Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Feb. 2015 - 4 StR 391/14

bei uns veröffentlicht am12.02.2015

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR391/14
vom
12. Februar 2015
in der Strafsache
gegen
wegen Beihilfe zum Raub
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. Februar 2015 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 26. November 2012 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass von der verhängten Freiheitsstrafe drei Monate als vollstreckt gelten. 2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten mit Urteil vom 26. November 2012 wegen Beihilfe zum Raub zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
2
Die Revision, mit der der Angeklagte allgemein die Verletzung materiellen Rechts rügt, erzielt lediglich wegen einer nach Erlass des angefochtenen Urteils eingetretenen Verfahrensverzögerung einen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
3
1. Das Verfahren ist nach Erlass des angefochtenen Urteils unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zunächst dadurch in rechtsstaatswidriger Weise verzögert worden, dass die Originalakten seit dem 22. März 2013 in Verlust geraten sind und erst im Juni/Juli 2014 teilweise rekonstruiert werden konnten , nachdem der Verteidiger sich nach dem Stand des Revisionsverfahrens erkundigt hatte. Nach Begründung der Revision durch den Verteidiger mit Schriftsatz vom 4. Februar 2013 hätten die Akten dem Generalbundesanwalt bei ordnungsgemäßem Verfahrensgang alsbald danach vorgelegt werden müssen. Tatsächlich sind die Akten dort erst am 25. August 2014 eingegangen. Nachdem auf Veranlassung des Generalbundesanwalts weitere, für die Durchführung des Revisionsverfahrens notwendige Unterlagen beim Landgericht und bei der Staatsanwaltschaft beschafft worden waren, konnten die Akten dem Bundesgerichtshof schließlich am 4. Dezember 2014 vorgelegt werden. Dadurch hat sich nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist insgesamt eine Verzögerung von etwa eineinhalb Jahren ergeben, die auf die Sachrüge hin von Amts wegen zu berücksichtigen ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 20 mwN).
4
2. a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Kompensation nicht mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen, sondern hat nach den Umständen des Einzelfalles grundsätzlich einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu betragen (vgl. nur Senatsbeschluss vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 41 mwN). In Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalbundesanwalts in seiner Zuschrift vom 16. Januar 2015 erscheint dem Senat im vorliegenden Fall eine Kompensation von drei Monaten angesichts der insgesamt eingetretenen Verzögerung von etwa eineinhalb Jahren als angemessen. Diese Kompensation kann der Senat in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO selbst aussprechen (BGH, Beschluss vom 6. März 2008 – 3 StR 376/07, NStZ-RR 2008, 208, 209; Beschluss vom 3. November 2011 – 2 StR 302/11, NStZ 2012, 320, 321).
5
b) Eine neben die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung tretende Berücksichtigung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit bei der Strafzumessung und infolgedessen die Aufhebung des Strafausspruchs ist mit Blick auf die verhängte Freiheitsstrafe von einem Jahr und die getroffene Bewährungsentscheidung nicht geboten, zumal sich der Angeklagte , soweit aus den teilrekonstruierten Sachakten ersichtlich, nicht in Untersuchungshaft befand.
Sost-Scheible Roggenbuck Franke
Mutzbauer Quentin

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Feb. 2015 - 4 StR 391/14

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Feb. 2015 - 4 StR 391/14

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 354 Eigene Entscheidung in der Sache; Zurückverweisung


