzung des Gleichheitsgrundrechts sieht der Senat nicht (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 28 ff.).

228

2.1.7 In späteren Entscheidungen des BSG (Urteile vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R und vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R) wurde die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung nicht mehr aufgegriffen.

229

2.1.8 Auch der 28. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 26.02.2016 – L 28 AS 2230/12 – Rn. 16) ist der Auffassung, dass die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 5 SGB II nicht verfassungswidrig sei. Zur Begründung verweist er ohne weitere Erläuterungen auf den Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11).

230

2.1.9 Die vorlegende 3. Kammer des SG Mainz hat hingegen im Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 (S 3 AS 130/14 – Rn. 220) hervorgehoben, dass die in den Nichtannahmebeschlüssen des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden, obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsähen, einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der im Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik darstelle. Es sei unklar, weshalb die zur Voraussetzung der Gewährung existenzsichernder Leistungen gemachte Verhaltenserwartung des Abbruchs der Ausbildung oder des Studiums mit dem Axiom der Unverfügbarkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sein könnte.

231

Diese Auffassung wird auch im Beschluss der 12. Kammer des SG Mainz vom 12.11.2015 (S 12 AS 946/15 ER – Rn. 83) mit dem Hinweis aufgegriffen, dass das Existenzminimum auch bildungspolitisch nicht zu relativieren sein dürfte.

232

2.2 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 5 SGB II bzw. in dessen sozialhilferechtlichen Parallel- und Vorgängerregelungen überwiegend unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung für verfassungsgemäß gehalten (vgl. bereits zum BSHG: Marschner, NVwZ 1995, S. 870, Fn. 3).

233

2.2.1 Felix hat allerdings bereits zu § 26 Satz 1 BSHG a.F. in kritischer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 14.10.1993 – 5 C 16/91) hervorgehoben, dass diese Vorschrift bereits von der Systematik des BSHG her gesehen äußerst bedenklich sei, weil durch sie ganze Gruppen von Personen völlig vom Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen würden. Dies verstoße gegen den tragenden Grundsatz der individuellen Gestaltung und Bemessung der Hilfe (Bezugnahme auf § 31 BSHG a.F.), so dass § 26 BSHG a.F. bereits aus diesem Grunde auf Grund seiner Systemwidrigkeit als Ausnahmevorschrift eng ausgelegt werden müsse. Die rein formale Anknüpfung an den Status des Hilfebedürftigen – Auszubildender im Rahmen einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung –, die vom BVerwG praktiziert werde, werde diesem Erfordernis nicht gerecht. Entgegen der Auffassung des BVerwG sei stattdessen im konkreten Einzelfall danach zu fragen, ob die Durchführung der Ausbildung in kausalem Zusammenhang mit dem sozialhilferechtlichen Bedarf des Bedürftigen bestehe (Felix, NVwZ 1995, S. 246).

234

2.2.2 Voelzke stellt im Rahmen seiner Kommentierung der Parallelreglung in § 22 SGB XII fest, dass derjenige Auszubildende, der die Leistungsvoraussetzungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III nicht erfülle, bei Hilfebedürftigkeit keine Fürsorgeleistungen erhalte, sondern darauf verwiesen werde, entweder seine Ausbildung aufzugeben oder seinen Lebensunterhalt durch eine Nebenerwerbstätigkeit zu sichern (Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 22 Rn. 7, Stand 20.05.2015). Der Anspruchsausschluss bedeute im Ergebnis wegen des nicht bedarfsdeckenden Charakters der Ausbildungsförderung, dass der Auszubildende die Ausbildung durch die Hilfe Dritter (insbesondere der Eltern), durch eine ausbildungsbegleitende Tätigkeit oder durch die Aufnahme eines Darlehens kofinanzieren müsse. Stünden dem Auszubildenden derartige Möglichkeiten nicht zur Verfügung, müsse die Ausbildung in der Konsequenz der Struktur der gesetzlichen Regelungsstruktur ggf. unterbrochen oder sogar aufgegeben werden (Voelzke, a.a.O. Rn. 18). Die Vorschrift solle die Sozialhilfe davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungshilfe auf einer zweiten Ebene zu sein. Da die Ausbildungsförderung nach dem BAföG und die Berufsausbildungsbeihilfe nach dem SGB III auch die Kosten des Lebensunterhalts umfassten, werde verhindert, dass die Sozialhilfe durch die Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderbaren Ausbildung ermögliche. Es solle kein Ersatzförderungssystem installiert werden, das die im BAföG oder SGB III geregelten speziellen Anspruchsvoraussetzungen aushebeln und die Lasten der Ausbildungsförderung der Sozialhilfe auferlegen würde. Insoweit sei es Sinn und Zweck des § 22 SGB XII, die Inanspruchnahme von ergänzender Sozialhilfe zu verhindern, wenn die Notlage durch eine abstrakt förderungsfähige Ausbildung verursacht werde. Ein Wahlrecht des Auszubildenden, Ausbildungsförderung oder Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, sei diesem nicht eingeräumt. Die Sozialhilfe solle deshalb regelmäßig nicht dazu dienen, das Betreiben einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts sicherzustellen. Der vorstehende Grundsatz werde jedoch dadurch relativiert, dass § 27 SGB II und das entsprechende Leistungsangebot im SGB XII Lücken im Leistungsangebot schließen würden (Voelzke, a.a.O., Rn. 20). Die Zielsetzung des § 22 SGB XII werde vielfach als systemwidrig und sozialpolitisch verfehlt kritisiert. Dieser Einschätzung könne jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden, denn dem Gesetzgeber sei es grundsätzlich unbenommen, für die Ausbildungsförderung ein gesondertes Leistungssystem zur Verfügung zu stellen, das er in der Folge gegen die Sozialhilfe (und die Grundsicherung für Arbeitsuchende) abgrenze. Die Abgrenzungsregelung fuße also auf der – vom Ansatz her hinzunehmenden – Auffassung des Gesetzgebers, dass die Leistungen des BAföG und des SGB III bedarfsgerecht ausgestaltet seien und neben dem speziellen Ausbildungsbedarf auch den Lebensunterhalt des Betroffenen abdeckten, so dass eine Aufstockung der Leistungen nicht erforderlich sei. Aus diesem Grunde dürfte sozialpolitisch eine Lösung der Problematik eher darin zu suchen sein, die vorrangige Ausbildungsförderung als bedarfsdeckendes Leistungssystem auszugestalten. Eine durch den Leistungsausschluss herbeigeführte verfassungswidrige Benachteiligung haben die Rechtsprechung und die überwiegende Literatur bislang verneint, weil der Gesetzgeber wegen der zwischen den in Frage kommenden Gruppen bestehenden Unterschiede berechtigt sei, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unterschiedlich zu regeln. Die unterschiedliche Behandlung rechtfertige sich dadurch, dass die Sicherung des Lebensunterhalts durch ein anderes Sozialleistungssystem erfolgen solle. Zwar könne diese Systementscheidung im Einzelfall dazu führen, dass während einer Ausbildung keine Sozialleistungen bezogen werden könnten. Soweit eine Ausbildung angetreten werde, ohne die Anforderungen des einschlägigen Leistungssystems zu erfüllen, handele es sich jedoch um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine individuelle staatliche Ausbildungsförderung bestehe nicht (Voelzke, a.a.O., Rn. 21).

235

2.2.3 Grote-Seifert ist der Auffassung, dass die Verpflichtung, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen, auch den Ausschluss der Leistungen gemäß § 7 Abs. 5 SGB II bei Aufnahme eines Studiums rechtfertige, solange der Student der Hochschule organisationsrechtlich angehöre und sein Studium betreibe (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 2 Rn. 47, Stand 10.03.2015).

236

2.2.4 Leopold hält den grundsätzlichen Ausschluss von Auszubildenden, die dem Grunde nach einen Anspruch auf Ausbildungsförderung BAföG oder auf Berufsausbildungsbeihilfe nach den §§ 51, 57, 58 SGB III haben, von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für verfassungsrechtlich unbedenklich. Dieser Leistungseinschränkung für Auszubildende liege die Annahme zu Grunde, dass die Leistungen des BAföG und des SGB III bedarfsgerecht ausgestaltet seien und neben dem speziellen Ausbildungsbedarf auch den Lebensunterhalt des Geförderten abdeckten, so dass keine Aufstockung der Leistungen durch solche des SGB II erforderlich sei. Dadurch solle eine versteckte Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene verhindert werden. Zudem sollten die Fördervoraussetzungen nach den für Ausbildungsförderung vorgesehenen Gesetzen nicht umgangen werden können. Den vom Leistungsausschluss Betroffenen mute das Gesetz zu, auf die Aufnahme bzw. Fortführung einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung zu verzichten und sich stattdessen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 287, Stand 14.03.2016).

237

2.3 Die vorlegende Kammer ist nach Auswertung der vertretenen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung, dass auch die Regelung des § 7 Abs. 5 SGB II verfassungswidrig ist. Eine verfassungskonforme Auslegung ist nicht möglich.

VI.

238

1. Das BVerfG hat sich mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – soweit ersichtlich – noch nicht befasst, so dass der Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage nicht der Einwand der Rechtskraft nach § 31 Abs. 1 BVerfGG entgegensteht (vgl. zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 30.05.1972 – 1 BvL 18/71 – Rn. 18).

239

2. Mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II (in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung) hat sich das BVerfG bereits in den Nichtannahmebeschlüssen vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) auseinandergesetzt. Mit diesen Entscheidungen hat die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Eine Sachentscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II war hiermit jedoch nicht verbunden (vgl. Baer, NZS 2014, S. 4 zum „Stiefkinderbeschluss“ der 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 29.05.2013 – 1 BvR 1083/09). Den Beschlüssen kommt gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG keine Gesetzeskraft zu, da mit den Entscheidungsformeln der Kammer weder ein Gesetz als mit dem GG vereinbar, noch als mit dem GG unvereinbar oder für nichtig erklärt wurde. Die gleichwohl in den Beschlüssen skizzierte Auffassung, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II (a.F.) sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Beschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 22; BVerfG, Beschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 12 ff.), bringt daher keine zusätzlichen Begründungslasten oder sonstigen Anforderungen für die Zulässigkeit des Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 BVerfGG mit sich.

VII.

240

Die durch das vorlegende Gericht aufgeworfenen Vorlagefragen sind einer Prüfung durch das BVerfG nicht in Folge der von diesem proklamierten Nichtausübung der Grundrechtskontrolle über in Deutschland angewandtes Unionsrecht entzogen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 – Rn. 55 ff. – „Bananenmarktverordnung“ –; BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 117 – „Solange II“ –; BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 22 BvR 2159/92 – Rn. 70 – „Maastricht“ –; zu Ursachen und Entwicklung dieser Rechtsprechung im Verhältnis zum EuGH: Buckel, Subjektivierung und Kohäsion, 2. Auflage 2015, S. 280 ff.).

241

1. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass als Befugnisnorm und/oder verfassungsrechtliche Rechtfertigung für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II die unionsrechtliche Vorschrift des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG herangezogen wird. Anhand dieser Argumentationsfigur ließe sich die Frage anschließen, ob die eigentlich verfassungswidrige (weil Grundrechte verletzende) Vorschrift hier nicht § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, sondern Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG sein könnte, deren Grundrechtskonformität nach der Judikatur des BVerfG in Folge der „Solange II“-Entscheidung vom 22.10.1986 (2 BvR 197/83) vorläufig ausschließlich durch den EuGH zu prüfen wäre.

242

Die vorliegende Konstellation bietet jedoch keinen Anlass für den Verzicht auf die Grundrechtskontrolle durch das BVerfG. Dies beruht zunächst darauf, dass das BVerfG seine Prüfkompetenz uneingeschränkt in Anspruch nimmt, wenn der Gesetzgeber bei der Umsetzung von Unionsrecht Gestaltungsfreiheit hat, das heißt durch das Unionsrecht nicht determiniert ist (BVerfG, Urteil vom 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a. – Rn. 182). Der hier in Rede stehende Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG räumt dem nationalen Gesetzgeber lediglich die Befugnis ein, freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger unter bestimmten Umständen vom Anspruch auf Sozialhilfeleistungen auszunehmen, verpflichtet ihn aber nicht dazu. Dem Gesetzgeber verbleibt daher ein Gestaltungsspielraum, so dass die vom BVerfG entwickelte Doktrin der Nichtausübung der Grundrechtskontrolle nach dessen eigenem Verständnis in der vorliegenden Konstellation nicht einschlägig ist (vgl. auch Kingreen, SGb 2013, S. 137).

243

2. Für die zweite Vorlagefrage wird das Problem nicht aufgeworfen, da eine unionsrechtliche Grundlage für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II ersichtlich nicht besteht.

VIII.

244

Einer Rüge der Nichtigkeit der Rechtsvorschrift durch die Beteiligten bedarf es nicht (§ 80 Abs. 3 BVerfGG).

B.

245

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist verfassungswidrig (II). Die Regelung verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG (Schutz der Menschenwürde) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) (I.). Das Gleiche gilt für § 7 Abs. 5 SGB II (III).

I.

246

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Grundrecht in mehreren Entscheidungen konkretisiert und Anforderungen für dessen Gewährleistung herausgearbeitet (1-4). Die vorlegende Kammer schließt sich diesen Entscheidungen grundsätzlich an (5, 6) und zieht hieraus Schlüsse für die Anspruchsvoraussetzungen (7), den Anspruchsgegner (8) und den Anspruchsinhalt (9), sowie für das Verhältnis mehrerer möglicherweise verfassungswidriger Normen zueinander (10).

247

1. Mit dem Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.), bestätigt und ergänzt durch das Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) und durch den Beschluss vom 23.07.2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 ), hat das BVerfG die auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) gestützte staatliche Pflicht zur Existenzsicherung subjektivrechtlich fundiert und ein Recht auf parlamentsgesetzliche Konkretisierung in strikten einfachgesetzlichen Anspruchspositionen konstituiert (soRixen, SGb 2010, S. 240). Bereits mit Beschluss vom 12.05.2005 hatte das BVerfG klargestellt, dass die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates sei, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folge (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – Rn. 28).

248

Im Urteil vom 09.02.2010 stellt das BVerfG nicht nur prozedurale Anforderungen an die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums an einen beliebigen (staatlichen) Akteur, sondern weist die Bestimmung des Anspruchsinhalts auch einem konkreten Adressaten, dem Bundesgesetzgeber, zu. Der Bundesgesetzgeber stehe, da er von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Recht der öffentlichen Fürsorge aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG umfassend Gebrauch gemacht habe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 181), demnach in der Verantwortung, das Sozialstaatsprinzip selbst durch ein Gesetz hinreichend zu konkretisieren und zu gewährleisten, dass auf die zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderlichen Leistungen auch ein entsprechender Rechtsanspruch besteht (Berlit in: LPK-SGB II, § 22a Rn. 6, 5. Auflage 2013). Hiermit hat das BVerfG das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG als Gewährleistungsrecht im Sozialrecht aktiviert (Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 275).

249

2. Das BVerfG entwickelt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Das Menschenwürdeprinzip aus Art. 1 Abs. 1 GG wird dabei als eigentliche Anspruchsgrundlage herangezogen, während das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG im Sinne eines Gestaltungsgebots mit erheblichem Wertungsspielraum verstanden wird (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62). Das auf dieser Grundlage bestimmte Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG habe in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG demnach neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es sei dem Grunde nach unverfügbar und müsse eingelöst werden, bedürfe aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten habe. Dabei stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133).

250

Der Gesetzgeber sei im Übrigen durch weitere Vorgaben verpflichtet, die sich aus dem Recht der Europäischen Union und aus völkerrechtlichen Verpflichtungen ergäben.Zu den in Deutschland geltenden Regeln über das Existenzminimum gehöre auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 (IPwskR, in Kraft getreten am 03.01.1976, BGBl. Teil II 1976, S. 428), dem der Deutsche Bundestag mit Gesetz vom 23.11.1973 (BGBl. Teil II, S. 1569) zugestimmt habe. Der Pakt statuiere in Art. 9 ein Recht auf Soziale Sicherheit und in Art. 15 Abs. 1 a) das Menschenrecht auf Teilnahme am kulturellen Leben (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 68).

251

Der unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstrecke sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich seien. Er gewährleiste hierbei das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasse, da der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiere (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135).

252

Das BVerfG führt hierzu weiter aus, dass die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch ein Parlamentsgesetz erfolgen müsse, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthalte. Aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebe sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. Dies gelte in besonderem Maße, wenn und soweit es um die Sicherung der Menschenwürde und der menschlichen Existenz gehe. Zudem könne sich der von Verfassungs wegen bestehende Gestaltungsspielraum des Parlaments nur im Rahmen eines Gesetzes entfalten und konkretisieren. Schließlich sei die Begründung von Geldleistungsansprüchen auch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte verbunden. Derartige Entscheidungen seien dem Gesetzgeber vorbehalten (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136). Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkomme, sei das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137).

253

Der Umfang des Anspruchs könne im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Er hänge von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und sei danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG halte den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kämen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliege es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ihm komme Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser umfasse die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und sei zudem von unterschiedlicher Weite: Er sei enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiere, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 138).

254

Zur Konkretisierung des Anspruchs habe der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen. Hierzu habe er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das GG schreibe ihm dafür keine bestimmte Methode vor (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 139). Es komme dem Gesetzgeber zu, die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auszuwählen. Die getroffene Entscheidung verändere allerdings nicht die grundrechtlichen Maßstäbe (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 78).

255

3. Als Menschenrecht stehe das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63).

256

Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen wolle, dürfe er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung sei nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73).

257

Ob und in welchem Umfang der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen für Menschen mit nur vorübergehendem Aufenthaltsrecht in Deutschland gesetzlich abweichend von dem gesetzlich bestimmten Bedarf anderer Hilfebedürftiger bestimmt werden könne, hänge allein davon ab, ob wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden könnten. Hierbei sei zu berücksichtigen, ob durch die Kürze des Aufenthalts Minderbedarfe durch Mehrbedarfe kompensiert würden, die typischerweise gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfielen. Auch hier komme dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse dieser Personengruppe wie auch die wertende Einschätzung ihres notwendigen Bedarfs umfasse, aber nicht davon entbinde, das Existenzminimum hinsichtlich der konkreten Bedarfe zeit- und realitätsgerecht zu bestimmen (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73).

258

4. Zum (verfassungs-)gerichtlichen Prüfungsmaßstab führt das BVerfG aus, dass dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums eine zurückhaltende Kontrolle durch das BVerfG entspreche.

259

Das GG selbst gebe keinen exakt bezifferten Anspruch vor. Deswegen könne auch der Umfang dieses Anspruchs im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und der dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Dem BVerfG komme nicht die Aufgabe zu, zu entscheiden, wie hoch ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums sein müsse. Es sei zudem nicht seine Aufgabe, zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste, zweckmäßigste und vernünftigste Lösung zur Erfüllung seiner Aufgaben gewählt habe. Aus verfassungsrechtlicher Sicht komme es vielmehr entscheidend darauf an, dass die Untergrenze eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht unterschritten werde und die Höhe der Leistungen zu dessen Sicherung insgesamt tragfähig begründbar sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. - Rn. 80).

260

Die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz beschränke sich darauf, ob die Leistungen evident unzureichend seien. Diese Kontrolle beziehe sich auf die Höhe der Leistungen insgesamt und nicht auf einzelne Berechnungselemente, die dazu dienten, diese Höhe zu bestimmen. Evident unzureichend seien Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich sei, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen könnten, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 81).

261

Jenseits der Evidenzkontrolle überprüfe das BVerfG, ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen seien. Das BVerfG setze sich dabei nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle des Gesetzgebers, sondern überprüfe lediglich die gesetzgeberischen Festlegungen zur Berechnung von grundgesetzlich nicht exakt bezifferbaren, aber grundrechtlich garantierten Leistungen. Ließen sich diese nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen, stünden sie mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im Einklang (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 82).

262

Entscheidend sei, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichte und die Leistungen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs tragfähig begründet werden könnten (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 76). Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen bezögen sich nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG bringe für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Verfahren mit sich. Entscheidend sei, ob sich die Höhe existenzsichernder Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lasse. Das GG enthalte in den Art. 76 ff. GG zwar Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, die auch die Transparenz der Entscheidungen des Gesetzgebers sicherten. Das parlamentarische Verfahren mit der ihm eigenen Öffentlichkeitsfunktion sichere so, dass die erforderlichen gesetzgeberischen Entscheidungen öffentlich verhandelt würden und ermögliche, dass sie in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert würden. Die Verfassung schreibe jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen sei, sondern lasse Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Das GG verpflichte den Gesetzgeber insofern auch nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenzminimums vorzunehmen. Darum zu ringen sei vielmehr Sache der Politik (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

263

Zur Ermöglichung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bestehe für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Komme er dieser Obliegenheit nicht hinreichend nach, stehe die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 144).

264

5. Die Kammer schließt sich den Ausführungen des BVerfG im Wesentlichen an.

265

5.1 Die Entwicklung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dem Umstand geschuldet, dass sowohl die Menschenwürdegarantie als auch das Sozialstaatsprinzip als echte, einklagbare, verfassungsrechtliche Garantien verstanden werden, nicht lediglich als Programmsätze. Ein menschenwürdiges Leben, zu dessen Achtung und Schutz alle staatliche Gewalt nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet ist, kann nur mit einem Mindestmaß an materiellen und sozialen Ressourcen geführt werden (vgl. Schulz, SGb 2010, S. 203 f.). Der Schutz der Menschenwürde liefe ohne Rücksicht auf ihre ökonomischen Bedingungen ins Leere (Drohsel, NZS 2014, S. 99). Vor diesem Hintergrund erscheint es sogar vertretbar, das Grund- und Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums allein auf Art. 1 Abs. 1 GG zu stützen (vgl. Tiedemann, NVwZ 2012, S. 1032 f.).

266

5.2 Das Bekenntnis zum Sozialstaat bedingt die (Selbst-)Verpflichtung des Staates und der ihn tragenden Gesellschaft, ein menschenwürdiges Leben auch denen zu ermöglichen, die dies nicht aus eigener Kraft (bzw. mit den Mitteln, die ihnen Staat und Gesellschaft anderweitig durch Bildung, Infrastruktur etc. zur Verfügung stellen) gewährleisten können. Die objektive staatliche Verpflichtung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums enthält auch die Verpflichtung, Hilfebedürftigen einen Anspruch auf die Leistung zu verschaffen (so bereits BVerfG, Urteil vom 07.06.2005 – 1 BvR 1508/96 – Rn. 48; vgl. Baer, NZS 2014, S. 3). Diese subjektivrechtliche Seite der verfassungsrechtlichen Garantie folgt aus dem Umstand, dass Art. 1 Abs. 1 GG als echte Rechtsnorm zu verstehen ist (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 212); das Sozialstaatsprinzip allein würde diese der Verrechtlichung folgende Subjektivierung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung noch nicht erzwingen (vgl. Schulz, SGb 2010, S. 202). Ohne die aus dem Achtungs- und Schutzanspruch des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG folgende subjektivrechtliche Fundierung stünde die konkrete Ausgestaltung der sozialstaatlichen Versorgung von Hilfebedürftigen mit den zum Überleben notwendigen Mitteln weitgehend zur Disposition des Gesetzgebers. Sie wäre abhängig von der jeweiligen Staatsräson und vollständig Verhandlungsmasse im politischen Prozess (vgl. Spellbrink, NZS 2010, S. 653). Der Hilfebedürftige bliebe Almosenempfänger (Baer, NZS 2014, S. 3).

267

Die Menschenwürdegarantie führt dazu, dass der sozialstaatlichen Verpflichtung ein klagbarer verfassungsrechtlicher Anspruch entsprechen muss (skeptisch gegenüber der Notwendigkeit, das Existenzsicherungsgrundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG herzuleiten aberKingreen, NVwZ, 2010, S. 558 f.). Zugleich führt sie dazu, dass das Gewährleistungsrecht keiner Einschränkungsbefugnis unterliegt. Insofern ist es konsequent, die Garantie der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums terminologisch und dogmatisch in den Rang eines Grundrechts und Menschenrechts (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 u.a. - Rn. 62) zu erheben und hiermit auch die Möglichkeit des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG zu eröffnen (vgl. Berlit, KJ 2010, S. 147).

268

5.3 Dass das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Gestaltung des einfachrechtlichen Anspruchs belässt, gründet darauf, dass die normative Einschätzung und Bestimmung dessen, was für ein menschenwürdiges Leben unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen erforderlich ist, nur im Wege eines politischen Prozesses erfolgen kann, dessen Durchführung unter den verfassungsrechtlichen Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie den gewählten Legislativorganen obliegt (zur Kritik an der juristisch-dogmatischen Schließung des Demokratieprinzips durch das BVerfG vgl. aber Wallrabenstein in: Rixen (Hrsg.), Die Wiedergewinnung des Menschen als demokratisches Projekt: Band 1: Neue Demokratietheorie als Bedingung demokratischer Grundrechtskonkretisierung in der Biopolitik, Tübingen 2015, S. 21 ff.). Der materielle Gehalt des Grundrechts muss im Gesetzgebungsprozess konkretisiert werden (vgl. jedoch zur Kritik an der sozialpolitischen "Leere" des Urteils des BVerfG vom 09.02.2010: Schnath, NZS 2010, S. 298; zur Kritik an der eingeschränkten Überprüfbarkeit: Neskovic/Erdem, SGb 2012, S. 137 f.).

269

Die Auffassung, das BVerfG entziehe die gesellschaftlich streitbare Frage nach der Reichweite der staatlichen Verpflichtung zur Absicherung des Existenzminimums durch Verankerung des Grundrechts in Vorschriften, die der Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) unterliegen, für die Ewigkeit dem politischen Diskurs und schwäche hiermit das demokratische Prinzip (Groth, NZS 2011, S. 571; kritisch auch Rixen, NZS 2011, S. 333), vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen. Bei formaler Betrachtungsweise schwächt jedes Grundrecht und jede verfassungsrechtliche Bindung der Legislative die Demokratie, wenn man diese auf den Gesetzgebungsakt reduziert und die Voraussetzungen für den demokratischen Prozess (z.B. Meinungsfreiheit, soziale Teilhabe, politische Autonomie) ausblendet (vgl. auch Luik, jurisPR-SozR 4/2010 Anm. 1). Die Konstituierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch das BVerfG als "Gewährleistungsrecht" zwingt die Legislativorgane jedoch dazu, den demokratischen Prozess, der sich nicht im Gesetzgebungsakt erschöpft, praktisch zu realisieren, auch wenn von echten Verfahrensfehlern abgesehen nur dessen Ergebnis einer (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Daneben sind Grundrechte auf Gewährung sozial gesicherter Lebensbedingungen, wie dies für eine chancengleiche Nutzung bürgerlicher Rechte unter gegebenen Verhältnissen jeweils notwendig ist, Funktionsvoraussetzungen für Handlungsfreiheit und Aktivbürgerschaft in einem demokratischen Rechtsstaat und somit auch für den demokratischen Prozess selbst (vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 155 f., 5. Auflage 2014).

270

Die scheinbar entgegengesetzte Kritik, das BVerfG überlasse das Grundrecht weitestgehend der Disposition des nur bedingt gebundenen Gesetzgebers (Neskovic/Erdem, SGb 2012, S. 138), verdeutlicht die Kompromisshaftigkeit der vom BVerfG entwickelten Dogmatik (vgl. auch Berlit, KJ 2010, S. 145 ff.). Bei der Konstruktion des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums werden Menschenwürdegarantie und Sozialstaatsprinzip mit dem Demokratieprinzip harmonisiert. Eine Lösung, die diese Verfassungsgrundsätze prinzipiell besser miteinander in Einklang bringt, ist der vorlegenden Kammer nicht ersichtlich. Dass das BVerfG „zur sozialstaatlich elementaren Verteilungsfrage geschwiegen (hat)“ (Borchert, SGb 2015, S. 661) ist vor diesem Hintergrund konsequent.

271

5.4 Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stellt an ein Staatswesen, welches den Schutz und die Achtung der Menschenwürde zum obersten Staatsziel erklärt und der Verfassung voranstellt (Art. 1 Abs. 1 GG) und sich als "sozial" bezeichnet (Art. 20 Abs. 1 GG), keine überzogenen Anforderungen, insbesondere nicht im Hinblick auf die Finanzierung (vgl. allgemein zu diesbezüglichen Vorbehalten gegenüber sozialen Menschenrechten: Wimalasena, KJ 2008, S. 4 f.). Letzteres wird dadurch gesichert, dass der Gesetzgeber unter Nutzung seines Gestaltungsspielraums bei der inhaltlichen Bestimmung des Grundrechts den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsstand berücksichtigen kann und muss. Das Grundrecht ist zwar dem Grunde nach unverfügbar und abwägungsfest, der Höhe nach aber nicht vom gesellschaftlichen Wohlstand und dessen ökonomischen Grundlagen entkoppelt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74; Voßkuhle, SGb 2011, S. 186). Nicht die Menschenwürde ist hierbei historischen Wandlungen unterworfen, sondern das Urteil darüber, welche materiellen Voraussetzungen notwendig sind, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können (Neumann, NVwZ 1995, S. 428).

272

6. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet den Gesetzgeber zur Schaffung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen für alle Menschen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich aufhalten (Kirchhof, NZS 2015, S. 4). Dem Gesetzgeber ist es daher sowohl verwehrt, Personen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten, trotz Hilfebedürftigkeit von sämtlichen existenzsichernden Sozialleistungssystemen auszuschließen, als auch die Gewährung jeglicher existenzsichernder Leistungen von Handlungen der betroffenen Personen abhängig zu machen, die weder zur Feststellung der Leistungsvoraussetzungen erforderlich noch unmittelbar dazu geeignet sind, die Hilfebedürftigkeit des Betroffenen zu beseitigen. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und insoweit – wie es der überkommenen Dogmatik der Menschenwürdegarantie entspricht – abwägungsfest (Baer, NZS 2014, S. 3).

273

6.1 Die Unverfügbarkeit des Grundrechts (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74) resultiert aus dessen Verankerung im Grundsatz der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), soweit hierin der Schutz der Selbstbestimmung des Menschen auf Grund seines Eigenwerts angesprochen wird (vgl. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10, 4. Auflage 1999). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen. Die Eigenschaft des Menschseins ist jeder weiteren Differenzierung nach Zugehörigkeit (Staatsangehörigkeit, Herkunft) oder Status (z.B. Aufenthaltsrecht) vorgelagert, so dass aus der Menschenwürdegarantie hergeleitete Rechte durch solche und ähnliche Kategorien nicht eingeschränkt werden können.

274

Die vom BVerfG hervorgehobene Unverfügbarkeit "dem Grunde nach" bringt lediglich zum Ausdruck, dass hinsichtlich der Art und Höhe der existenzsichernden Leistungen ein Gestaltungsspielraum besteht. Diese Formulierung ist zu unterscheiden von einem lediglich "grundsätzlich" bestehenden Recht, welches im Ausnahmefall auch nicht bestehen kann. Die in der Rechtsprechung gelegentlich vertretene Auffassung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfe, gelte „nicht schrankenlos“ (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht) verfehlt deshalb den wesentlichen Punkt. Die Verpflichtung zur "Konkretisierung" und "Aktualisierung" (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74) bedeutet keine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Das Grundrecht unterliegt daher auch keinem Gesetzesvorbehalt, sondern der Gesetzgeber (d.h. die verfassungsmäßigen Organe der Legislative) einem Gestaltungsgebot (vgl. Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 279 f.).

275

Bei der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums geht es nicht darum, bestimmte selbstgewählte Lebensentwürfe zu fördern oder zu ermöglichen, sondern das physische Überleben und ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe des Menschen im Falle der Hilfebedürftigkeit unabhängig von dessen Lebensentwurf zu garantieren. Der Staat kann Art und Höhe der Gewährung von aus allgemeinen Haushaltsmitteln finanzierten Sozialleistungen generell zwar von der Erfüllung von Verhaltenserwartungen abhängig machen, nicht jedoch die Gewährleistung des Existenzminimums. Gerade hierin liegt – neben der subjektivrechtlichen Fundierung – der normative Gewinn der Herleitung des Grundrechts auf Gewährleistung eines Existenzminimums auch aus dem Gebot zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Würde der Anspruch auf Existenzsicherung isoliert als Ausfluss des Sozialstaatsprinzips betrachtet, spräche jedenfalls bei rein semantischer Auslegung des Sozialstaatsbegriffs noch nichts dagegen, den Anspruch auf Gewährleistung eines Existenzminimums von Gegenleistungen wie beispielsweise einer Arbeitspflicht bei Arbeitsfähigkeit abhängig zu machen. Hiermit könnte die Gewährleistung existenzsichernder Leistungen für den Einzelnen Staats- bzw. Gemeinschaftszwecken untergeordnet werden.

276

Der mit dem Urteil des BVerwG vom 24.06.1954 (V C 78.54 – Rn. 22 ff.) eingeleitete Bruch mit der armenpolizeilichen Tradition des Fürsorgerechts folgt dementsprechend nicht bereits aus dem Sozialstaatsprinzip (Neumann, NVwZ 1995, S. 430; zur Relativierung der Bedeutung der Entscheidung vgl. Hinrichs, KJ 2006, S. 196 f.). Dass der Staat zugleich zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen verpflichtet ist (Art. 1 Abs. 1 GG), fügt der sozialstaatlichen Schutzdimension des Art. 20 Abs. 1 GG eine liberal-grundrechtliche Dimension hinzu. Art. 1 Abs. 1 GG schützt durch die staatliche Gewährleistung des materiellen Existenzminimums (auch) die notwendigen Bedingungen der Freiheit des Einzelnen, sich seiner Autonomie zu bedienen und von seiner Befähigung zur Personalität tatsächlich Gebrauch zu machen (vgl. Nettesheim, AöR 2005, S. 103 f.).

277

Auf die konkrete Fähigkeit des Menschen zur Ausübung von Autonomie kommt es hierbei keineswegs an (vgl. zu verschiedenen Begründungsansätzen für die Expansion des Würdebegriffs: Gutmann, Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, Preprints of the Centre for Advanced Study of Bioethics, Münster 2010/2). Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch "unwürdiges" Verhalten geht sie nicht verloren (BVerfG, Beschluss vom 20.10.1992 – 1 BvR 698/89 – Rn. 107).

278

6.2 Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Gewährung existenzsichernder Leistungen darf deshalb in letzter Konsequenz nicht von der Erfüllung von bestimmten Gegenleistungen, Handlungen oder Eigenschaften des Hilfebedürftigen oder von einem bestimmten Status des Hilfebedürftigen abhängig gemacht werden. Denn keine dieser Kategorien ist dazu geeignet, den aus dem Schutz der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG resultierenden Achtungsanspruch des Einzelnen in Frage zu stellen.

279

Die Unverfügbarkeit des Grundrechts ist insbesondere nicht durch den Verweis auf ein gleichfalls aus der Menschenwürde abgeleitetes Prinzip der Selbstverantwortlichkeit zu relativieren (in diese Richtung Görisch, NZS 2011, S. 648; Berlit, info also 2013, S. 200; vgl. auch Louven, SGb 2008, S. 582; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 44; weitere Nachweise bei Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 390). Auch wenn nach bestimmten, eher vom Zeitgeist geprägten Interpretationen des Begriffs der Menschenwürde Erwerbsarbeit zur Würdeverwirklichung gehören soll, folgt hieraus nicht, dass der ebenfalls der Menschenwürdegarantie unterfallende Schutz des physischen und soziokulturellen Existenzminimums bei Verstoß gegen Erwerbsobliegenheiten wegfallen dürfte. Aus der Einbeziehung der Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit in den Schutz der Menschenwürdegarantie könnte allenfalls gefolgert werden, dass der Staat derartige Selbstverwirklichung nicht verhindern darf und möglichst fördern sollte. Einer hilfebedürftigen Person existenzsichernde Leistungen vorzuenthalten, weil sie beispielsweise einer Erwerbsarbeit nicht nachgehen will, mag eine sozialpolitische Wunschvorstellung sein; die Annahme, dass dies als ein Ausdruck der Anerkennung der Menschenwürde des Betroffenen erscheinen könne (vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 390; Berlit, info also 2013, S. 200), liegt jedoch fern. Schließlich ist mit dem Anspruch auf existenzsichernde Leistungen kein Verbot der Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit verbunden. Die Einräumung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen kann für sich genommen die Menschenwürde nicht verletzen.

280

Die Beschränkung der Reichweite des Schutzes durch Art. 1 Abs. 1 GG durch Anreicherung des Menschenwürdebegriffs mit bestimmten Vorstellungen vom „guten“, "eigenverantwortlichen" oder „gemeinschaftsdienlichen“ Leben hätte letztendlich zur Folge, dass die Verwirklichung der Würde des Menschen Staats- oder Gemeinschaftszwecken untergeordnet werden dürfte. Dies zu verhindern, ist gerade der Sinn des Art. 1 Abs. 1 GG, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt. Die Verankerung des Existenzsicherungsgrundrechts in der Menschenwürdegarantie schließt es somit aus, die Frage, wem existenzsichernde Leistungen zu gewähren sind, vom durch demokratischen Mehrheitsbeschluss zugeschriebenen Wert eines Menschen oder seiner Handlungen für die Gesellschaft abhängig zu machen (vgl. Spellbrink, NZS 2010, S. 653).

281

6.3 Soweit für die Beschränkung des Anspruchs auf Gewährleistung des Existenzminimums unter Bezugnahme auf den Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 (1 BvR 2556/09) angeführt wird, die Verfassung gewährleiste nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (so z.B. Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 34), wird übersehen, dass das BVerfG in diesem Kontext ausschließlich auf die Bedarfsabhängigkeit abstellt und dem Gesetzgeber bei der Anrechnung von Einkommen konsequenterweise einen weiten Gestaltungsspielraum zubilligt. Das Verfassungsrecht gebietet demnach nicht die Schaffung eines Anspruchs auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern die Schaffung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen bei Hilfebedürftigkeit.

282

Dies lässt die Zulässigkeit der Schaffung von Mitwirkungsobliegenheiten unberührt, die dazu dienen, festzustellen, ob Hilfebedürftigkeit überhaupt besteht (vgl. §§ 60 ff. SGB I; vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 290) oder den Leistungsträger von der Hilfebedürftigkeit erst in Kenntnis zu setzen.

283

6.4 Leistungsausschlüsse dem Grunde nach, die trotz bestehender Hilfebedürftigkeit eintreten und nicht durch ein anderes existenzsicherndes Leistungssystem (z.B. durch Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG) aufgefangen werden, sind per se verfassungswidrig, da sie die staatliche Pflicht zur Gewährleistung von Lebensbedingungen, die physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sind, unterlaufen (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 219; so auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

284

7. Die staatliche Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hat dementsprechend lediglich drei Anspruchsvoraussetzungen:

285

7.1 Der Grundrechtsträger muss erstens ein Mensch sein, also eine natürliche Person. Abgrenzungsfragen bezüglich Beginn und Ende des menschlichen Lebens sind für das Existenzsicherungsgrundrecht bislang nicht von praktischer Bedeutung. Der Begriff des Menschen im Sinne des GG stimmt im Übrigen mit dem Gattungsbegriff (beim heutigen Menschen gleichbedeutend mit dem Artbegriff) der biologischen Klassifikation überein. Jede weitere Unterscheidung zwischen verschiedenen Menschengruppen lässt der Rekurs auf den Menschenwürdebegriff bezüglich des Existenzsicherungsgrundrechts nicht zu. Es sind ausnahmslos alle Menschen gleich welcher Herkunft oder Staatsangehörigkeit erfasst (vgl. Kirchhof, NZS 2015, S. 4).

286

7.2 Anspruchsberechtigte sind zweitens alle Menschen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63; Kirchhof, NZS 2015, S. 4; Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386; vgl. zum Territorialitätsprinzip auch Neumann, NVwZ 1995, S. 428). Hintergrund für die territoriale Beschränkung auf das Bundesgebiet ist letztendlich die Abhängigkeit der Realisierung und Durchsetzung der dem Anspruch nach universalen Menschenrechte von partikularen Staatsgewalten (Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 1210.2015, S. 17). Da die deutsche Staatsgewalt auf das Bundesgebiet beschränkt ist, kann ein Verfassungsverstoß durch unterlassene Gewährleistung des Hoheitsträgers nur angenommen werden, wenn er sich innerhalb des Hoheitsgebiets realisiert. Das Unterlassen der Erfüllung eines grundrechtlichen Gewährleistungsanspruchs kann als Äquivalent zu einem Eingriff in ein Abwehrrecht aufgefasst werden (vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386). Die Gewährleistung von existenzsichernden Leistungen außerhalb Deutschlands steht in letzter Konsequenz nicht in der Macht und somit nicht in der verfassungsrechtlichen Verantwortung des deutschen Gesetzgebers, auch wenn ihm die Einräumung derartiger Ansprüche selbstverständlich gestattet ist (vgl. § 24 SGB XII).

287

7.3 Drittens muss die betroffene Person tatsächlich hilfebedürftig sein. Die Grundrechtsträger haben den Gewährleistungsanspruch nur für den Fall ihrer Hilfebedürftigkeit. Der verfassungsrechtliche Begriff der Hilfebedürftigkeit ist nicht mit dem einfachrechtlichen Begriff der Hilfebedürftigkeit (z.B. in § 9 SGB II) gleichzusetzen, der über die verfassungsrechtlichen Anforderungen hinausgehen, aber nicht hinter diesen zurückbleiben darf. Im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig ist eine Person, wenn ihr die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Die Abstraktheit des verfassungsrechtlichen Hilfebedürftigkeitsbegriffs korreliert mit dem Umstand, dass die normative Einschätzung und Bestimmung dessen, was für ein menschenwürdiges Leben unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen erforderlich ist, in weiten Teilen dem politischen Prozess obliegt (s.o. unter 5.3).

288

Ob die Hilfebedürftigkeit des Grundrechtsträgers eine weitere Anspruchsvoraussetzung für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darstellt oder dieser Aspekt stattdessen dem Anspruchsinhalt in Form des zu gebenden einfachen Rechts zugeordnet wird (Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386), hat für das praktische Ergebnis jedenfalls in der vorliegenden Konstellation keine Auswirkungen. Der Unterschied bestünde allein darin, dass auch nicht akut Hilfebedürftige einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schaffung eines Sozialleistungsanspruchs für den Fall ihrer Hilfebedürftigkeit hätten; diesen könnten sie jedoch mangels aktueller eigener Betroffenheit in Ermangelung eines individuellen Rechtsschutzbedürfnisses wohl nicht selbst durchsetzen.

289

8. Adressaten des Gewährleistungsanspruchs, also Anspruchsgegner, sind in Folge der konkurrierenden Gesetzgebung im Bereich der „öffentliche(n) Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) grundsätzlich sowohl der Bund als auch die Länder. Da der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Recht der öffentlichen Fürsorge umfassend Gebrauch gemacht hat, ist dieser in Folge des Ausschlusses der Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG allein verpflichtet (Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 387 f.; im Ergebnis ebenso BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 181).

290

9. Zur Erfüllung der staatlichen Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Anspruchsinhalt) müssen nach den oben entwickelten Prinzipien folgende Anforderungen erfüllt werden:

291

Erstens muss der Gesetzgeber durch formelles Gesetz eine Inhaltsbestimmung der Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vornehmen (Inhaltsbestimmung, 9.1).

292

Zweitens muss der Anspruch des hilfebedürftigen Grundrechtsträgers (d.h. jedes hilfebedürftigen Menschen, der sich in Deutschland tatsächlich aufhält, s.o. unter 7) in einem formellen Gesetz auf Grund eines verfassungsgemäß durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens konstituiert werden (formell-gesetzlicher Anspruch, 9.2).

293

Drittens muss der Leistungsanspruch im Gesetzestext selbst so hinreichend bestimmt sein, dass die Verwaltung eine Entscheidung über die Höhe des Anspruchs treffen kann, die die im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers nachvollziehbar berücksichtigt (hinreichende Bestimmtheit; konkreter Anspruch, 9.3).

294

Viertens müssen die konkreten Leistungsansprüche objektiv am Maßstab der Inhaltsbestimmung (9.1) im Ergebnis zu rechtfertigen sein (Folgerichtigkeitsprüfung, 9.4).

295

9.1 Der Gesetzgeber hat durch formelles Gesetz eine Inhaltsbestimmung der Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (d.h. des Existenznotwendigen) zu leisten. Denn die aus dem Demokratieprinzip folgende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers führt dazu, dass der Gesetzgeber sowohl auf einer ersten Ebene für die grundlegenden Wertentscheidungen hinsichtlich der für die Existenzsicherung erforderlichen Bedarfe zuständig ist, als auch für die Realisierung eines konkreten, auf existenzsichernde Leistungen gerichteten Anspruchs für jeden hilfebedürftigen Grundrechtsträger auf einer zweiten Ebene (9.2). Da nur der Gesetzgeber diese Gestaltungsaufgabe umsetzen kann, ist er hierzu auch verpflichtet – anders könnte das Grundrecht nicht realisiert werden.

296

Der Gesetzgeber hat somit sowohl den Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Leistungen zu konkretisieren als auch den Leistungsanspruch entweder in konkreter Höhe festzusetzen oder aber ein Regelungssystem zu etablieren, das eine Festsetzung der Leistungshöhe auf Grund gesetzgeberischer Wertentscheidungen ermöglicht. Die Ausgestaltung der Leistung hinsichtlich der Art und Höhe ist daher an den durch den Gesetzgeber selbst getroffenen Wertentscheidungen zu messen, die selbst allerdings auch einer (verfassungs-)gerichtlichen Prüfung unterliegen. Der Zusammenhang zwischen Inhaltsbestimmung und Leistungsanspruch muss folgerichtig sein (9.4).

297

a) Der bisherigen Judikatur des BVerfG lässt sich nicht widerspruchsfrei entnehmen, in welcher Form der Gesetzgeber die für die Ausgestaltung des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen grundlegenden Wertentscheidungen zu treffen hat, ob diese Wertentscheidungen selbst Bestandteil eines formellen Gesetzes sein müssen, oder ob sie sich zumindest aus der Gesetzesbegründung oder sonstigen Gesetzesmaterialien ergeben müssen (zur Kritik an „mäandernden Maßstäben“ vgl. Borchert, SGb 2015, S. 655 ff.).

298

Das BVerfG stellt im Urteil vom 09.02.2010 fest, dass sich der Grundrechtsschutz (auch) deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums erstrecke, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich sei (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 142). Das BVerfG prüfe deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben habe, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt habe, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt habe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 143). Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle bestehe für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Komme der Gesetzgeber dieser Obliegenheit nicht hinreichend nach, stehe die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.143).

299

Im Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 79) führt das BVerfG diesbezüglich aus, dass sich die Art und die Höhe der Leistungen "mit einer Methode erklären lassen (müssen), nach der die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt werden und nach der sich alle Berechnungsschritte mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegen".

300

Im Beschluss vom 23.07.2014 hebt das BVerfG dann hervor, dass die Entscheidung anhand des vom BVerfG entwickelten Folgerichtigkeitsmaßstabs "tragfähig begründbar" sein müsse (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 80). Die Verfassung schreibe nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

301

Jedenfalls nach der zuletzt vertretenen Auffassung des BVerfG stellen demnach bestimmte Qualitätsmerkmale der Gesetzesbegründung keine formelle Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen dar (kritisch diesbezüglich Borchert, SGb 2015, S. 661).

302

Auf Grund des Beschlusses des BVerfG vom Beschluss vom 23.07.2014 (1 BvL 10/12 u.a.) liegt es nahe die „tragfähige Begründbarkeit“ als rein objektiven Maßstab zu verstehen, so dass Wertentscheidungen über die Auswahl der Methoden zur Bestimmung des Existenzminimums weder anhand des Gesetzes noch anhand der Gesetzgebungsmaterialien belegbar sein müssten und es auch nicht darauf ankommen würde, wer für die Begründung oder Begründbarkeit verantwortlich zeichnet. Hierfür spricht auch, dass für die praktische Grundrechtsverwirklichung nur Art und Höhe der Leistung wesentlich sind, nicht aber die der Anspruchsausgestaltung zu Grunde liegenden Wertentscheidungen. Andererseits birgt die Reduzierung des Prüfungsmaßstabs auf eine objektivierte "tragfähige Begründbarkeit" die Gefahr, dass einer durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes festgelegten Leistungshöhe eine derartige Methode nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beliebig untergeschoben werden könnte, beispielsweise durch das Gericht selbst oder durch interessierte Teilnehmer am öffentlichen Diskurs (Beispiele für Stellungnahmen zur „richtigen“ Höhe der Regelleistungen z.B. bei Spindler, info also 2010, S. 53). Hierdurch würde die Folgerichtigkeitsprüfung tendenziell auf das Niveau einer methodisch verfeinerten Evidenzkontrolle reduziert, da jedes in die Diskussion eingebrachte Berechnungsmodell, das in sich schlüssig den gesetzlich geregelten Anspruch zu begründen oder zu unterbieten im Stande wäre, zu dessen Rechtfertigung taugen würde. Bei einer derartigen Sichtweise wäre nicht sichergestellt, dass die grundlegenden Wertentscheidungen hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums tatsächlich, wie es das Demokratieprinzip gebietet, durch den parlamentarisch-demokratischen Gesetzgeber getroffen werden. Bei der Prüfung, ob sich aus den parlamentarischen Wertentscheidungen das gefundene Ergebnis in Form des gesetzlichen Anspruchs folgerichtig ableiten lässt, fiele die erste Komponente weg.

303

Das BVerfG hat sich bei der Folgerichtigkeitsprüfung trotz der Reduzierung des Prüfungsmaßstabs auf die "tragfähige Begründbarkeit" jedoch fast ausschließlich an den zur Verfügung stehenden Gesetzgebungsmaterialien bzw. im Falle des Beschlusses vom 23.07.2014 am gesetzlich fixierten Verfahren zur Bestimmung der Regelbedarfe im RBEG orientiert (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.160 ff.; BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 91 f.; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 91 ff.). Insbesondere im Urteil vom 09.02.2010 hat das BVerfG soweit ersichtlich keine ergänzenden Expertisen zu der Frage eingeholt, ob die seinerzeit zur Überprüfung stehende Leistungshöhe nicht unabhängig von der Gesetzesbegründung „tragfähig begründbar“ gewesen sein könnte.

304

Es bleibt nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG mithin unklar, in welchem Zusammenhang die der Folgerichtigkeitsprüfung zu Grunde zu legenden Wertentscheidungen mit dem Gesetzgebungsprozess stehen müssen.

305

b) Eine Lösung auf Grundlage der Dogmatik des BVerfG besteht in der Annahme, dass die grundlegenden Wertentscheidungen im Sinne einer inhaltlichen Bestimmung des Existenznotwendigen ebenso wie der hieraus abzuleitende Leistungsanspruch im Wege eines formellen Gesetzes getroffen werden müssen.

306

Hierfür spricht, dass dem Gesetzgeber als solchem keine andere Handlungsform als das formelle Gesetz zur Verfügung steht. In Folge der pluralistischen Zusammensetzung der Gesetzgebungskörperschaften (die auf Bundesebene darüber hinaus aus zwei verschiedenen Gremien, Bundestag und Bundesrat, bestehen) gibt es keinen authentischen Interpreten der Entscheidungen des Gesetzgebers, der verbindlich gesetzgeberische Konzeptionen und Intentionen im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Prüfung darstellen oder auch "nachbessern" könnte. Daher ist auch nicht klar, wer zur Erfüllung von „Obliegenheiten“ des Gesetzgebers (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.143) berufen sein sollte. Unter dem Aspekt der Gewaltenteilung ist es insbesondere problematisch die Bundesregierung oder ein Fachministerium hierzu heranzuziehen. Verbindliche Wertentscheidungen des Gesetzgebers können zudem nur in Gesetzesform ergehen oder gegebenenfalls mit sonstigen parlamentarischen Beschlüssen getroffen werden. Gesetzesbegründungen gehören nicht dazu. Aus dem GG lassen sich weder Begründungspflichten noch sonstige Dokumentationspflichten über den Gesetzgebungsprozess als formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für ein Bundesgesetz herleiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77; Groth, NZS 2011, S. 571 m.w.N.). Die Gestaltungsverpflichtung des Gesetzgebers kann sich in formeller Hinsicht daher nicht auf dessen Begründung beziehen. Die grundlegenden Wertentscheidungen, die der Ausgestaltung des Anspruchs auf ein menschenwürdiges Existenzminimum müssen demnach in Gesetzesform getroffen werden, um als Entscheidungen des Gesetzgebers identifizierbar zu sein.

307

Der (vom BVerfG zuletzt herangezogene) objektive Prüfungsmaßstab der "tragfähigen Begründbarkeit" kann sich demnach nur auf den folgerichtigen Zusammenhang zwischen der gesetzlich zu regelnden inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums einerseits und dem gesetzlichen Leistungsanspruch andererseits beziehen (9.4). Sofern der Gesetzgeber also seinem Auftrag zur Ausgestaltung des Grundrechts nachgekommen wäre, könnte der hieraus abgeleitete Leistungsanspruch aus objektiver Perspektive auf seine tragfähige Begründbarkeit überprüft werden.

308

In diesem Sinne objektiv zu prüfen sind allerdings auch die Wertentscheidungen, die in der abstrakten inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums zum Ausdruck kommen. Dies unternimmt das BVerfG auch, in dem es postuliert, welche Kategorien von Bedürfnissen jedenfalls zum menschenwürdigen Existenzminimum hinzugehören (Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene, Gesundheit, Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben – BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135) und einen Verfassungsverstoß in der mangelnden Berücksichtigung von Bildungs- und Teilhabebedarfen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 192) sieht, die Berücksichtigung dieser Bedürfnisse dem Grunde nach also gerade nicht einer Wertentscheidung des Gesetzgebers überlasst.

309

c) Die sich aus diesem Lösungsansatz ergebende Differenz zwischen der abstrakten Bestimmung der materiellen und sozialen Bedürfnisse, die zur Führung eines menschenwürdigen Lebens unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen befriedigt werden können müssen, und der Schaffung konkreter Leistungsansprüche, die die Erfüllung dieser Bedürfnisse gewährleisten müssen, liefert auch eine Begründung dafür, dass für verschiedene Personengruppen unterschiedliche Leistungssysteme geschaffen werden können, obwohl das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für alle Menschen gleichermaßen und in gleicher Weise Geltung beansprucht (vgl. auch Janda/Wilksch, SGb 2010, S. 570). Der dem Grundrecht inhärente Gleichbehandlungsanspruch betrifft die abstrakte Bestimmung dessen, welche materiellen Bedürfnisse zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfüllt werden müssen. Hierbei sind Ungleichbehandlungen nur auf Grund unterschiedlicher Bedürfnisse gestattet, beispielsweise bei Abweichungen von Bedarfslagen in Folge eines absehbar nur kurzfristigen Aufenthalts im Inland (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73) oder zwischen Erwachsenen und Kindern.

310

Weitere Differenzierungen auf Grund prinzipiell beliebiger politischer Kriterien (d.h. nicht bedarfsdeckungsbezogene Ziele, vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 389) beispielsweise bei der Setzung von Anreizen und Sanktionen für bestimmte Verhaltensweisen können nur auf der zweiten Ebene der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs zum Zuge kommen und hierfür auch nur den Spielraum nutzen, der sich aus einer – objektiv tragfähig begründbaren – Übererfüllung der durch den Gesetzgeber selbst gesetzten Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Sinne einer Inhaltsbestimmung ergeben kann (ähnlich Görisch, NZS 2011, S. 650). Dies erfordert wiederum eine hinreichend bestimmbare Unterscheidbarkeit zwischen den gesetzgeberisch ausgestalteten Mindestanforderungen einerseits und den konkreten Leistungsansprüchen andererseits. Würden sich die Mindestanforderungen allein in den konkreten Leistungsansprüchen ausdrücken, wäre jede auch nur geringfügige bedürftigkeitsunabhängige Kürzung der Leistung verfassungswidrig.

311

Ungleichbehandlungen auf dieser zweiten Ebene haben sich jedoch an den allgemeinen und speziellen Gleichheitsgrundrechten (Art. 3 GG) messen zu lassen. Dies steht der Auffassung des BVerfG, dass Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen vermögen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 145; vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 284) nicht entgegen, sofern die „Bemessung des Existenzminimums“ nicht mit der gesetzlichen Konkretisierung des Leistungsanspruchs gleichgesetzt wird. Ungleichbehandlungen auf Grund der Staatsangehörigkeit sind aber auch auf dieser zweiten Ebene sehr enge Grenzen gesetzt, weil sie eine große sachliche Nähe zu einigen speziellen Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aufweisen (vgl. Kingreen, SGb 2013, S. 137 ff.; BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 46).

312

9.2 Der konkrete Leistungsanspruch des hilfebedürftigen Grundrechtsträgers muss seinerseits in einem formellen Gesetz auf Grund eines verfassungsgemäß durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens konstituiert werden (formell-gesetzlicher Anspruch).

313

Wenn das Sozialleistungssystem derart lückenhaft ist, dass bestimmte Personengruppen die positiven Anspruchsvoraussetzungen für keines der bestehenden Existenzsicherungssysteme erfüllen, liegt eine verfassungswidrige Unterlassung des Gesetzgebers vor. Sofern bestimmte Personenkreise durch besondere Regelungen von allen Existenzsicherungssystemen ausgeschlossen werden, sind diese Ausschlussregelungen – und zwar jede für sich – verfassungswidrig. Auch die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen staatlichen Stelle hinsichtlich der Frage, ob bei Hilfebedürftigkeit Leistungen erbracht werden, ist verfassungswidrig.

314

Aus dem Gestaltungsgebot für den Gesetzgeber folgt im Übrigen auch, dass das Fehlen eines gesetzlichen Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht richterrechtlich kompensiert werden kann (vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 287).

315

9.3 Der konkrete Leistungsanspruch muss durch den Gesetzestext selbst so hinreichend bestimmt sein, dass die Verwaltung eine Entscheidung über die Höhe des Anspruchs treffen kann, die die im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers nachvollziehbar berücksichtigt (hinreichende Bestimmtheit; konkreter Anspruch). Dies schließt sowohl die Verwendung zu unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 252 ff.) als auch die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen Stelle über den Inhalt (bei Geldleistungen: die Höhe) der Leistungsgewährung im Kernbereich der Existenzsicherung aus. In den Worten des BVerfG betrifft dieser Aspekt die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136).

316

Die das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konturierenden Entscheidungen des BVerfG (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.; BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a.) enthalten selbst keine näheren Ausführungen über den Grad der Bestimmtheit, den gesetzliche Regelungen zur Sicherung des Existenzminimums haben müssen. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass die dort zu überprüfenden Fragen ausschließlich die Verfassungsmäßigkeit der Regelleistungen bzw. des Regelbedarfes betrafen, bei denen die Leistungshöhe im Gesetz oder in den hierzu erlassenen, durch gesetzliche Regelungen weitgehend determinierten Anpassungsverordnungen numerisch exakt bestimmt war bzw. ist. Die durch das BVerfG geprüften Vorschriften wiesen – jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite – kein Bestimmtheitsproblem auf.

317

Aus der Grundrechtsrelevanz der existenzsichernden Leistungen erwachsen jedoch qualitative Anforderungen hinsichtlich der Merkmalsdichte (oder „Intensionstiefe“, vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 196) der textlich verfassten gesetzlichen Bestimmungen (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 253 ff.). Diese müssen so viele Merkmale aufweisen, dass die argumentative Rückbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der Fachgerichte (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG) an die im Gesetzgebungsverfahren erzeugten Gesetzestexte ermöglicht wird. Der Gesetzestext muss so hinreichend bestimmt sein, dass eine Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung auch und gerade vom Adressaten der Entscheidung noch als Konkretisierung eines bestimmten Gesetzgebungsakts nachvollzogen werden kann. Aus diesem Grund genügt der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Gewährleistungsverpflichtung auch dann nicht, wenn er die Gewährung existenzsichernder Leistungen dem Grunde oder der Höhe nach in das Ermessen der Verwaltung stellt. Die aus dem Demokratieprinzip resultierende Anforderung an den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen zur Grundrechtsverwirklichung selbst zu treffen, liefe andernfalls ins Leere.

318

Das Bestimmtheitsgebot ist sowohl Ausdruck des Demokratie- als auch des Rechtsstaatsprinzips. Das BVerfG formuliert die rechtsstaatlichen Bestimmbarkeitsanforderungen beispielhaft folgendermaßen (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94, 1 BvR 1120/95, 1 BvR 1408/95, 1 BvR 21 BvR 2460/95, 1 BvR 21 BvR 2471/95 – Rn. 325):

319

"Das rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit zwingt den Gesetzgeber nicht, Regelungstatbestände stets mit genau erfassbaren Maßstäben zu umschreiben. Der Gesetzgeber ist aber gehalten, seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (...). Bei der Frage, welche Bestimmtheitsanforderungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, ist auch die Intensität der Einwirkungen auf die Regelungsadressaten zu berücksichtigen (...). Die Rechtsunterworfenen müssen in zumutbarer Weise erkennen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen (...). Dabei reicht es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung der einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen lässt (...)."

320

An anderer Stelle führt das BVerfG aus, dass die grundsätzliche Zulässigkeit unbestimmter Gesetzesbegriffe den Gesetzgeber nicht davon entbinde, die Vorschrift so zu fassen, dass sie den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normklarheit und Justitiabilität entspreche (BVerfG, Beschluss vom 12.01.1967 – 1 BvR 169/63 – Rn. 17).

321

Die Aussage des BVerfG, die Rechtsunterworfenen müssten in zumutbarer Weise erkennen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen, und hierfür reiche es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung der einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen lasse (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94 u.a. – Rn. 325), darf nicht so verstanden werden, dass ein verfassungswidriger Bestimmtheitsmangel des Gesetzes durch Auslegung der Gerichte mit anerkannten Mitteln der juristischen Methodenlehre ausgeglichen werden könnte (in diese Richtung aber Luik, jurisPRSozR 22/2013 Anm. 1).

322

Bei der Prüfung, ob ein verfassungsrechtlich relevanter Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot vorliegt, geht es darum festzustellen, ob eine Rechtsvorschrift nach verfassungsrechtlichen Maßstäben hinreichend bestimmt ist. Hierzu muss beurteilt werden, ob die sich aus der Eigenart des Lebenssachverhalts und des Normzwecks ergebenden Anforderungen an die Merkmalsdichte des Normtextes mit der konkret gewählten Regelungstechnik erfüllt werden. Diese Frage ist mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden zu beantworten. Dies kann insbesondere mit den Methoden der semantischen und der systematischen Auslegung geschehen, da diese die einschlägigen Normtexte selbst in den Blick nehmen.

323

Bei dieser Prüfung geht es hingegen nicht darum nachzuweisen, dass ein unbestimmter Rechtsbegriff mit Hilfe anerkannter Mittel der juristischen Methodenlehre für eine gerichtliche Sachentscheidung fruchtbar gemacht werden kann; denn dies ist ausnahmslos der Fall. Gerichte können unbestimmte Rechtsbegriffe argumentativ u.a. mit Zweckerwägungen, historischen und genetischen Aspekten, Erwägungen zur „materiellen Gerechtigkeit“ und Praktikabilitätserfordernissen anreichern, um den Fall zur Entscheidungsreife zu bringen. Die Rechtsprechung ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG), d.h. sie muss auch dann, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetz Verwendung finden, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen, denn in einem funktionierenden Rechtsstaat muss es auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). Dies wirkt sich dahingehend aus, dass die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle unterliegen (vgl. zum Begriff der „Angemessenheit in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II: BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 27/09 – Rn. 21 ff.; Knickrehm, jM 2014, S. 340; zum Ganzen: SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 255 ff.). Hierfür stellt die juristische Methodenlehre Werkzeuge zu Verfügung, deren Aufgabe es ist, jeden Fall anhand rationaler Kriterien lösbar zu machen. Die normtextbezogenen Methoden der "grammatischen" und "systematischen" Auslegung verlieren durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe jedoch an Bedeutung, wodurch die Begrenzungen richterlichen und behördlichen Entscheidens durch Gesetzesbindung geschwächt werden. Durch Heranziehung vom Normtext unabhängiger, gleichwohl "anerkannter" Konkretisierungselemente wie historischer, genetischer und (insbesondere) teleologischer Auslegung lassen sich unbestimmte Rechtsbegriffe besonders leicht einer auf den Fall bezogenen Konkretisierung zuführen, da in diesen Fällen der Vorwurf des Verstoßes gegen das Gesetzesbindungsgebot kaum jemals erhoben werden kann. Entsprechendes gilt für die Einräumung von behördlichem Ermessen, bei dem, gesetzgeberisch legitimiert, die Beantwortung einer aufgeworfenen Rechtsfrage in Grenzen der Verwaltung überlassen bleibt und nur die Bestimmung dieser Grenzen im Wege der Konkretisierung durch die Rechtsprechung erfolgt.

324

Hiermit wird aber noch nichts über die Abgrenzung der Rechtserzeugungsbefugnisse zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung gesagt. Bei der Frage, ob der Gesetzgeber hinreichend bestimmte Regelungen getroffen hat, handelt es sich mithin nicht um ein methodologisches Problem im engeren Sinne, sondern um ein Problem der Legitimation. Die demokratische Willensbildung kann im Rechtsstaat nur in dem Umfang Wirkung entfalten, in dem sie durch Gesetze Verwaltung und Rechtsprechung zu binden vermag (Art. 20 Abs. 3 GG). Je weniger bedeutsame Merkmale eine Regelung aufweist, also je unbestimmter sie ist, desto geringer ist die Bindungswirkung des Gesetzes. Bei Regelungsmaterien, die aus verfassungsrechtlichen Gründen im Wesentlichen der Gestaltung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterliegen, erwächst hieraus ein Bestimmtheitsgebot. Das Bestimmtheitsgebot verlangt eine Regelungstechnik, die dazu geeignet ist, Gesetzesbindung zu erzeugen. Hierzu muss die gesetzliche Vorschrift so viele bestimmende Merkmale aufweisen, dass der durch Verwaltung und Rechtsprechung zu vollziehende Konkretisierungsprozess wirksam im Sinne des Ergebnisses der demokratischen Willensbildung gesteuert werden kann. Die Verwendung (zu) unbestimmter Rechtsbegriffe und die Einräumung von behördlichem Ermessen geraten mit dieser Anforderung gleichermaßen in Konflikt.

325

Das verfassungsrechtliche Prinzip, dass die für die Grundrechtsverwirklichung wesentlichen Bestimmungen durch den parlamentarischen Gesetzgeber getroffen werden müssen ("Wesentlichkeitstheorie"), wird im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf zweierlei Weise aufgerufen. Einerseits bewirkt bereits die dogmatische Qualifikation des Rechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Grundrecht, dass das Wesentlichkeitsprinzip berücksichtigt werden muss (vgl. Konzak, NVwZ 1997, S. 873). Andererseits bedingt die Besonderheit der Qualifikation als "Gewährleistungsrecht", dass das Grundrecht erst durch Erfüllung des gesetzgeberischen Gestaltungsauftrags zur Entfaltung kommen kann. Sowohl die Grundrechtsqualität als auch die Konstituierung des Anspruchs auf Existenzsicherung als Gewährleistungsrecht prägen mithin die "Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck" und bestimmen die "Intensität der Einwirkungen auf die Regelungsadressaten" (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94 u.a. – Rn. 325) in dem Sinne, dass der Gesetzgeber die Regelungen zur Sicherung des Existenzminimums möglichst präzise ausgestalten und hierdurch eine möglichst effektive Bindung der Verwaltung an die gesetzgeberischen Grundentscheidungen ermöglichen muss.

326

Umgekehrt folgt hieraus, dass eine Verwaltungs- oder Fachgerichtsentscheidung, mit der über die Gewährung existenzsichernder Leistungen entschieden wird, in qualifizierter Weise auf eine gesetzgeberische Entscheidung zurückführbar sein muss. Die hierfür wesentlichen Bestimmungen müssen im für die Sachentscheidung auf Verwaltungsebene einschlägigen Gesetzestext (Normtext bzw. amtlicher Wortlaut) enthalten sein, da nur dieser durch das formalisierte Gesetzgebungsverfahren in Geltung gesetzte Text dem parlamentarischen Willensbildungsprozess eindeutig zuzurechnen ist. Nicht einschlägige Normtexte (z.B. Parallelvorschriften) oder im Sachzusammenhang mit dem Gesetzgebungsakt stehende Nicht-Normtexte (z.B. Gesetzgebungsmaterialien) können legitimerweise Konkretisierungselemente für die Auslegung einfachen Gesetzesrechts und Richtschnur für die Ermessensausübung sein, vermögen aber nicht, die gemessen am Wesentlichkeitsvorbehalt festgestellte Unterbestimmtheit einer gesetzlichen Regelung zu kompensieren. Denn weder nicht einschlägige Normtexte noch Gesetzesmaterialien sind – bezogen auf die konkrete Regelungsmaterie – Ergebnisse des parlamentarisch-demokratischen Entscheidungsprozesses. In Bezug auf den Regelungsgegenstand unterliegen sie auch nicht den durch den parlamentarischen Prozess garantierten Sicherungen im Hinblick auf die Öffentlichkeit der Debatte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

327

Für Grundrechtsträger muss darüber hinaus erkennbar sein, welche staatlichen Akteure für die Ausgestaltung ihrer Rechte verantwortlich sind. Dies betrifft den Grundrechtsträger nicht nur in seiner Eigenschaft als Leistungsberechtigten, sondern auch als Teilnehmer am demokratischen Prozess durch Wahlen oder andere Beteiligungsformen. Mit den Worten des BVerfG (Urteil vom 07.10.2014 – 2 BvR 1641/11 – Rn. 81):

328

"Demokratie und Volkssouveränität erschöpfen sich im repräsentativ- parlamentarischen System des Grundgesetzes nicht in Zurechnungsfiktionen und stellen auch nicht nur formale Mindestanforderungen an den Legitimationszusammenhang zwischen dem Volk und den handelnden Staatsorganen. (...) Der wahlberechtigte Bürger muss wissen können, wen er wofür - nicht zuletzt durch Vergabe oder Entzug seiner Stimme - verantwortlich machen kann. Daran fehlt es, wenn die Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine solche Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen (...)."

329

Dieser Verantwortungszusammenhang kann praktisch nur realisiert und sichtbar gemacht werden, indem die aus Gründen der Grundrechtsverwirklichung vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst zu treffenden Regelungen so gestaltet sind, dass sie zur maßgeblichen Beeinflussung der konkreten Entscheidungsprozesse der Verwaltung und der Fachgerichte geeignet sind.

330

Wann die Voraussetzung der hinreichenden Bestimmtheit (bzw. Bestimmbarkeit) erfüllt ist, lässt sich nicht abstrakt festlegen, da Gesetzestext, Interpretationskultur und rechtsstaatliches Verfahren – abgesehen von Fällen numerischer Exaktheit – niemals eine vollständige Determination der Fallentscheidung ermöglichen (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 195). Gesetzesbegriffe sind in diesem Sinne also immer unbestimmt. Hieraus folgt, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit eines Gesetzes nicht losgelöst von dessen Funktion betrachtet werden können und Maßstab für die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots nur ein der Regelungsmaterie angemessener Grad von Bestimmbarkeit sein kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.08.1978 – 2 BvL 8/77 – Rn. 101). Dass dieser Grad der Bestimmbarkeit bei der gesetzlichen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums besonders hoch sein muss, ergibt sich zum einen aus der Grundrechte verwirklichenden Funktion des Gesetzes (Stölting, SGb 2013, S. 545), zum anderen und wesentlich aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber die politische Transformation der "gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche" (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 138) überhaupt erst vollziehen muss, um seiner Gestaltungsverpflichtung nachzukommen. Regelungstechniken, die nicht dazu geeignet sind, Verwaltung und Rechtsprechung wirkungsvoll zu steuern, erhalten zwar den legitimatorischen Schein der Gesetzesbindung aufrecht (vgl. Maus, Verrechtlichung, Entrechtlichung und der Funktionswandel von Institutionen, in: dies.: Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, München 1986, S. 278), überlassen die Interpretation dessen, was die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen "gesellschaftlichen Anschauungen" sein mögen, jedoch demokratisch allenfalls mittelbar legitimierten Funktionsträgern. Durch die Einräumung von Ermessen in wesentlichen Fragen der Grundrechtsverwirklichung wird die Gesetzesbindung – immerhin auf transparente Weise – weiter reduziert.

331

Aus diesen Anforderungen aus Demokratieprinzip und Bestimmtheitsgebot folgt zum einen, dass die Verwendung (besonders) unbestimmter Rechtsbegriffe im Existenzsicherungsrecht verfassungswidrig sein kann (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschlüsse vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 und S 3 AS 370/14; vgl. auch Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 3 AsylbLG i.d.F. v. 23.12.2014, Rn. 57, Stand 01.04.2016), zum anderen, dass die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums dem Grunde und der Höhe nach nicht von einer Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde abhängig gemacht werden darf. Die Einräumung von Ermessen widerspräche der Anforderung, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch ein Parlamentsgesetz erfolgen muss, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 96: „Eine Regelung zur Existenzsicherung hat vor der Verfassung nur Bestand, wenn Bedarfe durch Anspruchsnormen gesichert werden“).

332

Auch die Annahme einer so genannten „Ermessensreduzierung auf Null“ durch die fachgerichtliche Rechtsprechung und deren faktische Durchsetzung würde einen derartigen Mangel nicht heilen, da die Voraussetzungen, die an eine solche Ermessensreduzierung gestellt werden, von der Rechtsprechung entwickelt werden müssten und gerade nicht auf gesetzgeberische Entscheidungen zurückzuführen wären. Die Argumentationsfigur der „Ermessensreduzierung auf Null“ stellt auch nur ein im Einzelfall legitimes Mittel zur Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte behördlicher Entscheidungen dar. Würde sie hingegen als Umdeutung einer Ermessensvorschrift in eine die Verwaltung bindende Anspruchsnorm verstanden, läge hierin ein Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot, weil der gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum nicht nur im Einzelfall reduziert, sondern generell ausgeschaltet würde.

333

Zugleich muss das Leistungsrecht allerdings hinreichend flexibel ausgestaltet sein, um individuell abweichenden Bedarfslagen gerecht werden zu können. Dies resultiert aus dem Umstand, dass gleiche Rechte der Menschen auf ungleiche Lebenswirklichkeiten stoßen, wodurch abschließenden Pauschalierungen existenzsichernder Leistungen Grenzen gesetzt sind (vgl. Hebeler, SGb 2008, S. 10 ff.). Bei der Berücksichtigung individueller Bedarfslagen lässt sich die Verwendung in relativ hohem Maße unbestimmter Rechtsbegriffe daher nicht vermeiden.

334

9.4 Die konkreten (9.2) und hinreichend bestimmten (9.3) Leistungsansprüche müssen am Maßstab der gesetzlichen Inhaltsbestimmung des Existenznotwendigen (9.1) im Ergebnis zu rechtfertigen sein.

335

Die konkreten Leistungsansprüche müssen mindestens dazu geeignet sein, die Lebensbedingungen zu gewährleisten, die der Gesetzgeber im Wege einer (verfassungskonformen) Inhaltsbestimmung als für eine menschenwürdige Existenz unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen für unerlässlich erklärt hat. Reicht der konkrete Leistungsanspruch der Höhe nach nicht zur Deckung der vom Gesetzgeber als existenznotwendig bestimmten Bedarfe aus, ist er insoweit verfassungswidrig. Ob dies der Fall ist, ist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln objektiv zu prüfen. In diesem Sinne kann hier der (vom BVerfG zuletzt herangezogene) objektive Prüfungsmaßstab der "tragfähigen Begründbarkeit" hinsichtlich des folgerichtigen Zusammenhangs zwischen der gesetzlich zu regelnden inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums einerseits und dem gesetzlichen Leistungsanspruch andererseits herangezogen werden. Dass die Höhe des Anspruchs nicht evident unzureichend zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz sein darf, stellt demgegenüber keinen eigenständigen Prüfungsmaßstab dar. Hiermit wird bloß zum Ausdruck gebracht, dass die fehlende Folgerichtigkeit unter Umständen einfach festzustellen sein kann.

336

Dementsprechend sind auch Leistungseinschränkungen gegenüber einem dem Grunde nach gewährten Leistungsanspruch verfassungswidrig, wenn sie dazu führen, dass die Höhe der verbliebenen Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unzureichend ist. Prüfungsmaßstab ist hierbei die gesetzliche Inhaltsbestimmung des Existenznotwendigen. An diesem verfassungsrechtlichen Maßstab sind die im SGB II vorgesehenen Leistungseinschränkungen zu prüfen (z.B. § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II, § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II, § 22 Abs. 5 Satz 4 SGB II, § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Dies betrifft beispielsweise Leistungskürzungen durch Sanktionen (§ 31a SGB II, § 32 SGB II), die nur dann nicht verfassungswidrig wären, wenn trotz der Leistungskürzung noch das gesamte Existenzminimum einschließlich eines zumindest geringfügigen Maßes an sozialer Teilhabe gedeckt wäre (Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 297 f.). Da es dem Gesetzgeber freisteht, den Leistungsanspruch über das durch ihn verfassungsgemäß bestimmte Existenznotwendige hinaus zu erweitern, verstoßen Abstufungen in der Leistungshöhe, die verhaltenssteuernde Wirkung entfalten sollen, jedoch nicht automatisch gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 9).

337

10. Sofern einer bestimmten Gruppe von Grundrechtsträgern durch den Gesetzgeber kein die soeben geschilderten Mindestanforderungen erfüllender Anspruch auf existenzsichernde Leistungen eingeräumt wird, besteht ein verfassungswidriger Zustand. Konkret verfassungswidrig sind dann alle Rechtsnormen, die für die betroffenen Grundrechtsträger zum Ausschluss aus dem jeweiligen Leistungssystem führen. Dies kann sowohl echte Ausschlussnormen betreffen, wie die den Gegenstand der Vorlagefragen bildenden § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 7 Abs. 5 SGB II, als auch Normen, die positive Voraussetzungen für den Leistungsanspruch regeln, die die betroffenen Grundrechtsträger jedoch nicht erfüllen (z.B. der hypothetische Fall, dass bei Nichtdeutschen das Bestehen eines materiellen Aufenthaltsrechts zur gesetzlichen Anspruchsvoraussetzung gemacht werden würde). Beide Kategorien von Rechtsnormen haben im Hinblick auf die Grundrechtsverletzung den gleichen Effekt; sie bestimmen gleichermaßen den Umfang der defizitären Gestaltung des einfachen Rechts (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137).

338

Wenn verschiedene Leistungssysteme für die Existenzsicherung Hilfebedürftiger bestehen (z.B. SGB II, SGB XII, AsylbLG, BAföG) und der betroffene Personenkreis in allen Systemen ausgeschlossen ist (z. B. § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII), sind die jeweiligen Ausschlussregelungen in den einzelnen Leistungssystemen allesamt verfassungswidrig. Der Leistungsausschluss in einem System kann verfassungsrechtlich nicht dadurch aufgefangen werden, dass der betroffene Personenkreis auf ein anderes Leistungssystem verwiesen wird, dass seinerseits einen (verfassungswidrigen) Leistungsausschluss für den gleichen Personenkreis vorsieht, mit dem Argument, dass dann Letzteres für nichtig erklärt werden muss und hierdurch ein verfassungsgemäßer Zustand herzustellen wäre. Dies wäre nur dann der Fall, wenn zwischen den Leistungssystemen bezogen auf den betroffenen Personenkreis unabhängig von den für verfassungswidrig gehaltenen Vorschriften ein Nachrangverhältnis bestünde, der Betroffene also unabhängig von dem Leistungsausschluss im vorrangigen System hilfsweise auf das nachrangige System zurückgreifen könnte, wo er dann mit dem gleichartigen Leistungsausschluss konfrontiert wäre. Nur in diesem Fall bestünde ein logischer Vorrang der Verfassungswidrigkeit des nachrangigen Gesetzes.

339

Die Identifizierung der potenziell verfassungswidrigen Ausschlussnormen beschränkt nicht die gesetzgeberischen Möglichkeiten, den verfassungswidrigen Zustand zu beheben. Der Gesetzgeber kann einen Leistungsausschluss in einem Gesetz dadurch kompensieren, dass er die Ausschlussvorschrift aufhebt oder die Tatbestandsvoraussetzungen reduziert, was der Möglichkeit der Nichtigerklärung einzelner Ausschlussnormen durch das BVerfG entspricht. Er kann aber auch ein weiteres Leistungssystem für den ausgeschlossenen Personenkreis schaffen oder diesbezügliche Anspruchshürden ausschließlich in einem anderen schon bestehenden Leistungssystem beseitigen. Hieraus folgt allerdings nicht, dass eine verfassungswidrige Ausschlussnorm wegen des gesetzlichen Gestaltungsspielraums durch das BVerfG nicht für nichtig (§ 78 Satz 1 BVerfGG), sondern lediglich für mit der Verfassung unvereinbar erklärt werden könnte. Denn der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum besteht hier nur hinsichtlich denkbarerer regelungstechnischer Korrekturen des Verfassungsverstoßes, nicht jedoch hinsichtlich des materiellen Ergebnisses. Eine verfassungsgemäße Alternative zum Wegfall des Ausschlusstatbestands besteht – anders als regelmäßig bei der Verletzung von Gleichheitsgrundrechten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 58 m.w.N.) – nicht.

340

Ein durchsetzbarer Anspruch auf Schaffung eines existenzsichernden Leistungssystems, der nur im Wege einer Normerlassklage verfolgt werden könnte, wäre hingegen allenfalls denkbar, wenn überhaupt kein gesetzliches Leistungssystem bestünde, welches dem Grunde nach Ansprüche auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums einräumt und dessen Ausschluss- oder Voraussetzungsnormen einer effektiven (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle unterliegen könnte. Dies ist auf Grund der bestehenden Leistungssysteme der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), der Sozialhilfe (SGB XII), des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) und der Ausbildungsförderung (BAföG und §§ 56 ff. SGB III) jedoch nicht der Fall.

II.

341

Das Vorstehende zu Grunde gelegt, verstößt § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (so bereits SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER; SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 7 ff.; SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER; vgl. auch Kingreen, SGb 2013, S. 139; Frerichs, ZESAR 2014, S. 285 f.; Löbich, ZESAR 2015, S. 426 f.; Wilksch, JuWissBlog, https://www.juwiss.de/90-2015/).

342

Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (1) effektiv betroffene Personenkreis (2) erfüllt grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (3). Für diesen Personenkreis fehlt es an einem hinreichend bestimmten, formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (4). Die sich hieraus ergebende unterlassene Grundrechtsgewährleistung kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden (5).