(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erört

Strafgesetzbuch - StGB | § 46 Grundsätze der Strafzumessung


(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. (2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Um
Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Feb. 2015 - 4 StR 391/14 zitiert 5 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 173/09
vom
16. Juni 2009
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 16. Juni
2009 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 14. November 2005 im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 13 Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO).
2
Der Rechtsfolgenausspruch kann hingegen nicht bestehen bleiben, weil das Verfahren nach Erlass des angefochtenen Urteils in rechtsstaatswidriger Weise verzögert worden ist.
3
1. Zur Erforderlichkeit einer deshalb zu treffenden Kompensationsentscheidung hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift Folgendes ausgeführt: "Das Verfahren ist nach Erlass des angefochtenen Urteils … unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK dadurch in rechtsstaatswidriger Weise verzögert worden, dass die Originalakten seit dem 15. Mai 2006 in Verlust geraten sind … und erst im Februar/März 2009 rekonstruiert werden konnten, obwohl sich der Verteidiger bereits mehrfach nach dem Stand des Revisionsverfahrens erkundigt hatte … . Nachdem der Verteidiger die Revision mit Schriftsatz vom 30. Januar 2006 begründet hatte, hätten die Akten dem Generalbundesanwalt bei ordnungsgemäßem Verfahrensgang alsbald danach vorgelegt werden müssen. Tatsächlich sind die Akten dort erst am 15. April 2009 eingegangen , wobei die Originalakten zwischenzeitlich wieder aufgefunden und nachgesandt wurden. Dadurch hat sich eine Verfahrensverzögerung von nahezu drei Jahren ergeben. Diese nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingetretene Verzögerung ist auf die Sachrüge hin von Amts wegen zu berücksichtigen (BGH NStZ 2004, 52). Wegen des Ausmaßes der Verfahrensverzögerung sowie des damit verbundenen Zeitablaufs und der Notwendigkeit der Feststellung ihrer Auswirkungen auf den Angeklagten ist die Entscheidung über eine Kompensation des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK dem Tatrichter vorbehalten."
4
Dem schließt sich der Senat an.
5
2. Wegen der nach Erlass des angefochtenen Urteils eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung kann unter den gegebenen Umständen aber auch der gesamte Strafausspruch nicht bestehen bleiben. Zwar stellt die im Wege der Anrechnung vorzunehmende Kompensation (Vollstre- ckungslösung) einen an dem Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg neben der Strafzumessung im engeren Sinn dar, so dass der Strafausspruch und die Kompensationsentscheidung grundsätzlich selbständig nebeneinander stehen und auch getrennt voneinander zu beurteilen sind (so inzwischen auch BGH, Urt. vom 18. Juni 2009 - 3 StR 89/09). Allerdings wird der (überlangen) Verfahrensdauer dadurch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen , weil allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie behält ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung mitbedingt ist. Lediglich der hiermit zwar faktisch eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert ausgeglichen (vgl. BGH - GS - NJW 2008, 860, 865 m. w. N.; zum Abdruck in BGHSt 52, 124 bestimmt).
6
Dies führt jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Abschluss des Verfahrens rechtsstaatswidrig um mehrere Jahre verzögert worden ist, dazu, dass auch der gesamte Strafausspruch, also alle Einzelstrafen und die Gesamtstrafe, neu zu bemessen sind. Dies obliegt dem neuen Tatrichter.
Er hat insofern in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und dem (neuen) Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der (überlangen) Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es hingegen nicht (vgl. BGH aaO 866).
Becker Pfister von Lienen
Hubert Schäfer

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 643/10
vom
7. Juni 2011
in der Strafsache
gegen
wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 7. Juni 2011 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 5. April 2002 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

I.

1
Das Landgericht hat den Angeklagten am 5. April 2002 wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.
2
Im Rahmen seiner Revision hat der Angeklagte mit der Verfahrensrüge geltend gemacht, dass er vor seiner polizeilichen Vernehmung nicht gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK belehrt worden sei.
3
Nach einer ersten Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet durch Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 29. Januar 2003 – 5 StR 475/02 – und der Aufhebung dieses Beschlusses sowie Zurückverweisung der Sache durch das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 19. September 2006 (2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499) wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision mit Beschluss vom 25. September 2007 (veröffentlicht in BGHSt 52, 48) erneut verworfen, allerdings mit der Maßgabe, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
4
Auf die gegen diese Entscheidung wiederum erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 8. Juli 2010 (2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207) auch die zweite Revisionsentscheidung wegen eines Verstoßes gegen das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Strafsenat des Bundesgerichtshofs zurückverwiesen.
5
Danach hat nunmehr der Senat über die Revision des Angeklagten zu entscheiden.

II.

6
Diese Entscheidung kann im Beschlusswege ergehen. Nach Aufhebung auch des zweiten die Revision des Angeklagten verwerfenden Beschlusses des 5. Strafsenats ist das Verfahren erneut in den Stand zurückversetzt worden, den es vor der ersten Revisionsentscheidung vom 29. Januar 2003 hatte. Die allein noch inmitten stehende Rechtsfrage nach den Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist durch die Vorgaben nunmehr zweier bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen klar umgrenzt; der Generalbundesanwalt und der Verteidiger des Angeklagten haben zu ihr nochmals ausführlich schriftlich Stellung genommen.
7
Die Rechtsfrage ist nach Auffassung des Senats auch zweifelsfrei zu beantworten. Die Durchführung der Hauptverhandlung lässt keine neuen Erkenntnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art erwarten, die das gefundene Ergebnis in Zweifel ziehen könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober2000 – 5StR 414/99, BGHR StPO § 349 Abs. 2 Verwerfung 6; zur Bedeutung der Revisionshauptverhandlung vgl. Wohlers JZ 2011, 78, 80).

III.