343

1. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II lautet:

344

„Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

345

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,

346

2. erwerbsfähig sind,

347

3. hilfebedürftig sind und

348

4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).“

349

§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II lautet:

350

„Ausgenommen sind

351

1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

352

2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,

353

3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.“

354

2. In § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird der Kreis der Leistungsberechtigten nach dem SGB II geregelt. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II werden bestimmte Personengruppen, die die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen, von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

355

Der von der Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasste und somit im Hinblick auf die Wahrung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in die verfassungsrechtliche Prüfung einzubeziehende Personenkreis ist allerdings deutlich kleiner, als von den zuständigen Senaten des BSG und in der Mehrzahl der publizierten Entscheidungen der Sozialgerichte gemeinhin angenommen wird.

356

Der Ausschlusstatbestand knüpft hierbei nicht an die persönliche Motivation des Aufenthaltsberechtigten an, sondern auf den objektiven Zweck des Aufenthaltsrechts (Schreiber, SRa 2015, S. 41), so dass sich der betroffene Personenkreis abstrakt anhand der aufenthaltsrechtlichen Vorschriften bestimmen lässt. Der von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasste Personenkreis der „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“ besteht daher nach Maßgabe des Bundesrechts aus den folgenden Fallgruppen:

357

-Unionsbürger und Staatsangehörige der EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen (2.1)

358

-Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG verfügen (2.2)

359

-Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18c Abs. 1 Satz 1 AufenthG verfügen (2.3) und

360

-deren jeweiligen Familienangehörigen mit abgeleitetem Aufenthaltsrecht (2.4).

361

Nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind hingegen Unionsbürger (und Staatsangehörige der anderen EWR-Staaten), die über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügen, aber in Folge einer unterbliebenen Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind (2.5). Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kommt des Weiteren bei Unionsbürgern, die über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen und dem persönlichen Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 unterfallen, nicht zur Anwendung (2.6). Entsprechendes gilt für Drittstaatsangehörige, wenn sie die Voraussetzungen von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 erfüllen, sowie für Staatsangehörige der übrigen EWR-Staaten und – sofern Aufenthaltstitel nach § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG vorliegen – der Schweiz (2.7).

362

2.1 Von der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind tatbestandlich zunächst Unionsbürger mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfasst. Nach dieser Vorschrift sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, für bis zu sechs Monate freizügigkeitsberechtigt, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Der Ausschluss greift nur, wenn die betroffene Person nicht zusätzlich über ein anderes Aufenthaltsrecht verfügt. Über § 12 FreizügG/EU werden hiervon auch Staatsangehörige der EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen erfasst.

363

2.2 Die Ausschlussregelung erfasst darüber hinaus auch Ausländer, die – wie der Kläger zu 1 – über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügen (so auchWolff-Dellen in: Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 11, 3. Auflage 2011; Thie in: LPK-SGB II, § 7 Rn. 27, 5. Auflage 2013¸ Hänlein in: Gagel, SGB II/SGB III, § 7 SGB II Rn. 71, beck-online; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 93, Stand 14.03.2016; SG Mainz, Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht; in diesem Sinne auch die Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales: BT-Drucks. 16/688, S. 13; s.o. unter A.IV.3.1.1 a).

364

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom 29.08.2013 kann einem Ausländer zum Zweck des Studiums an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule oder vergleichbaren Ausbildungseinrichtung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AufenthG umfasst der Aufenthaltszweck des Studiums auch studienvorbereitende Maßnahmen. Nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Abschluss des Studiums für bis zu 18 Monate zur Suche eines diesem Abschluss angemessenen Arbeitsplatzes, sofern er nach den Bestimmungen der §§ 18, 19, 19a und 21 AufenthG von Ausländern besetzt werden darf, verlängert werden. Gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 AufenthG berechtigt die Aufenthaltserlaubnis während dieses Zeitraums zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Aus dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geht mithin hervor, dass der nach dieser Vorschrift verliehene Aufenthaltstitel zum Zwecke der Suche eines Arbeitsplatzes erteilt wird. Dass das vorherige Vorliegen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG ist, führt nicht dazu, dass Letztere weiterhin zum Zwecke des Studiums erteilt wird. Die Verlängerung des Aufenthaltsrechts nach erfolgreichem Studium gemäß § 16 Abs. 4 AufenthG dient gerade nicht mehr der Ausbildung, sondern der Arbeitsplatzsuche. Für andere bzw. weitere Zwecksetzungen gibt der Wortlaut des § 16 Abs. 4 AufenthG keine Anhaltspunkte. Auch wenn hierbei eine (nicht notwendig der Ausbildung entsprechende) Erwerbstätigkeit gestattet und ausgeübt wird, führt dies nicht dazu, dass die Ausübung einer Erwerbstätigkeit selbst zum Zweck dieses Aufenthaltsrechts wird. Der Aufenthaltszweck der Durchführung eines Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG wirkt auch nicht im Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG fort. Dieser Zweck wurde in diesen Fällen bereits erreicht und hat sich erledigt, weshalb zur anschließenden Arbeitsplatzsuche ein anderer Aufenthaltstitel erforderlich wird. Mit der Möglichkeit, die Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche um bis zu 18 Monate zu verlängern ist mithin ein Wechsel des Aufenthaltszwecks verbunden (Christ in: Kluth/Heusch, BeckOK-AuslR, § 16 AufenthG Rn. 51, beck-online, Stand 01.11.2015).

365

Auch der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Ausschluss nicht greifen soll, wenn zu einem früheren Zeitpunkt oder auch unmittelbar vor Erlangung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht zu anderen Zwecken bestand. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem betroffenen Personenkreis weder um EU-Bürger handelt, auf die die Ausschlussmöglichkeit der RL 2004/38/EG in erster Linie abzielt, noch eine Einreise zum Zwecke der Arbeitssuche vorgelegen haben muss (vgl. Brandmayer in: BeckOK-SGB II, § 7 Rn. 9, beck-online, Stand: 01.12.2015).

366

2.3 Ebenfalls vom Leistungsausschluss betroffen sind Ausländer, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 18c AufenthG verfügen. Nach § 18c Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der über einen deutschen oder anerkannten oder einem deutschen Hochschulabschluss vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss verfügt und dessen Lebensunterhalt gesichert ist, eine Aufenthaltserlaubnis zur Suche nach einem der Qualifikation angemessenen Arbeitsplatz für bis zu sechs Monate erteilt werden. Auch in dieser Vorschrift ist der mit der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verknüpfende aufenthaltsrechtliche Zweck der Arbeitsuche deutlich zum Ausdruck gebracht worden.

367

2.4 Weiterhin werden vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II die Familienangehörigen der Person erfasst, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt. Familienangehörige im diesem Sinne sind Personen, die zu der Person, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt, in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen und über ein Aufenthaltsrecht allein auf Grund des Verwandtschaftsverhältnisses zu der Person mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche verfügen. Sofern die erste Person ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügt, ergibt sich der vom Leistungsausschluss mitbetroffene Kreis der Familienangehörigen aus einzelnen Tatbeständen des § 3 FreizügG/EU (vgl. BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 50). Sofern die erste Person über eine Aufenthaltserlaubnis aus § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG verfügt, ergibt sich der Kreis der mitbetroffenen Familienangehörigen aus den Regelungen zum Familiennachzug gemäß §§ 27, 30, 32, 33 AufenthG. Ausgenommen sind wiederum diejenigen Familienangehörigen, die über ein eigenständiges, d.h. nicht dem Aufenthaltsrecht der ersten Person gemäß § 27 Abs. 4 Satz 1 AufenthG akzessorisches Aufenthaltsrecht beispielsweise aus den §§ 31, 34 Abs. 2 oder 35 AufenthG verfügen.

368

2.5 Nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind hingegen Unionsbürger und Angehörige der drei übrigen EWR-Staaten, die über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügen, aber in Folge einer unterbliebenen Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind (so auch Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 - L 6 AS 378/12 – Rn. 54 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.11.2013 – L 19 AS 129/13; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 - L 31 AS 1348/13; Thüringer LSG, Beschluss vom 25.04.2014 – L 4 AS 306/14 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.05.2014 – L 19 AS 430/13 – Rn. 42 ff.; SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 31 ff.; Kingreen, SGb 2013, S. 134; Schreiber, SRa 2015, S. 43 f.).

369

a) Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, für bis zu sechs Monate freizügigkeitsberechtigt, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Sofern ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU nicht (mehr) besteht, ergibt sich für den Betroffenen nur noch ein (formelles) Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsvermutung. Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erst dann ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht (Hessisches LSG, Beschluss vom 07.04.2015 – L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 48 m.w.N.; Lehmann, SRa 2015, S. 35).

370

Das Nichtbestehen oder der Wegfall des Aufenthaltsrechts aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU hat zur Folge, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht zum Zuge kommt. Dies ergibt sich aus dem insoweit klaren Wortlaut der Regelung, in der von Personen die Rede ist „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“ (vgl. LSG Hessen, Beschluss vom 07.04.2015 – L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 49 bis 54 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.03.2015 – L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 27 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.09.2015 – L 7 SF 535/15 ER – Rn. 8). Die Wendung „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht (…)“ lässt semantisch keinen anderen Schluss zu, als dass nur Ausländer betroffen sind, die über das im Folgenden näher spezifizierte Aufenthaltsrecht verfügen.

371

Dieses Textverständnis wird in der Rechtsprechung auch nicht ernsthaft bestritten. Soweit vereinzelt behauptet wird, dass die Auffassung, Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht würden nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst, mit dem Wortlaut der Regelung nicht vereinbar sei (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 19), erfolgt dies lediglich im Rahmen eines schematisch wiedergegebenen Begründungsmusters, ohne dass der offene Widerspruch zum Gesetzestext thematisiert wird.

372

b) Die gegenteilige Auffassung, nach der der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch bei ausländischen Staatsangehörigen (und ihren Familienangehörigen) greifen soll, die über kein (materielles) Aufenthaltsrecht verfügen, ist rechtswissenschaftlich nicht vertretbar (vgl. bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 – L 31 AS 1348/13 – Rn. 26), unabhängig davon, ob dies mit der Konstruktion einer „ungeschriebene(n) Anspruchsvoraussetzung des Bestehens eines Aufenthaltsrechts“ (so Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 55) oder mit Erörterungen von vermeintlichen Wertungswidersprüchen sowie Sinn- und Zweckerwägungen (so LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 34 oder LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.09.2015 – L 34 AS 1868/15 B ER – Rn. 16 ff.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 16 ff.) oder mit einem „Erst-recht-Schluss“ (so BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 19 ff.; dem folgend: BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 24) begründet wird.

373

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 300 ff., zum Ganzen S. 294 ff. und S. 538 ff.). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt daher sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Es ist den Gerichten daher verfassungsrechtlich strikt verboten, „ungeschriebene Anspruchsvoraussetzungen“ oder Ausschlussgründe für Leistungsansprüche zu erschaffen oder sich anderweitig über die Grenzen des Gesetzeswortlautes hinwegzusetzen, beispielsweise mit der Behauptung, aus einer „allein am Wortlaut“ orientierten Auslegung ergäben sich Wertungswidersprüche.

374

Zur Normsetzung im Sinne einer Rechtsfortbildung durch Analogieschluss sind Gerichte auf Grund des Gewaltenteilungsprinzips allenfalls ausnahmsweise bei echten Regelungslücken befugt. Dies trägt dem Dilemma Rechnung, das aus dem Umstand entsteht, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind. Denn Gerichte müssen auch dann, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen, weil es im Rechtsstaat auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben muss (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). In Folge des Grundsatzes der Gesetzesbindung darf allerdings von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die (analoge) Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 – Rn. 29). Dies gilt in besonderem Maße für weitgehend kodifizierte Rechtsgebiete, wie dem in den Sozialgesetzbüchern geregelten Sozialrecht. Für das Sozialgesetzbuch gilt in Folge Vorschriften des § 2 Abs. 2 SGB I (Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte) und § 31 SGB I (Vorbehalt des Gesetzes) zudem auch einfachrechtlich praktisch ein umfassendes Analogieverbot sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der potenziell Sozialleistungsberechtigten (zu geringe Anforderungen an den Analogieschluss stellt daherBecker, SGb 2009, S. 341 f.).

375

Von diesem Maßstab ausgehend, liegt eine Regelungslücke hier nicht vor. Selbst wenn die Behauptung zuträfe, dass der Gesetzgeber bzw. der Gesetzesautor das Bestehen eines Aufenthaltsrechts als Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II stillschweigend vorausgesetzt hat, würde dies eine ausdrückliche gesetzliche Regelung einer solchen Voraussetzung schon auf Grund des rechtsstaatlichen Gebotes der Normenklarheit nicht entbehrlich machen. Eine solche Regelung ist bislang nicht Gesetz geworden, auch wenn sie beabsichtigt gewesen oder vorausgesetzt worden sein mag. Personen ohne Aufenthaltsrecht werden von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht erfasst. Häufig, aber eben nicht in allen Fällen sind sie über die Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen.

376

Selbst wenn außerdem die These zuträfe, dass die unterschiedliche Behandlung von Personen mit Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche einerseits und Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht andererseits zu „unauflösbaren Wertungswidersprüchen“ führte (so LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 23; vgl. auch Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 56), würde dies keine Ausweitung des Leistungsausschlusses auf die letztere Personengruppe rechtfertigen, sondern das zuständige Gericht allenfalls zur Vorlage zum BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Prüfung eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zu Lasten der ersten Personengruppe berechtigen und verpflichten. Die vom BVerfG in Fällen von Gleichheitsverstößen zur Wahrung des Gewaltenteilungsprinzips in Anspruch genommene Möglichkeit, eine gleichheitsverstoßende Norm für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären und dem Gesetzgeber hiermit die Gelegenheit zu geben, den Gleichheitsverstoß in der einen oder anderen Richtung zu beseitigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 58 m.w.N,) wird mit der Selbstermächtigung zur Analogiebildung durch die fachgerichtliche Rechtsprechung unterlaufen.

377

Hiervon abgesehen sind die behaupteten Wertungswidersprüche keineswegs so eindeutig, dass ein Gleichheitsverstoß auf der Hand läge. Dass der Ausschluss von Unionsbürgern mit Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche bei gleichzeitigem Einschluss von Unionsbürgern mit nur formellem Aufenthaltsrecht vor europarechtlichem Hintergrund durchaus als kohärent und wertungskonsistent betrachtet werden kann, wurde in mehreren Publikationen und Gerichtsentscheidungen ausführlich dargelegt (vgl. Kingreen, SGb 2013, S. 134; Schreiber, SRa 2015, S. 44; vgl. auch Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 – L 6 AS 378/12 – Rn. 54 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.11.2013 – L 19 AS 129/13; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 – L 31 AS 1348/13; Thüringer LSG, Beschluss vom 25.04.2014 – L 4 AS 306/14 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.05.2014 – L 19 AS 430/13 – Rn. 42 ff). Wesentliches Argument für eine Rechtfertigung der beschriebenen Ungleichbehandlung ist die Möglichkeit der Verlustfeststellung und die hiermit verbundene Möglichkeit, den Leistungsbezug bei der zweiten Personengruppe aufenthaltsrechtlich zu steuern, die bei der ersten Personengruppe nicht gegeben ist (Schreiber, SRa 2015, S. 44).

378

Der vom 4. Senat des BSG behauptete Zirkelschluss, dass Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht, die einen Anspruch auf Eingliederungsleistungen nach den §§ 16 ff. SGB II hätten, wiederum nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sein würden (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 23), beruht auf einer fehlgehenden Gleichsetzung zwischen der Zielsetzung der §§ 16 ff. SGB II, eine erfolgreiche Arbeitsuche zu ermöglichen, und dem für das Fortbestehen des Aufenthaltsrechts zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erforderlichen Nachweis der weiteren Arbeitsuche sowie der begründeten Einstellungsaussicht.

379

Nicht bedarfsbezogene Ausschlusstatbestände unter Missachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts im Wege einer "teleologischen Gesetzeskorrektur" (so Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 57), mit Analogiebildungen zu Lasten der Hilfebedürftigen oder mit „Erst-recht-Schlüssen“ (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 19 ff.) noch auszuweiten verstößt im Übrigen nicht nur gegen das Gebot der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG) und gegen den Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I), sondern – in Fällen, in denen kein anderes Existenzsicherungssystem greift – auch gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

380

2.6 Der Leistungsausschluss kommt bei Unionsbürgern, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen und gemäß Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung unterfallen und bei deren Familienangehörigen nicht zur Anwendung. Vom persönlichen Geltungsbereich erfasst sind Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, die ihren Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat haben, für den die Rechtsvorschriften dieses aufnehmenden Staates gelten und die in ein Sozialversicherungs- und/oder Familienleistungssystem im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Verordnung (EG) 883/2004 eingebunden sind (vgl. zur weiteren Differenzierung Schreiber, NZS 2012, S. 649).

381

a) § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004) (so bereits SG Berlin, Urteil vom 15.08.2012 – S 55 AS 13349/12 – Rn. 28 ff.). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen System der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) gerechtfertigt werden (a.A. EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63).

382

b) Die VO (EG) 883/2004 ist gemäß Art. 288 AEUV allgemein verbindlich und gilt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar, ohne dass es eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes bedürfte. Nach Art. 288 Abs. 2 AEUV können die Regelungen in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden.

383

c) Das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II unterfällt gemäß Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 dem Anwendungsbereich der Verordnung. Nach dieser Regelung gilt die Verordnung auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Art. 70 VO (EG) 883/2004. Das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II gehört zu den "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" nach Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 (so auch EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 43). Diese Zuordnung setzt voraus, dass die Leistung einem besonderen Schutzzweck im Sinne eines zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutzes zu einem System der sozialen Sicherheit oder im Sinne eines besonderen Schutzes behinderter Menschen dient, beitragsunabhängig finanziert wird und dass sie im Anhang X der VO (EG) 883/2004 aufgeführt ist. Diese Voraussetzungen sind beim Arbeitslosengeld II erfüllt. Dessen besonderer Schutzzweck liegt darin, dass es sich um eine ergänzende Leistung im Rahmen des Leistungssystems zur Überwindung von Arbeitslosigkeit handelt. Diese besondere ergänzende Leistung ist nicht beitrags-, sondern steuerfinanziert und in Anhang X zur Verordnung (EG) 883/2004 aufgeführt. Dementsprechend sind Leistungen nach dem SGB II auch nicht als Fürsorgeleistungen gemäß Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeschlossen, unabhängig davon, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zugleich als Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG qualifiziert werden können.

384

d) Art. 70 VO (EG) 883/2004 nimmt besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch nicht aus. Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 enthält nur die Aufhebung des so genannten Exportgebots, indem die Geltung des Art. 7 VO (EG) 883/2004 für die in Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 genannten Leistungen ausgeschlossen wird. Darüber hinaus wird die Geltung der weiteren Vorschriften „dieses“, das heißt des dritten Titels (Art. 17 bis Art. 69) der Verordnung ausgeschlossen. Daneben regelt Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 quasi als Gegenstück zum Ausschluss des Art. 7 VO (EG) 883/2004, dass die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, nach dessen Rechtsvorschriften vom Träger des Wohnorts zu dessen Lasten gewährt werden.

385

e) Unter Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004 sind auch Rechtsvorschriften zu verstehen, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004) beziehen. Zwar wird der Begriff der Rechtsvorschriften – soweit hier von Interesse – in Art. 1 Abs. 1 VO (EG) 883/2014 wie folgt definiert:

386

„(Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck) "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit.“

387

Leistungen nach dem SGB II unterfallen als besondere beitragsunabhängige Leistungen jedoch nicht unmittelbar dem Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004, sondern werden über Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 in den Geltungsbereich der Verordnung einbezogen. Hieraus könnte der Schluss gezogen werden, dass sich das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 nur auf Rechtsvorschriften der in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten sozialen Sicherungssysteme bezieht (so etwa mit ausführlicher Begründung: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012 – L 3 AS 250/12 B ER – Rn. 23 ff.). Hiergegen spricht aber, dass der Begriff „Rechtsvorschriften“ in der Verordnung offensichtlich nicht immer im Sinne der vorangestellten Legaldefinition verwendet wird (vgl. Groth, jurisPR-SozR 2/2015 Anm. 1, der ein Redaktionsversehen vermutet). Denn beispielsweise in Art. 70 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 und Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 ist ausdrücklich von „Rechtsvorschriften“ die Rede, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen beziehen. Deshalb liegt es näher, die in Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 bestimmte Geltung der Verordnung auch für besondere beitragsunabhängige Leistungen so zu verstehen, dass hiermit die Definition des Begriffs der „Rechtsvorschriften“ auf solche Rechtsvorschriften erweitert wird, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen beziehen. Wenn das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 für die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen hingegen hätte ausgeschlossen werden sollen, wäre dies dem Ausschluss der Geltung des Art. 7 VO (EG) 883/2004 in Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 entsprechend geschehen. Eine derart gravierende Einschränkung der Geltung der Verordnung für besondere beitragsunabhängige Leistungen hätte im Verordnungstext entsprechend deutlich zum Ausdruck kommen können und müssen. Auch der EuGH geht ausdrücklich von einer Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auf besondere beitragsunabhängige Leistungen aus (EuGH, Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13 – Rn. 55).

388

f) Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung (Farahat, NZS 2014, S. 491; Schreiber, info also 2015, S. 5; zum Begriff vgl. Bokeloh, ZESAR 2013, S. 402), denn das maßgebliche Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit. Von der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II können ausschließlich Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit betroffen sein. In der VO (EG) 883/2004 selbst findet sich keine Bestimmung im Sinne des Art. 4 EG (VO) 883/2004, die eine solche unterschiedliche Behandlung allgemein oder bei besonderen beitragsunabhängigen Leistungen unter bestimmten Umständen zuließe.

389

g) Eine den Leistungsausschluss rechtfertigende Einschränkung des Diskriminierungsverbots ergibt sich auch nicht aus Art. 24 Abs. 2 2. Alt. in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 b) der RL 2004/38/EG (so auch SG Berlin, Urteil vom 19.12.2012 – S 55 AS 18011/12 – Rn. 26 ff.; Schreiber, NZS 2012, S. 651; Hofmann/Kummer, ZESAR 2013, S. 206; Kingreen, SGb 2013, S. 136 f.).

390

Die hierin enthaltene Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Unionsbürger unter bestimmten Voraussetzungen von Sozialhilfeleistungen auszuschließen, ist bereits deshalb nicht zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung geeignet, weil sich Beschränkungen nach dem Wortlaut des Art. 4 VO (EG) 882/2004 ausschließlich aus dieser Verordnung selbst ergeben dürfen (vgl. auch Schreiber, NZS 2012, S. 650). Die Verordnung enthält keine Vorschrift, nach der Normen aus anderen sekundären Rechtsakten der EU das Diskriminierungsverbot einschränken dürften. Dafür, dass Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot dennoch nach allgemeinen Grundsätzen rechtfertigungsfähig sein könnten, wenn sie „auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen“ beruhen (so Thym, NZS 2014, S. 84, mit Hinweis u.a. auf den EuGH, Urteil 09.11.2006 – C-346/05), fehlt – abgesehen davon, dass es gerade um Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit geht – ein rechtliches Argument.

391

Hieran vermag auch die Qualifikation der streitigen Leistungen nach dem SGB II als Sozialhilfeleistungen im Sinne der RL 2004/38/EG nichts zu ändern. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind Sozialhilfeleistungen sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichtete Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann (EuGH, Urteil vom 19.09.2013 – C-140/12 – Rn. 61). Aus dem sich hieraus ergebenden Umstand, dass die RL 2004/38/EG neben der VO (EG) 883/2004 grundsätzlich anwendbar ist, folgt jedoch nicht, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 durch Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG eingeschränkt ist.

392

Art. 24 Abs. 2 2. Alt. i.V.m. Art. 14 Abs. 4 b) der RL 2004/38/EG stellt zwar eine inhaltliche Einschränkung des Diskriminierungsverbots aus Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG dar. Nach letzterer Vorschrift genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund der Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Abweichend hiervon ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) RL 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Dem (Aufnahme-)Mitgliedstaat ist es danach grundsätzlich erlaubt, Unionsbürgern, die die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

393

Aus dem systematischen Zusammenhang ergibt sich demnach, dass Mitgliedstaaten den Zugang zu Sozialhilfeleistungen nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG einschränken dürfen, die Teilmenge der Sozialhilfeleistungen, die zugleich als besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne von Art. 70 VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren sind, von einer solchen Vorgehensweise nach Art. 4 VO (EG) 883/2004 jedoch ausgenommen sind. Die gegenteilige Auffassung erscheint rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

394

Zunächst stehen Verordnung und Richtlinie auf einer Ebene der Normenhierarchie, das heißt keines der beiden Regelwerke vermag das jeweils andere auf Grund eines Rangverhältnisses zu verdrängen. Die Regelwerke stehen im hier interessierenden Zusammenhang auch nicht in einem auf irgendeine Weise aufzulösenden Widerspruch zueinander. Die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG wird durch die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots auf besondere beitragsunabhängige Leistungen nicht funktionslos, da es weiterhin Leistungen der Sozialhilfe in den Mitgliedstaaten gibt bzw. geben kann, die nicht von Art. 70 VO (EG) 883/2004 erfasst sind. Als nur ermächtigende, nicht verpflichtende Norm ist zudem die Möglichkeit, dass von ihr nicht Gebrauch gemacht wird, von vornherein gegeben (tatsächlich haben wohl lediglich Deutschland und Frankreich, mit Modifikationen Schweden, Tschechien und das Vereinigte Königreich diese Option genutzt, vgl. Janda, SRa 2015, S. 25). Sozialhilfeleistungen im engeren Sinne sind als Leistungen der sozialen und medizinischen Fürsorge nach Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich der Verordnung sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Hierunter fallen für Deutschland beispielsweise die Leistungen nach dem SGB XII mit Ausnahme des 4. Kapitels. Die Aufnahme so genannter Hybridleistungen, die Elemente der sonstigen sozialen Sicherungssysteme und der Sozialhilfe miteinander vereinen, in die Koordinierungsverordnung führt somit zu der Konsequenz, dass diese nicht wie (sonstige) Sozialhilfeleistungen eingeschränkt werden dürfen, sondern einem strikten Diskriminierungsverbot unterliegen. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG ist gegenüber Art. 4 VO (EG) 883/2004 daher auch nicht die speziellere Norm. Die Anwendungsbereiche überschneiden sich vielmehr (vgl. zum Ganzen auch SG Berlin, Urteil vom 19.12.2012 – S 55 AS 18011/12 – Rn. 43 ff.). Dem Bundesgesetzgeber stünde es aus europarechtlicher Perspektive demgegenüber ohne weiteres frei, die Verknüpfung arbeitsförderungsrechtlicher und sozialhilferechtlicher Aspekte im SGB II wieder zu lösen und auch für Erwerbsfähige und deren Angehörige ein nur sozialhilferechtlich ausgestaltetes Existenzsicherungssystem vorzusehen, welches nicht dem Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 unterläge.

395

Im Übrigen können aus rechtssystematischen Gründen weder eine Richtlinie im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV noch eine auf Grund der Richtlinie erlassene nationale Rechtsvorschrift gegenüber einer Verordnung im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUVleges speciales sein (a.A. Kötter, info also 2013, S. 251). Dies ergibt sich aus dem Vorrang des Unionsrechts, wie er in Art. 288 Abs. 2 AEUV zum Ausdruck kommt. Richtlinien im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV geben den Mitgliedstaaten auf, Rechtsvorschriften mit bestimmten Mindestanforderungen zu erlassen. Diese Rechtsvorschriften sind aber kein Unionsrecht, sondern nationales Recht. Sie stehen deshalb normhierarchisch unterhalb des sekundären Unionsrechts und werden daher bei Verstoß gegen Verordnungsrecht nach Art. 288 Abs. 2 AEUV von diesem verdrängt. Ob das nationale Recht in irgendeinem Sinne „spezieller“ als das entgegenstehende Verordnungsrecht ist, spielt hierfür keine Rolle. Die Richtlinie selbst steht zwar als Sekundärrecht der Europäischen Union auf einer Ebene der Normhierarchie mit der Verordnung, enthält aber kein unmittelbar geltendes Recht. Den Mitgliedstaaten wird beispielsweise in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG lediglich ermöglicht, unter bestimmten Umständen Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen auszuschließen. Ob hiervon Gebrauch gemacht wird, bleibt den Mitgliedsstaaten überlassen. Nicht unmittelbar geltendes Recht kann aber in Ermangelung eines selbstständigen Anwendungsbefehls unmittelbar geltendes Recht nicht verdrängen.

396

h) Die entgegenstehende Rechtsprechung des EuGH aus dem Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) kann demgegenüber nicht überzeugen (kritisch auch Kingreen, NVwZ 2015, S. 1505; Schreiber, info also 2015, S. 3 ff.; Farahat, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de; Devetzi/Schreiber, ZESAR 2016, S. 20; im Hinblick auf die fehlende Begründung: Kador in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 70 VO (EG) 883/2004, Rn. 5.4, Stand 11.04.2016). Der EuGH geht hierbei davon aus, „dass Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit ihrem Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen (sind), dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten“ (EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63). Der EuGH thematisiert in seiner Entscheidung nicht, aus welchem rechtssystematischen Grund die Ausnahmevorschrift des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 relativieren können sollte. Vielmehr hat er dieser Regelung ohne Begründung offenbar keinerlei eigene Bedeutung beigemessen (vgl. Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Anhang zu § 23, Rn. 68.3, Stand 23.12.2015). Auch das Urteil des EuGH vom 25.02.2016 (C-299/14) zur Frage der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II enthält keine eigentliche Begründung, sondern nur den im Hinblick auf Art. 4 VO (EG) 883/2004, der die Geltung der gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der jeweiligen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates vorschreibt, zirkulären Verweis darauf, dass „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 nach Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats gewährt werden (EuGH, Urteil vom 25.02.2016 – C-299/14 – Rn. 52).

397

Es fehlt letztlich an einem rechtlichen Argument, mit dem die in Art. 4 VO (EG) 883/2004 ausdrücklich geregelte Beschränkung der Abweichungsmöglichkeiten vom Gleichbehandlungsgebot auf in der Verordnung selbst enthaltene Ausnahmen überwunden werden könnte. Eichenhofer bringt – vielleicht unbeabsichtigt – den mit der Außerachtlassung des Wortlauts des Art. 4 VO (EG) 883/2004 vollzogenen Verstoß gegen das auch für das Gemeinschaftsrecht konstitutive Gewaltenteilungsprinzip (vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 233) durch den EuGH auf den Punkt, indem er anregt, den mit der Durchbrechung des Art. 4 VO (EG) 883/2004 „geschaffenen Rechtszustand“ in der Verordnung zu positivieren (Eichenhofer, ZESAR 2016, S. 39).

398

i) Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist auch nicht bereits deshalb als mit Art. 4 VO (EG) 883/2004 vereinbar anzusehen, weil der EuGH dies im Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) ausgesprochen hat.

399

Urteile des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV entfalten Bindungswirkung nur gegenüber den Gerichten im jeweiligen der Entscheidung des EuGH zu Grunde liegenden Ausgangsverfahrens (EuGH, Urteil vom 24.06.1969 – 29/68; BVerfG, Beschluss vom 08.06.1977 – 2 BvR 499/74, 2 BvR 12 BvR 1042/75 – Rn. 54; BVerfG, Beschluss vom 25.07.1979 – 2 BvL 6/77 – Rn. 37 ff.; BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 78; BVerfG, Beschluss vom 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 – Rn. 58 f. jeweils zum in dieser Hinsicht wortgleichen Art. 177 EWGV; unzutreffend deshalb SG Dortmund, Beschluss vom 18.04.2016 – S 32 AS 380/16 ER – Rn. 71 und LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.11.2015 – L 2 AS 1714/15 B ER – Rn. 4). Präjudizien des EuGH fungieren nicht als legitimierender Zurechnungspunkt neuer Entscheidungen, sondern sind lediglich Argumente, sofern sie methodisch haltbar sind (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 319 ff.). Wenn ein Gericht Unionsrecht anders auslegen will als der EuGH, folgt – wie sich aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ergibt – hieraus auch keine Vorlagepflicht, solange innerstaatliche Rechtsmittel gegen die Entscheidung bestehen. Es steht vielmehr im Ermessen des Gerichts, die Rechtssache gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH vorzulegen, um gegebenenfalls eine Korrektur der Rechtsprechung zu ermöglichen (EuGH, Urteil vom 27.03.1963 – C-28/62; vgl. Wißmann in: Erfurter Kommentar, AEUV, Art. 267, Rn. 22, 16. Auflage 2016).

400

Daher gibt es für mitgliedstaatliche Fachgerichte weder einen rechtswissenschaftlichen noch einen rechtlichen Grund, nach dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) ohne eigene Auseinandersetzung und ohne rechtswissenschaftliche Begründung von der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auszugehen (so aber nahezu die gesamte sozialgerichtliche Praxis, z. B.: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.09.2015 – L 2 AS 1582/15 B ER – Rn. 5; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 8; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.10.2015 – L 29 AS 2344/15 B ER – Rn. 81; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 32).

401

j) Der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 führt wegen des Anwendungsvorrangs (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 09.06.1971 – 2 BvR 225/69 – Rn. 92 ff.) zur Nichtanwendbarkeit des diskriminierenden Merkmals des nationalen Rechts bei Anwendung der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Leistungsanspruchs.

402

2.7 Die VO (EG) 883/2004 gilt nach Maßgabe von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 auch für Drittstaatsangehörige, die ausschließlich auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die VO (EG) 883/2004 fallen, sowie für ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft. Auch dieser Personenkreis wird daher durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts begünstigt.

403

Entsprechendes gilt für Staatsangehörige der nicht der EU angehörigen EWR-Staaten (Island, Liechtenstein und Norwegen seit dem 01.06.2012) und der Schweiz (seit dem 01.04.2012) auf Grund der jeweiligen Abkommen über die Geltung der VO (EG) 883/2004 im Verhältnis zu diesen Staaten (Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 27.1, Stand 26.01.2015).

404

Während für die Staatsangehörigen der EWR-Staaten und ihre Familienangehörigen gemäß § 12 FreizügG/EU ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1a FreizügG/EU den Anknüpfungspunkt für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bildet, kommt bei sonstigen Drittstaatsangehörigen und Staatsangehörigen der Schweiz ein Leistungsausschluss nur in Folge der Aufenthaltstitel aus § 16 Abs. 4 AufenthG und § 18c AufenthG in Betracht.

405

2.8 Dass die Kollision von unmittelbar geltendem Unionsrecht mit nationalem Recht lediglich zu einem Anwendungsvorrang führt, nicht zu einem Geltungsvorrang, hat zur Folge, dass die europarechtswidrige Rechtsnorm nicht nichtig ist bzw. nicht auf Grund ihrer Europarechtswidrigkeit für nichtig erklärt werden kann, sondern in Kraft bleibt und somit für nicht durch die vorrangige unionsrechtliche Norm determinierten Sachverhalte weiterhin gilt (vgl. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 4). Daher profitieren nur diejenigen Personen vom Anwendungsvorrang des Diskriminierungsverbots des Art. 4 VO (EG) 883/2004, die dessen Voraussetzungen in eigener Person erfüllen. Unmittelbar findet die Verordnung auf (aus unionsrechtlicher Perspektive) rein nationale Sachverhalte mangels Regelungskompetenz ohnehin keine Anwendung (Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 25, Stand 26.01.2015). Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bleibt demnach für alle anderen tatbestandlich vom Leistungsausschluss erfassten Personen klärungsbedürftig.

406

2.9 Offen bleiben kann aus dem entsprechenden Gründen, ob die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bei Angehörigen der Signatarstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 (EFA – neben Deutschland sind dies Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und das Vereinigte Königreich) auf Grund des Gleichbehandlungsgebots des Art. 1 EFA trotz der zwischenzeitlichen Vorbehaltserklärung der Bundesregierung nicht zur Anwendung kommt (so überzeugend mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer bundesgesetzlichen Regelung eines Vorbehalts: SG Berlin, Vorlagebeschluss vom 25.04.2012 – S 55 AS 9238/12 – Rn. 52 ff.).Diese Rechtsfolge würde die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Hinblick auf alle anderen von dieser Regelung betroffenen Personenkreise nicht verhindern.

407

3. Die demnach vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personen sind Grundrechtsträger und können hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne sein.

408

Es handelt sich um Menschen (s.o. unter I.7.1), die sich, um von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überhaupt betroffen sein zu können, in Deutschland tatsächlich aufhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und im einfachrechtlichen Sinne hilfebedürftig sein (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) müssen. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ schließt den zumindest zeitweilig tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland (s.o. unter I.7.2) logisch mit ein.

409

Die Grundrechtsrelevanz der Regelung wird nicht dadurch beseitigt, dass in Folge von Freibetrags- und Ausnahmeregelungen bei der Berücksichtigung von Einkommen und Schonvermögensregelungen auch Personen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen und vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen sein können, deren Existenzsicherung nicht akut gefährdet ist, bei denen der Leistungsausschluss also nicht mit einer individuellen Grundrechtsverletzung einhergehen muss. Denn der Leistungsausschluss betrifft regelungstechnisch und tatsächlich auch Personen, die ihr materielles Existenzminimum nicht aus eigener Kraft sichern können und deshalb im grundrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind (s.o. unter I.7.3). Dies beruht erstens darauf, dass dem Leistungsausschluss zwar die Annahme zu Grunde liegen könnte, dass hiervon betroffene Personen ihre Hilfebedürftigkeit durch Rückkehr in ihren Herkunftsstaat beseitigen können, die Regelung selbst einen solchen Umstand aber in keiner Weise zur Voraussetzung für ihr Eingreifen macht. Zweitens würde auch im Falle der Bestätigung dieser Annahme nicht die aktuelle Hilfebedürftigkeit beseitigt, sondern allenfalls zukünftig Hilfebedürftigkeit vermieden, und auch dies nur im Falle der tatsächlichen Ausreise des Betroffenen.

410

4. Für den vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreis fehlt es bereits an einem formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.2).

411

4.1 Nach der die erste Vorlagefrage betreffenden Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II besteht kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Für diese Ausschlussregelung ist im SGB II keine Ausnahme vorgesehen.

412

4.1.1 Auch wenn der Auffassung gefolgt würde, dass nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossene Personen vermittelt über § 7 Abs. 2 SGB II einen Anspruch auf Sozialgeld gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II haben können (vgl. SG Berlin, Urteil vom 15.08.2012 – S 55 AS 7242/11 – Rn. 29 ff.), würde dies nur denjenigen Betroffenen einen Anspruch einräumen, die mit einer nicht vom Leistungsausschluss betroffenen erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II zusammenleben. Zudem setzt § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II selbst fehlende Erwerbfähigkeit voraus, so dass allenfalls vom Leistungsausschluss mitbetroffene nicht erwerbsfähige Familienangehörige einen von einer dritten Person abgeleiteten Sozialgeldanspruch haben könnten.

413

4.1.2 Soweit vom 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens der Kläger erwogen wird, über eine Auslegung des § 42a SGB II zu einem Leistungsanspruch zu kommen, ist nicht erkennbar, worauf dies gestützt werden könnte. § 42a SGB II regelt nur den erweiterten Vermögenseinsatz bei der Gewährung von Darlehensleistungen (§ 42a Abs. 1 Satz 1 SGB II) und weitere Modalitäten der Darlehensgewährung und -rückzahlung, nicht jedoch die Voraussetzungen unter denen ein Darlehen zu gewähren ist. Die Voraussetzungen für die darlehensweise Erbringung von Leistungen sind in den §§ 16c Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, 16g Abs. 1, 22 Abs. 2 Satz 2, Abs. 6 und Abs. 8 Sätze 3 und 4, 24 Abs. 1, Abs. 4 und 5 SGB II geregelt und für die Fälle des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sämtlich nicht einschlägig.

414

Gemäß § 31 SGB I dürfen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuchs nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Demnach kann auch ein Anspruch auf Sozialleistungen nicht ohne gesetzliche Grundlage geschaffen werden.

415

4.2 Der betroffene Personenkreis hat auch keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personen sind nicht generell von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen (4.2.1), die Gewährung der Leistungen steht jedoch im Ermessen der Behörde (4.2.2), was den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht genügt (4.2.3).

416

4.2.1 Die Anwendung des SGB XII ist für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis nicht bereits nach § 21 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen, da die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu einem Leistungsausschluss dem Grunde nach führt (so auch BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 40 ff.; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 35; SG Berlin, Beschluss vom 04.01.2016 – S 128 AS 25271/15 ER – Rn. 25 ff.; vgl. auch Eicher in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 21 Rn. 35, Stand 08.04.2016; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 56.1, Stand 08.04.2016). Die auch nach der diesbezüglichen Positionierung beider für Rechtsstreitigkeiten nach dem SGB II zuständigen Senate des BSG weiterhin mit Nachdruck vertretene Behauptung, die Abgrenzung der Systeme der Grundsicherung nach dem SGB II und dem SGB XII geschehe allein durch den Begriff der Erwerbsfähigkeit (SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 23 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 – L 9 AS 1335/15 B ER – Rn. 57 ff.; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016, S 4 AS 114/14 – Rn. 30 ff.; so bereits LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 20 m.w.N.), ist rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

417

a) Gemäß § 21 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Nicht ausgeschlossen werden hiermit zunächst Personen, die nicht erwerbsfähig sind, aber auch Personen, die trotz Erwerbsfähigkeit dem Grunde nach von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Es spielt hierbei keine Rolle, das Fehlen welcher Voraussetzung bzw. das Vorliegen welches Ausschlusstatbestands den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausschließt (vgl. hierzu ausführlich LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – Rn. 13 ff.).

418

b) Die Apposition „als Erwerbsfähige oder als Angehörige“ fügt dem sachlich nichts hinzu. Hiermit wird lediglich der Personenkreis, der dem Grunde nach Leistungen nach dem SGB II beanspruchen kann, näher umschrieben. Diese Beifügung erweist sich deshalb als tautologisch, weil nur Erwerbsfähige und deren Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sein können, die bei isolierter Betrachtung des § 21 Satz 1 SGB XII erfolgte sprachliche Einschränkung daher funktionslos ist.

419

Soweit die fehlende Bedeutsamkeit dieser Beifügung als Argument für die Maßgeblichkeit der Erwerbsfähigkeit als Ausschlussmerkmal herangezogen wird, weil „die Nennung der Voraussetzung der Erwerbsfähigkeit (…) überflüssig (wäre), wenn diese nicht zum Leistungsausschluss nach dem SGB XII führen sollte“ (SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 48 m.w.N; ähnlich SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 23; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 19), überschätzt dies die Leistungsfähigkeit von Texten im Allgemeinen und Gesetzestexten im Besonderen. Es werden sich im wirklichen Leben keine Gesetzestexte finden lassen, in denen jedes verwendete Wort und jede Formulierung über eigenständige Bedeutsamkeit verfügt. Sprachterme haben auch in Gesetzestexten nicht immer nur anordnende, sondern auch verdeutlichende, symbolische, erklärende oder rhetorische Funktionen, oder sie bleiben bei der Ausarbeitung und Überarbeitung von Gesetzen schlicht übrig, weil sie auf Grund ihrer Redundanz die Funktionsweise des Normprogramms nicht beeinträchtigen. Eine Gesetzessprache zu entwickeln, die keinerlei Redundanzen hat, ist weder realistisch noch zum Verständnis oder zur Konkretisierung von Rechtsnormen erforderlich. Unter Umständen ist es aber von Bedeutung, die Redundanzen zu erkennen und zu begründen, warum eine solche im Einzelfall vorliegt.

420

Für die Beifügung „als Erwerbsfähige oder als Angehörige“ in § 21 Satz 1 SGB XII ergibt sich diese Redundanz aus dessen satzsemantischer Beziehung zum Term „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ und aus dem sachlichen Zusammenhang mit den im SGB II geregelten Leistungsvoraussetzungen der Erwerbsfähigkeit (§§ 7 Abs.1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II) und der durch § 7 Abs. 3 SGB II näher spezifizierten Angehörigeneigenschaft. Dass der Terminus „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ die notwendige Bedingung für den Leistungsausschluss enthält, ergibt sich wiederum aus dessen satzsemantischer Beziehung als – wesentliche – einschränkende Beifügung zu dem Begriff „Personen“ auf der Tatbestandsseite der Vorschrift. Der Gesetzestext lautet eben nicht „Personen, die erwerbsfähig sind und deren Angehörige, erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“, sondern „Personen, die als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“.

421

Mit den Mitteln semantischer Auslegung auf Grundlage der Grammatik und Syntax der deutschen Sprache lässt sich allein aus § 21 Satz 1 SGB XII daher kein Rechtssatz ableiten, der das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit (im Sinne des § 8 SGB II) als hinreichende Bedingung für den Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII genügen lassen könnte. Es muss zusätzlich zur ohnehin vorausgesetzten Erwerbsfähigkeit oder Angehörigeneigenschaft demnach eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II dem Grunde nach bestehen, um die Rechtsfolge des § 21 Satz 1 SGB XII („erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“) auszulösen. Die gegenteilige Auffassung, die sich teilweise auch auf den Gesetzeswortlaut stützt, lässt es faktisch genügen, dass der Begriff „erwerbsfähig“ irgendwo im § 21 Satz 1 SGB XII vorkommt und unterlässt es, diesen Terminus zu den anderen Satzteilen so in Beziehung zu setzen, wie es auch einem intuitiven Sprachverständnis entspricht.

422

c) Um die Auffassung zu stützen, dass bereits für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis die Erwerbsfähigeneigenschaft im Sinne des § 8 SGB II zur Leistungsbeschränkung nach § 21 Satz 1 SGB XII führt, müsste vielmehr begründet werden können, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II die Leistungsberechtigung dem Grunde nach unberührt lässt.

423

Unabhängig davon, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II die von den Leistungsausschlüssen betroffenen Personen aus der in § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II enthaltenen Legaldefinition „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ herausdefiniert oder bei Einschluss in die definierte Personengruppe lediglich die Rechtsfolge („Leistungen (…) erhalten“) ausschließt, ergibt für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personenkreis die Aussage, sie seien „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ jedoch keinen Sinn. Denn § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nimmt die betroffenen Personen vollständig von allen Leistungen nach dem SGB II aus. In Folge dessen fehlt ein Bezugspunkt dafür, welchen Inhalt eine Leistungsberechtigung „dem Grunde nach“ (im Sinne von grundsätzlich bestehend, aber aktuell möglicherweise nicht bzw. nicht in vollem Umfang zu realisieren) haben könnte. Hier hilft – abgesehen von Fragen der objektiven Beweislast – der Ansatz nicht weiter, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht als „negative Tatbestandsvoraussetzung“, sondern als „anspruchsvernichtende Einwendung“ zu interpretieren, „die die Leistungsberechtigung für den Erwerbsfähigen dem Grunde nach unberührt“ lasse (so der 12. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 19 m.w.N.), weil für diese Fallgruppe in Folge der „Anspruchsvernichtung“ nichts „Unberührtes“ übrigbleibt, nicht einmal eine Art Stammrecht. Die einzige rechtliche Konsequenz einer solchen „Leistungsberechtigung dem Grunde nach“ wäre paradoxerweise der Leistungsausschluss nach § 21 Satz 1 SGB XII. Eine „Leistungsberechtigung“ die zu nichts berechtigt, sondern nur von etwas ausschließt, ist ein Widerspruch in sich.

424

Dies unterscheidet den von den Leistungsausschlüssen des § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II betroffenen Personenkreis von Personen, die beispielsweise auf Grund von Einkommensanrechnungen, Sanktionen, ungenehmigter Ortsabwesenheit oder wegen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II nur der Höhe nach, nur vorübergehend oder nur für bestimmte Leistungs- oder Bedarfsarten von den Ansprüchen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, oder deren Anspruch sich auf bestimmte Leistungsformen (z.B. Darlehen oder Sachleistung) beschränkt.

425

Die in der Instanzrechtsprechung gelegentlich vorgetragene Behauptung, die Rechtsauffassung des BSG, § 21 Satz 1 SGB II gelte nicht bei einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, widerspreche dem (eindeutigen) Wortlaut des Gesetzes (SG Berlin, Beschluss vom 02.03.2016 – S 205 AS 1365/16 ER – Rn. 27; SG Freiburg, Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER – Rn. 33) ist daher schlicht falsch. Allein die Gegenauffassung kann nur unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder mit einer paradoxen systematischen Auslegung begründet werden.

426

d) An diesem Ergebnis vermögen auch weitergehende systematische Erwägungen (z.B. SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 89 ff.) nichts zu ändern.

427

Die Frage der Erwerbsfähigkeit stellt in der Mehrzahl der Fälle natürlich weiterhin das entscheidende Abgrenzungskriterium dar, weshalb allein die Tatsache, dass für die Klärung dieses Umstands ein besonderes Verfahren (§ 21 Satz 3 SGB XII und 44a SGB II) vorgesehen ist, mit der semantischen Auslegung des § 21 Satz 1 SGB XII nicht in Widerspruch steht. Der Verweis auf dieses Verfahren in Form eines systematischen Arguments (vgl. SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 50 m.w.N.) kann die Überschreitung der Wortlautgrenze des § 21 Satz 1 SGB II schon aus diesem Grund nicht rechtfertigen und gibt auch für eine Änderung der Interpretation der Wendung „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ nichts her. Auch in anderen Fällen, namentlich bei nicht erwerbsfähigen Personen, deren Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II fraglich ist, kann sich ein Zuständigkeitskonflikt zwischen den Leistungsträgern anhand anderer Fragen als der Erwerbsfähigkeit entzünden, sodass das Verfahren nach § 21 Satz 3 SGB XII nicht immer zielführend ist.

428

Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II, nach dem derAnspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII ausschließt und nicht etwa nur die Erfüllung bestimmter Anspruchsvoraussetzungen.

429

e) Der in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung insbesondere gegen die Rechtsauffassung des BSG häufig erhobene Einwand, die Einbeziehung von nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen in das Sozialhilferecht entspreche nicht dem „Willen des Gesetzgebers“ oder dem Normzweck (so z.B. SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 33; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 34 f.), müsste, selbst wenn er zuträfe, hinter den vorstehenden semantischen und systematischen Argumenten zurücktreten.

430

Das Gesetzesbindungsgebot verpflichtet die Gerichte zur Realisierung von Gesetzesbindung nach Maßgabe des publizierten Gesetzestextes. Anknüpfungspunkt für eine semantische Auslegung und entscheidendes Kriterium für die Begrenzungsfunktion ist daher der Wortlaut der Vorschrift selbst, nicht der hierzu eventuell abgefasste Begründungstext. Die Vorstellung, den „Willen des Gesetzgebers“ anhand von Begründungstexten ermitteln und an Stelle des Normtextes für „eigentlich“ maßgeblich zu halten, ist verfassungsrechtlich unhaltbar und in tatsächlicher Hinsicht illusionär.

431

Die Vorstellung eines für die Auslegung des Gesetzes maßgeblichen „Willens des Gesetzgebers“ („Subjektive Theorie“) oder auch eines „Willens des Gesetzes“ („Objektive Theorie“) wird dem komplexen Vorgang von Rechtserzeugung im demokratischen Rechtsstaat nicht gerecht. Konkretisierung ist nicht Nachvollzug eines vorformulierten Willens (vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 267 ff.; S. 490 ff. und dies.: Juristische Methodik, Band 2: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 521 ff.). Dies beruht zunächst darauf, dass es in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes einen „Gesetzgeber“ nicht gibt, dessen monolithischer Wille unmittelbare Geltung beanspruchen könnte. Von einem „gesetzgeberischen Willen“ lässt sich nur metaphorisch sprechen und auch das nur bezogen auf das Ergebnis eines konkreten Gesetzgebungsvorgangs (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 65). Aufgabe der Rechtsprechung ist es daher nicht, politischen Willen zu exekutieren, sondern gesetztes Recht in die Praxis umzusetzen, d.h. als verbindliche Eingangsdaten für die Konkretisierung von Rechtsnormen heranzuziehen und somit Gesetzesbindung herzustellen. Hier verläuft auch die Grenze zwischen Normbegründungs- und Normanwendungsdiskursen.

432

Die in den Gesetzgebungsmaterialien auffindbaren Aussagen können hierbei wichtige und ausschlaggebende Argumente für die Auslegung des Gesetzestextes liefern, sie sind aber nicht verbindlich; sie gelten nicht. Vor allem geben die darin enthaltenen Aussagen den Gerichten keine Legitimation für eine Entscheidungsbegründung gegen den Gesetzestext, über den Gesetzestext hinaus oder unter Außerachtlassung des Gesetzestextes. Es ist nicht der Verfasser der Gesetzesbegründung, der dem Gesetz seinen Geltungsanspruch verschafft, sondern der parlamentarische Beschluss, der nur den amtlichen Gesetzeswortlaut, nicht jedoch die Gesetzesbegründung legitimiert.

433

Die Bedeutung der Wortlautgrenze als verfassungsrechtlichen Bezugspunkt für das Gesetzesbindungsgebot im Hinblick auf die Auslegungsbedürftigkeit von Texten jeglicher Art für obsolet zu erklären und stattdessen den „normativen Willen der Gesetzgebung“ zur Richtschnur der Auslegung zu machen (so Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Auflage 2011, S. 431 ff.), unterschätzt die Möglichkeiten semantischer Argumentation und überschätzt die Möglichkeiten der Ermittlung eines „gesetzgeberischen Willens“.

434

Auch eine Wortlautgrenze muss argumentativ erarbeitet und kann kontrovers diskutiert werden. Diese Tatsache macht die Annahme einer Wortlautgrenze aber nicht überflüssig, widerlegt nicht die Idee der Wortlautbindung (Hochhuth, Rechtstheorie 2011, S. 229). Im Gegenteil: sie fordert Gerichte dazu auf, ihre Entscheidungen anhand des Gesetzestextes zu rechtfertigen, Grenzziehungen zwischen Gesetzesbindung und Rechtsfortbildung sichtbar zu machen und die entsprechenden Konsequenzen für die Entscheidungsmöglichkeiten zu ziehen. Im Normalfall ist die Wortlautgrenze mit den Mitteln sprachlicher Kommunikation bei hinreichend präziser Arbeitsweise auch nicht allzu schwierig zu ziehen (vgl. wiederum Hochhuth, Rechtstheorie 2011, S. 227 ff.). Verstöße gegen das Gesetzesbindungsgebot resultieren dementsprechend zumeist auch nicht aus Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Wortlautgrenze, sondern werden regelmäßig offensiv damit begründet, dass sich das Gericht zur Überschreitung des Gesetzeswortlauts berechtigt sieht, sei es durch „erweiternde Auslegung“, „analoge Anwendung“, „Erst-Recht-Schluss“ oder mittels einer falsch verstandenen „verfassungskonformen Auslegung“ (s.o. unter 2.5 b).

435

Tatsächlich werden keine Gerichtsentscheidungen zu finden sein, die sich auf den „Willen des Gesetzgebers“ berufen und für dessen Inhalt wesentlich mehr Evidenz aufbieten können als ihre eigene Interpretation der jeweiligen Begründungstexte, die die Unsicherheiten jeder Form von sprachlicher Kommunikation ebenso in sich tragen, wie die Gesetzestexte selbst; wobei die Unsicherheit bezüglich konkreter Urheberschaft und Manipulationsanfälligkeit von Begründungstexten noch hinzutritt. Es gibt kein methodisches oder verfassungsrechtliches Argument, welches das Ergebnis der Auslegung eines Begründungstextes als vorrangig gegenüber der semantischen Auslegung eines Gesetzestextes behaupten könnte.

436

Durch das von einer subjektiv-teleologischen Theorie postulierte Primat der gesetzgeberischen Zwecksetzung wird letztendlich nicht das Ergebnis des Normbegründungsdiskurses in Form des Gesetzeswortlauts als Fixpunkt für die Interpretation genommen, sondern durch unmittelbaren Rückgriff auf Argumente aus dem Normbegründungsdiskurs der Gesetzeswortlaut als verbindliches Eingangsdatum des Konkretisierungsprozesses der Manipulation ausgesetzt. Ausgangspunkt der Entscheidung des Einzelfalls ist dann nicht mehr die tatsächliche, prozedural legitimierte Regelung, sondern eine hypothetische Regelung, wie sie „der Gesetzgeber“ zur möglichst reibungslosen Umsetzung seiner (vermeintlichen) Ziele nach der Vorstellung des Interpreten hätte treffen müssen. Jedenfalls im Bereich des öffentlichen Rechts, insbesondere, wenn derartige Manipulationen zu Lasten der Bürger ausfallen, ist eine solche Vorgehensweise aus rechtsstaatlicher Perspektive fatal. Denn der Rechtsuchende bleibt hierdurch gegenüber der Staatsmacht sogar dann machtlos, wenn er sich auf gesetztes Recht berufen kann (exemplarisch neben dem bereits behandelten Leistungsausschluss von Unionsbürgern durch „Erst-recht-Schluss“ – s.o. unter 2.5 – z. B. BSG, Urteil vom 26.06.2013 – B 7 AY 6/12 R – Rn. 10 ff.). Das von Verfechtern des subjektiv-teleologischen Ansatzes verfolgte richtige Ziel, die Rechtsprechung demokratisch zu disziplinieren (vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Auflage 2011, S. 418 f.), wird hiermit nicht erreicht.

437

Die Vorstellung, einen „eindeutigen Willen des Gesetzgebers“ anhand des Begründungstextes eines Gesetzentwurfs ermitteln zu können, diesen dann für im Verhältnis zum Gesetzestext eigentlich maßgeblich zu erklären und eine von diesem „eindeutigen Willen“ abweichende Auslegung als Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip und/oder als unzulässige richterliche Rechtsfortbildung zu klassifizieren (statt vieler: SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 28; vgl. auch Bernsdorff, NVwZ 2016, S. 634, m.w.N. unter Fn. 15), ist daher methodisch und verfassungsrechtlich verfehlt.

438

Im Konfliktfall gegenüber dem auf die Gesetzgebungsmaterialien gestützten genetischen Argument vorrangige Auslegungsargumente sind neben der semantischen beispielsweise die verfassungskonforme Auslegung, die europarechtskonforme Auslegung und der Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I) sowie der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, weil diese sich auf Normtexte verschiedener Hierarchieebenen zurückführen lassen, die im Unterschied zu Nicht-Normtexten (wie Gesetzesmaterialien oder rechtswissenschaftliche Literatur) einen durch legitime Rechtsetzung legitimierten Geltungsanspruch haben.

439

f) Das Argument der verfassungskonformen Auslegung würde die hier vertretene Auffassung im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums daneben (nur) dann stützen, wenn hierdurch ein verfassungsgemäßes Ergebnis erzielt werden könnte; das Argument setzt sich nur bei vollständigem Erfolg durch. Der Grundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I) würde als Optimierungsgebot hingegen unabhängig von der Erreichbarkeit eines bestimmten Ziels das Ergebnis der semantischen und systematischen Auslegung stützen.

440

Selbst wenn der Gegenauffassung, die den von § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personen auch den Leistungsausschluss nach § 21 Satz 1 SGB XII entgegenhält, zugestanden würde, sich noch innerhalb der Wortlautgrenze der Vorschrift des § 21 Satz 1 SGB XII zu bewegen (was hiermit ausdrücklichnicht getan wird), würden die Argumente der verfassungskonformen Auslegung (in diesem Sinne Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 27.11.2015 – L 6 AS 205/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 205/15 B ER - PKH – Rn. 18; im Ergebnis ebenso: Greiser, jM 2016, S. 159) – sofern zielführend – und des Grundsatzes der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte die aus den Gesetzesmaterialien gewonnenen Argumente überwiegen. Die Gegenauffassung ist daher aus verschiedenen Gründen rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

441

4.2.2 Auf der Grundlage der Anwendbarkeit des SGB XII auch im Hinblick auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personenkreis folgen die näheren ausländerspezifischen Anspruchsvoraussetzungen aus § 23 SGB XII.

442

Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII zu leisten. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen jedoch keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII soll Hilfe bei Krankheit nur zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung geleistet werden, wenn sie (die von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Ausländer) zum Zwecke einer Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist sind.

443

In § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist demnach ein dem § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf dem ersten Blick entsprechender bzw. im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis noch weitergehender Leistungsausschluss normiert.

444

a) Der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII verstößt – anders als § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nicht generell gegen Art. 4 VO (EG) 883/2004, weil von den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII lediglich die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII als besondere beitragsunabhängige Leistung im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren ist, deren Anwendung nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII jedoch ohnehin unberührt bleibt, wobei anhand der systematischen Stellung diskussionswürdig ist, ob § 23 Abs. 3 SGB XII für diesen Personenkreis tatbestandlich trotzdem greift.

445

b) Vorliegend kann offenbleiben, ob die Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII bei erwerbsfähigen Angehörigen der EFA-Signatarstaaten auf Grund des Gleichbehandlungsgebots des Art. 1 EFA nicht zur Anwendung kommt (bejahend: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – Rn. 22 ff.). Dies würde zwar dazu führen, dass ein Teil der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII hätten und hierdurch ihr Existenzminimum gesichert sein könnte. Diese Rechtsfolge würde die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II jedoch nicht verhindern, da dieser Ausschlusstatbestand einen erheblich größeren Personenkreis erfasst(SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 79).

446

c) Ein gebundener Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII ist für einen Teil des vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis daher ausgeschlossen (so ausdrücklich auch BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51).

447

d) Den vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII betroffenen Personen können jedoch Leistungen u.a. zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII im Ermessenswege erbracht werden (so über den Umweg des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII im Ergebnis auch BSG, Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.; Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R; Urteile vom 20.01.2016 – B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R).

448

Entgegen der früheren Auffassung der Kammer (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER – Rn. 51 ff.; so auch: SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 76 bezogen auf einen Rückgriff auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII) ist die Erbringung von Ermessensleistungen durch § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nicht ausgeschlossen. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII stellt vielmehr eine Spezialregelung zu § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII dar, die den dort geregelten gebundenen Anspruch bezüglich bestimmter Leistungsarten des SGB XII für den in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII umschriebenen Personenkreis auf einen Anspruch auf eine Ermessensentscheidung des Sozialhilfeträgers herabstuft. Dies ergibt sich aus der näheren Gesetzessystematik.

449

aa) Die in Gesetzgebungstechnik und Rechtspraxis etablierten Standards der Gesetzessystematik stellen lediglich Abkürzungen für bestimmte sprachliche Operationen dar, die die Lesbarkeit von Gesetzestexten erhöhen und deren Umfang reduzieren sollen. Die Verwendung solcher Gesetzgebungstechniken bindet die Gerichte in gleichem Maße wie der Wortlaut des Gesetzestextes in seiner Begrenzungsfunktion. Durch die Verwendung bestimmter Regelungstechniken entsteht eine Textsemantik, die sich nicht isoliert auf bestimmte Wörter oder Formulierungen, sondern auf die Gesetzesstruktur bezieht, beispielsweise durch eine bestimmte Reihenfolge der Einzelvorschriften im Gesetzestext. Dies gilt auch für den Grundsatz, dass die speziellere Regelung die allgemeinere verdrängt, denn auch etablierte Regelungstechniken, deren Rezeption im Rechtsanwendungsdiskurs erwartet werden kann, gehören zum verbindlichen Normprogramm einer gesetzlichen Regelung. Diskutierbar ist dann zwar die Frage, ob eine solche Reglungstechnik im Einzelfall tatsächlich vorliegt, nicht jedoch die Frage, ob sie im Falle ihres Vorliegens zur Geltung kommen muss.

450

bb) § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist in diesem Sinne eine Spezialregelung gegenüber § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, da für die Anwendbarkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII („Ausländer“) vorliegen und weitere Voraussetzungen (Einreise zur Erlangung von Sozialhilfe oder Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche) hinzutreten müssen. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII schließt als Rechtsfolge somit jedenfalls einen gebundenen Anspruch auf Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aus. Die ergänzende Regelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII bezieht sich wiederum ausschließlich auf § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, der selbst nur einen Anspruch für bestimmte Leistungsarten des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft, Hilfe zur Pflege) konstituiert. § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ermöglicht daneben beispielsweise die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen und Hilfe in besonderen Lebenslagen für den in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Personenkreis. Wenn der Ausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII jegliche Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ausschließen würde, unterlägen auch die im Ermessen des Sozialhilfeträgers stehenden Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII der nachfolgenden Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII.

451

cc) Die unter isolierter Betrachtung des Wortlauts des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII streitbare Frage, ob die Formulierung „haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe“ bedeutet, dass jegliche Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen sind oder lediglich, dass der Sozialhilfeträger zur Erbringung von Sozialhilfeleistungen nicht verpflichtet ist, sondern sie nur auf Grund einer Ermessensentscheidung erbringen kann (so das BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51), lässt sich anhand der näheren Gesetzessystematik zu Gunsten der letzteren Auffassung klar beantworten, die letztlich auf einer Gegenüberstellung des Anspruchsbegriffs des § 38 SGB I zur Ermessensleistung (§ 39 SGB I) beruht. Denn die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB II setzt implizit zwingend voraus, dass den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Personen Leistungen der Sozialhilfe erbracht werden können, obwohl sie nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausdrücklich keinenAnspruch auf diese Leistungen haben. Ein Normverständnis dahingehend, dass § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII nur regeln würde, dass allein Ansprüche auf Hilfen zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgenommen sein sollen (so Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 39), lässt sich mit dem Wortlaut und mit dem engeren systematischen Zusammenhang der Vorschrift nicht vereinbaren.

452

§ 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII stellt zunächst hinsichtlich des Personenkreises eine Spezialregelung gegenüber § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dar, weil zur Auslösung der entsprechenden Rechtsfolgen die betroffenen Personen nicht nur Ausländer sein müssen (§ 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII), die entweder zu Erlangung von Sozialhilfe eingereist sind oder über ein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche verfügen (einschließlich Familienangehörige), sondern sie zusätzlich zum Zweck der Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist sein müssen. Die Rechtsfolge des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII besteht in einer durch eine Soll-Regelung gesteuerten Einschränkung einer in dieser Spezialregelung vorausgesetzten Möglichkeit der Erbringung weitergehender Leistungen. Dies ergibt sich aus der Verwendung des eine Einschränkung anzeigenden Wortes „nur“ im Zusammenhang mit dem voranstehenden „insoweit“, das auf den gegenüber der Regelung in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII weiter eingeschränkten Personenkreis nach dem ersten Halbsatz des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII verweist. Die nach der Logik des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII als (mindestens) möglich vorausgesetzte Erbringung von Leistungen der Hilfe bei Krankheit (§ 48 SGB XII) wird im zweiten Halbsatz des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII für den Regelfall („intendiertes Ermessen“) auf die Behebung akut lebensbedrohlicher Zustände und auf unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlungen schwerer oder ansteckender Erkrankungen beschränkt.

453

Hieraus folgt zwingend, dass die Erbringung von Hilfen bei Krankheit nach § 48 SGB XII in nicht von § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII erfassten Fällen erlaubt ist. Dies ist die logische Voraussetzung für die speziellen Rechtsfolgen des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII. Da der Anspruch auf Sozialhilfe in den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Fällen ausgeschlossen ist, verbleibt nur die im Rahmen der Grenzen des Wortlauts mögliche Auslegungsalternative, dass die Gewährung von Leistungen auf Grund einer Ermessensentscheidung hiervon nicht erfasst ist. Als positive Rechtsgrundlage für die Erbringung von Hilfe bei Krankheit kommt wiederum nur § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Betracht, da § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII in Folge seiner systematischen Beziehung zu § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Leistungen betrifft, die – anders als die Hilfe bei Krankheit – nicht von § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erfasst sind. § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII wird in den Fällen des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII daher lediglich auf eine Ermessensleistung herabgestuft, aus dem „ist (…) zu leisten“ wird ein „kann geleistet werden“.

454

Im derart erschlossenen Zusammenspiel zwischen § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII zeigt sich zugleich, dass nicht nur Hilfe bei Krankheit, sondern auch die übrigen in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Leistungsarten einschließlich der Hilfe zum Lebensunterhalt für den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Personenkreis erbracht werden können. Denn § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nimmt ohne Differenzierung von Leistungsarten auf die gesamte Sozialhilfe Bezug. Auf Grund dieses hinsichtlich der Leistungsarten allgemeinen (die gesamte „Sozialhilfe“), aber auf die Veränderung des Entscheidungsmodus (Ermessen statt gebundene Entscheidung) beschränkten Ausschlusstatbestand des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist die Möglichkeit der Gewährung von Leistungen im Ermessenswege nicht auf diejenigen Leistungsarten beschränkt, die generell (z.B. § 73 SGB XII) oder nur bei Ausländern auf Grund von § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII als Ermessensleistungen ausgestaltet sind.

455

dd) Ein weiterer Hinweis auf die Schlüssigkeit dieser Auslegung ergibt sich aus § 23 Abs. 2 SGB XII, der vorschreibt, dass Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG keine Leistungen der Sozialhilfe erhalten. Diese Regelung schließt durch die Bezugnahme auf den Erhalt von Sozialhilfeleistungen erkennbar auch Ermessensleistungen aus, nicht nur das subjektive Recht auf Leistungen der Sozialhilfe und liefert somit ein Indiz dafür, dass der abweichenden Formulierung im unmittelbar benachbarten § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII eine weniger weitgehende Funktion zukommt.

456

ee) Der vor dem Hintergrund des Gesetzesbindungsgebots im Allgemeinen und des § 31 SGB I im Speziellen fragwürdige Rückgriff auf einen (ungeschriebenen) „der Sozialhilfe systemimmanenten grundsätzlichen Anspruch auf Hilfe bei bedrohter Existenzsicherung“ (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51) ist daher nicht erforderlich, um Ermessensleistungen nach dem SGB XII zu ermöglichen. Ein Rückgriff auf die Ermessensregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ist entgegen der Auffassung des 4. und des 14. Senats des BSG (Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.; Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R; Urteile vom 20.01.2016 – B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R) ebenfalls nicht notwendig und im Hinblick auf das Verhältnis dieser Regelung zum § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und der dort genannten Leistungsarten auch wenig plausibel.

457

ff) Die vielfach geäußerte heftige Kritik an den genannten Entscheidungen des BSG ist nicht nur deshalb ungerechtfertigt, weil dessen Rechtsauffassung – bis auf die mit der Frage der Ermessensreduzierung verbundene Annahme der Verfassungskonformität – im Ergebnis zutrifft, sondern auch auf Grund der Tatsache, dass nur auf diese Weise überhaupt eine Rechtsgrundlage gefunden werden kann, die die auch von fast allen Gegnern dieser Rechtsprechung zumindest rhetorisch für notwendig gehaltenen Leistungen bis zur Ausreise immerhin ermöglicht.

458

4.2.3 Durch die somit eröffnete Möglichkeit der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII und weiterer Leistungsarten der Sozialhilfe für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfassten Personenkreis kann ein verfassungsgemäßes Ergebnis jedoch nicht erreicht werden. Eine Ermessensvorschrift ist im Rahmen der gesetzgeberischen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht dazu geeignet, das Erfordernis einer gesetzlichen „Anspruchsnorm“ (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 96) zu erfüllen (so bereits SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 30).

459

a) Die Möglichkeit gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf Grund einer Ermessensentscheidung zu erbringen, genügt bereits nicht den Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen formell-gesetzlichen Anspruch, denn die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen staatlichen Stelle hinsichtlich der Frage,ob bei Hilfebedürftigkeit Leistungen erbracht werden, ist verfassungswidrig (s.o. unter I.9.2 und unter I.9.3). Mit der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt und anderer elementarer Bedarfe nur auf Grund einer Ermessensentscheidung der Verwaltung hat der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über die Gewährung existenzsichernder Leistungen nicht selbst getroffen, sondern die Entscheidungsmacht in erster Linie der Verwaltung und in zweiter Linie der Gerichte überlassen, Letzteres mit reduzierter Kontrolldichte. Aus dem Gesetz lassen sich auch keine weiteren Bestimmungen darüber entnehmen, ob der Sozialhilfeträger in bestimmten Fällen des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII der Sozialhilfeträger tatsächlich existenzsichernde Leistungen erbringen muss oder welche Gesichtspunkte er bei seiner Ermessensentscheidung zu berücksichtigen hat, sodass nicht einmal mittelbar eine Bindung der Verwaltung hergestellt wird. Die verfassungsrechtliche Anforderung der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mittels eines konkreten gesetzlichen Leistungsanspruchs ist daher nicht erfüllt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136).

460

b) Hierüber kann auch eine „verfassungskonforme Auslegung“ nicht hinweghelfen. Eine verfassungskonforme Auslegung ist nur unter Beachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts und unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik zulässig. Andernfalls würde die Verfassungskonformität der "ausgelegten" Vorschrift durch einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG und zugleich gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz erkauft. Das Argument der verfassungskonformen Auslegung kann nur entweder vollständig zum Erfolg führen oder gar nicht. Die verfassungskonforme Auslegung verlangt als Ergebnis eine vollständige Übereinstimmung mit dem Verfassungsrecht, nicht (nur) eine möglichst weitgehende Annäherung.

461

Vor diesem Hintergrund muss berücksichtigt werden, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums die Gewährleistung mittels konkreter, gebundener Leistungsansprüche verlangt, die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII demgegenüber gebundene Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen gerade ausschließt.

462

Die Argumentationsfigur der „Ermessensreduzierung auf Null“ stellt nur ein im Einzelfall legitimes Mittel zur Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte behördlicher Entscheidungen dar. Wird sie hingegen – wie es das BSG für die von ihm umschriebene Fallgruppe letztlich vorsieht – als Umdeutung einer Ermessensvorschrift in eine die Verwaltung bindende Anspruchsnorm verstanden, liegt hierin ein Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot, weil der gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum nicht nur im Einzelfall reduziert, sondern generell ausgeschaltet wird. Der zentrale Regelungsgehalt des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII, einenAnspruch auf Sozialhilfe für den betroffenen Personenkreis auszuschließen, wird hierdurch in sein Gegenteil verkehrt; er muss sogar in sein Gegenteil verkehrt werden, um im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu einem verfassungskonformen Ergebnis zu kommen.

463

Selbst unter der Voraussetzung, dass es auch Fälle geben kann, bei denen eine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (noch) nicht vorliegt und die Leistungsvoraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII gleichwohl (bereits) vorliegen (beispielsweise bei noch vorhandenem Schonvermögen) und hiermit verfassungsrechtlich ein Spielraum für Ermessensentscheidungen verbleiben könnte, würde hierdurch der Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot nicht verhindert, weil dennoch der Modus der Entscheidungsfindung entgegen der gesetzlichen Regelungsentscheidung von einer Ermessensentscheidung hin zu einem für bestimmte Fallkonstellationen gebundenen Anspruch grundlegend verändert würde.

464

Die Interpretation einer Rechtsvorschrift (hier: der Ausschluss des Anspruchs auf Sozialhilfe) in einer Weise, dass sie keine Auswirkungen hat, kommt im Ergebnis der Nichtanwendung dieser Norm gleich. Der Rechtsprechung steht es auf Grund der Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG) nicht zu, eine gesetzgeberische Regelungsentscheidung im Wege der Auslegung vollständig zu neutralisieren (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 433). Diese Situation ist wiederum von der Frage zu unterscheiden, ob eine sprachliche Wendung im Gesetzestext überhaupt eine anordnende Funktion im Sinne einer Regelungsentscheidung hat (s.o. unter 4.2.1 b).

465

c) Gerade auch mit der vom BSG vertretenen Linie eines Anspruchs auf Ermessensentscheidung für einen Aufenthalt von bis zu sechs Monaten Länge und einer „Ermessensreduzierung auf Null“ bei einem „verfestigten“ Aufenthalt von mehr als sechs Monaten, wird ein verfassungskonformes Ergebnis für die ersten sechs Monate offensichtlich noch nicht erreicht. Hierfür müsste schon von Beginn an eine Ermessensreduzierung auf Null in den Fällen angenommen werden, in denen Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne besteht. Denn die „einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss (…) ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden“ (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 94).

466

d) Die durch das BSG angenommene „Ermessensreduzierung auf Null“ für den Fall einer Verfestigung des Aufenthalts der betroffenen Personen vermag die defizitäre Gestaltung durch Ermessenseinräumung auch deshalb nicht zu beseitigen, weil die Voraussetzungen, die für diese Ermessensreduzierung gestellt werden, von den zuständigen Senaten des BSG entwickelt wurden und gerade nicht auf gesetzgeberische Entscheidungen zurückzuführen sind. Sie eignet sich daher von vornherein nicht dafür, die sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebende Pflicht, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136), zu erfüllen (s.o. unter I.9.3).

467

Die vielfältigen Auffassungen, die selbst auf dem Boden der Rechtsprechung des BSG im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen im Ermessenswege an den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis vertreten werden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 15 AS 185/15 B ER – Rn. 16 f.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 23 SO 46/16 B ER, L 23 SOL 23 SO 47/16 B ER PKH – Rn. 21 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 15 SO 53/16 B ER – Rn. 23 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 14.04.2016 – L 4 AS 76/16 B ER – Rn. 8 ff, SG Halle (Saale), Beschluss vom 14.04.2016 – S 32 AS 1109/16 ER – Rn. 37 ff.; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 63.6, Stand 08.04.2016) bieten ein anschauliches praktisches Beispiel für die mangelnde Eignung von Ermessensvorschriften zur Herstellung von Gesetzesbindung und zur praktischen Gewährleistung von Rechten. Auch höchstrichterliche Rechtsprechung kann Bindungen letztlich nur im Einzelfall herstellen und sichern. Zur Durchsetzung darüberhinausgehender Geltungsansprüche ist sie weder befugt noch tatsächlich in der Lage (vgl. im Hinblick auf die Gewährung von Vertrauensschutz in höchstrichterliche Rechtsprechung: SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 74 ff.).

468

Aus diesem Grund ist die Kopplung der Gewährung von existenzsichernden Leistungen dem Grunde nach an die Ermessensausübung einer Behörde nicht nur in legitimatorischer, sondern auch in funktioneller Hinsicht nicht dazu geeignet, die Bestimmtheitsanforderungen an die gesetzgeberische Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu erfüllen.

469

4.3 Auch andere Möglichkeiten, Leistungen nach dem SGB XII zu erhalten, können den Verfassungsverstoß nicht vermeiden. Insbesondere lässt sich ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht auf § 73 SGB XII stützen (so aber LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 – L 15 AS 202/14 B ER – Rn. 21 ff.; Hessisches LSG, Beschluss vom 18.09.2015 – L 7 AS 431/15 B ER – Rn. 21; wie hier: Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

470

Nach § 73 Satz 1 SGB XII können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Für den sowohl vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als auch vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII betroffenen Personenkreis kommt die Gewährung von Hilfe in besonderen Lebenslagen gemäß § 73 SGB XII zwar durchaus in Betracht, weil § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nur gebundene Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen ausschließt (s.o. unter 4.2.2). Bei den Leistungen nach § 73 SGB XII handelt es sich um Ermessensleistungen.

471

Die vorherrschende, aus der Systematik der verschiedenen Leistungsarten des Sozialhilferechts und aus dem Begriff der „sonstigen Lebenslagen“ abgeleitete Interpretation des § 73 SGB XII, die eine Auffangfunktion für Bedarfslagen zu deren Befriedigung Leistungen des 3. bis 8. Kapitels des SGB XII vorgesehen sind, ausschließt (vgl. nur Böttiger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 73 Rn. 21 ff. m.w.N., Stand 29.07.2015) ließe sich unter Verweis auf den unbestimmten Rechtsbegriff der „sonstigen Lebenslagen“ mit Hilfe einer verfassungskonformen Auslegung notfalls überwinden. Die weitgehende Unbestimmtheit der Regelung führt aber zugleich dazu, dass sie den Bestimmtheitsanforderungen der gesetzlichen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.3) nicht genügen würde. Hiervon abgesehen sind Ermessensvorschriften zur Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch Einräumung eines konkreten gesetzlichen Leistungsanspruchs nicht geeignet (s.o. unter I.9.3 und unter 4.2.3).

472

4.4 Die betroffenen Personen haben auch keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG. Ansprüche auf Leistungen nach dem AsylbLG könnten bei Unionsbürgern (und Staatsangehörigen der anderen EWR-Staaten) und deren Familienangehörigen allenfalls gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG bei vollziehbarer Ausreisepflicht bestehen, die erst in Folge einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU eintreten kann (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 05.02.2015 – L 6 AS 883/14 B ER – Rn. 12). Auch für Nicht-Unionsbürger, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 16 Abs. 4, 18c, 30, 32 oder 33 AufenthG verfügen, käme ein solcher Anspruch aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG erst in Folge des Verlustes ihres Aufenthaltstitels in Betracht.

473

4.5 Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von Anspruchsgrundlagen aus dem SGB II, dem SGB XII oder dem AsylbLG liegen nicht vor (zum AsylbLG so auch Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 1a AsylbLG i.d.F. v. 20.10.2015, Rn. 22, Stand 08.04.2016; a.A. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 14).

474

a) Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gesetzesbindungsgebots aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG ist eine analoge Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte allenfalls dann zulässig, wenn eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht. Hiermit wird einem Dilemma Rechnung getragen, das aus dem Umstand entsteht, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind, d.h. sie müssen auch dann, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen. In Folge des Grundsatzes der Gesetzesbindung darf von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die analoge Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 – Rn. 29; SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 37; s.o. unter 2.5 b).

475

b) Eine analoge Anwendung von Leistungsansprüchen aus dem SGB II, dem SGB XII oder dem AsylbLG scheitert demnach bereits daran, dass eine Regelungslücke in diesem Sinne nicht besteht. Anhand des einfachen Rechts lässt sich die Frage nach der Anspruchsberechtigung auf Leistungen zur Gewährleistung des Existenzminimums von Personen, die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen sind, klar verneinen. Es verbleibt lediglich die Möglichkeit, im Ermessenswege Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII zu erbringen. Daher liegen bereits die formalen, aus dem Gesetzesbindungsgebot und dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes abgeleiteten Voraussetzungen für eine analoge Anwendung anderer Regelungen nicht vor.

476

c) Hiervon abgesehen, ist auch materiell-verfassungsrechtlich in Folge der sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebenden Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.- Rn. 136), eine analoge Anwendung nicht einschlägiger Rechtsvorschriften betreffend die Gewährleistung existenzsichernder Leistungen ausgeschlossen.

477

d) Zuletzt steht die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, wozu die Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII und nach dem BAföG (nicht jedoch nach dem AsylbLG) gehören, unter dem Gesetzesvorbehalt des § 31 SGB I, was einem einfachrechtlichen Analogieverbot gleichkommt.