8
Die Revision erzielt lediglich wegen einer während des Revisionsverfahrens eingetretenen Verfahrensverzögerung einen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
9
1. Die vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen sowie die Sachrüge dringen nicht durch. Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK geltend gemacht wird.
10
a) Der Senat sieht mit Blick auf die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1, § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG) davon ab, die Rüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig zu verwerfen, obwohl die Revision verschweigt, dass der Angeklagte sich am 20. November 2001 – nach Konsultation seines Verteidigers – erneut zur Sache eingelassen und die Richtigkeit seiner früheren Angaben bestätigt hat (Gerichtsakten Bl. 619-621). Diesem Umstand kommt, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt, entscheidungserhebliche Bedeutung für die Frage nach einem Verwertungsverbot zu.
11
b) Die Rüge ist unbegründet. Allerdings liegt eine Gesetzesverletzung darin, dass der Angeklagte, der türkischer Staatsangehöriger ist, nach seiner Festnahme nicht durch die Polizeibeamten gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK über seine Rechte belehrt worden ist (vgl. jetzt auch § 114b Abs. 2 Satz 3 StPO).
12
aa) Das Wiener Konsularrechtsübereinkommen, dem die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei beigetreten sind, steht in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes, das deutsche Behörden und Gerichte wie anderes Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BGH, Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 StR 577/09, NStZ 2010, 567, zur Parallele bei der MRK). Nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes haben deutsche Gerichte dabei auch die Judikate der für Deutschland zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a., Rn. 89 ff.). Sie haben – ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung – normative Leitfunktion (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502).
13
bb) Nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK obliegt die Belehrungspflicht den zuständigen Behörden des Empfangsstaates und damit auch den festnehmenden Polizeibeamten, sofern sie Kenntnis von der ausländischen Staatsangehörigkeit erlangen oder Anhaltspunkte für eine solche bestehen (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, unter Bezugnahme auf IGH, Avena and other Mexican Nationals , Mexico v. United States of America, Judgement of 31 March 2004, ICJ Re- ports 2004, p. 12, No. 88: „there is […] a duty upon the arresting authorities to give that information to an arrested person as soon as it is realized that the per- son is a foreign national, or once there are grounds to think that the person is probably a foreign national“).
14
c) Der Geltendmachung des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK steht nicht entgegen, dass der Angeklagte keinen spezifisch auf die Verletzung des Art. 36 WÜK abstellenden Widerspruch erhoben, sondern der Verwertung seiner Angaben in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 durch zeugenschaftliche Vernehmung der Verhörspersonen mit Blick auf die nicht durchgreifende Beanstandung eines Verstoßes gegen §§ 136, 137 StPO widersprochen hat. Der 1. Strafsenat hat allerdings mit Beschluss vom 11. September 2007 (1 StR 273/07, BGHSt 52, 38) die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelte „Wider- spruchslösung“ auch auf den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK angewandt und generell verlangt, dass die den Prüfungsumfang für das Tatgericht begrenzende Begründung des Widerspruchs erkennen lässt, dass die Angriffsrichtung des Widerspruchs gerade auf eine Verletzung von Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK abzielt.
15
Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem jener Entscheidung zugrunde liegenden jedoch dadurch, dass hier eine Belehrung auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht erfolgt ist. Nach den maßgeblich zu beachtenden Grundsätzen des Internationalen Gerichtshofs im LaGrand-Urteil muss eine umfassende Überprüfung und Neubewertung von Schuld- und Strafausspruch unter Berücksichtigung des Konventionsverstoßes möglich sein (IGH, LaGrand, Germany v. United States of America, Judgement of 27 June 2001, ICJ Reports 2001, p. 466, No. 128 [nichtamtliche deutsche Übersetzung in EuGRZ 2001, 287]: „review and reconsideration of the conviction and sentence by ta- king account of the violation of the rights set forth in that Convention”). Diese Überprüfung darf nicht unter Berufung auf das Fehlen nach nationalem Pro- zessrecht erforderlicher Einwände ausgeschlossen werden (IGH, „LaGrand“, aaO, No. 90, zur US-amerikanischen „procedural default rule“), weshalb nach dem Internationalen Gerichtshof ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 2 WÜK jedenfalls dann vorliegt, wenn die Belehrung über die Rechte nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK – wie hier – solange nicht erfolgte, wie die Einwände nach nationalem Prozessrecht hätten erhoben werden müssen (IGH, „LaGrand“, aaO, No. 90 f.; IGH, „Avena“, aaO, No. 112 f., 134).
16
d) Das Fehlen der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK führt im vorliegenden Fall nicht zu einem Verwertungsverbot, weil dem Angeklagten hierdurch im weiteren Verfahren kein Nachteil erwachsen ist.
17