478

e) Demzufolge muss auch der Auffassung des 4. Senats des LSG Hamburg (Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9), den verfassungsrechtlichen Vorgaben könne dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen eingeräumt werde, widersprochen werden. Das LSG Hamburg führt hierzu aus:

479

„Welche Leistungen unabweisbar sind, hängt dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland kommt in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht (Überbrückungsleistungen). Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (…) oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (…) herzuleiten ist oder ob in entsprechenden Fällen von einer atypischen Bedarfslage auszugehen ist, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) rechtfertigt.“

480

Das Fehlen bzw. der Ausschluss eines verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen Anspruchs auf eine Leistung kann nicht zur Vermeidung des verfassungswidrigen Zustands dadurch ausgeglichen werden, dass nicht einschlägige Anspruchsgrundlagen „entsprechend“ herangezogen oder Ansprüche direkt aus der Verfassung abgeleitet werden (vgl. hierzu auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285). Konkret ist die Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Form einer gebundenen Entscheidung durch § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen. Diese Regelung oder andere dennoch „entsprechend“ anzuwenden, würde gegen das Gesetzesbindungsgebot verstoßen. Die weiter geäußerte Behauptung, der durch das Gericht beschriebene Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form unabweisbar gebotener Leistungen sei ein (nach dem BVerfG verfassungsrechtlich gebotener) „gesetzlicher Anspruch“, selbst wenn seine „konkrete Ausgestaltung im Einzelfall“ nicht direkt aus dem Gesetz ablesbar sei (LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 10), ist in sich widersprüchlich.

481

f) Soweit der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen die Anwendung von Vorschriften des SGB XII oder des AsylbLG im Rahmen einer „Rechtsfolgenanwendung“ vorschlägt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14), ohne allerdings nähere Ausführungen zur methodischen Grundlage zu machen, handelt es sich der Sache nach ebenfalls um eine Variante des hier unzulässigen Analogieschlusses.

482

4.6 Andere Ansprüche auf Sozialleistungen, die das Existenzminimum bei Vorliegen des Ausschlusstatbestands des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für alle hiervon Betroffenen vollständig sichern könnten, bestehen nicht. Sozialleistungen wie Kindergeld. Kinderzuschlag, Elterngeld und Wohngeld werden nur in bestimmten Lebenssituationen erbracht und sind unabhängig von ihren aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen zur vollständigen Bedarfsdeckung weder konzipiert noch geeignet.

483

4.7 Ein konkreter Anspruch auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums lässt sich auch nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten (so aber Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de; offenlassend: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht). Die Schaffung konkreter Leistungsansprüche im Rahmen einer Übergangsregelung durch das BVerfG (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 100 ff.) stellt nicht die unmittelbare Ableitung eines konkreten Anspruchs aus der Verfassung dar – in einem solchen Fall, wäre die dem Normenkontrollverfahren zu Grunde liegende Regelung nicht für verfassungswidrig erklärt worden, weil sie die Grundrechtsverwirklichung nicht verhindert hätte – sondern ein verfassungsprozessrechtliches Hilfsinstrument, um bis zur Behebung des verfassungswidrigen Zustands durch den Gesetzgeber die Grundrechte vorläufig zu wahren. Die vorläufige Regelung entbindet den Gesetzgeber nicht aus der sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebenden Pflicht, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136). Das Fehlen eines gesetzlichen Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums kann daher nicht richterrechtlich kompensiert werden (vgl. Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 287).

484

Soweit im Übrigen in den Entscheidungen des BVerfG von einem unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch die Rede ist, soll hiermit wohl lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass (nur) die Gewährung derjenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind, nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135).

485

4.8 Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist demnach verfassungswidrig, weil sie ohne Kompensationsmöglichkeit in einem anderen Leistungssystem durch einen konkreten gesetzlichen Leistungsanspruch bestimmte Gruppen von im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftigen Grundrechtsträgern mit tatsächlichem Aufenthalt im Inland von Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließt (s.o. unter I.9.2).

486

5. Die durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterbliebene Grundrechtsverwirklichung und die somit verfassungsrechtlich defizitäre Gestaltung einfachen Rechts, kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

487

5.1 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht eingeschränkt werden, denn es gewährleistet gerade das Mindestmaß dessen, was jeder Mensch beanspruchen kann. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Unverfügbarkeit resultiert aus der Fundierung des Grundrechts in der Menschenwürdegarantie (zum Ganzen s.o. unter I.6). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen oder Unterlassungen, sodass jeder mögliche sachliche Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Einschränkung hieraus resultierender Ansprüche entfällt.

488

Gesetzliche Leistungsausschlüsse dem Grunde nach – wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelt – bei Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht erfüllen, sind deshalb per se verfassungswidrig und einer Rechtfertigung von vornherein nicht zugänglich. Dementsprechend kann eine derartige Einschränkung auch nicht auf Zumutbarkeitserwägungen oder Verhältnismäßigkeitsprüfungen gleich welcher Art gestützt werden. Für dieses Ergebnis bedarf es nicht erst des Rückgriffes auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (in diese Richtung: Bayerisches LSG, Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 59), da eine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG bereits nicht besteht.

489

a) Hieran vermag auch der wohl zuerst von verschiedenen Senaten des Bayerischen Landessozialgerichts (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 32; Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 37; so auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 26) herangezogene Hinweis auf die Nichtannahmebeschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und 08.10.2014 (1 BvR 886/11), mit denen die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG den grundsätzlichen Leistungsausschluss für Auszubildende und Studierende nach § 7 Abs. 5 SGB II unbeanstandet gelassen hat, nichts zu ändern. Die dort geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 13), obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsehen, stellt einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der im Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik dar und dürfte deshalb nicht aufrechtzuerhalten sein (so bereits SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 220). Keinesfalls rechtfertigen die Ausführungen in diesen Beschlüssen die Annahme, das BVerfG sei generell der Auffassung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums könne eingeschränkt werden (so aber wohl Bayerisches LSG, Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 32: „Dem entnimmt das Beschwerdegericht, dass ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen in bestimmten Lebenssituationen grundsätzlich möglich ist.“).

490

Hiervon abgesehen ist die Situation von Auszubildenden oder Studierenden mit derjenigen der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen in zentralen Punkten nicht vergleichbar (so auch Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 27.11.2015 – L 6 AS 205/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 205/15 B ER - PKH – Rn. 20). Während Auszubildenden und Studierenden im Allgemeinen rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit offensteht, Studium oder Ausbildung abzubrechen und hierdurch die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II zu beseitigen, kann die Ausreise eines vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen in den Herkunftsstaat durch tatsächliche (z.B. wirtschaftliche) Hindernisse erschwert oder unmöglich sein. Darüber hinaus führt eine Ausreise zwar zum Wegfall des Ausschlussgrundes, zugleich aber wegen der hiermit notwendig verbundenen Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland zum Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und damit des Leistungsanspruchs. Anders als im Falle des Auszubildenden oder Studierenden durch Studien- bzw. Ausbildungsabbruch kann der vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffene durch Ausreise den Anspruch auf Leistungen durch vermeintlich zumutbare Handlungen gerade nicht herbeiführen.

491

b) Aus der Uneinschränkbarkeit des Grundrechts folgt, dass das einfache Recht Leistungsausschlüsse nur in Fällen vorsehen darf, in denen eine der (neben dem Menschsein) zwei Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht nicht vorliegt, also entweder kein Aufenthalt im Inland gegeben ist (s.o. unter I.7.2) oder keine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne vorliegt (s.o. unter I.7.3). Leistungseinschränkungen sind bei Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen nur zulässig, soweit auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung (der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs) im Vergleich zu den gesetzlich ausformulierten Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Inhaltsbestimmung) ein quantitativer oder qualitativer Spielraum besteht, der eine tragfähig begründbare Differenzierung erlaubt (s.o. unter I.9.1 und I.9.4).

492

Auf der ersten Ebene der Grundrechtskonkretisierung kommt eine Differenzierung nur auf Grund abweichender Bedarfslagen in Betracht (s.o. unter I.9.4). Das hiernach bestimmte Existenzminimum muss jedoch auch dann durch staatliche Sozialleistungen gewährleistet werden, wenn bestehende Selbsthilfemöglichkeiten (z.B. Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) tatsächlich nicht genutzt werden, gleich aus welchem Grund. Dies gilt entgegen einer weit verbreiteten Auffassung in der Rechtsprechung (vgl. nur LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30; LSG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 und vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2238/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22 f.; Bayerisches LSG, Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 33; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 B ER – Rn. 36 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9 f.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht; s.o. unter A.V.1.3) auch dann, wenn eine Selbsthilfemöglichkeit darin bestehen könnte, in den Herkunftsstaat auszureisen und dort Fürsorgeleistungen in Anspruch zu nehmen (so auch BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 42 mit Erörterungen zur Reichweite des Nachranggrundsatzes).

493

Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis können alle Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht gegeben sein. Die Betroffenen halten sich – definitionsgemäß, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II – im Inland auf und sind im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, was Fälle der Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3) einschließt. Die Regelung ist daher – unabhängig davon, dass in Einzelfällen eine individuelle Grundrechtsverletzung auch fehlen kann – verfassungswidrig. Vor diesem Hintergrund ist es für die verfassungsrechtliche Prüfung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unerheblich, ob im von der Behörde oder dem Gericht zu prüfenden Einzelfall eine Rückkehrmöglichkeit in einen Staat mit existenzsicherndem Sozialhilfesystem besteht, selbst wenn – entgegen der hier vertretenen Auffassung – davon ausgegangen würde, dass bereits eine solcheMöglichkeit die Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne entfallen lassen würde. Denn es lässt sich angesichts der prinzipiellen Reichweite des Ausschlusstatbestands (s.o. unter 2), der Personen jedweder Staatsangehörigkeit (außer der deutschen) treffen kann, nicht ernsthaft behaupten, diese Möglichkeit stünde allen potenziell betroffenen Personen zur Verfügung.

494

5.2 Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kann verfassungsrechtlich auch nicht durch Rückgriff auf Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG gerechtfertigt werden.

495

a) Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG stellt keine Regelung dar, die angesichts dessen, dass auch sekundäres Unionsrecht gegenüber mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht vorrangig sein soll, von der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des deutschen Staates auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dispensieren könnte. Durch die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG wird den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit gelassen, in bestimmten Konstellationen Unionsbürger von den nationalen Sozialhilferegelungen auszunehmen. Dass die Mitgliedstaaten hierbei die Grenzen ihres jeweiligen Verfassungsrechts einhalten müssen, wird hierdurch nicht in Frage gestellt (so auch Kingreen, SGb 2013, S. 137; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 – L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 16). Solange es diesbezüglich bei der bloßen Ermächtigung bleibt und der Ausschluss von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern in bestimmten Fällen nicht zur mitgliedstaatlichen Pflicht erhoben oder unmittelbar durch Unionsrecht festgelegt wird, besteht auch kein Konflikt zwischen den verschiedenen Regelungsebenen. Käme es hingegen tatsächlich zu einer unionsrechtlichen Regelung, die dem deutschen Staat die Gewährung existenzsichernder Leistungen an bestimmte Personengruppen verböte, würde dies eine Überprüfung der auf Eingriffe in Freiheitsrechte gemünzten Rechtsprechung des BVerfG zur zurückgenommenen verfassungsrechtlichen Kontrolldichte bei Rechtsakten der EU (BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 117 – „Solange II“ –; BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 22 BvR 2159/92 – Rn. 70 – „Maastricht“ –; BVerfG, Beschluss vom 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 – Rn. 55 ff. – „Bananenmarktverordnung“ –) erzwingen, weil die Verankerung eines durchsetzbaren Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf europarechtlicher Ebene nicht ersichtlich ist und mit den Konstruktionsprinzipien der EU wohl auch nicht ohne Weiteres vereinbar wäre, solange die EU sich nicht selbst als unmittelbar leistungsverpflichtet konstituiert.

496

b) Hiervon abgesehen wird durch Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eingeräumt, bestimmte freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger von der Gewährung von Sozialhilfeleistungen auszunehmen. Eine Rechtfertigung zum Leistungsausschluss für Angehörige anderer Staaten oder Staatenloser, die über § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind, kann daher von vornherein nicht auf diese Regelung gestützt werden.

497

5.3 Sowohl aus der Uneinschränkbarkeit des Grundrechts als auch auf Grund des (über Unionsbürger hinausgehenden) vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreis ergibt sich, dass auch eine Rechtfertigung für den Leistungsausschluss aus „dem europäischen Konzept einer Freizügigkeit“ ohne Herstellung einer Sozialunion von vornherein nicht in Betracht kommt (so aber LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 10;ähnlich SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 40). Die Freizügigkeit ist lediglich eine tatsächliche Ursache dafür, dass es vielen Menschen möglich ist, sich in Deutschland legal aufzuhalten. Menschen, die von dieser Freizügigkeit Gebrauch machen, begeben sich weder durch den Übertritt über die Staatsgrenze ihrer Menschenrechte, noch können sie ihnen mit dem Argument vorenthalten werden, sie könnten sich auch wieder außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes begeben (anschaulich Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de, am Beispiel des Folterverbots).

498

Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums steht mangels Einschränkungsbefugnis in keinem Fall zur Disposition des Gesetzgebers. Demnach kann auch die einfachrechtliche Zuerkennung oder Aberkennung von Aufenthaltsrechten, wie im FreizügG/EU und im AufenthG geregelt, keinen Ausschluss und keine Einschränkung des Grundrechts rechtfertigen, unabhängig davon, ob das einfache Recht europarechtlich geprägt oder determiniert ist.

499

6. Die von zahlreichen Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit vertretene Auffassung, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße unabhängig von einer Kompensationsmöglichkeit durch ein anderes innerstaatliches Existenzsicherungsleistungssystem nicht gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter A.V.1.3), ist somit nicht haltbar.

500

6.1 In fast allen diesbezüglich ergangenen Gerichtsentscheidungen wird bereits der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG verkannt, indem eine mögliche Verfassungswidrigkeit nur anhand des zu entscheidenden Einzelfalls(so offenbar auch der 14. Senat des BSG in den Urteilen vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R – Rn. 36, B 14 AS 18/14 R – Rn. 34, B 14 AS 33/14 R – Rn. 33 und vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 32), allenfalls allein mit Blick auf die vom Leistungsausschluss betroffenen Unionsbürger geprüft wird (vgl. bereits LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30). Tatsächlich haben die Gerichte bei der Anwendung von Gesetzen deren Verfassungsmäßigkeit abstrakt zu prüfen, wenn sie die entsprechende Vorschrift für entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG halten. Dass es durch die Anwendung der für verfassungswidrig gehaltenen Vorschrift zu einer individuellen Grundrechtsverletzung des Verfahrensbeteiligten kommt, ist hierfür – anders für die Frage der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die Beschwerdebefugnis – nicht maßgeblich. Die Einbeziehung von Personen mit Aufenthaltstiteln nach § 16 Abs. 4 AufenthG und § 18c AufenthG wurde (außerhalb von Mainz) soweit ersichtlich in keiner veröffentlichten Entscheidung angesprochen, obwohl dieser Umstand bereits in der Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales benannt wurde (BT-Drucks. 16/688, S. 13). Vereinzelt wird sogar ausdrücklich behauptet, der Leistungsausschluss betreffe nur Unionsbürger (so SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 41). Auch inhaltlich wird dieser Umstand regelmäßig vollkommen ausgeblendet, was sich vor allem darin zeigt, dass alle Rechtfertigungsvarianten für den Leistungsausschluss ihre Argumente letztendlich aus dem europäischen Freizügigkeitsrecht und aus behaupteten europäischen Menschenrechtsstandards beziehen (vgl. nur LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 – und Bayerisches LSG – Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 31 ff.).

501

6.2 Weiter wird zumeist in eine Art Abwägungsprozess oder Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 40 f.) eingestiegen, ohne die Frage zu thematisieren, ob das Grundrecht überhaupt in dem Sinne einschränkbar ist, dass bestimmte Personengruppen – gleich aus welchen Gründen – von allen existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen werden dürften. Gelegentlich wird die Befugnis zum Leistungsausschluss auch schlicht mit dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers begründet (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30). Wenn tatsächlich eine Einschränkungsbefugnis angenommen wird, erfolgt dies zumeist apodiktisch mit der Behauptung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gelte nicht schrankenlos (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B – Rn. 39). Herangezogen wird auch die aus dem Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 (1 BvR 2556/09 – Rn. 13) entlehnte Formulierung, das Grundgesetz gebiete nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 24, Rn. 27), wobei keine Erwähnung findet, dass es bei der Entscheidung des BVerfG, bei der es um die Frage der Anrechnung bestimmter Einkommensarten ging, gerade auf die Bedarfsabhängigkeit ankam. Die Passage im Beschluss des BVerfG lautet vollständig folgendermaßen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13):

502

„Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung von bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der Gesetzgeber hat vielmehr einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, sonstiges Einkommen des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet wird (…).“

503

Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis geht es weder um bedarfsunabhängige noch um anderweitig voraussetzungslose Gewährung von Sozialleistungen, so dass der Verweis auf diesen Beschluss des BVerfG offensichtlich fehlgeht.

504

Die vorgetragenen Argumente zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses stehen daher regelmäßig ohne Einbindung in eine strukturierte verfassungsrechtliche Prüfung unvermittelt im Raum (vgl. die These des SG Freiburg, „dass es nicht Aufgabe des Sozialleistungssystems sein kann, aufenthaltsrechtliche Vollzugsdefizite durch die Gewährung so im Gesetz nicht vorgesehener existenzsichernder Leistungen zeitlich unbegrenzt „aufzufangen““, SG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER – Rn. 55).

505

Der Frage nach der Einschränkbarkeit könnte jedenfalls auf dem Boden der Rechtsprechung des BVerfG nur mit der Behauptung ausgewichen werden, die betroffenen Personen erfüllten bereits die Voraussetzungen für den verfassungsrechtlichen Gewährleistungsanspruch nicht, d.h. sie seien keine Menschen (s.o. unter I.7.1), sie hielten sich tatsächlich nicht in Deutschland auf (s.o. unter I.7.2) oder sie seien nicht hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3). Da die ersten beiden Behauptungen im Falle des vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreises offensichtlich nicht zutreffen, könnte ein Gewährleistungsanspruch grundsätzlich nur an der fehlenden Bedürftigkeit scheitern (in diese Richtung z. B. SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 113 – mit der These, dass laufende existenzsichernde Leistungen der Bundesrepublik Deutschland im Falle von Unionsbürgern bereits nicht „unbedingt erforderlich“ im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG im Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62 ff. – seien).

506

Hieran knüpft der in der Rechtsprechung weit verbreitete Versuch an, die Vorenthaltung der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat und der dortigen Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen zu rechtfertigen (s.o. unter 5.1 und unter A.V.1.3). Selbst wenn man aber den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für verfassungsmäßig halten würde, wenn die Betroffenen im Herkunftsland existenzsichernde Leistungen erhalten könnten, müsste diese Voraussetzung zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift nicht nur in sämtlichen 31 Staaten des EWR erfüllt sein, sondern auch in allen anderen Staaten der Welt, weil der Leistungsausschluss sich zugleich auch auf das Aufenthaltsrecht aus § 16 Abs. 4 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und auf das Aufenthaltsrecht aus §18c AufenthG bezieht. Diese Aufenthaltstitel sind nicht auf Angehörige bestimmter Staaten, insbesondere nicht auf Unionsbürger beschränkt.

507

Aber schon die Annahme, dass ein vergleichbares Existenzminimum in den anderen EU-Mitgliedstaaten gesichert sei, etwa weil diese sämtlich die Europäische Sozialcharta unterzeichnet hätten (so etwa SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 – S 30 AS 3827/15 ER – Rn. 38; vgl. auch SG Halle (Saale), Beschluss vom 22.01.2016 – S 5 AS 4299/15 ER – Rn. 22 und LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40), ist aus der Luft gegriffen. Aus der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Gewährung von Menschenrechten umstandslos auf deren vollständige Umsetzung in den jeweiligen Signatarstaaten zu schließen, ist, zurückhaltend formuliert, unrealistisch.

508

Dies zeigt aber letztlich nur, dass ein Verweis auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Sozialleistungen in anderen Staaten kein sinnvolles Kriterium zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines Leistungsausschlusses von existenzsichernden Leistungen bei transnationalen Sachverhalten ist. Die Gewährleistungspflicht des deutschen Staates für ein Existenzminimum gilt innerhalb der Staatsgrenzen für deutsche Staatsangehörige, ausländische Staatsangehörige und Staatenlose gleichermaßen und uneingeschränkt und unabhängig davon, ob vergleichbare Ansprüche in einem anderen Staat geltend gemacht werden könnten. Sie endet aber auch an den Staatsgrenzen, sodass ein Verstoß gegen das Existenzsicherungsrundrecht wohl nicht schon dann angenommen werden kann, wenn eine Person rechtmäßig in einen Staat abgeschoben wird, der über kein vergleichbares Existenzsicherungssystem verfügt (vgl. Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 1210.2015, S. 18).

509

Vor diesem Hintergrund ist es auch verfassungsrechtlich unerheblich, ob im von der Behörde oder dem Gericht zu prüfenden Einzelfall eine Rückkehrmöglichkeit in einen Staat mit existenzsicherndem Sozialhilfesystem besteht. Sofern § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für nichtig erklärt wird, fällt der Ausschlusstatbestand für alle hiervon betroffenen Personen weg, unabhängig davon, ob sie selbst zu der Fallgruppe gehören, die die Verfassungswidrigkeit der Norm begründet. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung ist daher in jedem Fall entscheidungserheblich, in dem der Ausschlusstatbestand greift. Deshalb sind die von verschiedenen Gerichten zumeist in Eilverfahren oberflächlich vorgenommenen Prüfungen der in den jeweiligen Herkunftsländern der Betroffenen bestehenden Sozialhilfesysteme (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40: Tschechien; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31: Rumänien; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS 2358/15 B: Slowakei; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27: Italien; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 38: Portugal) rechtlich ebenso bedeutungslos wie die Frage, ob bei dem Betroffenen im konkreten Einzelfall ein Hinderungsgrund für die Rückkehr in den Herkunftsstaat vorliegt.

510

6.3 Auch die zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses herangezogene These, der Gesetzgeber habe mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiteten, den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 26; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 34; SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 - S 30 AS 3827/15 ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1188/15 B ER), ist falsch. Der Nachrang gegenüber anderen Sozialleistungen wird im SGB II über die Einkommensanrechnungsvorschriften oder speziell im Verhältnis zu anderen deutschen Sozialleistungssystemen (§ 5 Abs. 2 SGB II), im SGB XII allgemeiner in § 2 Abs. 1 SGB XII sowie in den dortigen Einkommensanrechnungsvorschriften geregelt. Nachrangigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang lediglich, dass Leistungen nach dem SGB II und SGB XII nur erbracht werden, soweit die Leistungsberechtigten ihren Bedarf nicht durch andere Einkünfte, beispielsweise aus vorrangigen Sozialleistungen decken können. Die Leistungsausschlüsse des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII knüpfen aber tatsächlich nicht an den Umstand an, dass die betroffenen Personen über vorrangige Leistungsansprüche verfügen, sondern ordnen den Leistungsausschluss völlig unabhängig von der Frage an, ob derartige Ansprüche bestehen. Für den Fall, dass tatsächlich Sozialleistungen von ausländischen Trägern bezogen werden, würde der Nachrang ohnehin über die Einkommensanrechnung nach § 11 SGB II oder § 82 SGB XII hergestellt.

511

6.4 Das gelegentlich herangezogene Argument, dass das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) keine Aussage darüber enthalte, inwiefern es dem Gesetzgeber möglich sei, Personen ohne Aufenthaltsrecht Sozialleistungen zu verwehren oder Personen mit einem bestimmten, näher definierten Aufenthaltsrecht (beispielsweise dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche) vom Bezug von Sozialleistungen auszuschließen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 28; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 34), führt nicht weiter. Dass sich die Entscheidung des BVerfG nur über die Vereinbarkeit von Vorschriften des AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bezog, war dem dortigen Streitgegenstand geschuldet und ist für sich genommen selbstverständlich kein Argument für die Verfassungsmäßigkeit irgendeiner anderen Regelung.

512

Aus dem genannten Urteil den Schluss zu ziehen, das BVerfG würde die verfassungsrechtliche Situation im Hinblick auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II anders bewerten, würde eine vertiefte Auseinandersetzung mit den der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) zu Grunde liegenden Prämissen des BVerfG erfordern. Dass einzige erkennbare Argument, was speziell in Bezug auf das genannte Urteil hierfür regelmäßig vorgebracht wird, ist die mangelnde Vergleichbarkeit der Situationen von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG einerseits und Unionsbürgern andererseits, die darauf beruhen soll, dass Asylbewerber, die sich auf politische Verfolgung in ihren Heimatländern berufen, regelmäßig nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren könnten, dies bei der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personengruppe in der Regel aber ohne weiteres möglich sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 35; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 31.08.2015 – L 3 AS 430/15 B – nicht veröffentlicht).

513

Bei Lektüre des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) fällt jedoch auf, dass der Aspekt einer unmöglichen oder unzumutbaren oder auch nur erschwerten Rückkehr in den Herkunftsstaat bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der gerügten Vorschriften des AsylbLG keine Rolle gespielt hat.Ausführlich behandelt wurde hingegen vor allem die Frage, inwiefern ein kurzfristiger Aufenthalt Abweichungen bei der Bedarfsbemessung zulässt (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 74). Es ist auch nicht erkennbar, dass das BVerfG in seinen Leitentscheidungen zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Ansätze für ein Differenzierungskriterium hinsichtlich der Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat formuliert hätte. Gerade das Urteil vom 18.07.2012 spricht eine deutlich andere Sprache (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 94):

514

„Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (…). Art. 1 Abs. 1 GG garantiert ein menschenwürdiges Existenzminimum, das durch im Sozialstaat des Art. 20 Abs. 1 GG auszugestaltende Leistungen zu sichern ist, als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht. Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten (…). Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.“

515

Unabhängig davon, dass sich den Entscheidungen des BVerfG selbst bislang kein Argument für die Auffassung entnehmen lässt, dass die dem Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) zu Grunde liegenden Prämissen für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis nicht gelten könnten, hält die vorgenommene Unterscheidung anhand des Kriteriums der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer näheren Überprüfung nicht stand. Weder setzt ein Anspruch nach § 1 AsylbLG stets voraus, dass die berechtigte Person nicht in den Herkunftsstaat zurückreisen kann oder ihr dies nicht zuzumuten ist, noch kann bei dem von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfassten Personenkreis eine solche Situation ausgeschlossen werden. Leistungen nach dem AsylbLG erhalten insbesondere auch vollziehbar ausreisepflichtige Personen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG). Hiervon können insbesondere Ausländer erfasst sein, die keinen Asylantrag gestellt, ihren Asylantrag zurückgenommen haben oder die nach Ablehnung ihres Asylantrags noch nicht ausgereist oder abgeschoben worden sind (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 1 AsylbLG, Rn. 13, Stand 01.04.2016). Dies kann aber auch grundsätzlich freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger nach einer Verlustfeststellung betreffen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 – L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 17). Sowohl von der Leistungsberechtigung nach § 1 AsylbLG (insbesondere nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) als auch vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II können Personen jeder Staatsangehörigkeit außer der deutschen erfasst sein. Das Differenzierungskriterium der sozialen oder politischen Lage in den jeweiligen Herkunftsstaaten ist für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zwischen nach § 1 AsylbLG leistungsberechtigten und nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen daher von vornherein nicht geeignet.

516

6.5 Unzutreffend ist auch die Auffassung, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht ausschließe, Leistungen nur insoweit vorzuhalten, wie es erforderlich sei, um einen Betroffenen in die Lage zu versetzen, dass er existenzsichernde Leistungen seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen könne und der Staat hierbei allenfalls gehalten sei, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung vorzuhalten (so aber LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22).

517

Hiergegen ist – abgesehen vom grundsätzlichen Einwand, dass der Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums weder von der Staatsangehörigkeit, noch vom rechtmäßigen Aufenthalt, noch von bestimmten Verhaltensweisen abhängen kann – einzuwenden, dass auf Grund der einander ergänzenden Ausschlussregelungen im SGB II und im SGB XII selbst der als notwendig angesehene Anspruch auf Reise- und Verpflegungskosten nicht besteht; allenfalls könnte auf Ermessensleistungen nach dem SGB XII zurückgegriffen werden. Selbst wenn man einen derartigen Anspruch für ausreichend zur Gewährleistung des Existenzminimums halten würde, wäre die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II somit nicht behoben. Darüber hinaus löst dieser Ansatz das Problem der Existenzsicherung für den Fall nicht, dass betroffene Personen tatsächlich nicht ausreisen, wozu sie auf Grund ihres Aufenthaltsrechts, welches eine Voraussetzung für den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II darstellt, schließlich nicht unmittelbar gezwungen werden können. Der elementare Lebensbedarf eines Menschen muss aber in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 72), so dass es mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums fundamental unvereinbar wäre, Menschen durch Vorenthaltung von existenzsichernden Leistungen faktisch zur Ausreise zu zwingen. Eine Pflicht zur Ausreise kann nur aufenthaltsrechtlich erzeugt und durchgesetzt werden.

518

6.6 Auch der Verweis auf den Nichtannahmebeschluss der 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 09.02.2001 (1 BvR 781/98) zu § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG in der Fassung vom 23.03.1994 (so z.B. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22) verfängt nicht (so bereits SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 20 f.). Zunächst handelte es sich bei dieser Entscheidung lediglich um einen Kammerbeschluss, der keine Bindungswirkung über den Einzelfall hinaus nach sich zieht. Im Unterschied zu § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sah die zur Überprüfung stehende Regelung auch keinen vollständigen Leistungsausschluss vor, sondern lediglich eine Beschränkung auf die “nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe”. Zudem stand den dort betroffenen Ausländern jedenfalls andernorts im Inland ein Leistungsanspruch zu, so dass sich der Staat seiner Gewährleistungspflicht auch hinsichtlich regulärer Leistungen nicht vollständig entzogen hatte. Aus heutiger Sicht wäre eine solche Regelung dennoch wohl unter dem Aspekt der mangelnden Bestimmtheit (s.o. unter I.9.3) als verfassungswidrig anzusehen. Es gibt letztlich keinen Grund für die Annahme, dass die genannte Entscheidung nach den Urteilen des BVerfG vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) und vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) noch den Stand der verfassungsrechtlichen Dogmatik wiedergibt (SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 21).

519

6.7 Die Auffassung, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoße, erweist sich nach alldem als unzutreffend. Praktisch wird von den diese Auffassung vertretenden Senaten der Landessozialgerichte sowie den Kammern der Sozialgerichte für ausreichend gehalten, dass die betroffenen Personen aus einem EU-Staat stammen, in den sie zurückkehren können (vgl. nur LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 und Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS 2358/15 B; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 38), wobei dies durch die den Leistungsausschluss konstituierende Regelung weder im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis noch im Hinblick auf die Rückkehrmöglichkeit vorausgesetzt wird.

520

Die Möglichkeit der dortigen Inanspruchnahme von Sozialleistungen und deren Niveau wird, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich geprüft und dann stets bejaht. Würde dieses Kriterium ernst genommen, wäre die Rechtslage im jeweiligen Herkunftsstaat deutlich genauer zu prüfen. Bei verbleibenden Zweifeln müssten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen zugesprochen werden.

521

Die genannte Auffassung läuft daher praktisch darauf hinaus, dass es dem Gesetzgeber jedenfalls nach deutschem Verfassungsrecht freistünde, alle ausländischen Staatsangehörigen von existenzsichernden Leistungen auszuschließen, die zumutbar in ihren Herkunftsstaat zurückreisen könnten. Es gäbe schließlich keinen Grund, weshalb der Gesetzgeber Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht auch oder sogar erst recht bei anderen Aufenthaltszwecken als dem der Arbeitsuche ausschließen dürfte. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums würde auf diese Weise auf ein Grundrecht für Deutsche, unter Umständen auch für Flüchtlinge und Asylberechtigte, reduziert.

522

Dem sind die klaren Ausführungen Kirchhofs führt zum (selbst mitverantworteten) Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) entgegenzuhalten (NZS 2015, S. 4):

523

„In der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz wurde nochmals klargestellt, dass die Menschenwürde nicht etwa nur Deutschen zukommt, sondern jeder Person, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhält. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt also nicht nur für „Hartz-IV-Bezieher“; es bleibt nicht bloßes Deutschen- oder Bürgerrecht. Ob Deutscher, Angehöriger eines Mitgliedstaates der EU oder Staatsangehöriger eines Drittstaates — Mensch ist man immer.

524

Es mag sein, dass soziale Leistungen dieser Art auf Personen aus ärmeren Ländern anziehende Wirkungen entfalten. Solange der deutsche Staat sie indessen auf seinem Territorium aufnimmt, beherbergt oder auch nur duldet, sind sie in diesem bescheidenen Umfang auch leistungsberechtigt. Vorwürfe, mit dieser Rechtsprechung würde der Zuzug nach Deutschland angeregt, übersehen, dass das Grundrecht auf eine Gewährleistung menschenwürdiger Existenz eine Folge zwingenden Verfassungsrechts ist, die einen Aufenthalt in Deutschland voraussetzt. Wer hier Anreizeffekte vermeiden will, müsste das eigentlich ursächliche Aufenthaltsrecht ändern. Dessen Konsequenz einer finanziellen Versorgung von Menschen, die nicht selbst ihren Lebensunterhalt bestreiten können, hängt völlig vom Aufenthalt in Deutschland ab; erst dann entfaltet das Menschenrecht seine Wirkung.“

525

Die oben zitierten Entscheidungen vieler Sozialgerichte und Landessozialgerichte stehen mithin in einem leicht zu erkennenden Widerspruch zum aktuellen Stand der durch das BVerfG entwickelten Grundrechtsdogmatik. Dieser Widerspruch wird jedoch nicht reflektiert und sodann offensiv unter Begründungsaufwand vertreten – was im Sinne einer diskursiven Zukunftsoffenheit der Verfassungsrechtsdogmatik legitim wäre –, sondern mit Hilfe einer selektiven und bisweilen sinnentstellenden Heranziehung von Versatzstücken der Judikatur des BVerfG und unter Behauptung einer Übereinstimmung mit dieser negiert. Dass auf diese Weise in großem Umfang und entgegen der Rechtsprechung des zuständigen Revisionsgerichts sogar im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die vorläufige Verpflichtung zur Erbringung existenzsichernder Leistungen abgelehnt wird, ist nicht zu rechtfertigen.

526

7. Die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wird nicht dadurch kompensiert, dass hiervon Betroffene wegen der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII einen Anspruch auf Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII haben könnten (s.o. unter I.10). Zwischen beiden Leistungssystemen besteht kein Zusammenhang in dem Sinne, dass unabhängig von den für verfassungswidrig gehaltenen Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB II ein Nachrangverhältnis bestünde, Betroffene also unabhängig von dem Leistungsausschluss im vorrangigen System hilfsweise auf das nachrangige System zurückgreifen könnten. Denn allein der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II führt wegen § 21 Satz 1 SGB XII zu einer Öffnung des Leistungssystems des SGB XII für den betroffenen Personenkreis. Es besteht daher kein logischer Vorrang der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII gegenüber derjenigen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

527

Würde dies anders gesehen, müsste allerdings geprüft werden, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch auf Grund eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung verfassungswidrig ist, soweit der betroffene Personenkreis bei Nichtigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dem SGB XII und nicht dem SGB II zugeordnet würde. Anhaltspunkte hierfür ergeben sich anhand der Heterogenität des vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreises einerseits und des nicht erfassten Personenkreises anderseits reichlich (s.o. unter 2.).

III.

528

Auch § 7 Abs. 5 SGB II verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG.

529

Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II (1) effektiv betroffene Personenkreis (2) erfüllt grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (3). Für diesen Personenkreis fehlt es an einem formell-gesetzlichen, hinreichend bestimmten Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (4). Die sich hieraus ergebende unterlassene Grundrechtsgewährleistung kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden (5).

530

1. § 7 Abs. 5 SGB II lautet:

531

„Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes oder der §§ 51, 57 und 58 des Dritten Buches dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.“

532

§ 7 Abs. 6 SGB II lautet:

533

„Absatz 5 findet keine Anwendung auf Auszubildende,

534

1. die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung oder aufgrund von § 60 des Dritten Buches keinen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe haben,

535

2. deren Bedarf sich nach § 12 Absatz 1 Nummer 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, nach § 62 Absatz 1 oder § 124 Absatz 1 Nummer 1 des Dritten Buches bemisst oder

536

3. die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund von § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.“

537

2. Vom Leistungsausschluss erfasst sind demnach Auszubildende, die eine nach dem BAföG oder nach den §§ 51, 57 und 58 SGB III dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolvieren und keinen der in § 7 Abs. 6 SGB II geregelten Ausnahmetatbeständen erfüllen. § 7 Abs. 6 SGB II greift bestimmte Fallkonstellationen auf, in denen Auszubildende dem Grunde nach keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung bzw. Berufsausbildungsförderung haben (Nr. 1), nur eine geringe Ausbildungsförderung erhalten (Nr. 2) oder wegen Erreichen der Altersgrenze keine Ausbildungsförderung gewährt bekommen (Nr. 3) (vgl. Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 308, Stand 14.03.2016), wobei jeweils weitere Voraussetzungen hinzukommen müssen. Umstritten, aber vorliegend nicht klärungsbedürftig ist die Frage, ob auch Personen vom Ausschluss erfasst sind, die gemäß § 122 SGB III Ausbildungsgeld unter entsprechender Anwendung der Vorschriften über die Berufsausbildungsbeihilfe erhalten (verneinendKador in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, § 122 Rn. 15, 5. Auflage 2013; bejahend BSG, Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 37/14 R – Rn. 18 m.w.N.; Treichel, NZS 2013, S. 805 ff.).

538

2.1 Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II greift bereits ein, wenn die betroffene Person eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolviert, unabhängig davon, ob sie Leistungen nach §§ 51, 57 oder 58 SGB III oder nach dem BAföG tatsächlich bezieht oder die persönlichen Voraussetzungen für eine Förderung erfüllt. Dies legt bereits der Wortlaut des § 7 Abs. 5 SGB II nahe, da das Bezugswort zum Terminus „dem Grunde nach förderungsfähig“ in § 7 Abs. 5 SGB II „Ausbildung“ und nicht etwa „Auszubildende“ ist. Zwar ließe sich auch mit dieser Formulierung isoliert betrachtet noch vereinbaren, wegen der Verwendung des Relativpronomens „deren“ zwischen „Auszubildende“ und „Ausbildung“ auf die Förderungsfähigkeit der konkreten Ausbildung abzustellen, allerdings ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang mit den Rückausnahmeregelungen in § 7 Abs. 6 Nr. 1 und Nr. 3 SGB II, dass der Leistungsausschluss abgesehen von den dort genannten Ausnahmefällen auch dann greift, wenn kein Anspruch auf Leistungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III besteht (so im Ergebnis auch BSG, Urteil vom 22.08.2012 – B 14 AS 197/11 R – Rn. 14; BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R – Rn. 17 m.w.N.; ausführlich mit Erläuterungen zur Systematik, Gesetzgebungsgeschichte und Sinn und Zweck: BSG, Urteil vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R – Rn. 20 ff.). Das Fehlen individueller Voraussetzungen für eine Förderung ist mithin unerheblich (vgl. auch Thie in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 7 Rn. 113; Wolff-Dellen in: Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 52, 3. Auflage 2011).

539

Es ändert sich somit nichts an der Förderungsfähigkeit der Ausbildung dem Grunde nach im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II, wenn Auszubildende (einschließlich Studierende) tatsächlich keinen Anspruch auf Leistungen nach dem BAföG haben, z.B. wegen mangelnder Eignung (§ 9 BAföG), wegen Überschreitens der Altersgrenze (§ 10 BAföG), bei Überschreiten der Förderungshöchstdauer (§ 15a BAföG) oder wegen des Fehlens der Voraussetzungen für die Förderung einer weiteren Ausbildung bei einem nach Maßgabe des Gesetzes unbegründeten Ausbildungs- und Fachrichtungswechsel (§ 7 Abs. 2, 3 BAföG). Die Ausbildung ausländischer Studierender ist im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II dem Grunde nach förderungsfähig, auch wenn sie tatsächlich keine Ausbildungsförderung erhalten, weil sie die in § 8 BAföG aufgeführten aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 297, Stand 14.03.2016). Entsprechendes gilt für Auszubildende, die eine nach §§ 51, 57 oder 58 SGB III förderungsfähige Ausbildung absolvieren und als Ausländer auf Grund der in § 59 Abs. 1 SGB III angeordneten entsprechenden Anwendung der Absätze 1, 2, 4 und 5 des § 8 BAföG (ausgenommen wiederum Fälle des § 59 Abs. 2, Abs. 3 SGB III), wegen bereits abgeschlossener Erstausbildung nach § 57 Abs. 2 Satz 2 SGB III oder wegen der vorzeitigen Lösung eines vorangegangenen Ausbildungsverhältnisses nach § 57 Abs. 3 SGB III keinen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe haben.

540

Der Leistungsausschluss betrifft demnach auch Personen, die keine Ausbildungsförderungsleistungen nach dem SGB III oder nach dem BAföG erhalten, unabhängig davon, ob und in welcher Höhe sie über Einkommen oder Vermögen verfügen.

541

2.2. Vom Leistungsausschluss ausgenommen sind gemäß § 27 Abs. 2 SGB II Mehrbedarfe bei Schwangerschaft (§ 21 Abs. 2 SGB II), für Alleinerziehende (§ 21 Abs. 3 SGB II), bei kostenaufwändiger Ernährung aus medizinischen Gründen (§ 21 Abs. 5 SGB II), bei unabweisbaren, laufenden, besonderen Bedarfen (§ 21 Abs. 6 SGB II) und der Sonderbedarf für Erstausstattungen für Bekleidung und bei Schwangerschaft und Geburt (§ 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II), soweit diese nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen gedeckt sind.