aa) Allerdings ist die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes aus einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht von vornherein ausgeschlossen (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 209 f.; anders – gegen die Möglichkeit eines Verwertungsverbotes – noch BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3StR 318/07, BGHSt 52, 110, 114; offen gelassen in BGH, Beschluss vom 11. September 2007 – 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38, 41): Nach der Rechtspre- chung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ist vielmehr im Einzelfall zu untersuchen, ob dem Betroffenen aus dem Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK im weiteren Verfahrensverlauf tatsächlich ein Nachteil ent- standen ist („actual prejudice“, IGH, „Avena“, aaO, No. 121 ff.). Dieser Recht- sprechung ist – was im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung möglich ist (BVerfG, Beschlüsse vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, und vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210) – dadurch Rechnung zu tragen, dass die vom Bundesgerichtshof für nicht speziell geregelte Beweisverwertungsverbote entwickelte Abwägungslehre zur Anwendung gebracht wird. Es hat eine Abwägung zwischen dem durch den Verfahrensverstoß bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten einerseits und den Strafverfolgungsinteressen des Staates andererseits stattzufinden , wobei auf den Schutzzweck der verletzten Norm ebenso abzustellen ist wie auf die Umstände, Hintergründe und Auswirkungen der Rechtsverletzung im Einzelfall (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210; vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2010 – 1 StR 251/10; s. auch Gless/Peters StV 2011, 369, 376; Paulus/Müller StV 2009, 495, 498 ff.).
18
bb) Die hieran ausgerichtete Abwägung führt im Ergebnis nicht zur Unverwertbarkeit der Angaben des Angeklagten bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. November 2001.
19
(1) Zweck der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist die Verwirklichung des Rechts des Betroffenen auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502 f. unter Bezugnahme auf IGH, „LaGrand“ aaO und „Avena“ aaO). Im Zentrum der konsularischen Unterstützung steht die Vermittlung anwaltlichen Beistandes (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503: Überschneidung der Belehrung über das Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers mit der Funktion der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 WÜK, mit Hilfe des Konsulats einen Rechtsbeistand für den Beschuldigten zu beauftragen; Kreß GA 2007, 296, 305; Esser JR 2008, 271, 274; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 573/09, zum Inhalt der Hilfe für im Ausland inhaftierte deutsche Staatsangehörige durch deutsche Konsularbeamte nach § 7 KonsG). Dies gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht vorgesehen ist, dass der Konsular- beamte selbst anwaltliche Aktivitäten entfaltet (IGH, „Avena“, aaO, No. 85: „It is not envisaged, either in Article 36, paragraph 1, or elsewhere in the Conven- tion, that consular functions entail a consular officer himself or herself acting as the legal representative or more directly engaging in the criminal justice process“ ; anders offenbar Gless/Peters aaO S. 372). Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK schützt dabei nicht speziell die Aussagefreiheit des Beschuldigten (ebenso Kreß aaO, S. 304), sondern allgemein das Recht auf effektive Verteidigung (so auch Esser aaO, S. 275); dies ergibt sich schon daraus, dass nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht verlangt, dass die Belehrung der ersten Vernehmung des Beschuldigten in jedem Fall vorausgehen muss (IGH, „Av- ena“, aaO, No. 87: „The court considers that the provision in Article 36, paragraph 1 (b), that the receiving State authorities „shall inform the person concerned without delay of his rights“ cannot be interpreted to signify that the pro- vision of such information must necessarily precede any interrogation, so that the commencement of interrogation before the information is given would be a breach of Article 36”; vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503).
20
(2) Vor dem Hintergrund dieses Schutzzwecks ist zunächst in die Abwägung einzustellen, dass der Angeklagte – was ihn freilich nicht vom persönlichen Schutzbereich des Art. 36 Abs. 1 WÜK ausnimmt (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503; BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110) – in Deutschland geboren wurde und aufwuchs und nach den Feststellungen im Urteil keine sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten und keine Sozialisationsdefizite hatte, sondern insgesamt integriert in Deutschland lebte. Eine wegen ausländerspezifischer Verteidigungsdefizite konkret erhöhte Schutzbedürftigkeit des Angeklagten ist danach nicht erkennbar (vgl. dazu auch Esser aaO).
21
(3) Der – anlässlich seiner Festnahme sowohl von den Ermittlungsbeamten als auch dem Haftrichter mehrfach über seine Rechte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrte – Angeklagte war über seine Verteidigungsmöglichkeiten orientiert. Das zeigt sich unter anderem darin, dass er auch ohne die Belehrung über die Möglichkeit konsularischen Beistands in der Lage war, seine prozessualen Rechte – insbesondere sein Recht zu schweigen – wahrzunehmen. So hat er vor dem Ermittlungsrichter eine Aussage unter Hinweis darauf verweigert , zunächst einen Rechtsanwalt sprechen zu wollen, um dessen Beauftragung er im Folgenden seine Familie gebeten hat. Seine Einlassung in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 erfolgte, nachdem er ausführlich über sein Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers belehrt worden war.
22
(4) Am 20. November 2001, als der Angeklagte zwar noch immer nicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK belehrt, wohl aber verteidigt war,also – wenngleich mit einiger Verzögerung – der Zustand hergestellt war, den sicherzustellen Hauptzweck des Art. 36 Abs. 1 WÜK ist, hat der Angeklagte die Angaben aus seiner ersten polizeilichen Vernehmung bestätigt (vgl. auch Esser aaO; Kreß aaO S. 305). Die Verteidigervollmacht für Rechtsanwalt T. hatte der Angeklagte bereits am 2. November 2001 in der JVA Hannover unterzeichnet.
23
(5) Die Polizeibeamten unterließen weder bei der Festnahme noch im Vorfeld der Vernehmung vom 1. November 2000 die Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK unter bewusster Umgehung dieser Vorschrift (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 4 StR 455/08, BGHSt 53, 112; Beschlüsse vom 18. Oktober 2005 – 1 StR 114/05, NStZ 2006, 236, und vom 19. Oktober 2005 – 1 StR 117/05, NStZ-RR 2006, 181); nach damaliger in Deutschland verbreiteter Rechtsauffassung (vgl. BGH, Beschluss vom 7. No- vember 2001 – 5 StR 116/01, BGHR WÜK Art. 36 Unterrichtung 1) war nicht die Polizei, sondern der in §§ 115, 115 a, 128 StPO genannte Richter die für die Belehrung „zuständige Behörde“ im Sinne des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK. Eine bewusste Umgehung der Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK durch den Ermittlungsrichter hat der Angeklagte in der Revisionsbegründung schon nicht behauptet. Solches ist auch nicht erkennbar: Die ermittlungsrichterliche Vernehmung musste ausweislich des Protokolls des Amtsgerichts Lörrach vom 21. Oktober 2001 abgebrochen werden, da der Angeklagte „wegen eines heftigen Gefühlsausbruchs (krampfartiges Weinen) nicht in der Lage war, den Termin fortzusetzen.“
24
(6) Schließlich kommt dem öffentlichen Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung angesichts der Schwere der hier inmitten stehenden Straftat – eines Kapitalverbrechens – besondere Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 – 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238, 248).
25
e) Dass das Urteil in sonstiger Weise auf der unterbliebenen Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK beruht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 m.w.N.), kann der Senat aus den bereits in die Abwägung eingestellten Gesichtspunkten zu den Umständen und Auswirkungen der Rechtsverletzung ausschließen. Für ein Beruhen ist nichts ersichtlich, und die Revision trägt hierzu auch nichts vor.
26
2. Von der verhängten Freiheitsstrafe sind sechs Monate für vollstreckt zu erklären.
27
a) Allerdings kommt eine Kompensation des Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nach der sog. „Vollstre- ckungslösung“ (vgl. BGH – Großer Senat fürStrafsachen –, Beschluss vom 17. Januar 2008, BGHSt 52, 124) nicht in Betracht.
28
Die Entscheidung des 5. Strafsenats vom 25. September 2007, für den Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK eine Kompensation zu gewähren , bindet den Senat nicht; das Bundesverfassungsgericht hat diese Revisionsentscheidung in vollem Umfang aufgehoben (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 211), also keine Teilrechtskraft herbeigeführt (vgl. dazu BGH, Urteil vom 27. August 2009 – 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; Beschluss vom 21. Dezember 2010 – 2 StR 344/10). Der Senat neigt der Auffassung des 3. Strafsenats aus dem Urteil vom 20. Dezember 2007 (3 StR 318/07, BGHSt 52, 110, 118; vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 – 2 StR 489/08) zu, dass eine solche Kompensation generell ausscheidet. Dies braucht der Senat aber nicht zu entscheiden. Für eine Kompensation fehlt vorliegend bereits deshalb ein Anknüpfungspunkt, weil die Abwägung zur Frage nach einem Beweisverwertungsverbot und die Prüfung zum Beruhen im Übrigen ergeben haben, dass dem Angeklagten im konkreten Fall ein Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht entstanden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210 m.w.N.).
29
b) Eine Kompensation nach der „Vollstreckungslösung“ ist jedoch für eine – von Amts wegen zu beachtende (Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 9c m.w.N.) – der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung nach Erlass des tatrichterlichen Urteils zu gewähren.
30
aa) Eine solche sieht der Senat für den Zeitraum ab der zweiten Revisionsentscheidung des 5. Strafsenats vom 25. September 2007 als gegeben an. Dabei kann der Senat offen lassen, ob und inwieweit grundsätzlich die Dauer des – vorliegend ohne offensichtliche Verzögerung durchgeführten (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208) – Rechtsmittelverfahrens sowie die Dauer eines Verfassungsbeschwerdever- fahrens bei der Bestimmung der für die Beurteilung einer Verzögerung maßgeblichen Verfahrensdauer mit einzubeziehen sind (zum Verfassungsbeschwerdeverfahren vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Verfahrensverzögerung daraus, dass trotz der vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 19. September 2006 dargelegten Anforderungen bei der Prüfung der Folgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK der Bundesgerichtshof die Reichweite des Gebotes zur Beachtung der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs erneut in einer die Grundrechte des Angeklagten beeinträchtigenden Weise unbeachtet gelassen hat. Diesen Umstand hat auch der Angeklagte in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2011 hervorgehoben. Die dadurch eingetretene Verzögerung des Verfahrens, die sich über das neuerliche Verfassungsbeschwerdeverfahren und das nach Aufhebung und Zurückverweisung erforderliche weitere Revisionsverfahren vor dem Senat erstreckt, begründet daher einen Kompensationsanspruch aus Art. 13 MRK (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 4 StR 537/08, StV 2009, 241, zur überlangen Verfahrensdauer bei zweimaliger Aufhebung des landgerichtlichen Urteils durch den Bundesgerichtshof).