542

2.3 Nach näherer Maßgabe des § 27 Abs. 3 SGB II erhalten vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffene Auszubildende einen Zuschuss zu ihren ungedeckten, angemessenen Unterkunfts- und Heizungskosten, wenn sie Berufsausbildungsbeihilfe oder Ausbildungsgeld nach dem SGB III oder Leistungen nach dem BAföG beziehen oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht beziehen. Personen, die einem individuellen Leistungsausschlussgrund nach dem SGB III oder nach dem BAföG unterliegen, haben diesen Anspruch nicht.

543

2.4 Nach § 27 Abs. 4 SGB II können Personen, die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffen sind, bei Vorliegen einer besonderen Härte Leistungen als Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erbracht werden. Die Gewährung der Leistungen steht im Ermessen der Behörde. Zu der Frage, unter welchen Umständen eine „besondere Härte“ vorliegt, hat das BSG bislang drei Fallgruppen entwickelt (BSG, Beschluss vom 23.08.2012 – B 4 AS 32/12 B – Rn. 20):

544

- Es ist wegen einer Ausbildungssituation Hilfebedarf entstanden, der nicht durch BAföG oder Berufsausbildungsbeihilfe gedeckt werden kann und es besteht deswegen begründeter Anlass für die Annahme, dass die vor dem Abschluss stehende Ausbildung nicht beendet werden kann und das Risiko zukünftiger Erwerbslosigkeit droht.

545

- Die bereits weit fortgeschrittene und bisher kontinuierlich betriebene Ausbildung ist aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls wegen einer Behinderung oder Krankheit gefährdet.

546

- Eine nach den Vorschriften des BAföG förderungsfähige Ausbildung stellt objektiv belegbar die einzige Zugangsmöglichkeit zum Arbeitsmarkt dar.

547

2.5 Gemäß § 27 Abs. 5 SGB II können unter den Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 SGB II (Sicherung der Unterkunft oder Behebung einer vergleichbaren Notlage) nach Ermessen der Behörde Schulden übernommen werden.

548

3. Die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personen sind Grundrechtsträger und können hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne sein.

549

Es handelt sich um Menschen (s.o. unter I.7.1), die sich, um von § 7 Abs. 5 SGB II überhaupt betroffen sein zu können, in Deutschland tatsächlich aufhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und im einfachrechtlichen Sinne hilfebedürftig sein (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) müssen. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ schließt den regelmäßigen tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland (s.o. unter I.7.2) logisch mit ein.

550

Die Grundrechtsrelevanz der Regelung wird nicht dadurch beseitigt, dass in Folge von Freibetrags- und Ausnahmeregelungen bei der Berücksichtigung von Einkommen und Schonvermögensregelungen auch Personen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen und vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II betroffen sein können, deren Existenzsicherung nicht akut gefährdet ist, bei denen der Leistungsausschluss also nicht mit einer individuellen Grundrechtsverletzung einhergeht. Denn der Leistungsausschluss betrifft jedenfalls auch Personen, die ihr materielles Existenzminimum nicht aus eigener Kraft sichern können und deshalb im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind (s.o. unter II.3).

551

Irrelevant ist auch der Umstand, dass vom Leistungsausschluss durch Einbeziehung von nach § 58 SGB III förderungsfähigen Ausbildungen auch Personen erfasst sind, die sich zumindest zeitweise im Ausland aufhalten und in dieser Zeit die (verfassungsrechtliche) Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Aufenthalts im Inland nicht erfüllen (s.o. unter I.7.2). In vielen Fällen dürften die betroffenen Personen bereits mangels gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben.

552

4. Für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personenkreis fehlt es bereits an einem formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.2). In Folge dessen ist § 7 Abs. 5 SGB II verfassungswidrig.

553

4.1 Nach der die zweite Vorlagefrage betreffenden Regelung des § 7 Abs. 5 SGB II besteht kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die hierfür vorgesehenen Ausnahmeregelungen sind für einen erheblichen Teil des betroffenen Personenkreises nicht einschlägig.

554

4.1.1 Die obligatorischen Ausnahmereglungen des § 7 Abs. 6 SGB II gelten nur für die dort aufgeführten Lebenssituationen.

555

4.1.2 Die Leistungen nach § 27 Abs. 2 SGB II decken nur Mehrbedarfe, nicht jedoch den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Sie sind daher evident nicht dazu geeignet, das Existenzminimum zu gewährleisten. Leistungen nach § 27 Abs. 3 SGB II sind lediglich ergänzend zu Leistungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III zu erbringen. Die Personen, die von den Leistungsausschlusstatbeständen des BAföG oder des SGB III betroffen sind, profitieren hiervon nicht.

556

4.1.3 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist auch nicht deshalb gewahrt, weil das Gesetz in § 27 Abs. 4 SGB II die Möglichkeit vorsieht, dass bei Vorliegen einer besonderen Härte Leistungen als Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erbracht werden können.

557

Die nach 27 Abs. 4 SGB II bestehende Möglichkeit, in besonderen Härtefällen Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu erhalten, stattet den betroffenen Personenkreis nicht mit dem verfassungsrechtlich geforderten formell-gesetzlichen Anspruch aus, weil der zuständigen Behörde ein Ermessen nicht nur über Art und Höhe, sondern auch über das „Ob“ der Leistung eingeräumt wird (s.o. unter I.9.2 und unter I.9.3).

558

Auf Grund der Verwendung des (besonders) unbestimmten Rechtsbegriffs der „besondere(n) Härte“ (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 20 ff.; BSG, Urteil vom 01.07.2009 – B 4 AS 67/08 R – Rn. 17 ff.; BSG, Beschluss vom 23.08.2012 – B 4 AS 32/12 B – Rn. 20) als Leistungsvoraussetzung und der Einräumung von Ermessen ist diese Vorschrift zudem wegen ihrer nicht ausreichenden Bestimmtheit zur verfassungskonformen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ungeeignet (s.o. unter I.9.3). Auf Grund der Verwendung des Begriffspaares „besondere Härte“ lässt sich keine hinreichend sichere Verbindung zwischen einer gesetzgeberischen Entscheidung zur Einräumung eines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zur Umsetzung in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis ziehen. Es zeigt sich gerade in der Verwendung dieser Begriffe, dass eine flächendeckende Gewährleistung des Existenzminimums für den betroffenen Personenkreis nicht Ziel der Regelung ist.

559

4.2 Kompensationsmöglichkeiten in anderen Leistungssystemen bestehen nicht.

560

a) Auf Leistungen nach dem SGB XII kann bereits deshalb nicht zurückgegriffen werden, weil der betroffene Personenkreis – anders als im Falle des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nicht im Sinne des § 21 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II betrifft nur die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne der §§ 19 ff. SGB II (exklusive Mehrbedarfe und ggf. Beiträge). Für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem 1. Abschnitt des 3. Kapitels gilt der Leistungsausschluss nicht (so auch Wolff-Dellen in Löns/Herold-Tews, § 7 Rn. 54, 3. Auflage 2011). Die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personen sind demnach dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II und in Folge dessen gemäß § 21 Satz 1 SGB XII von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII ausgeschlossen.

561

Im Übrigen ist für die Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ein gleichgerichteter Ausschlusstatbestand enthalten. Ein wesentlicher Unterschied zum SGB II besteht hier nur insofern, als gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII in besonderen Härtefällen Leistungen auch als Beihilfe und nicht nur als Darlehen erbracht werden können.

562

b) Leistungen der Ausbildungsförderung nach dem BAföG und Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe dem SGB III erhalten nur diejenigen Personen, die eine förderungsfähige Ausbildung absolvieren und keinen individuellen Ausschlusstatbestand erfüllen (s.o. unter 2.1). In Fällen des Anspruchsausschlusses wegen bereits abgeschlossener Erstausbildung (§ 57 Abs. 2 SGB III) oder der vorzeitigen Lösung eines vorangegangenen Ausbildungsverhältnisses (§ 57 Abs. 3 SGB III) besteht nur unter weiteren Voraussetzungen die Möglichkeit, Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe im Ermessenswege zu erbringen.

563

5. Die durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II unterbliebene Grundrechtsverwirklichung und die somit verfassungsrechtlich defizitäre Gestaltung einfachen Rechts, kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

564

5.1 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht eingeschränkt werden, denn es gewährleistet gerade das Mindestmaß dessen, was jeder Mensch beanspruchen kann. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Unverfügbarkeit resultiert aus der Fundierung des Grundrechts in der Menschenwürdegarantie (zum Ganzen s.o. unter I.6). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen oder Unterlassungen, so dass jeder mögliche sachliche Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Einschränkung hieraus resultierender Ansprüche entfällt.

565

a) Gesetzliche Leistungsausschlüsse dem Grunde nach – wie in § 7 Abs. 5 SGB II geregelt – bei Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht erfüllen, sind deshalb per se verfassungswidrig und einer Rechtfertigung von vornherein nicht zugänglich. Dementsprechend kann eine derartige Einschränkung auch nicht auf Zumutbarkeitserwägungen oder Verhältnismäßigkeitsprüfungen gleich welcher Art gestützt werden. Eine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG besteht nicht.

566

Hieraus folgt, dass das einfache Recht Leistungsausschlüsse nur in Fällen vorsehen darf, in denen mindestens eine der (neben dem Menschsein) zwei Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht nicht vorliegt, also kein Aufenthalt im Inland gegeben ist (s.o. unter I.7.2) und/oder keine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne vorliegt (s.o. unter I.7.3). Leistungseinschränkungen sind bei Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen nur zulässig, soweit auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung, der gesetzlichen Fixierung des konkreten Leistungsanspruchs, im Vergleich zu den gesetzlich ausformulierten Mindestanforderungen ein quantitativer oder qualitativer Spielraum besteht, der eine tragfähig begründbare Differenzierung erlaubt.

567

Auf der ersten Ebene der Grundrechtskonkretisierung kommt eine Differenzierung nur auf Grund abweichender Bedarfslagen in Betracht (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73; s.o. unter I.9.4). Das hiernach bestimmte Existenzminimum muss jedoch auch dann durch staatliche Sozialleistungen gewährleistet werden, wenn bestehende Selbsthilfemöglichkeiten (z.B. Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) tatsächlich nicht genutzt werden, gleich aus welchem Grund.

568

b) Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personenkreis können alle Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gegeben sein. Sie halten sich – definitionsgemäß, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II – im Inland auf und sind im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, was Fälle der Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3) notwendig einschließt. Die Regelung ist daher – unabhängig davon, dass in Einzelfällen eine individuelle Grundrechtsverletzung auch fehlen kann – verfassungswidrig.

569

5.2 Der zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II regelmäßig angeführte Zweck, eine (verdeckte) Ausbildungsförderung durch Leistungen nach dem SGB II zu verhindern, insbesondere unter Umgehung der dortigen Anspruchsvoraussetzungen und der unter Umständen niedrigeren Leistungshöhe (BSG, Urteil vom 19.08.2010 – B 14 AS 24/09 R – Rn. 15; BSG, Urteil vom 22.08.2012 – B 14 AS 197/11 R – Rn. 13; BSG, Urteil vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R – Rn. 21; BSG, Urteil vom 17.02.2016 – B 4 AS 2/15 R – Rn. 23; vgl. auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 12.02.2010 – L 1 SO 84/09 – Rn- 38; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.06.2013 – L 2 AS 1518/12 – Rn. 26) ist nicht geeignet, den Leistungsausschluss zu legitimieren. Die hierin zum Ausdruck kommenden bildungspolitischen Zielsetzungen mögen als solche legitim sein und zu hochschul- oder berufsbildungsrechtlichen Maßnahmen berechtigen, sie stehen aber nicht in einem inhaltlich-argumentativen Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Die Ausbildungsförderungssysteme des SGB III und des BAföG sind nicht so ausgestaltet, dass sie allen hilfebedürftigen Auszubildenden einen Leistungsanspruch zur Verfügung stellten, der zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs geeignet wäre.

570

Es ist kein verfassungsrechtliches Argument ersichtlich, weshalb bestimmten Personen allein auf Grund dessen, dass sie eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, kein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zustehen sollte, gilt dies doch im Übrigen für alle hilfebedürftigen Menschen, die sich tatsächlich im Inland aufhalten (s.o. unter I.7). Das immer weder vorgebrachte Argument, keine zweite Ebene der Ausbildungsförderung durch Fürsorgeleistungen schaffen zu wollen, lenkt den Blick auf die von den betroffenen Personen ausgeübten Aktivitäten und vernachlässigt deren sonstige Lebensumstände. Hierzu trägt die missverständliche Rede vom „ausbildungsgeprägten Bedarf“ (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.07.1994 – 5 B 25/94 – Rn. 5 f. m.w.N.) bei, der auch den allgemeinen Lebensunterhalt umfassen soll, obwohl dieser tatsächlich im Wesentlichen nicht wegen der Ausbildung, sondern auf Grund fundamentaler menschlicher Bedürfnisse gedeckt werden muss. Die durch das Existenzsicherungsgrundrecht zu sichernden grundlegenden Bedürfnisse des Menschen bestehen unabhängig davon, welchen Aktivitäten die betroffene Person konkret nachgeht.

571

Hinter den Rechtfertigungsversuchen mag die Befürchtung stehen, dass ein Leben am materiellen Existenzminimum, aber mit vergleichsweise breitem Zugang zu Bildung und sozialer Teilhabe, wie es dem Hochschulstudium zugeschrieben wird, für so viele Menschen attraktiv sein könnte, dass sich hieraus entweder ein Ressourcenverteilungsproblem insbesondere an Hochschulen ergeben oder Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an Stelle des Studiums oder an Stelle einer nicht bedarfsdeckenden Ausbildung zu gering werden könnten. Unabhängig von der Plausibilität solcher Erwägungen wären hierin zum Ausdruck kommende staatliche oder kollektive Interessen aber von vornherein nicht dazu geeignet, Einschränkungen des unverfügbaren individuellen Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu rechtfertigen.

572

5.3 Das Argument, dass es den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II Betroffenen regelmäßig zumutbar sei, ihre Ausbildung oder ihr Studium abzubrechen, um den Leistungsausschlussgrund zu beseitigen, taugt zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bereits deshalb nicht, weil das Grundrecht nicht unter einer Einschränkungsbefugnis steht.

573

Der Ausbildungsabbruch stellt keine Selbsthilfemöglichkeit dar, so dass es auf dessen Zumutbarkeit nicht ankommt. Durch den Abbruch der Ausbildung oder des Studiums wird die Hilfebedürftigkeit weder beseitigt noch verringert. Gerade die in Folge des Abbruchs bei Wegfall des Ausschlusstatbestands zu erbringende existenzsichernde Sozialleistung belegt nicht den Wegfall der Hilfebedürftigkeit, sondern ist die leistungsrechtliche Konsequenz ihres Fortbestehens.

574

Der Ausbildungsabbruch kann im Einzelfall sogar zu einer Vergrößerung der Hilfebedürftigkeit führen, wenn beispielsweise eine nicht bedarfsdeckende, aber bedarfsmindernde Ausbildungsvergütung gezahlt wird oder eine nicht bedarfsdeckend vergütete Nebentätigkeit rechtlich oder tatsächlich mit dem Studierendenstatus verknüpft ist.

575

Durch den Ausbildungsabbruch selbst erschließen sich den betroffenen Personen auch nicht notwendigerweise andere Selbsthilfeoptionen, beispielsweise durch Arbeitsangebote. Derartige Selbsthilfeoptionen sind zudem nicht zwangsläufig mit einem Abbruch der Ausbildung oder des Studiums verbunden (z.B. Nebentätigkeiten). Ob die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung oder an Stelle der Ausbildung möglich und zumutbar ist, um die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen oder zu verringern, ist eine hiervon zu unterscheidende Frage, die nach der aktuellen Gesetzeslage im Zusammenhang mit der Verhängung von Sanktionen relevant werden könnte (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II). Allein die für sich genommen plausible Annahme, dass die Durchführung einer Ausbildung oder eines Studiums im Einzelfall ein psychologisches Hindernis für die Aufnahme einer bedürftigkeitsverringernden Erwerbstätigkeit sein kann, ist nicht dazu geeignet, eine Rechtfertigung dafür zu bieten, allen abstrakt sich in einer solchen Situation befindlichen Personen keine existenzsichernden Leistungen zu gewähren.

576

Demzufolge ist auch der Hinweis des BVerfG auf die in § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II geregelte Obliegenheit für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 13), nicht zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses geeignet.

577

5.4 Die in den Nichtannahmebeschlüssen des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) weiter geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 - 1 BvR 886/11 - Rn. 13), obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsehen, stellt daher einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der zuerst im Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik dar. Es lässt sich den Entscheidungsbegründungen nicht entnehmen, inwiefern die zur Voraussetzung der Gewährung existenzsichernder Leistungen gemachte Verhaltenserwartung des Abbruchs der Ausbildung oder des Studiums mit der behaupteten Unverfügbarkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sein könnte. Es ist auch auf Grund dieser Beschlüsse des BVerfG nicht ersichtlich, weshalb allein der Umstand, dass eine Person eine abstrakt förderungsfähige, aber konkret nicht geförderte Ausbildung durchführt, die Vorenthaltung von Leistungen zur Gewährung des Existenzminimums rechtfertigen können sollte.

578

Soweit das BVerfG darauf abstellt, § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. konkretisiere den Nachrang gegenüber vorrangigen besonderen Sozialleistungssystemen zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Gesetzgeber gehe im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, dass das menschenwürdige Existenzminimum, soweit eine durch die Ausbildung bedingte Bedarfslage entstanden sei, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III zu decken sei (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 22), vermag dies nicht zu überzeugen. Unter einer nachrangigen Leistung ist eine Leistung zu verstehen, die nur dann zum Zuge kommt, wenn eine vorrangige Leistung nicht greift (vgl. § 104 SGB X und § 2 Abs. 1 SGB XII; zum Begriff und zur Wiederherstellung des Nachrangs in SGB XII und SGB II vgl. Kunkel in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, 3. Auflage 2012, S. 91 ff., und Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, 3. Auflage 2012, S. 263 ff.). In § 7 Abs. 5 SGB II ist hingegen geregelt, dass eine Leistung unabhängig davon nicht erbracht wird, ob eine anderweitige Leistungspflicht tatsächlich besteht. Deshalb geht auch das Argument des 4. Senats des BSG fehl, es sollten nicht mehrere Träger zur Deckung ein und desselben Bedarfes zuständig sein (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 18).

579

In diesem Sinne nachrangig sind die Leistungen nach dem SGB II hingegen beispielsweise im Verhältnis zu Leistungen nach dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG), nicht jedoch im Verhältnis zu Leistungen nach dem BAföG (vgl. Thie in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 7 Rn. 112).

580

Warum es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, dass der Gesetzgeber von der – für bestimmte Fallgruppen offensichtlich unzutreffenden – Annahme ausgehe, dass das menschenwürdige Existenzminimum vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG bzw. nach dem SGB III zu decken sei, erörtert das BVerfG nicht näher.

581

Mit dem Verweis auf eine denkbare Verletzung der teilhaberechtlichen Dimension des Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 23 f.BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 14) lässt sich weder die fehlende Existenzsicherung rechtfertigen, noch eine Beschränkung der verfassungsrechtlichen Prüfung auf die jeweiligen Ausschlussvorschriften im BAföG bzw. im SGB III begründen. Es ist kein rechtssystematischer Grund dafür ersichtlich, warum eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bei Auszubildenden und Studierenden allein in Folge der Wirkung von Ausschlussvorschriften im BAföG oder im SGB III eintreten können sollte und nicht gleichfalls durch Ausschlussvorschriften im SGB II oder im SGB XII. Der Ausschluss von Leistungen wegen der Durchführung einer abstrakt förderungsfähigen Ausbildung im SGB II (oder im SGB XII) steht normhierarchisch auf einer Ebene mit dem Ausschluss von Leistungen beispielsweise wegen der Überschreitung der Altersgrenze im BAföG. Beide führen gleichermaßen dazu, dass zur Existenzsicherung grundsätzlich geeignete Leistungen nicht gewährt werden. Ein logisches Rangverhältnis zwischen beiden die Verfassung (möglicherweise) verletzenden Vorschriften besteht nicht, so dass kein Grund dafür erkennbar ist, nur eine von beiden Ausschlussvorschriften unter dem Blickwinkel des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einer verfassungsrechtlichen Prüfung zu unterziehen. Dies gilt unabhängig davon, dass der Verfassungsverstoß durch verschiedene Maßnahmen beseitigt werden könnte (s.o. unter I.10).

582

5.5 Auch das Argument, dass, wenn jemand eine Ausbildung betreibt, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung einer Ausbildung vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfüllt, es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung handele, die nicht die Konsequenz haben könne, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieser Ausbildung Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach einem System (SGB II) zu gewähren (BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 28/06 R – Rn. 29), ist zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses nicht geeignet.

583

In diesem Argument kommt der Sache nach nichts Anderes zum Ausdruck, als die unzutreffende Vorstellung, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einschränkbar sei. Denn erst hierdurch würde die Möglichkeit eröffnet, bestimmte Verhaltensweisen von Betroffenen, die nicht unmittelbar ihre Bedürftigkeit oder deren Überwindung betreffen, zum Gegenstand von Ausschlussregelungen zu machen. Eine derartige Einschränkung ist mit der aus der Menschenwürdegarantie abgeleiteten Annahme der Unverfügbarkeit des Grundrechts nicht vereinbar. Würde die zitierte Auffassung des BSG zutreffen, könnten Leistungsausschlüsse an jegliches unerwünschte Verhalten des Betroffenen anknüpfen, sofern hierin eine „selbst zu verantwortende Entscheidung“ erblickt werden kann und mit dem Ausschluss irgendwelche politischen Zwecke verfolgt werden. Dabei ist die Aufnahme oder Fortführung einer Ausbildung oder eines Studiums für sich genommen nicht einmal eine besonders verwerfliche oder vorwerfbare Handlung. Der hieraus resultierende Leistungsausschluss steht vielmehr sogar in einem gesetzlichen Zielkonflikt mit der sanktionsbewehrten Obliegenheit der Leistungsberechtigten, eine zumutbare Ausbildung aufzunehmen oder fortzuführen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II).

584

Bei einer Verallgemeinerung der genannten Auffassung würden die Grundrechtsträger exakt zu jener Verhandlungsmasse der Staats- und Gemeinschaftszwecke, die die Fundierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Art. 1 Abs. 1 GG eigentlich verhindern soll (s.o. unter I.5.2).

585

6. Aus dem Umstand, dass der Leistungsausschluss an den Tatbestand nach anderen Leistungssystemen förderungsfähiger Ausbildungen anknüpft, folgt im Übrigen nicht, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Ausschlussregelungen nur in den dortigen Systemen zu prüfen wäre. Die dortigen Ausschlussgründe stehen nicht in einem bestimmten Rangverhältnis zum Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II (s.o. unter I.10 und unter 5.4).

IV.

586

Die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II sind zur Überzeugung der Kammer auf Grund des Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verfassungswidrig (s.o. unter II und III). Auf die Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II kommt es im vorliegenden Verfahren an (s.o. unter A.IV). Das Gericht hat das Verfahren daher nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG über die Gültigkeit der Vorschriften einzuholen.

C.

587

Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

(1) Der Erfüllung der in § 1 genannten Aufgaben dienen die nachfolgenden sozialen Rechte. Aus ihnen können Ansprüche nur insoweit geltend gemacht oder hergeleitet werden, als deren Voraussetzungen und Inhalt durch die Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs im einzelnen bestimmt sind.

(2) Die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs dürfen nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. September 2010 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Februar 2008 geändert, soweit der Beklagte zur Nachzahlung von mehr als 32,70 Euro monatlich an die Klägerin zu 1 verurteilt worden ist.

Im Übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Höhe der bei der Klägerin zu 1 zu berücksichtigenden Regelleistung im Rahmen der zu erbringenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 1.6.2006 bis zum 30.11.2006.

2

Die 1983 geborene Klägerin zu 1 ist die Mutter der 2000 und 2001 geborenen Klägerinnen zu 2 und 3. Im streitigen Zeitraum lebte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Vater der Klägerinnen zu 2 und 3, in einer Wohnung in Hamburg. Die Klägerin zu 1 erzielte monatliche Einnahmen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 165 Euro, die Klägerinnen zu 2 und 3 verfügten über Einkommen aus Kindergeld in Höhe von monatlich jeweils 154 Euro. Der Ehemann der Klägerin zu 1 erhielt Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe von monatlich 199,40 Euro zuzüglich anteiliger Unterkunftskosten.

3

Bei der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für den streitgegenständlichen Zeitraum legte die Rechtsvorgängerin des beklagten Jobcenters bei der Klägerin zu 1 eine Regelleistung in Höhe von 311 Euro, entsprechend 90 % der Regelleistung, zugrunde. Unter Berücksichtigung eines Bedarfes für die Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich jeweils 175,12 Euro sowie des Kindergeldes und eines anzurechnenden Erwerbseinkommens der Klägerin zu 1 in Höhe von monatlich 52 Euro ermittelte sie den Leistungsanspruch der Klägerin zu 1 mit 459,30 Euro und der Klägerinnen zu 2 und 3 mit jeweils 215,33 Euro monatlich (Bescheid vom 15.5.2006).

4

Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 12.10.2006) begehrten die Klägerinnen mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht (SG) die Berechnung der Ansprüche auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Ansatz einer ungekürzten Regelleistung bei der Klägerin zu 1. Das SG hat der Klage stattgegeben.

5

Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 2.9.2010 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte verurteilt wurde, den Klägerinnen unter Abänderung des Bescheides vom 15.5.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2006 für die Zeit vom 1.6.2006 bis zum 30.11.2006 monatliche Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 34 Euro nachzuzahlen, wobei auf die Klägerin zu 1 33,12 Euro und auf die Klägerinnen zu 2 und 3 jeweils 0,44 Euro entfielen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Vorschrift des § 20 Abs 3 SGB II, wonach zwei volljährige Partner jeweils 90 vH der Regelleistung erhalten sollen, passe nicht auf Bedarfsgemeinschaften, in denen ein volljähriger Partner Leistungen nach dem SGB II, der andere aber lediglich Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhalte. Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut. Die Festlegung eines Betrags von insgesamt 180 vH der Regelleistung setze voraus, dass beide Partner Leistungen nach dem SGB II erhielten. Hinsichtlich gemischter Bedarfsgemeinschaften gebe es eine Regelungslücke, die nicht im Wege der analogen Anwendung des § 20 Abs 3 SGB II zu schließen sei, weshalb die Klägerin zu 1 einen Anspruch auf die ungekürzte Regelleistung habe.

6

Das LSG hat in seinem Urteil die Revision zugelassen, die der Beklagte eingelegt hat.

7

Er ist der Ansicht, die gesetzgeberische Absicht, unterstellte Einsparungen von zusammen wirtschaftenden Partnern gegenüber Alleinstehenden bei der Höhe des Regelsatzes zu berücksichtigen, gelte auch für Partner, die selbst keine Leistungen nach dem SGB II erhielten. Weder das SGB II oder Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) noch das AsylbLG normierten einen Anspruch aller Familienangehörigen auf Gewährung familieneinheitlicher existenzsichernder Leistungen. Daraus ergebe sich, dass sich der jeweilige individuelle Anspruch eines Leistungsbeziehers innerhalb seines Leistungssystems errechne. Im Übrigen führe eine Erhöhung der Regelleistung bei der Klägerin zu 1 faktisch zu einer Erhöhung der Leistungen für den Ehemann, dies bedeute eine ungerechtfertigte Privilegierung ua gegenüber anderen Leistungsbeziehern nach dem AsylbLG.

8

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Februar 2008 und des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. September 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

9

Die Klägerinnen beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

10

Sie halten die angegriffenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

11

Die rechtzeitig eingelegte und auch ansonsten zulässige Revision des Beklagten (§§ 160, 164 Sozialgerichtsgesetz) ist im Wesentlichen unbegründet. Das LSG hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht verurteilt, den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1.6.2006 bis zum 30.11.2006 Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung der vollen Regelleistung bei der Klägerin zu 1 in Höhe von damals 345 Euro zu zahlen.

12

1. Das beklagte Jobcenter ist gemäß § 70 Nr 1 SGG beteiligtenfähig. Bei dem Jobcenter (§ 6d SGB II idF des Gesetzes vom 3.8.2010, BGBl I 1112) handelt es sich um eine gemeinsame Einrichtung (§ 44b Abs 1 Satz 1 SGB II, ebenfalls idF des Gesetzes vom 3.8.2010), die mit Wirkung vom 1.1.2011 kraft Gesetzes entstanden ist und im Laufe des gerichtlichen Verfahrens als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisher beklagten Arbeitsgemeinschaft (vgl § 76 Abs 3 Satz 1 SGB II) tritt. Dieser kraft Gesetzes eingetretene Beteiligtenwechsel wegen der Weiterentwicklung der Organisation des SGB II stellt keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung dar. Das Passivrubrum war daher von Amts wegen zu berichtigen (vgl dazu insgesamt Bundessozialgericht Urteil vom 18.1.2011 - B 4 AS 99/10 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 5).

13

Die Klägerinnen zu 2 und 3 werden als nicht prozessfähige Minderjährige (§ 71 Abs 1 und 2 SGG) durch die Klägerin zu 1 vertreten, die die elterliche Sorge allein ausübt (§ 1629 Abs 1 Satz 3 Bürgerliches Gesetzbuch; vgl BSG Urteil vom 2.7.2009 - B 14 AS 54/08 R - BSGE 104, 48 = SozR 4-1500 § 71 Nr 2 RdNr 21).

14

2. Streitgegenstand des Verfahrens sind Ansprüche der Klägerinnen auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende, die der Beklagte mit Bescheid vom 15.5.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.10.2006 bewilligt hat.

15

3. Die Klägerin zu 1 erfüllt nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) als 1983 geborene erwerbsfähige hilfebedürftige deutsche Staatsangehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, die Klägerinnen zu 2 und 3 gehören der Bedarfsgemeinschaft über § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II an. Aufgrund der Verteilungsregelung des § 9 Abs 1 und Abs 2 Satz 3 SGB II profitieren die Klägerinnen zu 2 und 3 dabei auch von einer Erhöhung der Regelleistung bei der Klägerin zu 1. Diese hat einen Anspruch auf Berücksichtigung der vollen Regelleistung in Höhe von seinerzeit 345 Euro aus der analogen Anwendung des § 20 Abs 2 SGB II in der bis zum 30.6.2006 gültigen Fassung. Die maßgebliche hier anzuwendende Gesetzesfassung ergibt sich aus der Übergangsregelung des § 68 Abs 1 SGB II idF des Änderungsgesetzes vom 24.3.2006 (BGBl I 558). Danach war die neue Gesetzesfassung erst für Bewilligungszeiträume anzuwenden, die ab dem 1.7.2006 begannen. Da sich der Bewilligungszeitraum vorliegend vom 1.6.2006 bis 30.11.2006 erstreckte, war - anders als es das LSG getan hat - noch das Gesetz in der vorangegangenen Fassung anzuwenden, in der ua der Begriff "Angehörige" statt "Partner" verwendet wird. Die Prüfung der unzutreffenden Gesetzesfassung wirkt sich aber nicht aus, weil die Änderungen für die hier zu treffende Entscheidung ohne Bedeutung sind.

16

§ 20 Abs 2 SGB II in der maßgeblichen Fassung ist allerdings nicht direkt anzuwenden(dazu unter a). Die vorhandene Lücke ist auch nicht durch § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II zu schließen(dazu unter b). Der Anspruch der Klägerin zu 1 ergibt sich im Ergebnis aus der analogen Anwendung des § 20 Abs 2 SGB II(dazu unter c).

17

a) Gemäß § 20 Abs 2 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung(vgl oben) beträgt die monatliche Regelleistung für Personen, die alleinstehend oder alleinerziehend sind oder deren Partner minderjährig ist, in den alten Bundesländern einschließlich Berlin (Ost) 345 Euro, in den neuen Bundesländern 331 Euro (der letzte Satzteil wurde zum 1.7.2006 aufgehoben). Einer direkten Anwendung dieser Norm steht ihr Wortlaut entgegen. Die Interpretation des Begriffs "alleinstehend" in § 20 Abs 2 SGB II in dem Sinne "ohne Partner mit Leistungsbezug nach dem SGB II" kommt nicht in Betracht. Dem steht bereits die grundsätzlich nicht nach persönlicher Anspruchsberechtigung differenzierende gesetzliche Definition der Bedarfsgemeinschaft gemäß § 7 Abs 3 SGB II entgegen. Die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft zwischen Partnern wird unabhängig davon bestimmt, ob die einbezogene Person selbst leistungsberechtigt nach dem SGB II ist (vgl Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 7 RdNr 57). Die Ansprüche auch der Mitglieder einer mehrköpfigen Bedarfsgemeinschaft sind im SGB II als Individualansprüche ausgeformt. Ein familieneinheitlicher Leistungsanspruch ist im Gesetz nicht angelegt, wie die Kodifikation von Leistungsausschlüssen für Altersrentner und der Vorrang der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII vor dem Sozialgeld zeigen (§ 28 Abs 1 Satz 1 SGB II). Der Gesetzgeber hat bewusst in Kauf genommen, dass innerhalb einer Familie unterschiedlich geartete Existenzsicherungsansprüche bestehen (vgl BSG Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 66/08 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 14).

18

b) Die bestehende Regelungslücke kann entgegen der Ansicht des Beklagten nicht im Wege einer direkten (dazu unter aa) oder analogen (dazu unter bb) Anwendung des § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II geschlossen werden mit dem Ergebnis, dass die Klägerin zu 1 nur 90 vH der Regelleistung erhalten würde. Dem stehen Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Norm entgegen.

19

aa) Nach § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung beträgt die Regelleistung bei zwei Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, jeweils 90 vH der Regelleistung nach Abs 2. Bereits in der damaligen Fassung waren Partnerschaftsregelsätze gemeint (vgl dazu Lang in Eicher/Spellbrink, SGB II, 1. Aufl 2005, § 20 RdNr 98), obwohl der Begriff "Angehörige" erst in der ab 1.7.2006 geltenden Fassung durch "Partner" ersetzt wurde. Die Verwendung des Begriffs "jeweils" im Zusammenhang mit der Bestimmung der anteiligen Regelleistung von 90 vH kann in diesem Zusammenhang nur so verstanden werden, dass beide Partner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beanspruchen können, die rechnerisch bei der Bedarfsermittlung in Höhe von insgesamt 180 vH anzusetzen sind.

20

Diese Auslegung entspricht der Begründung des Entwurfs des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (vgl BT-Drucks 15/1516 S 56). Danach sollte durch § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II klargestellt werden, dass die Regelleistung für zwei Angehörige der Bedarfsgemeinschaft, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, jeweils 90 vH beträgt. Die Norm zielt damit auf die einheitliche Bemessung der Regelleistung für den genannten Fall. Es sollte dadurch berücksichtigt werden, dass Frauen in Paarbeziehungen in der Regel nicht als Haushaltsvorstand gelten und daher ohne Durchschnittsermittlung nur die geringere Regelleistung von 80 vH für sonstige erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft erhalten würden. Durch die "90 vH-Regelung" wird der in § 1 Abs 1 Satz 3 SGB II enthaltene gesetzgeberische Wille umgesetzt, wonach die Gleichstellung von Mann und Frau als durchgängiges Prinzip zu verfolgen ist. Nach Verzicht des Gesetzgebers auf die Figur des Haushaltsvorstands (vgl BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 6/06 R - BSGE 97, 211 = SozR 4-4200 § 20 Nr 2, RdNr 19)werden dem Wortlaut nach zwei volljährige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft bei Berücksichtigung identischer (Regel-)Bedarfe auch gleich behandelt. Die Gleichartigkeit der Bedarfe lässt sich auf zwei volljährige Angehörige (Partner) der Bedarfsgemeinschaft, die Leistungen nach dem SGB II beziehen können, also dem Grunde nach Anspruchsberechtigte sind, herabbrechen (vgl BSG Urteil vom 16.10.2007 - B 8/9b SO 2/06 R - BSGE 99, 131 = SozR 4-3500 § 28 Nr 1, RdNr 13).

21

Andere Personengruppen, die ihren Lebensunterhalt ebenfalls nicht aus eigener finanzieller Kraft decken können, stehen zB Leistungen nach dem SGB XII oder dem AsylbLG zur Verfügung. Ziel des SGB II ist aber nur die Sicherung des Lebensunterhalts für nach dem SGB II leistungsberechtigte Personen. Dementsprechend kann § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II grundsätzlich nur Konstellationen erfassen, in denen beide volljährige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft dem Leistungssystem des SGB II unterfallen. Eine analoge Anwendung von § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II auf nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige, die mit Partnern in einer Bedarfsgemeinschaft leben, kommt jedoch, wie das BSG bereits entschieden hat(vgl BSG Urteil vom 16.10.2007 - B 8/9b SO 2/06 R - BSGE 99, 131 = SozR 4-3500 § 28 Nr 1, RdNr 19), bei einer Anspruchsberechtigung nach dem SGB XII in Betracht. Im Fall einer "gemischten Bedarfsgemeinschaft" zwischen einem Leistungsberechtigten nach dem SGB II mit einem nach dem SGB XII leistungsberechtigten Partner sind die Regelungen nach dem SGB XII lückenhaft. Auf gemischte Bedarfsgemeinschaften, in denen kein Anspruch auf jeweils 90 vH der Regelleistung nach § 20 Abs 2 SGB II besteht, wie dies bei der hier vorliegenden Bedarfsgemeinschaft zwischen einem nach SGB II Leistungsberechtigten und einem Leistungsberechtigten nach § 3 AsylbLG der Fall ist, ist dagegen § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II nicht anwendbar.

22

bb) Die genannte Norm ist auch nicht entsprechend heranzuziehen. Eine analoge Anwendung eines Gesetzes auf gesetzlich nicht umfasste Sachverhalte kommt nur in Betracht, wenn die Regelung wegen der Gleichheit der zugrunde liegenden Interessenlage auch den nicht geregelten Fall hätte einbeziehen müssen. Wegen der Vorrangigkeit des gesetzgeberischen Willens gegenüber der richterlichen Rechtsetzung ist für eine Analogie schon dann kein Raum, wenn es nur zweifelhaft erscheint, ob die verglichenen Sachverhalte nicht doch derart unterschiedlich sind, dass durch eine Gleichstellung die gesetzliche Wertung in Frage gestellt würde (BSG Urteil vom 27.1.1987 - 6 RKa 28/86 - BSGE 61, 146, 147 = SozR 2200 § 368h Nr 4).

23

Nach der Konzeption des SGB II sollen Asylbewerber und ausreisepflichtige geduldete Personen als Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten. Der Gesetzgeber hat mit dem AsylbLG für den betroffenen Personenkreis ein besonderes Sicherungssystem geschaffen, das eigenständige und abschließende Regelungen zur Sicherung des Lebensunterhalts enthält (vgl BT-Drucks 15/1516 S 52). Systemprägend im Asylbewerberleistungsrecht ist die konkret-individuelle Bedarfsdeckung durch Sachleistungen (§ 3 Abs 1 Satz 3 AsylbLG; vgl Frerichs in jurisPK-SGB XII, § 3 AsylbLG RdNr 30). Wegen der Abhängigkeit vom konkreten Bedarf des Leistungsberechtigten lässt sich ein der pauschalierten Regelleistung vergleichbarer monatlicher Wert der Leistungen nicht feststellen. Selbst wenn - wie im vorliegenden Fall - die Hilfe nach dem AsylbLG als Geldleistung gewährt wird, führt dies nicht zu einer Vergleichbarkeit der Regelungen des SGB II und des AsylbLG. Dies folgt daraus, dass die Beträge des § 3 Abs 2 Satz 2 AsylbLG weder mit noch ohne Taschengeld gemäß § 3 Abs 1 Satz 4 AsylbLG einen im Vergleich zum SGB II identischen Prozentsatz abbilden. Eine Gleichbehandlung von zwei nach dem SGB II leistungsberechtigten Partnern mit zwei Partnern, von denen einer nach dem AsylbLG anspruchsberechtigt ist, entspricht dem gesetzgeberischen Gesamtkonzept erkennbar nicht.

24

c) Im Ergebnis folgt der Anspruch der Klägerin zu 1 auf die Berücksichtigung der vollen Regelleistung aus der analogen Anwendung des § 20 Abs 2 SGB II, denn die wirtschaftliche Situation des Leistungsberechtigten nach dem SGB II, der mit einem Leistungsberechtigten nach § 3 AsylbLG zusammenlebt, ist mit derjenigen eines Leistungsberechtigten vergleichbar, der alleinstehend ist oder dessen Partner jedenfalls nicht in den Genuss der vollen Regelleistung für Erwachsene kommt.

25

Die Regelleistung (jetzt: Regelbedarf, vgl Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011, BGBl I 453) im Rahmen des Arbeitslosengeldes II bildet das soziokulturelle Existenzminimum der insoweit als Referenzsystem für alle bedarfsorientierten und bedürftigkeitsabhängigen staatlichen Fürsorgeleistungen fungierenden Sozialhilfe ab (BT-Drucks 15/1516 S 56). Zwar vermeidet das SGB II die Verwendung des Begriffs "Eckregelsatz" als Bezugspunkt, der Sache nach ist § 20 Abs 2 SGB II aber nichts anderes(vgl Lang, aaO, § 20 RdNr 78). § 20 Abs 2 SGB II ist ebenso wie der Eckregelsatz im SGB XII Ausgangspunkt für die Ableitung der Regelleistungen der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II bzw der Haushaltsgemeinschaft nach dem SGB XII für den Fall, dass diese dem jeweiligen Leistungssystem unterfallen(vgl Begründung des Entwurfs der Regelsatzverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 12.3.2004, BR-Drucks 206/04 S 6). Von diesem "Eckregelsatz" abgeleitete Prozentsätze rechtfertigen sich in der durch § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II zugrunde gelegten Lebenssituation, in der beide Partner gleichwertige Existenzsicherungsleistungen erhalten. Ist ein Lebenssachverhalt dagegen nicht unter § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II zu subsumieren, ist auf § 20 Abs 2 SGB II als Grundtatbestand für die Erbringung pauschalierter existenzsichernder Leistungen zu regelleistungsrelevanten Bedarfen iS des § 20 Abs 1 SGB II abzustellen.

26

§ 20 Abs 2 SGB II ist auch aus der Erwägung heraus anwendbar, dass durch die gesetzlichen Regelungen in § 20 SGB II mit der Kombination von 100 vH und 80 vH des Regelsatzes bzw jeweils 90 vH des Regelsatzes der Gesichtspunkt der Berücksichtigung von Haushaltsersparnissen betont wird. Die Annahme, dass durch eine gemeinsame Haushaltsführung Kosten erspart werden, setzt die Vergleichbarkeit der in den Bedarfen angesetzten Positionen voraus. Eine solche Vergleichbarkeit besteht zwischen SGB II-Leistungen und den Grundleistungen nach dem AsylbLG schon deshalb nicht, weil in dem genannten Rahmen nur Leistungen miteinander vergleichbar sind, die von dem Konzept pauschalierter, also abstrakter Bedarfsdeckung ausgehen, während dem AsylbLG - wie dargestellt - das Sachleistungsprinzip zugrunde liegt.

27

4. Entgegen der Auffassung des Beklagten führt die Berücksichtigung einer nach § 20 Abs 2 SGB II bemessenen Regelleistung für die Klägerin zu 1 auch nicht zu einer ungerechtfertigten Besserstellung deren Ehemannes gegenüber anderen Grundleistungsberechtigten nach dem AsylbLG. Der Ehemann hat dadurch keinen höheren Leistungsanspruch. Weder das SGB II noch das AsylbLG kennen einen Gesamtleistungsanspruch der Bedarfsgemeinschaft. Die Klägerinnen sind auch nicht verpflichtet, den Ehemann der Klägerin zu 1 an ihren höheren Leistungsansprüchen teilhaben zu lassen. Aus der Verklammerung von Personen zu Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft im SGB II entstehen keinerlei Rechtsansprüche der zusammen veranlagten Personen auf Unterhaltsleistungen (vgl BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 51/09 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 23).

28

Der Beklagte hat daher grundsätzlich bei der Klägerin zu 1 die volle Regelleistung zu berücksichtigen. Auf seine Revision hin war das angefochtene Urteil nur insoweit zu korrigieren, als das LSG die Rundungsregelung des § 41 Abs 2 SGB II nicht beachtet hat. Die Endzahlbeträge der errechneten Leistungen sind getrennt nach den Individualansprüchen der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu runden (vgl BSG Urteil vom 19.3.2008 - B 11b AS 23/06 R - SozR 4-4200 § 24 Nr 3 RdNr 25; Urteil vom 6.5.2010 - B 14 AS 2/09 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 15 RdNr 13). Da die Revision nur von dem Beklagten eingelegt wurde, ist eine Tenorierung zugunsten der Klägerinnen zu 2 und 3 ausgeschlossen. Für die Klägerin zu 1 ergibt sich hingegen ein Auszahlungsbetrag in Höhe von 492 Euro. Das Urteil des LSG ist daher dahingehend zu ändern, dass lediglich weitere 32,70 Euro monatlich zu zahlen sind.

29

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 15. Februar 2013 teilweise aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 19,75 Euro zu zahlen.

Im Übrigen wird die Revision wegen des Zinsanspruches zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Rückzahlung eines Erstattungsbetrages.

2

Die Klägerin lebte mit ihrem damaligen Lebensgefährten und ihren beiden minderjährigen Kindern in einer Bedarfsgemeinschaft. Die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erhielten im Zeitraum vom 1.6.2008 bis 30.11.2008 Leistungen nach dem SGB II.

3

Mit dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.10.2008 wurde die Leistungsbewilligung für die Klägerin in Höhe von 19,75 Euro aufgehoben und die Erstattung des Betrages verlangt. Nach einer Mahnung durch das Hauptzollamt erstattete der Lebensgefährte der Klägerin den geforderten Betrag im Zeitraum vor dem 5.8.2009.

4

Am 17.10.2011 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 23.10.2008. Daraufhin hob der Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mit dem Bescheid vom 13.12.2011 auf. Eine Rückzahlung des fraglichen Betrages erfolgte nicht.

5

Die Klägerin hat beim SG Klage auf Rückzahlung des Erstattungsbetrages erhoben. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15.2.2013). Es hat zur Begründung ausgeführt, die Klage sei als sog echte Leistungsklage zulässig. Der Umstand, dass der Lebensgefährte der Klägerin der Rückzahlungspflicht nachgekommen sei, berühre das Leistungsverhältnis zwischen den Beteiligten nicht. Vielmehr bleibe die Klägerin gegenüber dem Beklagten aktiv legitimiert. Der geltend gemachte Zahlungsanspruch stehe der Klägerin unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu. Dem Klagebegehren stehe § 40 Abs 1 SGB II in der seit 1.4.2011 geltenden Fassung iVm § 44 Abs 4 SGB X entgegen. Mit Rücksicht auf die Stellung des Antrages am 17.10.2011 gelte die kürzere Jahresfrist des § 40 Abs 1 S 2 SGB II. Danach habe der Beklagte den Überprüfungsantrag bereits wegen Verfristung ablehnen müssen. Aus dem Umstand, dass der Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13.12.2011 aufgehoben habe, ergebe sich ein Anspruch ebenfalls nicht. Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin könne - nachdem der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid aufgehoben worden sei - nur der letzte Bewilligungsbescheid sein. Für die Nachzahlung von Sozialleistungen gelte die Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X ohne Weiteres. Habe der Leistungsberechtigte bereits erhaltene Sozialleistungen erstattet und werde der Rückforderungsbescheid aufgehoben, begehre er erneut die Auszahlung von Sozialleistungen. Der geltend gemachte Anspruch sei auch nicht als Herstellungsanspruch oder öffentlich-rechtlicher Bereicherungsanspruch begründet.

6

Die Klägerin hat die vom SG zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Auffassung, sie habe aus den Grundsätzen des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs einen Anspruch auf die Zahlung. § 44 Abs 4 SGB X schränke allenfalls die nachträgliche Erbringung von Sozialleistungen ein. Bei der Rückabwicklung rechtsgrundloser Zahlungen handele es sich schon nicht um Sozialleistungen. Des Weiteren erbringe der Grundsicherungsträger die Leistungen nicht nachträglich.

7

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Cottbus vom 15. Februar 2013 zu verurteilen, an die Klägerin 19,75 Euro nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Sprungrevision (§ 161 SGG) der Klägerin ist im Wesentlichen begründet.

11

Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass die Klägerin ihr Begehren auf Rückzahlung des Erstattungsbetrages mit der echten Leistungsklage verfolgen kann (§ 54 Abs 5 SGG). Zwar ist richtige Klageart im Rahmen eines Zugunstenverfahrens bei der Überprüfung einer rechtswidrigen Leistungsablehnung grundsätzlich die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (BSG SozR 4-1300 § 44 RdNr 9; BSG vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R - NZS 2013, 518, jeweils mwN). Hier war jedoch die Besonderheit zu beachten, dass der Beklagte auf den Antrag der Klägerin nach § 44 SGB X mit dem Bescheid vom 13.12.2011 den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.10.2008 bereits aufgehoben hat und damit dem Anfechtungs- und Verpflichtungsbegehren der Klägerin insoweit nachgekommen ist. Dieser Bescheid enthielt jedoch keine Regelung zur Frage der Rückgewähr des Erstattungsbetrages. Einer zusätzlichen Anfechtung des Ablehnungsbescheides und eines auf die Rücknahme der belastenden Entscheidung gerichteten Verpflichtungsantrages sowie einer Nachholung des Leistungsverfahrens bedurfte es daher ausnahmsweise nicht.

12

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf (Rück-)Zahlung von 19,75 Euro ist § 44 SGB X. Der Anwendbarkeit dieser Vorschrift für die Vergangenheit stehen im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende - wie der erkennende Senat bereits ausdrücklich entschieden hat - keine über die gesetzlich normierten Einschränkungen hinausgehenden Besonderheiten des SGB II entgegen (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 36).

13

1. Die Klägerin war zur Geltendmachung des Rückzahlungsbetrages materiell berechtigt. Hieran ändert sich nichts dadurch, dass nach den Feststellungen des SG der damalige Lebensgefährte der Klägerin den von dem Beklagten auf der Grundlage des § 50 SGB X geforderten Erstattungsbetrag an diesen überwiesen hatte. Die Zahlung erfolgte allein mit Rücksicht auf das zwischen der Klägerin und dem Beklagten bestehende Sozialrechtsverhältnis und ist deshalb allein in diesem Verhältnis rückabzuwickeln. Eine andere Beurteilung könnte sich nur ergeben, wenn die Klägerin den hier streitigen Rückzahlungsanspruch wirksam an ihren früheren Lebensgefährten abgetreten hätte.

14

2. Nach dem Wortlaut des § 44 Abs 1 S 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder - hier nicht von Interesse - Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Zutreffend ist der Beklagte zunächst davon ausgegangen, dass diese Regelung entsprechende Anwendung findet, soweit mit einem Aufhebungsbescheid eine Leistungsbewilligung zurückgenommen worden ist. Die entsprechende Anwendung folgt - wie der 11. Senat des BSG überzeugend ausgeführt hat (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 19; ebenso BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 21 und 24; BVerwGE 97, 103, 107) - aus dem Regelungszweck der Vorschrift, die nicht nur Fälle erfasst, in denen den Betroffenen ein rechtlicher Nachteil durch unrechtmäßiges Vorenthalten einer Sozialleistung entstanden ist, sondern auch solche, in denen der Bürger zwar Sozialleistungen erhalten hat, die Leistungsbewilligung nachträglich jedoch zurückgenommen worden ist. Dieser Rechtsprechung, der die Literatur überwiegend gefolgt ist (Baumeister in jurisPK-SGB X, 2013, § 44 RdNr 65; Schütze in von Wulffen/Schütze, 8. Aufl 2014, § 44 RdNr 16 f; Waschull in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 44 RdNr 22; aA Steinwedel in KassKomm, § 44 RdNr 42, Stand September 2013), schließt sich der Senat an.

15

Der Senat geht davon aus, dass der Anspruch auf Rückzahlung des Betrages in Höhe von 19,75 Euro allein daraus folgt, dass der Beklagte den ursprünglichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid zurückgenommen und damit die Rechtsgrundlage für das Behaltendürfen des Erstattungsbetrages beseitigt hat. Ob der Beklagte den ursprünglichen - auf § 45 SGB X gestützten - Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.10.2008 zu Recht wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit zurückgenommen hat, weil die Voraussetzungen des § 44 SGB X erfüllt waren, brauchte vom Senat im Übrigen nicht geprüft zu werden, weil der Beklagte den fraglichen Bescheid bereits aufgehoben hat.

16

Zu der Aufhebung wäre der Beklagte zwar ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt, die rückwirkende Gewährung des Betrages sei nach § 44 Abs 4 SGB X iVm § 40 Abs 1 S 2 SGB II ausgeschlossen, nicht verpflichtet gewesen. Denn das BSG hat die Regelung des § 44 Abs 4 S 1 SGB X über ihren engen Wortlaut hinaus dahin ausgelegt, dass bereits die Rücknahme des belastenden Verwaltungsaktes bei Eingreifen der "Verfallklausel" des § 44 Abs 4 SGB X "schlechthin" ausgeschlossen ist(BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 1; BSG SozR 3-6610 Art 5 Nr 1). Die Verwaltung hat dementsprechend schon eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs 1 SGB X nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für eine Zeit betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist liegen. Die zwingend anzuwendende Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X steht folglich für länger zurückliegende Zeiten bereits dem Erlass eines Rücknahme- und Ersetzungsaktes entgegen. In anderem Falle darf die Verwaltung einen den Anspruch nach § 44 SGB X vollziehenden Verwaltungsakt nicht erlassen(BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 1 S 3), denn bereits die Rücknahme steht unter dem Vorbehalt, dass Leistungen nach § 44 Abs 4 SGB X noch zu erbringen sind(so etwa BSG vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R - RdNr 10).

17

Aus dieser Begrenzung der Rücknahmeverpflichtung dürfte andererseits im Umkehrschluss folgen, dass die Verwaltung zur Anwendung der zwingend anzuwendenden Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X verpflichtet bleibt, wenn sie den beanstandeten Verwaltungsakt ungeachtet einer etwaig eingreifenden Verfallfrist zurückgenommen hat. Hierbei ist hinsichtlich des Vollzugs des Rückzahlungsanspruchs nicht auf den ursprünglichen Bewilligungsbescheid zurückzugreifen. Denn der Anspruch auf die durch Verwaltungsakt zugesprochenen SGB II-Leistungen war von dem Beklagten durch Zahlung erfüllt (§ 362 BGB). Der bereits erfüllte Sozialleistungsanspruch lebt durch die Rücknahme der Aufhebungsentscheidung nicht wieder auf.

18

Hat die Verwaltung einen rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakt zurückgenommen, so ergibt sich der Rückzahlungsanspruch unmittelbar aus § 44 Abs 4 S 1 SGB X. Diese Vorschrift ist vom BSG - soweit nicht eine länger zurückliegende Zeit betroffen ist - als zwingend anzuwendende Vollzugsregelung angesehen worden (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 1 S 3 mwN). Die genannte Regelung verpflichtet die zuständige Behörde nach der Rücknahme eines Verwaltungsaktes zur Erbringung der bisher vorenthaltenen Leistungen. Sie folgt der dem SGB X zugrundeliegenden Unterscheidung von der Korrektur des Verfügungssatzes von Verwaltungsakten einerseits (§§ 44 bis 49 SGB X) und dem Vollzug der Korrektur in finanzieller Hinsicht andererseits (§ 44 Abs 4, § 50 SGB X; vgl zu dieser Unterscheidung BSGE 61, 134, 156 f = SozR 1300 § 48 Nr 32). Diesem systematischen Konzept entspricht es, die Korrektur des Verfügungssatzes jeweils unmittelbar mit dem finanziellen Ausgleich zu verkoppeln und eine nochmalige Prüfung der Aufhebungsvoraussetzungen bei der finanziellen Korrektur auszuschließen (so zum Verhältnis von § 48 Abs 1 SGB X und § 50 SGB X: BSG 1300 SozR § 50 Nr 16).

19

3. Der Senat kann dies aber im Ergebnis dahinstehen lassen, denn die Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme des Aufhebungsbescheides und zur Erstattung des Rückzahlbetrages war ohnehin nicht durch die Verfallfristen § 44 Abs 4 SGB X iVm § 40 Abs 1 S 2 SGB II ausgeschlossen. Nach § 44 Abs 4 S 1 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme eines Verwaltungsaktes erbracht, wenn der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Der Zeitraum der Rücknahme wird von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (Abs 4 S 2). Für die Berechnung tritt nach S 3 an die Stelle der Rücknahme der Antrag, wenn dieser zur Rücknahme führt. Diese Regelungen werden durch § 40 Abs 1 S 2 SGB II in der Weise modifiziert, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt. § 40 Abs 1 S 2 SGB II ist nach der Übergangsregelung in § 77 Abs 13 SGB II - hier mit Rücksicht auf den am 17.10.2011 gestellten Antrag nicht einschlägig - nicht anwendbar auf Anträge nach § 44 SGB X, die vor dem 1.4.2011 gestellt worden sind (zu den Gründen für die Übergangsregelung Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, § 77 RdNr 30, Stand 10/11; S. Knickrehm/Hahn in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 77 RdNr 27).

20

Eine entsprechende Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X iVm § 40 Abs 1 S 2 SGB II auf die vorliegende Gestaltung scheidet allerdings aus, denn Voraussetzung für die Anwendbarkeit der genannten Regelung ist stets, dass infolge der unrichtigen Entscheidung Sozialleistungen nicht erbracht worden sind(BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 19; vgl auch schon BSGE 68, 180 = SozR 3-1300 § 44 Nr 1). Der Senat folgt auch insoweit der überzeugenden Entscheidung des 11. Senats des BSG (SozR 3-1300 § 44 Nr 19), der eine Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X ausgeschlossen hat, soweit eine Erstattungsforderung des Leistungsträgers gegen einen Leistungsbezieher über eine bestimmte Geldsumme streitig ist. Danach rechtfertigt es insbesondere der Zweck der Vorschrift nicht, sie auch auf Fälle auszudehnen, in denen es nicht um rückwirkend zu erbringende Sozialleistungen geht. Denn der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift lediglich die materiell-rechtliche Begrenzung rückwirkender Leistungsansprüche prinzipiell für vier Jahre regeln (BT-Drucks 8/2034 S 34). Die analoge Übertragung der Regelung auf die Rücknahme von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden scheitert deshalb daran, dass ein dem geregelten nicht vergleichbarer Sachverhalt zu beurteilen ist. Denn die Klägerin fordert nicht die rückwirkende Gewährung von Sozialleistungen, sondern die Rückzahlung eines zu Unrecht geleisteten Erstattungsbetrages.

21

Die vom 11. Senat des BSG entwickelten Grundsätze sind auf die vorliegende Gestaltung übertragbar. Zwar unterscheidet sich der hier zu entscheidende Fall - worauf das SG zu Recht hingewiesen hat - von demjenigen Sachverhalt, der der Entscheidung des 11. Senats zugrunde lag, dadurch, dass die Verwaltung den Leistungsberechtigten wegen einer Geldforderung aus dem ursprünglichen Rücknahmebescheid noch aktuell in Anspruch genommen hatte. Hingegen war der im vorliegenden Verfahren streitige Erstattungsbetrag in Höhe von 19,75 Euro an den Beklagten bereits gezahlt worden, sodass es um die Rückgewähr dieses Geldbetrages geht. Hieraus folgt jedoch keine anderweitige Bewertung der Interessenlage. Vielmehr geht es auch in der vorliegenden Gestaltung um das rechtliche Schicksal einer von der Behörde rechtswidrig geltend gemachten Erstattungsforderung. Ausschlaggebend ist insoweit, dass derjenige rechtstreue Leistungsberechtigte, der eine von der Behörde geltend gemachte rechtswidrige Erstattungsforderung beglichen hat, im Ergebnis nicht schlechter stehen kann, als wenn diese Zahlung unterblieben wäre. Zudem greift unabhängig von der Frage der auf der Grundlage des § 50 SGB X durch den Leistungsberechtigten erfolgten Erstattung in beiden Konstellationen die Grundüberlegung für die Beschränkung des § 44 Abs 4 SGB X, dass laufende Sozialleistungen wegen ihres Unterhaltscharakters nicht für einen längeren Zeitraum nachgezahlt werden sollen(BT-Drucks 8/2034 S 34; vgl auch Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 44 RdNr 28; aA Baumeister in jurisPK-SGB X, 2013, § 44 RdNr 113, der auf die Schaffung von Rechtssicherheit abstellt), nicht ein. Die Nachzahlung von rechtswidrig vorenthaltenen Sozialleistungen kann dem Einbehalten von rechtswidrig erlangten Erstattungsbeträgen wertungsmäßig nicht gleichgestellt werden.

22

4. Die Revision ist jedoch hinsichtlich der begehrten Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Zinsen seit Rechtshängigkeit unbegründet; insoweit erfolgte die Klageabweisung zu Recht. Bei dem geltend gemachten Anspruch auf Rückgewähr des ursprünglich an den Beklagten gezahlten Erstattungsbetrages handelt es sich nicht um eine Geldleistung iS des § 44 Abs 1 SGB I. Unter Geldleistung im Sinne der Regelung über die Verzinsung von Ansprüchen im SGB sind grundsätzlich nur Sozialleistungen zu verstehen (vgl nur Hänlein in KSW, 3. Aufl 2013, § 44 RdNr 2; Wagner, jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 44 RdNr 14 jeweils mwN). Nicht ausreichend ist insoweit, dass der Rückzahlung des Erstattungsbetrages ursprünglich die Gewährung von Sozialleistungen zugrunde lag. Der Klägerin kann auch kein Anspruch auf Verzugs- (§ 288 BGB) oder Prozesszinsen (§ 291 BGB) zugebilligt werden. Ein derartiger Anspruch kommt jedenfalls nicht in Betracht, wenn der Hauptanspruch nicht nach § 44 SGB I zu verzinsen ist(vgl nur BSGE 71, 72 = SozR 3-7610 § 291 Nr 1 zu einem Anspruch auf Rückerstattung von vom Arbeitgeber zu Unrecht erstattetem Arbeitslosengeld).

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24. April 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungs-verfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) für die Zeit vom 1.1.2007 bis 30.6.2009.

2

Am 22.8.2011 beantragte der 1997 geborene Kläger rückwirkend ab 1.1.2007 bis 30.6.2009 höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Frist für die Nachzahlung von Leistungen nach § 44 Abs 4 SGB X sei durch Einfügen des § 116a Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) auch für das Asylbewerberleistungsrecht auf ein Jahr begrenzt worden. Für Leistungen nach § 2 AsylbLG sei das SGB XII entsprechend anzuwenden, sodass Nachzahlungen nur noch für die Zeit ab 1.1.2010 möglich seien (Bescheid vom 16.9.2011; Widerspruchsbescheid vom 23.9.2011).

3

Die hiergegen erhobene Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24.4.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, einer Überprüfung des streitbefangenen Zeitraums stehe § 116a SGB XII entgegen, wonach für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes § 44 Abs 4 SGB X mit der Maßgabe gelte, dass anstelle des (Nachzahlungs-)Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr trete, gerechnet von Beginn des Jahres an, in dem der Antrag gestellt worden sei. Diese Regelung sei nach § 136 SGB XII auf Überprüfungsanträge anzuwenden, die ab dem 1.4.2011 gestellt worden seien. Zwar finde sich keine § 116a SGB XII entsprechende Regelung im AsylbLG, die Vorschrift sei aber wegen einer planwidrigen Lücke im Gesetz analog anzuwenden.

4

Mit seiner Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 4 SGB X. Danach seien rechtswidrig vorenthaltene Leistungen für bis zu vier Jahre rückwirkend nachzuzahlen. § 116a SGB XII, der die Frist auf ein Jahr verkürze, sei nicht analog auf Leistungen nach dem AsylbLG anwendbar. Dem Gesetzgebungsverfahren zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch lasse sich entnehmen, dass der Gesetzgeber bewusst auf eine Verkürzung der Frist von vier Jahren bei den Überprüfungsanträgen nach § 44 SGB X für diesen Bereich verzichtet habe, sodass es an einer planwidrigen Regelungslücke mangele. Es fehle auch eine vergleichbare Interessenlage, weil Anträge nach § 44 SGB X nicht nur die Erhöhung der Leistungsgewährung auf die Regelsätze nach dem SGB XII, sondern auch die Überprüfung der Leistungsgewährung nach §§ 1a und 3 AsylbLG beträfen.

5

Der Kläger hat sinngemäß schriftsätzlich beantragt,
das Urteil des SG und den Bescheid vom 16.9.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.9.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Rücknahme entgegenstehender Verwaltungsakte für die Zeit vom 1.1.2007 bis 30.6.2009 höhere Leistungen zu zahlen.

6

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Sprungrevision (§ 161 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz) ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Kläger hat schon deshalb keinen Anspruch auf rückwirkend zu gewährende höhere Leistungen für den streitbefangenen Zeitraum, weil er seinen Überprüfungsantrag erst im August 2011 gestellt hat und § 116a SGB XII der rückwirkenden Leistungsgewährung entgegensteht.

9

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 16.9.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.9.2011 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, dem Kläger unter Aufhebung entgegenstehender bestandskräftiger Bescheide rückwirkend höhere Leistungen nach dem AsylbLG zu zahlen. Gegen diesen wendet sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4 SGG, § 56 SGG(BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 9; BSG, Urteil vom 20.12.2012 - B 7 AY 4/11 R - RdNr 10), auf die auch bei Anwendung des § 44 SGB X ein Grundurteil nach § 130 Abs 1 SGG ergehen kann (BSGE 88, 299, 300 = SozR 3-4300 § 137 Nr 1 S 2; BSG SozR 4-3520 § 3 Nr 3 RdNr 10; BSG, Urteil vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R - RdNr 9).

10

Gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 1 SGB X(zur Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Asylbewerberleistungsrecht vgl: BSGE 104, 213 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22)ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Einer Entscheidung darüber, ob dem Kläger in der Zeit vom 1.1.2007 bis zum 30.6.2009 Leistungen zu Unrecht vorenthalten wurden und die insoweit ergangenen Bescheide rechtswidrig waren (§ 44 Abs 1 SGB X), bedarf es nicht. § 44 Abs 1 SGB X zielt im Ergebnis auf die Ersetzung des rechtswidrigen Verwaltungsakts, mit dem eine (höhere) Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, durch einen die (höhere) Leistung gewährenden Verwaltungsakt ab. Einem Antragsteller, der über § 44 Abs 4 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten kann, kann regelmäßig kein rechtliches Interesse an der Rücknahme iS von § 44 Abs 1 SGB X zugebilligt werden. Die Unanwendbarkeit der "Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X" steht dann einer isolierten Rücknahme entgegen(BSGE 104, 213 ff RdNr 22 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; BSGE 68, 180 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 1). So liegt der Fall hier. Selbst im Falle der Rechtswidrigkeit bestandskräftiger Bescheide über Leistungen nach dem AsylbLG könnten höhere Leistungen rückwirkend allenfalls für die Zeit ab 1.1.2010 erbracht werden, die nicht streitbefangen ist; insoweit ist § 116a SGB XII analog im Asylbewerberleistungsrecht anzuwenden.

11

Zu Unrecht vorenthaltene Leistungen nach dem AsylbLG werden zwar gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 4 SGB X längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgten Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes erbracht; dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs 4 Satz 2 SGB X). Erfolgt die Rücknahme - wie hier - auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag. Die 4-Jahresfrist verkürzt sich aber für Anträge, die - wie hier - nach dem 31.3.2011 gestellt wurden, in entsprechender Anwendung des die Regelung des § 44 Abs 4 SGB X modifizierenden § 116a SGB XII iVm dem bis 31.12.2012 geltenden § 136 SGB XII(jeweils in der Normfassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 - BGBl I 453) auf ein Jahr, sodass angesichts der im August 2011 erfolgten Antragstellung keine für den streitbefangenen Zeitraum zu Unrecht vorenthaltenen Leistungen mehr zu erbringen sind. Wann ein bestandskräftiger Bescheid über die Ablehnung von Leistungen nach dem AsylbLG für den streitbefangenen Zeitraum - ausdrücklich durch förmlichen Verwaltungsakt oder konkludent (dazu BSG, Urteil vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R- RdNr 9) - ergangen ist, ist für die Anwendung des § 44 Abs 1 iVm Abs 4 SGB X ohne Bedeutung.

12

§ 116a SGB XII ist im Zusammenhang mit § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 SGB X analog anzuwenden, weil das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch durch das Unterlassen einer Änderung in § 9 Abs 3 AsylbLG eine planwidrige Regelungslücke enthält, die durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen ist(Greiser in juris PraxisKommentar SGB XII, § 116a SGB XII RdNr 21 ff). Eine direkte Anwendung des § 116a SGB XII scheidet hingegen aus. Zwar werden Leistungen nach § 2 AsylbLG in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht (§ 2 Abs 1 AsylbLG); jedoch betrifft diese Regelung nach ihrem Wortlaut ("abweichend von §§ 3 bis 7"), gleich ob sie eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverweisung enthält(offengelassen in BSGE 101, 49 ff RdNr 14 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2), nur das Leistungsrecht des AsylbLG. Deshalb bedarf es für eine direkte Anwendung der den Zeitraum des § 44 Abs 4 SGB X von vier auf ein Jahr verkürzenden Regelung eines besonderen Anwendungsbefehls, der in § 9 Abs 3 AsylbLG aber nicht enthalten ist. § 9 Abs 3 AsylbLG sieht selbst (noch) keine Modifikation des § 44 Abs 4 SGB X vor.

13

Eine Analogie, die Übertragung einer gesetzlichen Regelung - hier des § 116a SGB XII - auf einen Sachverhalt, der von der betreffenden Vorschrift nicht erfasst wird, ist geboten, wenn dieser Sachverhalt mit dem geregelten vergleichbar ist und nach dem Grundgedanken der Norm und damit dem mit ihr verfolgten Zweck dieselbe rechtliche Bewertung erfordert(BSG SozR 3-2500 § 38 Nr 2 RdNr 15). Daneben muss eine (unbewusste) planwidrige Regelungslücke vorliegen (BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN; BSGE 77, 102, 104 = SozR 3-2500 § 38 Nr 1 S 3; BSGE 89, 199, 202 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 95 f mwN). Diese Voraussetzungen liegen vor.

14

Die zu regelnden Sachverhalte sind nicht nur im Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II, dort § 40 Abs 1 Satz 2) und im SGB XII, für die die Jahresbegrenzung eingefügt worden ist, sondern auch im AsylbLG in diesem Sinn gleichartig. Das SGB II, das SGB XII und das AsylbLG sind Existenzsicherungssysteme, die alle das Ziel haben, den Leistungsberechtigten ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen (§ 1 Abs 1 SGB II; § 1 Abs 1 Satz 1 SGB XII; BT-Drucks 12/4451 Satz 1 und 3, wonach die fürsorgerischen Gesichtspunkte der Leistungen an Asylbewerber durch das AsylbLG gewahrt bleiben). Ebenso ist allen drei Existenzsicherungssystemen gemeinsam, dass die gewährten Leistungen einen aktuellen Bedarf bei aktueller Hilfebedürftigkeit decken sollen (sog Aktualitätsgrundsatz, vgl nur Pattar in Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl 2013, S 136) und nicht als nachträgliche Geldleistung ausgestaltet sind (BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05; BVerwGE 60, 236, 238; 66, 335, 338), sodass Leistungen im Rahmen eines Zugunstenverfahrens für die Vergangenheit nur zu erbringen sind, wenn die Existenzsicherungsleistungen ihre Aufgabe noch erfüllen können (BSGE 104, 213 ff RdNr 12 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; SozR 4-1300 § 44 Nr 12 RdNr 14 f).

15

Dieser Gedanke war auch Beweggrund für den Gesetzgeber zur Einführung des § 116a SGB XII. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X für die Leistungen, die als steuerfinanzierte Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts dienten und dabei in besonderem Maße die Deckung gegenwärtiger Bedarfe bewirken sollten(sog Aktualitätsgrundsatz), zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und interessengerecht (BT-Drucks 17/3404, S 114, 129). Nichts anderes kann aber angesichts der Gleichartigkeit der zu regelnden Sachverhalte für Leistungen nach dem AsylbLG gelten. Die in den Regelungen des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II und § 116a SGB XII zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung muss deshalb für das AsylbLG übernommen werden. Erst recht gilt dies unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ursprüngliches Ziel der Leistungen nach dem AsylbLG eine "deutliche Absenkung" der früher nach § 120 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz gewährten Leistungen war, also eine Schlechterstellung der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG(BT-Drucks 12/4451 Satz 1; vgl insoweit aber BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2). Dieses Ziel würde konterkariert, wären im Zugunstenverfahren Leistungen nach dem AsylblG (anders als nach dem SGB II bzw dem SGB XII) annähernd bis zu fünf Jahren rückwirkend zu erbringen.

16

Die Gleichartigkeit der Sachverhalte im SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG gebietet auch eine gleiche Behandlung. Dies bestätigt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Verfassungswidrigkeit des § 3 AsylbLG(BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2), wonach das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Umgekehrt muss das aber auch für Einschränkungen bei der Nachzahlung zu Unrecht vorenthaltener Leistungen gelten. Deshalb soll nach dem Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG (Bearbeitungsstand 4.12.2012; http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/bverfg-asylblg-novelle.html) der Vorschrift des § 9 Abs 3 folgender Satz 2 angefügt werden(Referentenentwurf S 4): "§ 44 Abs 4 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch gilt mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt." Zur Begründung wird ausgeführt, es werde den Besonderheiten des AsylbLG nicht gerecht, Bedarfe, die tatsächlich nicht mehr vorhanden seien, auch für Zeiträume, die länger in die Vergangenheit zurückreichten, rückwirkend zu gewähren. Die Vierjahresfrist des § 44 SGB X sei für steuerfinanzierte Leistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts und damit in besonderem Maße der Deckung gegenwärtiger Bedarfe dienten, zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und interessengerecht. Insofern müssten dieselben Grundsätze wie in § 116a SGB XII und in § 40 Abs 1 SGB XII gelten. Entsprechend werde § 9 Abs 3 AsylbLG so abgeändert, dass § 44 SGB X zukünftig auch im AsylbLG nur mit der Maßgabe Anwendung finde, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein solcher von einem Jahr trete(Referentenentwurf S 15 f, aaO). Die Begründung im Referentenentwurf ist damit annähernd wortgleich zu der Begründung der Änderung des § 40 Abs 1 SGB II und der Einfügung des § 116a SGB XII(BT-Drucks aaO).

17

Es fehlt auch nicht deshalb an der vergleichbaren Interessenlage, weil die Anträge nach § 44 SGB X auch die Überprüfung der Leistungsgewährung nach §§ 1a und 3 AsylbLG betreffen und das System des AsylbLG in erster Linie als Sachleistungssystem ausgestattet ist. Zum einen sind hier solche Leistungen nicht betroffen, sondern Leistungen nach § 2 AsylbLG, die in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht werden, sodass es nicht einzusehen ist, weshalb insoweit eine Besserstellung des Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG erfolgen soll; zum anderen wären Sachleistungen für die Vergangenheit nicht zu erbringen, sondern allenfalls ohnehin Geldleistungen im Sinne eines Sekundäranspruchs. Im Übrigen sehen auch das SGB II und das SGB XII die - allerdings eingeschränkte - Möglichkeit vor, Sachleistungen zu erbringen. Bei der Prüfung, ob die beiden verglichenen Sachverhalte in einer die Analogie ermöglichenden Weise "gleich" bzw "ähnlich" sind, ist die Grenze (erst) dort zu ziehen, wo durch die entsprechende Anwendung die Regelungsabsicht des Gesetzgebers vereitelt würde. Dies ist zwar schon dann zu bejahen, wenn es nur zweifelhaft ist, ob der Unterschied zwischen den verglichenen Sachverhalten nicht doch so groß ist, dass durch eine Gleichstellung die gesetzliche Wertung in Frage gestellt sein könnte (BSGE 57, 195 ff = SozR 1500 § 149 Nr 7). Derartige Zweifel bestehen aber nach oben Gesagtem gerade nicht. So sieht auch der Referentenentwurf (aaO) eine § 116a SGB XII identische Regelung bei annähernd identischer Begründung vor, ohne zwischen den jeweiligen Leistungen nach dem AsylbLG zu unterscheiden.

18

Dies rechtfertigt auch die Folgerung einer durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch entstandenen (unbewussten) planwidrigen Regelungslücke (vgl auch: Greiser in jurisPK-SGB XII, § 116a SGB XII RdNr 27; Scheider in Hohm, AsylbLG, § 9 RdNr 73, Stand Dezember 2012, der ein gesetzgeberisches Versehen wegen unterschiedlicher ministerieller Zuständigkeiten vermutet). Diese hat der Gesetzgeber mittlerweile selbst erkannt, der, wie die beabsichtigte Ergänzung von § 9 Abs 3 AsylbLG und insbesondere die Begründung im Referentenentwurf zeigen, die Gesetzeslücke nachträglich schließen will. Die Annahme einer Gesetzeslücke verbietet sich - anders als der Kläger meint - nicht etwa deshalb, weil in der BT-Drucks 17/3404 die Leistungen nach dem AsylbLG bei der Bewertung der finanziellen Auswirkungen des Entwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ausdrücklich genannt werden (S 45 und 47) und in der dritten Beratung des Gesetzentwurfs (Plenarprotokoll 17/79) über den Entschließungsantrag der Fraktion "Die Linke" zur Ergänzung des Kreises der Leistungsberechtigten nach dem SGB II und dem SGB XII um bisherige Leistungsberechtigte nach dem dann aufzuhebenden AsylbLG (BT-Drucks 17/4106) abgestimmt wurde. Denn die Ausführungen in der BT-Drucks 17/3404 betreffen nur die finanziellen Auswirkungen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes, die natürlich auch Asylbewerber betreffen, die Leistungen entsprechend dem SGB XII erhalten. Auch der Entschließungsantrag der Fraktion "Die Linke" betrifft allein die Höhe der Leistungen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch war eine Reaktion des Gesetzgebers auf die den Regelbedarf nach dem SGB II und dem SGB XII betreffende Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175 ff = SozR 4-4200 § 20 Nr 12). Die zitierten amtlichen Drucksachen und Protokolle betreffen ebenfalls unmittelbar oder mittelbar nur den Regelbedarf bzw die Höhe der Leistungsgewährung, haben jedoch keinen Bezug zur Ergänzung des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II bzw des § 116a SGB XII. Sie sind deshalb weder Beleg dafür, dass Leistungen nach dem AsylbLG bewusst ausgeklammert worden sind, noch begründen sie einen solchen Zweifel. Der Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG belegt insoweit sogar das Gegenteil (dazu oben).

19

An diesem Ergebnis ändert die beabsichtigte Übergangsregelung in § 14 AsylbLG des Referentenentwurfs(Referentenentwurf S 5) nichts, wonach § 9 Abs 3 Satz 2 AsylbLG nicht bei Anträgen nach § 44 SGB X anwendbar sein soll, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung gestellt worden sind. Damit ist bereits keine die Analogie verbietende Regelung beabsichtigt. Ohnedies verbleibt es bis zum möglichen Inkrafttreten bei der Gesetzeslücke, die durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen ist.

20

Schließlich besteht im öffentlichen Recht auch kein allgemeines Analogieverbot zum Nachteil von Bürgern, also der analogen Anwendung einer "belastenden" Norm (BSGE 104, 285 ff = SozR 4-4300 § 335 Nr 2; BSG SozR 3-4100 § 59e Nr 1 S 6; SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 23). Aus der Bindung an "Gesetz und Recht" (Art 20 Abs 3 Grundgesetz ) ergibt sich, dass Exekutive und Judikative bei der Normanwendung - von speziellen verfassungsrechtlichen Analogieverboten wie Art 103 Abs 2 GG abgesehen - nicht auf den ausdrücklich bestimmten Anwendungsbereich der gesetzlichen Bestimmungen beschränkt sind, sondern das Recht insgesamt anwenden müssen (BSGE 104, 285 ff = SozR 4-4300 § 335 Nr 2). Infolgedessen sind auch belastende Normen des öffentlichen Rechts analog anzuwenden, sofern sich die Übertragung auf einen gesetzlich nicht ausdrücklich geregelten Fall - wie hier - wegen der Gleichartigkeit der Sachverhalte gebietet und die Regelungsabsicht des Gesetzgebers sicherstellt.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs dürfen nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt.

(1) Der Erfüllung der in § 1 genannten Aufgaben dienen die nachfolgenden sozialen Rechte. Aus ihnen können Ansprüche nur insoweit geltend gemacht oder hergeleitet werden, als deren Voraussetzungen und Inhalt durch die Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs im einzelnen bestimmt sind.

(2) Die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

(1) Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Sach- und Dienstleistungen sind in Geld zu erstatten.

(2) Soweit Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, sind sie zu erstatten. §§ 45 und 48 gelten entsprechend.

(2a) Der zu erstattende Betrag ist vom Eintritt der Unwirksamkeit eines Verwaltungsaktes, auf Grund dessen Leistungen zur Förderung von Einrichtungen oder ähnliche Leistungen erbracht worden sind, mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jährlich zu verzinsen. Von der Geltendmachung des Zinsanspruchs kann insbesondere dann abgesehen werden, wenn der Begünstigte die Umstände, die zur Rücknahme, zum Widerruf oder zur Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes geführt haben, nicht zu vertreten hat und den zu erstattenden Betrag innerhalb der von der Behörde festgesetzten Frist leistet. Wird eine Leistung nicht alsbald nach der Auszahlung für den bestimmten Zweck verwendet, können für die Zeit bis zur zweckentsprechenden Verwendung Zinsen nach Satz 1 verlangt werden; Entsprechendes gilt, soweit eine Leistung in Anspruch genommen wird, obwohl andere Mittel anteilig oder vorrangig einzusetzen sind; § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bleibt unberührt.

(3) Die zu erstattende Leistung ist durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen. Die Festsetzung soll, sofern die Leistung auf Grund eines Verwaltungsakts erbracht worden ist, mit der Aufhebung des Verwaltungsaktes verbunden werden.

(4) Der Erstattungsanspruch verjährt in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt nach Absatz 3 unanfechtbar geworden ist. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß. § 52 bleibt unberührt.

(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten bei Berichtigungen nach § 38 entsprechend.

(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(2) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

1.
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2.
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3.
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

(3) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Satz 1 gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen. Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn

1.
die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind oder
2.
der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.
In den Fällen des Satzes 3 kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Frist von zehn Jahren am 15. April 1998 bereits abgelaufen, gilt Satz 4 mit der Maßgabe, dass der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird.

(4) Nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

(5) § 44 Abs. 3 gilt entsprechend.

(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.

(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.

(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

(1) Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Sach- und Dienstleistungen sind in Geld zu erstatten.

(2) Soweit Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, sind sie zu erstatten. §§ 45 und 48 gelten entsprechend.