31
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Kompensation nicht mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen, sondern hat nach den Umständen des Einzelfalles grundsätzlich einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu betragen (vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/08, StV 2008, 633 m.w.N.). Danach ist vorliegend eine Kompensation von sechs Monaten insbesondere angesichts einer Verzögerung von etwa vier Jahren , die der Angeklagte nach seiner Entlassung aus der Haft am 10. Juni 2008 weitgehend in Freiheit verbracht hat, sowie angesichts der bei der Beurteilung der Verfahrensverzögerung zu berücksichtigenden besonderen Rolle des Bundesverfassungsgerichts im innerstaatlichen Rechtssystem (EGMR, Urteile vom 22. Januar 2009 – 45749/06 und 51115/06, StV 2009, 561, 562, und vom 25. Februar 2000 – 29357/95, NJW 2001, 211) an sich deutlich überhöht. An einer Kompensation in geringerem Umfang sieht sich der Senat jedoch durch das Verbot der reformatio in peius gehindert. Zwar gilt das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO für den Fall der Aufhebung einer Revisionsentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar; § 79 Abs. 1 BVerfGG sieht jedoch die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens gegen ein rechtskräftiges Urteil vor, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Zur Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens verweist § 79 Abs. 1 BVerfGG auf die Vorschriften der StPO, mithin auch auf das Schlechterstellungsverbot des § 373 Abs. 2 Satz 1 StPO. Wenn dieses Verbot aber schon dort gilt, wo das Bundesverfassungsgericht die dem Strafurteil die Grundlage entziehende Entscheidung in einem anderen Verfahren trifft, so muss es erst recht zum Tragen kommen, wenn das Bundesverfassungsgericht die fachgerichtliche Entscheidung unmittelbar aufhebt.
32
Das Verbot der reformatio in peius hindert den Senat nicht, eine Kompensation für den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nunmehr zu versagen. Es verhindert lediglich eine dem Angeklagten nachteilige Änderung in Art und Höhe der Rechtsfolgen, nicht jedoch eine Änderung der diesen zugrunde liegenden rechtlichen Beurteilung.
33
c) Eine neben die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung tretende Berücksichtigung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit bei der Strafzumessung und infolge dessen die Aufhebung des Strafausspruchs ist vorliegend nicht geboten.
34
aa) Allerdings hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, StV 2009, 638) in einem Fall, in dem eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von etwa drei Jahren im Revisionsverfahren durch Verlust der Akten aufgetreten war, die Sache nicht nur wegen einer vom Tatrichter vorzunehmenden Kompensation zurückverwiesen, sondern auch im – für sich genommen nicht rechtsfehlerhaften – Strafausspruch aufgehoben, weil der lange Zeitraum zwischen Tat und Urteil wegen der konkreten Belastungen für den Angeklagten bereits im Rahmen der Straffindung zu berücksichtigen sei. Mit Beschlüssen vom 15. März 2011 – 1 StR 260/09 und 1 StR 429/09 – hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der durch ein Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 132 GVG bestimmten, nicht rechtsstaatswidrig verzögerten Dauer des Revisionsverfahrens einen bestimmenden Strafzumessungsgrund erblickt und die vom Tatrichter rechtsfehlerfrei bemessenen Einzelstrafen wie auch die Gesamtstrafe aufgehoben.
35
bb) Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob er dieser – im Hinblick auf § 337 StPO nicht unbedenklichen – Auffassung folgt. Der vorliegend inmitten stehende Sachverhalt weicht von den den genannten Entscheidungen zugrunde liegenden Fallgestaltungen in wesentlichen Punkten erheblich ab. Zum einen betreffen jene Entscheidungen Fälle, in denen die Verzögerung im Rahmen des Revisionsverfahrens auftraten, während vorliegend die beiden – besonders zu beurteilenden (vgl. oben III. 2. b) bb)) – Verfassungsbeschwerdeverfahren etwa zwei Drittel der Verfahrensdauer ausmachen. In diesen Zeiträumen schwebte das Verfahren jeweils zunächst nicht mehr, sondern war rechtskräftig abgeschlossen, was u.a. im Hinblick auf die Haftsituation des insoweit nicht den Beschränkungen der Untersuchungshaft unterworfenen Ange- klagten von Belang ist. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die – von der Strafzumessung im engeren Sinne zu unterscheidende, aber mit ihr verschränkte (so auch BGH, Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, aaO) – Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu hoch bemessen ist. Nach Auffassung des Senats tritt daher das Zeitmoment im konkreten Fall eines schweren und vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB mit einer 30jährigen Verjährungsfrist versehenen Kapitaldelikts als Strafzumessungsgesichtspunkt in den Hintergrund. Keinesfalls handelt es sich bei der hier gegebenen besonderen Sachlage um einen bestimmenden Strafzumessungsgrund.
36
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO. Angesichts des nur geringen Teilerfolges der Revision erscheint es nicht unbillig, den Angeklagten mit den vollen Kosten des Revisionsverfahrens zu belasten.
Ernemann Roggenbuck Cierniak Mutzbauer Bender

(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.

(1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.

(1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.

(2) In anderen Fällen ist die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen.

(3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 302/11
vom
3. November 2011
BGHR: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
Vorteil im Sinne des § 257 Abs. 1 StGB ist auch der an einen Tatbeteiligten gezahlte
, nicht aber der ihm versprochene Tatlohn.
BGH, Beschluss vom 3. November 2011 - 2 StR 302/11 - LG Frankfurt am Main
in der Strafsache
gegen
wegen Begünstigung u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 3. November 2011 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 22. Dezember 2009 dahin ergänzt , dass von der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten zwei Monate Freiheitstrafe als Entschädigung für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen. 3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Begünstigung in zwei Fällen und wegen Anstiftung zur Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Zudem hat es dem Angeklagten für die Dauer von vier Jahren verboten, den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben sowie als angestellter oder selbständiger Rechtsassessor oder in sonstiger Weise rechtsberatend tätig zu sein, soweit diese Tätigkeit mit einem persönlichen Kontakt mit Mandanten verbunden ist. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten bleibt im Wesentlichen ohne Erfolg; das Urteil war lediglich um eine Kompensation für einen Konventionsverstoß zu ergänzen.

I.

2
Zu den Begünstigungstaten in den Fällen II. 1 und 3 hat das Landgericht Folgendes festgestellt: Der gesondert verfolgte P. fasste im Frühjahr 2008 den Entschluss, in betrügerischer Absicht über eine GmbH nicht existierende Solarmodule gegen Vorkasse zu verkaufen und die so erzielten Beträge für sich zu vereinnahmen. Er zahlte vorab 50.000 € an den gesondert verfolgten Pu. , der hierfür einen Scheingeschäftsführer und einen Firmenmantel beschaffen sollte. Pu. gewann zu diesem Zweck den arbeitslosen O. und sorgte dafür, dass dieser als Geschäftsführer der M. Haustechnik GmbH, einer reinen Briefkastenfirma, eingetragen wurde. Als Entgelt stellte Pu. O. einen Betrag von 30.000 bis 50.000 € in Aussicht und zahlte vorab 15.000 € an diesen. In der Zeit von Ende Juni bis 11. August 2008 nahm die M. Haustechnik GmbH Vorkassengelder in Höhe von über 1,5 Mio. € ein, ohne die bestellten Solarmodule zu liefern.
3
Ende Juli/Anfang August 2008 wandte sich Pu. an den als Rechtsan- walt tätigen Angeklagten, da er Bargeld von über 65.000 € in der Schweiz"ver- stecken" wollte. Darunter befand sich u.a. der von P. erhaltene Tatlohn in Höhe von 35.000 € (50.000 € abzüglich der an O. gezahlten 15.000 €) aus den Betrugsgeschäften im Kontext der M. Haustechnik GmbH, den Pu. bei sich zu Hause aufbewahrt hatte. Der Angeklagte, dem die Herkunft der 35.000 € bekannt war, begab sich am 19. August 2008 mit Pu. in die Schweiz und bereitete mit Unterstützung eines ihm bekannten Wirtschafts-prüfers die Gründung der N. Holding AG vor. Auf Anraten des Angeklagten eröffnete Pu. in der Schweiz ein Konto, zahlte das bei sich geführte Bargeld ein und überwies das Geld auf ein Konto der N. Holding AG als Stammkapital (Fall II.

1).

4
Im November 2008 ließ O. dem gesondert verfolgten Pu. über den Angeklagten ausrichten, dieser schulde ihm für seine Tätigkeit als "Strohmann" der Firma M. Haustechnik GmbH noch 35.000 €. Pu. übergab dem Ange- klagten daraufhin 1.000 € als Anzahlung für O. . Hiervon händigte der Angeklagte O. 500 € aus und behielt den Rest mit Wissen des O. als Entlohnung für seine anwaltliche Tätigkeit für sich. Zudem stellte er O. im Auftrag des Pu. als Tatentlohnung eine lebenslange monatliche Zahlung von 1.000 € in Aussicht, um diesen so in Abhängigkeit von Pu. zu halten und von der Preisgabe der Straftaten des Pu. gegenüber den Ermittlungsbehörden abzuhalten. O. lehnte dies jedoch ab (Fall II. 3).
5
Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten in den Fällen II. 1 und 3 als Begünstigung in zwei Fällen gewertet, wobei es im Fall II. 3 zwei tateinheitlich begangene Fälle angenommen hat.

II.

6
Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist hinsichtlich der Begünstigung des O. im Fall II. 3 begründet; einer Änderung des Schuldspruchs bedarf es insoweit nicht, da das Landgericht die tateinheitliche Verwirklichung zweier Begünstigungstaten im Tenor nicht zum Ausdruck gebracht hatte. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