(2a) Der zu erstattende Betrag ist vom Eintritt der Unwirksamkeit eines Verwaltungsaktes, auf Grund dessen Leistungen zur Förderung von Einrichtungen oder ähnliche Leistungen erbracht worden sind, mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jährlich zu verzinsen. Von der Geltendmachung des Zinsanspruchs kann insbesondere dann abgesehen werden, wenn der Begünstigte die Umstände, die zur Rücknahme, zum Widerruf oder zur Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes geführt haben, nicht zu vertreten hat und den zu erstattenden Betrag innerhalb der von der Behörde festgesetzten Frist leistet. Wird eine Leistung nicht alsbald nach der Auszahlung für den bestimmten Zweck verwendet, können für die Zeit bis zur zweckentsprechenden Verwendung Zinsen nach Satz 1 verlangt werden; Entsprechendes gilt, soweit eine Leistung in Anspruch genommen wird, obwohl andere Mittel anteilig oder vorrangig einzusetzen sind; § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bleibt unberührt.

(3) Die zu erstattende Leistung ist durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen. Die Festsetzung soll, sofern die Leistung auf Grund eines Verwaltungsakts erbracht worden ist, mit der Aufhebung des Verwaltungsaktes verbunden werden.

(4) Der Erstattungsanspruch verjährt in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt nach Absatz 3 unanfechtbar geworden ist. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß. § 52 bleibt unberührt.

(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten bei Berichtigungen nach § 38 entsprechend.

(1) Die Berufung und die Beschwerde nach § 144 Abs. 1 haben aufschiebende Wirkung, soweit die Klage nach § 86a Aufschub bewirkt.

(2) Die Berufung und die Beschwerde nach § 144 Abs. 1 eines Versicherungsträgers oder in der Kriegsopferversorgung eines Landes bewirken Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlaß des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen.

(1) Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Sach- und Dienstleistungen sind in Geld zu erstatten.

(2) Soweit Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, sind sie zu erstatten. §§ 45 und 48 gelten entsprechend.

(2a) Der zu erstattende Betrag ist vom Eintritt der Unwirksamkeit eines Verwaltungsaktes, auf Grund dessen Leistungen zur Förderung von Einrichtungen oder ähnliche Leistungen erbracht worden sind, mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jährlich zu verzinsen. Von der Geltendmachung des Zinsanspruchs kann insbesondere dann abgesehen werden, wenn der Begünstigte die Umstände, die zur Rücknahme, zum Widerruf oder zur Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes geführt haben, nicht zu vertreten hat und den zu erstattenden Betrag innerhalb der von der Behörde festgesetzten Frist leistet. Wird eine Leistung nicht alsbald nach der Auszahlung für den bestimmten Zweck verwendet, können für die Zeit bis zur zweckentsprechenden Verwendung Zinsen nach Satz 1 verlangt werden; Entsprechendes gilt, soweit eine Leistung in Anspruch genommen wird, obwohl andere Mittel anteilig oder vorrangig einzusetzen sind; § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bleibt unberührt.

(3) Die zu erstattende Leistung ist durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen. Die Festsetzung soll, sofern die Leistung auf Grund eines Verwaltungsakts erbracht worden ist, mit der Aufhebung des Verwaltungsaktes verbunden werden.

(4) Der Erstattungsanspruch verjährt in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt nach Absatz 3 unanfechtbar geworden ist. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß. § 52 bleibt unberührt.

(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten bei Berichtigungen nach § 38 entsprechend.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 9. August 2010 aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Erstattungsforderung.

2

Die am 14.7.1989 geborene Klägerin bezog von dem beklagten Grundsicherungsträger zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester seit dem 1.1.2005 laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Anträge auf Gewährung von Leistungen stellte durchgehend die Mutter. Ab August 2005 bezog die Klägerin monatliche Unterhaltsleistungen von dem getrennt lebenden Vater. Eine Mitteilung gegenüber dem Beklagten erfolgte insoweit nicht.

3

Im Januar 2007 erfuhr der Beklagte von den Unterhaltszahlungen und hob mit an die Mutter gerichtetem Bescheid vom 28.6.2007 die für den Zeitraum 1.8.2005 bis 31.7.2006 ergangenen Bewilligungen "für Sie und Ihre Kinder" auf. Die Gesamtüberzahlung in Höhe von 2539,65 Euro war nach den einzelnen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft und jeweils nach Regelleistung und Kosten für Unterkunft und Heizung aufgeschlüsselt. Für die Klägerin ergab sich ein Gesamtbetrag von 1820,90 Euro (1292,85 Euro Regelleistung und 528,05 Euro Leistungen für Unterkunft und Heizung). Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass der Bescheid, soweit er die Kinder betreffe, an die Mutter als gesetzliche Vertreterin ergehe, und die Erstattung der zu Unrecht gezahlten Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 2539,65 Euro gefordert. Auf den Widerspruch der Klägerin reduzierte der Beklagte die Erstattungssumme durch einen unmittelbar an die zwischenzeitlich volljährig gewordene Klägerin versandten Bescheid vom 1.10.2008 auf 1770,99 Euro und wies den Widerspruch im Übrigen zurück (Widerspruchsbescheid vom 18.11.2008).

4

Die hiergegen gerichtete Klage hat die Klägerin hinsichtlich der Aufhebung der Bewilligungsbescheide zurückgenommen und der Beklagte hat die Erstattungssumme in einem Erörterungstermin am 7.1.2010 auf 1043,51 Euro reduziert. Die gegen das Erstattungsverlangen gerichtete Klage hat die Klägerin fortgeführt und zugleich "die Einrede des § 1629a BGB" erhoben. Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Klage abgewiesen und zugleich die Sprungrevision zugelassen (Urteil vom 9.8.2010). Der auf § 50 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gestützte Erstattungsbescheid sei rechtmäßig. § 1629a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) stehe dem nicht entgegen. Ob diese Vorschrift ohnehin erst im Vollstreckungsverfahren Berücksichtigung finden könne, könne dahinstehen. Vielmehr sei diese Norm im Sozialrecht von vornherein nicht anwendbar. Insbesondere beschränke sich der in § 61 Satz 2 SGB X enthaltene Verweis auf die ergänzende Anwendung der Vorschriften des BGB auf öffentlich-rechtliche Verträge und dies bedeute im Umkehrschluss, dass die Vorschriften des BGB im Bereich des SGB X nicht allgemein anwendbar seien. Eine entsprechende Anwendung des § 1629a BGB scheide aus, weil es an einer mit dem Zivilrecht vergleichbaren Interessenlage fehle und für die Anwendung dieser Vorschrift kein Bedürfnis bestehe. Bei der Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß §§ 45 ff SGB X habe die Behörde bereits die unterschiedlichen öffentlichen und privaten Interessen abzuwägen. Etwas anderes folge auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Selbst wenn man von einer Anwendbarkeit des § 1629a BGB ausgehe, stehe seiner Anwendung im konkreten Fall doch § 1629a Abs 2 Alt 2 BGB entgegen, wonach die Haftungsbeschränkung nicht für Verbindlichkeiten aus Rechtsgeschäften gelte, die alleine der Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse des Minderjährigen dienten. Bei den nunmehr zurückgeforderten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes handele es sich um solche Verbindlichkeiten.

5

In ihrer fristgerecht unter Beifügung einer Zustimmungserklärung des Beklagten in elektronischer Form eingelegten Sprungrevision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 1629a BGB sowie § 50 SGB X. Ergänzend beruft sie sich auf ein Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 23.7.2009 an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, in dem ausgeführt wird, dass die Gefahr einer Überschuldung Minderjähriger durch die Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II im Hinblick auf § 1629a BGB nicht gesehen werde. Diese Norm begründe ein Leistungsverweigerungsrecht für das dann volljährige Kind gegenüber dem Gläubiger. Der Erstattungsanspruch bestünde weiterhin, müsse aber nicht mehr erfüllt werden. Die Bundesregierung gehe davon aus, dass die Grundsicherungsstellen gemäß § 14 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) entsprechend beraten. Die Klägerin ist allerdings der Ansicht, dass es ihr möglich sein müsse, diesen Einwand bereits außerhalb des Vollstreckungsverfahrens geltend zu machen.

6

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 9. August 2010 sowie den Erstattungsbescheid des Beklagten vom 28. Juni 2007 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 1. Oktober 2008 und des Widerspruchsbescheides vom 18. November 2008 sowie des Teilanerkenntnisses des Beklagten vom 7. Januar 2010 aufzuheben.

7

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Er verteidigt das angefochtene Urteil und weist nur ergänzend darauf hin, dass § 1629a BGB erst im Vollstreckungsverfahren Anwendung finden könne. Die Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Bescheids bleibe hiervon unberührt.

Entscheidungsgründe

9

Die Sprungrevision der Klägerin ist zulässig (hierzu A.) und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das Landessozialgericht (LSG) begründet (vgl § 170 Abs 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz; hierzu B.).

10

A. Die Klägerin hat die Sprungrevision form- und fristgerecht eingelegt.

11

Die Revision ist nach § 164 Abs 1 Satz 1 iVm § 65a SGG mittels eines elektronischen Dokuments mit qualifizierter elektronischer Signatur formgerecht erhoben worden(vgl § 65a Abs 1 Satz 3 SGG iVm § 2 Abs 3 der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundessozialgericht, BGBl I 2006, 3219; vgl grundlegend BFHE 215, 47 zur "Funktionsäquivalenz" der Signatur zur eigenhändigen Unterschrift).

12

Die für die Sprungrevision geltenden Formerfordernisse sind erfüllt (vgl § 161 Abs 1 SGG): Das SG hat die Sprungrevision in seinem Urteil zugelassen und die Zustimmungserklärung des Revisionsbeklagten ist innerhalb der Revisionsfrist beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen. Denn der Revisionsschrift der Klägerin war eine Erklärung des Beklagten beigefügt, nach der er sich damit einverstanden erklärt, dass "die Sprungrevision eingelegt und zugelassen wird".

13

Dass die Zustimmungserklärung des Beklagten nicht im Original übersandt wurde, sondern in elektronischer Form als Anhang im pdf-Format zu der in elektronischer Form ordnungsgemäß übersandten Revisionsschrift, steht dem in § 161 Abs 1 Satz 1 SGG enthaltenen Schriftlichkeitserfordernis nicht entgegen. Dass das Schriftformerfordernis für die Zustimmungserklärung erfüllt ist, wenn der Revisionskläger die ihm per Telefax zugeleitete Zustimmung des Gegners seinerseits per Fax an das Gericht weiterleitet, entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 161 Nr 13; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 161 RdNr 4a). Denn angesichts der auch bei "Originalen" möglichen Fälschungen ist für die Erfüllung des Formerfordernisses entscheidend, dass aus der Erklärung die Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision mit der Folge einer Übergehung der Berufungsinstanz, die Person des Erklärenden und dessen Wille, die Erklärung in den Verkehr zu bringen, entnommen werden kann.

14

Diese Voraussetzungen sind auch gewahrt, wenn ein Beteiligter die ihm als Telefax zugesandte Zustimmungserklärung eines anderen Beteiligten einscannt und in eine pdf-Datei umwandelt, um sie als elektronische Datei im Rahmen seiner elektronischen Aktenbearbeitung und Kommunikation mit dem Gericht weiterverwenden zu können. Aus der Einfügung des § 65a SGG durch das Justizkommunikationsgesetz vom 22.3.2005 (BGBl I 837) und der damit begründeten Zulässigkeit der Übermittlung von elektronischen Dokumenten an die Gerichte kann nur hergeleitet werden, dass die Übermittlung eines eingescanntes Dokumentes als Anhang einer den Anforderungen des § 65a SGG genügenden Revisionsschrift dem Schriftformerfordernis genügt. Die Möglichkeit, als Anlage ein eingescanntes Dokument zu versenden, ohne dabei mit verfahrensrechtlich vorgegebenen Formerfordernissen in Konflikt zu kommen, ist die notwendige Folge dieser technischen Möglichkeit und des mit dem Gesetz verfolgten Zweckes, auch in Gerichtsverfahren elektronische Dokumente als Äquivalent zur Papierform rechtswirksam zu verwenden (Gesetzesbegründung zum Justizkommunikationsgesetz, BT-Drucks 15/4067 S 24).

15

B. Die Revision ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 4 Satz 1 SGG). Ob die angefochtene Entscheidung mit revisiblem Recht vereinbar ist (vgl § 162 SGG)kann aufgrund des vom SG festgestellten Sachverhalts (vgl § 163 SGG) nicht abschließend geprüft werden.

16

Mangels fehlender Feststellungen kann nicht beurteilt werden, ob der hier noch alleine streitgegenständliche und auf § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 50 SGB X beruhende Erstattungsbescheid vom 28.6.2007 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 1.10.2008 und des Widerspruchsbescheides vom 18.11.2008 sowie des Teilanerkenntnisses des Beklagten vom 7.1.2010 formell rechtmäßig ist; insbesondere ob die nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 24 Abs 1 SGB X erforderliche Anhörung stattgefunden hat oder ein entsprechender Verfahrensmangel geheilt worden ist(s I.). Allerdings steht der materiellen Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts nicht bereits seine mangelnde Bestimmtheit entgegen (s II.). Während die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 50 SGB X im vorliegenden Fall grundsätzlich vorliegen(s III.), konnte aber ebenfalls nicht abschließend entschieden werden, ob die Haftung der Klägerin hier gemäß des entsprechend anwendbaren § 1629a BGB begrenzt ist und der Erstattungsbescheid bereits deshalb (ggf teilweise) aufzuheben ist(s IV.).

17

I. Der Rechtsstreit unterliegt bereits deshalb der Zurückverweisung, weil der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des SG die formelle Rechtmäßigkeit des Erstattungsbescheides nicht abschließend prüfen kann. Insbesondere fehlt es an Feststellungen zu der Frage, ob vor Erlass des Erstattungsbescheides eine Anhörung der Klägerin gemäß § 24 Abs 1 SGB X stattgefunden hat.

18

Auch wenn die Erstattung entsprechend der Forderung des § 50 Abs 3 Satz 2 SGB X mit der (hier gemäß § 77 SGG bindend gewordenen) Aufhebung verbunden worden ist, ändert dies nichts daran, dass es sich bei dem Erstattungsverlangen um einen eigenständigen Verwaltungsakt nach § 31 SGB X handelt, der seinerseits in die Rechte der Klägerin eingegriffen hat und deshalb vor seinem Erlass eine entsprechende Anhörung voraussetzt(vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 12).

19

1. Die Voraussetzungen für eine Ausnahme von diesem Anhörungserfordernis sind nicht gegeben. Ein Fall des Ausnahmekatalogs des § 24 Abs 2 SGB X liegt bereits tatbestandlich nicht vor. Insbesondere wurden nicht lediglich einkommensabhängige Leistungen an geänderte Verhältnisse angepasst (§ 24 Abs 2 Nr 5 SGB X), weil die Behörde auf der Grundlage des § 50 SGB X für die Vergangenheit Leistungen erstattet verlangt.

20

Der Anwendungsbereich des § 24 SGB X ist für den vorliegenden Fall ebenfalls nicht - etwa im Sinne einer teleologischen Reduktion(vgl hierzu BSG SozR 4-1300 § 24 Nr 1) - eingeschränkt (vgl Thieme in Wannagat, SGB X, Stand 2001, § 24 RdNr 6). Eine solche Einschränkung ergibt sich insbesondere nicht aus dem Umstand, dass die Erstattung nach § 50 Abs 1 SGB X ohnehin akzessorisch zu der hier bestandskräftigen Aufhebung ist, weil es sich bei § 24 Abs 2 SGB X um einen abschließenden Ausnahmekatalog handelt, wie sich aus der rechtsstaatlichen Bedeutung der Anhörung und dem Vergleich mit § 28 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz ergibt, der eine Generalklausel mit Beispielen enthält(stRspr BSGE 44, 207 = SozR 1200 § 34 Nr 2; BSG SozR 1200 § 34 Nr 14; Vogelgesang in Hauck/Noftz, SGB X, Stand 2011, § 24 RdNr 10). Dass es nicht darauf ankommt, ob die Anhörung die Entscheidung in der Sache hätte beeinflussen können, folgt auch aus § 42 Satz 2 SGB X.

21

2. Das LSG wird zu klären haben, ob bislang eine Anhörung gemäß § 24 Abs 1 SGB X stattgefunden hat oder ob, sollte dies nicht der Fall gewesen sein, im Widerspruchs- oder Klageverfahren gemäß § 41 Abs 2 SGB X eine Heilung dieses Verfahrensmangels stattgefunden hat.

22

a) Dabei wird das LSG zu berücksichtigen haben, dass, solange die Klägerin minderjährig war, die vor dem Erlass des Erstattungsbescheides erforderliche Anhörung gegenüber einem vertretungsberechtigten Erziehungsberechtigten zu erfolgen hatte. Auf die Frage, ob § 38 SGB II für das Aufhebungs- und Erstattungsverfahren überhaupt Anwendung finden kann(vgl hierzu Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 38 RdNr 2, 23b), kommt es deswegen nicht an.

23

Die Vertretungsmacht, die hier die Notwendigkeit einer Anhörung der Erziehungsberechtigten begründet, folgt aus der elterlichen Sorge (§ 1629 Abs 1 Satz 1 BGB). Dabei lässt sich den Feststellungen des SG bereits nicht entnehmen, ob abweichend von der gemäß § 1629 Abs 1 Satz 2 BGB grundsätzlich gemeinschaftlichen Vertretung des Kindes hier eine alleinige Vertretung durch die Mutter nach § 1629 Abs 1 Satz 3 BGB in Betracht kommt(vgl hierzu BSGE 104, 48 = SozR 4-1500 § 71 Nr 2). Im Rahmen der Anhörung braucht dieser Frage allerdings nicht nachgegangen zu werden, weil die Anhörung eines Elternteils insoweit ausreichend ist.

24

Obwohl nach § 24 Abs 1 SGB X "der Beteiligte"(vgl § 12 SGB X) anzuhören ist, gilt dies nicht für den Fall, dass der Beteiligte sozialrechtlich nicht handlungsfähig ist (vgl § 11 Abs 1 SGB X). Dann ist sein gesetzlicher Vertreter anzuhören (vgl nur Mutschler in Kasseler Komm, SGB X, Stand 2011, § 24 RdNr 10). Dem steht § 36 SGB I als öffentlich-rechtliche Ausnahme nach § 11 Abs 1 Nr 2 SGB X(von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 11 RdNr 7) nicht entgegen, weil es sich beim Aufhebungs- und Erstattungsverfahren um ein eigenständiges Verwaltungsverfahren handelt, das nicht auf die Gewährung von Sozialleistungen gerichtet ist und deswegen von § 36 Abs 1 Satz 1 SGB I, der erkennbar auf den rechtlichen Vorteil für den Minderjährigen abstellt, nicht umfasst ist(vgl Didong in: jurisPK-SGB I, § 36 RdNr 16; Mrozynski, SGB I, 4. Aufl 2010, § 36 RdNr 15; Udsching/Link, SGb 2007, 513, 516).

25

Für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber Minderjährigen hat der Senat unter Heranziehung des Zustellungsrechts des Bundes bereits entschieden, dass die Bekanntgabe gegenüber einem gesetzlichen Vertreter genügt (BSGE 102, 76 = SozR 4-4200 § 9 Nr 7, RdNr 21 unter Berufung auf § 6 Abs 3 VwZG; vgl auch Udsching/Link, SGb 2007, 513, 516). Dies gilt entsprechend auch für die Anhörung. Dagegen spricht nicht, dass § 6 Abs 3 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) letztlich der in § 1629 Abs 1 Satz 2 Halbs 2 BGB geregelten Empfangsvertretung als Fall der "passiven" Stellvertretung entspricht(vgl zu § 6 Abs 3 VwZG: Sadler, VwVG/VwZG, 7. Aufl 2010, § 6 RdNr 20; Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 9. Aufl 2011, § 6 VwZG RdNr 4; vgl zu § 1629 Abs 1 Satz 2 Halbs 2 BGB; Diederichsen in Palandt, BGB, 70. Aufl 2011, § 1629 RdNr 15). Denn das in § 24 Abs 1 SGB X geregelte Anhörungserfordernis dient in erster Linie dem Schutz vor Überraschungsentscheidungen. Zudem soll es das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung stärken (vgl BT-Drucks 7/868 S 28). Es erfüllt damit seinen Zweck, ohne dass es ein aktives Tun des Anzuhörenden bzw seines Vertreters voraussetzt. Im Übrigen erschiene es widersprüchlich, wenn zwar die mit der Gefahr der Bestandskraft einhergehende Bekanntgabe eines Bescheides an nur einen Elternteil erfolgen dürfte, nicht aber die vor dem Erlass des Bescheides notwendige Anhörung.

26

b) Im Hinblick auf die mögliche Heilung einer unterlassenen Anhörung, wird das LSG zu berücksichtigen haben, dass die Nachholung der Anhörung nach § 41 Abs 2 SGB X im Gerichtsverfahren ein eingeständiges, nicht notwendigerweise förmliches Verwaltungsverfahren - ggf unter Aussetzung des Gerichtsverfahrens - voraussetzt, das auch die Erklärung der Behörde umfasst, sie halte nach erneuter Prüfung unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Anhörung am bisher erlassenen Verwaltungsakt fest(ausführlich BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).

27

c) Sollte das LSG zu dem Ergebnis kommen, dass vor Erlass des Erstattungsbescheides eine Anhörung nicht stattgefunden hat und dieser Verfahrensmangel bislang nicht geheilt worden ist - auch nicht im Rahmen des von der Klägerin durchgeführten Widerspruchsverfahrens oder des Erörterungstermins -, wird es zu beachten haben, dass jedenfalls im jetzt durchzuführenden Berufungsverfahren keine Heilung mehr in Betracht kommt.

28

Nach § 41 Abs 2 SGB X erfährt die Möglichkeit der Heilung insofern eine zeitliche Grenze, als die Anhörung nach § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X nur bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann. Entsprechend der mit § 41 Abs 2 SGB X korrespondierenden Vorschrift des § 114 Abs 2 Satz 2 SGG(vgl BSG SozR 3-2600 § 243 Nr 9: "funktionale Einheit") ist diese Vorschrift nicht mehr anwendbar, nachdem erstmals die letzte Tatsacheninstanz abgeschlossen wurde. Im Falle der Sprungrevision wird die zeitliche Grenze damit durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils gesetzt (vgl allgemein Steinwedel in Kasseler Komm, SGB X, Stand 2011, § 41 RdNr 23, 27; offen gelassen von: BSG vom 2.6.2004 - B 7 AL 58/03 R - BSGE 93, 51 = SozR 4-4100 § 115 Nr 1, RdNr 9 = Juris RdNr 17; BSG vom 16.12.2008 - B 4 AS 48/07 R - Juris RdNr 19).

29

Gegen die Heilung eines Verfahrensmangels durch Nachholung im Gerichtsverfahren im Rahmen eines wiedereröffneten Berufungsverfahrens nach einer Zurückverweisung spricht entscheidend, dass diese von einem Verfahrensmangel des LSG - nämlich fehlenden Feststellungen zur Anhörung - abhängig ist. Denn eine Zurückverweisung kommt nur in Betracht, wenn das LSG keine Feststellungen zur Anhörung getroffen hat. Hat das LSG hingegen festgestellt, dass keine Anhörung erfolgt ist, besteht kein Grund für eine Zurückverweisung. Das Letztere muss ebenfalls gelten, wenn das LSG keine Feststellungen getroffen hat und diese fehlenden Feststellungen des LSG in Verbindung mit einer Aufklärungsrüge eines Beteiligten zu entsprechenden Ermittlungen und Feststellungen des Revisionsgerichts führen. Für eine Verschlechterung der Rechtsposition des klagenden Adressaten eines Verwaltungsakts, in dem der beklagten Behörde eine weitere Gelegenheit zur Heilung ihres Verfahrensfehlers eingeräumt wird, wenn es im anschließenden gerichtlichen Verfahren zu einem Verfahrensmangel des angerufenen Gerichts gekommen ist, der von der Behörde erfolgreich gerügt wird, ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich. Dagegen spricht vielmehr der Ausnahmecharakter des § 114 Abs 2 Satz 2 SGG, nachdem der vergleichbare § 94 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung aufgehoben wurde(vgl Berchtold in Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, 97, 115 f sowie BSG vom 16.12.2008 - B 4 AS 48/07 R - RdNr 19; BSG vom 31.10.2002 - B 4 RA 43/01 R - Juris RdNr 17).

30

II. Der angefochtene Erstattungsbescheid vom 28.6.2007 war (noch) inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs 1 SGB X).

31

Das Bestimmtheitserfordernis als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung verlangt zum einen, dass der Verfügungssatz eines Verwaltungsaktes nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzen muss, sein Verhalten daran auszurichten (näher BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13 mwN). Zum anderen muss der Verwaltungsakt eine geeignete Grundlage für seine zwangsweise Durchsetzung bilden (BVerwGE 123, 261, 283).

32

1. Bedenken gegenüber der hinreichenden Bestimmtheit des mit dem inzwischen bestandskräftig gewordenen Aufhebungsbescheides verbundenen Erstattungsbescheides ergeben sich nicht bereits daraus, dass der Adressat des Erstattungsverlangens nicht hinreichend erkennbar wäre.

33

Zwar könnten sich deswegen Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit ergeben, weil der Erstattungsbescheid vom 28.6.2007 alleine an die Mutter der seinerzeit noch minderjährigen Klägerin gerichtet war. Auch wird die Mutter entsprechend dieser Adressierung an verschiedenen Stellen des Bescheides direkt angesprochen, wenn es etwa heißt, es bestünde gegen diese eine Gesamtforderung in Höhe von 2539,65 Euro und dieser Betrag sei von ihr gemäß § 50 SGB X zu erstatten. Entscheidend ist allerdings, dass sich aus dem Bescheid mit hinreichender Deutlichkeit ergibt, dass der zurückzuzahlende Gesamtbetrag das Ergebnis einer Addition von insgesamt drei Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidungen ist, die sich jeweils an die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft richten. So heißt es im Rahmen der hier noch streitgegenständlichen Erstattungsregelung, es "wurden Ihnen und Ihren Kindern [...] Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 2539,65 Euro zu Unrecht gezahlt". Die (individuelle) Aufschlüsselung der überzahlten Leistungen ist Bestandteil der Aufhebungsentscheidung, vor deren Hintergrund auch die Erstattungsregelung zu sehen ist, weil der Beklagte, entsprechend der Vorgabe des § 50 Abs 3 Satz 2 SGB X, beide Entscheidungen verbunden hat(vgl auch BSG SozR 4-4200 § 11 Nr 27 RdNr 13).

34

Dass der Beklagte bei Erlass des Erstattungsbescheides nicht davon ausging, die Mutter der Klägerin sei (Gesamt-)Schuldnerin der Rückforderungssumme, ergibt sich dabei insbesondere aus der Formulierung: "Soweit der Bescheid Ihre Kinder betrifft, ergeht er an Sie als gesetzlichen Vertreter." Vor dem Hintergrund der fehlenden sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit der Klägerin und ihrer Schwester zum damaligen Zeitpunkt war es konsequent, die Erfüllung der Rückzahlungsverpflichtung alleine von einem Elternteil zu verlangen, ohne dass dadurch die eigentlichen Bescheidadressaten nicht mehr erkennbar wären.

35

2. Weitergehende Bedenken gegenüber der Bestimmtheit des Erstattungsbescheides bestehen nicht. Es bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob die zum Arbeitsförderungsrecht ergangene Rechtsprechung des BSG, wonach ein Aufhebungsbescheid dann nicht hinreichend bestimmt iS des § 33 SGB X ist, wenn er nur eine Teilaufhebung für einen Gesamtzeitraum in Höhe eines Gesamtbetrags ohne Konkretisierung dieses Betrags für die einzelnen Wochen enthält(BSGE 93, 51 = SozR 4-4100 § 115 Nr 1, RdNr 10; SozR 3-1500 § 128 Nr 15 S 32 f), auf das SGB II, eventuell modifiziert um das hier grundsätzlich geltende Monatsprinzip, zu übertragen ist.

36

Zumindest für den hier noch streitgegenständlichen Erstattungsverwaltungsakt lässt sich die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung der gesetzlichen Regelung des § 50 SGB X nicht entnehmen(so auch Krasney in Kasseler Komm, SGB X, Stand 2011, § 33 RdNr 7; Sächsisches LSG vom 18.9.2008 - L 3 AS 40/08 - Juris RdNr 60). § 50 Abs 3 Satz 1 SGB X fordert lediglich, die "zu erstattende Leistung" festzusetzen. Weitergehende Differenzierungsanforderungen dürften nicht zuletzt der eigentlichen Zielvorgabe der Bestimmtheitsanforderung, nämlich eine eindeutige Vollstreckungsgrundlage zu schaffen und dem Betroffenen das von ihm erwartete Verhalten klar vor Augen zu führen, eher abträglich sein.

37

3. Der Erstattungsbescheid ist auch nicht deshalb zu unbestimmt, weil er in der Gestalt, die er durch den Änderungsbescheid vom 1.10.2008 und den Widerspruchsbescheid vom 18.11.2008 erfahren hat, im Rahmen der Festsetzung der zu erstattenden Leistung nicht mehr zwischen dem der Klägerin bewilligten Sozialgeld und den Leistungen für Unterkunft und Heizung unterschied. Soweit teilweise vertreten wird, ein Aufhebungs- und wohl auch ein Erstattungsbescheid seien nur dann hinreichend bestimmt, wenn sie - spiegelbildlich zur Bewilligung - die aufgehobenen Leistungen nach Leistungsarten unterschieden, insbesondere also deutlich machten, ob es sich um Leistungen für Unterkunft und Heizung oder um die Regelleistung handele (so LSG Rheinland-Pfalz vom 30.3.2010 - L 3 AS 138/08 - Juris RdNr 54 ff), folgt dem der Senat jedenfalls für die Festsetzung der zu erstattenden Leistung nach § 50 SGB X nicht. Gegen die Notwendigkeit weiterer Differenzierungen im Rahmen der isolierten Rückforderung spricht die im Grundsatz bestehende Akzessorietät des Erstattungsverwaltungsakts zum Ergebnis der Aufhebungsentscheidung. Die Vorschrift des § 40 Abs 2 Satz 1 SGB II, wonach abweichend von § 50 SGB X unter bestimmten Umständen ein Teil der Unterkunftskosten von der Erstattung ausgenommen bleibt, steht dem nicht entgegen. Dies betrifft allenfalls die Begründung des Verwaltungsakts, nicht aber die hinreichende Bestimmtheit seines Verfügungssatzes.

38

III. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X liegen vor. Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen nach dieser Vorschrift zu erstatten. Hier ist der Aufhebungsbescheid vom 28.6.2007 durch die Rücknahme der Klage bereits bestandskräftig geworden (vgl § 77 SGG).

39

Zutreffend hat sich der Beklagte im Hinblick auf die Rückforderung zudem an die Klägerin gewandt. Ausgehend von der Annahme, dass das SGB II keinen Anspruch einer Bedarfsgemeinschaft als solcher kennt, sondern dass Anspruchsinhaber grundsätzlich jeweils alle einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft sind (grundlegend BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 12), können auch in der Rückforderungskonstellation nur von demjenigen Leistungen verlangt werden, dem sie zuvor bewilligt worden waren (vgl nur BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 7 RdNr 15; Udsching/Link, SGb 2007, 513, 514). Ein Erstattungsanspruch etwa gegen die gesetzlichen Vertreter des Leistungsempfängers scheidet auch dann aus, wenn diese die Überzahlung durch Verletzung ihrer Mitteilungspflichten hinsichtlich ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse verursacht haben (so zur Rechtslage nach dem Bundessozialhilfegesetz bereits BVerwG, NZS 1992, 156; FEVS 43, 324). Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegenüber dem Vertreter nach § 34 SGB II wird davon nicht berührt.

40

IV. Eine abschließende Entscheidung der von der Revision aufgeworfenen Frage, ob § 1629a BGB bereits zur Rechtswidrigkeit des Erstattungsbescheides führt, ist nicht möglich. Entgegen der Ansicht des SG ist § 1629a BGB auch im Rahmen der Rückforderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II entsprechend anwendbar(dazu unter 1.), und zwar bereits im Erstattungs- und nicht erst im Vollstreckungsverfahren (dazu unter 2.). Dem steht auch § 1629a Abs 2 Alt 2 BGB nicht entgegen(dazu unter 3.). Jedoch hat das SG, von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent, keine Feststellungen zur Höhe des Vermögens der Klägerin bei Eintritt der Volljährigkeit getroffen.

41

1. Dem Erstattungsanspruch des Beklagten gegen die Revisionsklägerin gemäß § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X kann die Beschränkung der Minderjährigenhaftung entgegenstehen.

42

In seinem Beschluss vom 13.5.1986 (1 BvR 1542/84 - BVerfGE 72, 155 = NJW 1986, 1859) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ua ausgeführt: Das als Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 Grundgesetz (GG) anerkannte Recht auf Selbstbestimmung wird berührt, wenn Eltern ihre minderjährigen Kinder kraft der ihnen zustehenden gesetzlichen Vertretungsmacht (§ 1629 Abs 1 BGB) finanziell verpflichten können. Hierdurch können in erheblichem Maße die Grundbedingungen freier Entfaltung und Entwicklung und damit nicht nur einzelne Ausformungen allgemeiner Handlungsfreiheit, sondern die engere persönliche Lebenssphäre junger Menschen betroffen werden. Es ist verfassungsrechtlich noch hinnehmbar, wenn sich die Haftung des Minderjährigen bei einem ererbten und fortgeführten Handelsgeschäft auf das im Wege der Erbfolge erworbene Vermögen beschränkt. Nichts anderes kann für die finanziellen Folgen gelten, die Minderjährigen als Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft über die Vertretungsregelung für Bedarfsgemeinschaften nach § 38 SGB II aufgebürdet werden.

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Der Gesetzgeber ist der vom BVerfG in dem Beschluss vom 13.5.1986 (aaO) formulierten Aufforderung, in Wahrnehmung seiner Wächteramtes (Art 6 Abs 2 Satz 2 GG) Regelungen zu treffen, die verhindern, dass der volljährig Gewordene nicht mehr als nur eine scheinbare Freiheit erreicht, nachgekommen und hat durch das Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetz vom 25.8.1998 ( BGBl I 2487) § 1629a BGB geschaffen. Danach ist die Haftung des ehemaligen Minderjährigen und nun volljährig Gewordenen für Verbindlichkeiten, die Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht mit Wirkung für den Minderjährigen begründet haben, beschränkt auf den Bestand des Vermögens des Minderjährigen bei Eintritt der Volljährigkeit. Diese in Ausführung der verfassungsrechtlichen Vorgaben erfolgte gesetzgeberische Entscheidung gilt mangels anderer Anhaltspunkte für die "Minderjährigenhaftung" im SGB II entsprechend.

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Hierfür spricht auch die Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 34a SGB II "Ersatzansprüche für rechtswidrig erhaltene Leistungen" durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 (BGBl I 453 - RBEG), in der ausgeführt wird: "Die Regelung des neuen § 34a trägt damit dem praktischen Bedürfnis nach Inanspruchnahme des Verursachers Rechnung, da insbesondere bei Leistungsgewährung an minderjährige Kinder auch ein Anspruch gegenüber den gesetzlichen Vertretern bestehen kann. ... Im Übrigen gilt bei Eintritt der Volljährigkeit zugunsten der Schuldner § 1629a BGB, so dass insoweit eine Beschränkung auf das bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandene Vermögen gegeben sein kann." (BT-Drucks 17/3404 S 113). Dies deckt sich mit der von der Klägerin zur Akte gereichten Antwort des BMAS an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, wonach vor dem Hintergrund der Regelung des § 1629a BGB eine Gefahr des überschuldeten Eintritts in die Volljährigkeit nicht gesehen werde und dementsprechend kein Tätigwerden des Gesetzgebers erforderlich sei.

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2. Entgegen der Ansicht des Beklagten kann diese entsprechende Geltung der Haftungsbeschränkung gemäß § 1629a BGB nicht erst im Verwaltungsvollstreckungsverfahren Anwendung finden(so aber für das Steuerfestsetzungsverfahren BFHE 203, 5), weil schon der Erstattungsbescheid aus den aufgezeigten Gründen gegen das höherrangige Verfassungsrecht verstößt.

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Es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum ein (verfassungswidriger) Erstattungsbescheid gegenüber einem volljährig Gewordenen zunächst bestandskräftig werden sollte, bevor diesem die Möglichkeit gegeben werden soll, seine Haftungsbeschränkung, die zu diesem Zeitpunkt bereits "entscheidungsreif" wäre, geltend zu machen. Abgesehen von den durch das Vollstreckungsverfahren entstehenden weiteren (unnötigen) Kosten erscheint es auch unter Praktikabilitätsgesichtspunkten geboten, die ggf schwierige Feststellung des Vermögens bei Eintritt der Volljährigkeit möglichst zeitnah zu bestimmen.

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Sollte - wie vorliegend - der Schuldner bei Erlass des Erstattungsbescheides noch nicht volljährig sein, ist der Erstattungsbescheid zum Zeitpunkt seines Erlasses zunächst rechtmäßig. Dies entspricht der § 1629a BGB zugrunde liegenden unbeschränkten Haftung des Minderjährigen bis zum Eintritt der Volljährigkeit(vgl nur Diederichsen in Palandt, BGB, 70. Aufl 2011, § 1629a BGB RdNr 8; kritisch hierzu K. Schmidt, Festschrift für Derleder, 2005, S 601, 607). Soweit aber bei Eintritt der Volljährigkeit das an diesem Tag bestehende pfändbare Vermögen hinter den (unter § 1629a BGB fallenden) Verbindlichkeiten zurückbleibt, kommt die Haftungsbeschränkung zum Zuge. In diesem Fall besteht gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X ein Anspruch auf Aufhebung des Erstattungsbescheides.

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Tritt - wie in diesem Verfahren - die Volljährigkeit nach Erlass des ursprünglichen Erstattungsbescheides, aber noch vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens ein, ist zu beachten, dass bei (reinen) Anfechtungsklagen der maßgebende Zeitpunkt in der Regel die Sach- und Rechtslage bei Erlass der letzten behördlichen Entscheidung ist (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 9. Aufl 2008, § 54 RdNr 33 mwN). Sollten die Voraussetzungen des § 1629a BGB gegeben sein, was mangels Feststellungen des SG zur Vermögenslage der Klägerin bei Eintritt der Volljährigkeit nicht beurteilt werden kann, wäre der Erstattungsbescheid von Anfang an rechtswidrig.

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3. Der Haftungsbeschränkung der Klägerin steht vorliegend nicht entgegen, dass die Haftungsbeschränkung nicht für Rechtsgeschäfte aus der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse gilt (§ 1629a Abs 2 Alt 2 BGB). Denn diese Regelung zielt entsprechend dem Begriff "persönliche Bedürfnisse" nicht auf das durch das SGB II abgedeckte Existenzminimum, sondern auf Kleingeschäfte des täglichen Lebens seitens des Minderjährigen oder größere altersgerechte Anschaffungen wie ein Fahrrad oder einen Computer ab (vgl auch Gesetzesbegründung zum RBEG, BT-Drucks 17/3404 S 113).

50

Nach der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des MHbeG sollen mit dieser Ausnahme von der Haftungsbegrenzung nicht nur Kleingeschäfte des täglichen Lebens (zB Kauf von Nahrungsmitteln oder Schulutensilien), sondern auch größere Geschäfte erfasst werden, die für Minderjährige der jeweiligen Altersstufe typisch oder jedenfalls nicht ungewöhnlich sind (zB Kauf eines Fahrrades oder Computers). In beiden Fällen bedürfe der Minderjährige keines Schutzes, weil ihm der Gegenwert des Geschäfts unmittelbar zugute komme und keine "unzumutbaren" finanziellen Belastungen im Sinne der Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 72, 155, 173) in Rede stünden (BT-Drucks 13/5624 S 13, ebenso: Diederichsen in Palandt, BGB, 70. Aufl 2011, § 1629a RdNr 11).

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Auch wenn die dem Minderjährigen gewährten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes den (im Sinne der Existenzsicherung) verstandenen "persönlichen Bedürfnissen" des Kindes dienten, sind diese von der Ausnahmeregelung nicht mit umfasst. Auf den Fall, dass grundsätzlich alle "persönlichen Bedürfnisse" des Kindes durch staatliche Fürsorgeleistungen sichergestellt werden müssen, weil die Leistungsfähigkeit der Eltern als Unterhaltsverpflichtete nicht genügt, zielt die Ausnahmeregelung erkennbar nicht ab. Zudem ist in diesen Fällen gerade nicht mehr der (generalisierte) Schluss zulässig, dass durch die Rückforderung keine unzumutbaren finanziellen Belastungen entstehen. Allein diese Grundannahme rechtfertigt aber die Anwendung dieser Ausnahmeregelung, ohne dass es im Rahmen der Rückforderung von SGB II-Leistungen überzeugen würde, eine summenmäßige Begrenzung einzuführen, ab der die auf dem Fehlverhalten der (grundsätzlich ebenfalls ersatzpflichtigen) Eltern beruhende Schuldenlast "unzumutbar" wäre (für eine teleologische Reduktion des § 1629a Abs 2 Alt 2 BGB für den Fall, dass dem Minderjährigen erhebliche finanzielle Belastungen drohten, Huber in Münchener Komm, BGB, 5. Aufl 2008, § 1629a RdNr 28).

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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Leben mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person.

(2) Für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts hat die umgangsberechtigte Person die Befugnis, Leistungen nach diesem Buch zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit das Kind dem Haushalt angehört.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.