7
1. Zutreffend hat das Landgericht das Handeln des Angeklagten in den Fällen II. 1 und 3 als Begünstigung in zwei Fällen, jeweils begangen zugunsten des Pu. , gewertet.
8
a) Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht im Fall II. 1 den Tatlohn in Höhe von 35.000 €, den Pu. für seine Beteiligung an dem Betrug erhielt, als "Vorteil der Tat" im Sinne des § 257 Abs. 1 StGB angesehen hat. Die Begünstigung (§ 257 StGB) verlangt, dass der Täter einem anderen , der eine rechtswidrige Tat begangen hat, in der Absicht Hilfe leistet, diesem die Vorteile der Tat zu sichern. Nach dem Wortlaut der Strafnorm sind umfassend "Vorteile der Tat" erfasst. Er unterscheidet nicht zwischen Vorteilen "für" und "aus" der Tat, sondern beinhaltet jeglichen Vorteil, der sich im Zusammenhang mit der Tatbegehung ergibt. Nicht erforderlich ist danach, dass dieser "aus" der Tat resultiert. Gemessen hieran sind "Vorteile der Tat" nicht nur die Früchte der Vortat, hier also die von den Kunden der M. Haustechnik GmbH betrügerisch erlangten Gelder. Einen Vorteil im Sinne des § 257 StGB stellt vielmehr auch der (vorab) an einen Tatbeteiligten - wie vorliegend von P. an Pu. - gezahlte Tatlohn dar. Dem steht nicht entgegen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einschränkend verlangt wird, dass der Vorteil unmittelbar durch die Vortat erlangt ist (BGH, Urteil vom 16. Juni 1971 - 2 StR 191/71, BGHSt 24, 166, 168; BGH, Urteil vom 1. August 2000 - 5 StR 624/99, BGHSt 46, 107, 117; BGH, Urteil vom 27. August 1986 - 3 StR 256/86, NStZ 1987, 22). Das Unmittelbarkeitserfordernis dient dazu, Ersatzvorteile (Vorteilssurrogate) auszuklammern (Walter in LK 12. Aufl. § 257 Rn. 31). Bei der Entlohnung für die Tatbeteiligung handelt es sich jedoch nicht um einen derartigen Ersatzvorteil; vielmehr ist auch der Tat- lohn ein unmittelbarer "Vorteil der Tat" (vgl. auch BGH, Beschluss vom 15. Dezember 1999 - 3 StR 448/99, NStZ 2000, 259).
9
Dieses Ergebnis steht auch mit der Bestimmung des Rechtsguts der Begünstigung durch den Bundesgerichtshof in Einklang. Danach liegt das Wesen der Begünstigung in der Hemmung der Rechtspflege, die dadurch bewirkt wird, dass der Täter die Wiederherstellung des gesetzmäßigen Zustandes verhindert, der sonst durch ein Eingreifen des Verletzten oder von Organen des Staates gegen den Vortäter wiederhergestellt werden könnte. Der Täter der Begünstigung beseitigt oder mindert die Möglichkeit, die Wiedergutmachung des dem Verletzten zugefügten Schadens durch ein Einschreiten gegen den Vortäter zu erreichen, das diesem den durch die Vortat erlangtem Vorteil wieder entziehen würde (st. Rspr., vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 16. November 1993 - 3 StR 458/93, NStZ 1994, 187, 188). Dieses trifft auch auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation zu. Der Täter der Begünstigung, der - wie hier - dem Vortäter den Tatlohn sichert, mindert die Möglichkeiten des durch die Vortat Geschädigten, im Wege des zivilrechtlichen Schadensersatzes - etwa gemäß §§ 823 ff. BGB - oder der strafrechtlichen Gewinnabschöpfung gemäß § 73 StGB Schadenswiedergutmachung zu erlangen.
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Die Vortat war auch - wie § 257 dies verlangt - zum Zeitpunkt des Hilfeleistens bereits begangen (vgl. Fischer StGB 58. Aufl. § 257 Rn. 4; Cramer in MünchKomm-StGB § 257 Rn. 7) und hatte dem Vortäter Vorteile erbracht. Der Angeklagte hat Pu. im Fall II. 1 die Vorteile der Tat in Höhe von 35.000 € gesichert , indem er ihm am 19. August 2008 die Möglichkeit eröffnet hat, in der Schweiz die N. Holding AG zu gründen und die Summe dort als Stammeinlage einzubringen. Zum Zeitpunkt des Hilfeleistens des Angeklagten am 19. August 2008 waren die Betrugsstraftaten im Zusammenhang mit der M.
Haustechnik GmbH, die in der Zeit von Ende Juni bis 11. August 2008 erfolgten , bereits begangen.
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b) Im Fall II. 3 hat das Landgericht rechtlich bedenkenfrei eine Begünstigung des Pu. angenommen. Für diesen lag der Vorteil im Sinne des § 257 StGB ebenso wie im Fall II. 1 in dem vorab gezahlten Tatlohn von 35.000 €. Diese hat der Angeklagte - worauf die Strafkammer zutreffend abstellt - gesichert , indem er O. im Auftrag des Pu. 500 € als erste Anzahlung auf den O. versprochenen (weiteren) Tatlohn übergeben hat. Durch die (zusätzliche ) Verweisung des O. auf eine ratenweise Zahlung des Tatlohns sollte dieser in Abhängigkeit von Pu. gehalten und daran gehindert werden, die Straftaten des Pu. sowie den Verbleib der 35.000 € gegenüber den Ermittlungsbehörden zu offenbaren.
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2. Dagegen begegnet die - lediglich aus den Urteilsgründen, nicht jedoch aus dem Tenor ersichtliche - Annahme einer tateinheitlich verwirklichten Begünstigung zugunsten des O. im Fall II. 3 rechtlichen Bedenken. Soweit das Landgericht als Vorteil der Tat im Sinne des § 257 StGB das Versprechen des Pu. gegenüber O. angesehen hat, diesem für die Beteiligung an den Betrügereien im Kontext der M. Haustechnik GmbH einen Tatlohn von insgesamt 30.000 bis 50.000 € zu zahlen, ist dies rechtlich unzutreffend. Zwar ist ein Vorteil im Sinne des § 257 Abs. 1 StGB nicht nur ein Vermögensvorteil, sondern kann jede wirtschaftliche, rechtliche oder tatsächliche Besserstellung für den Täter sein (vgl. Fischer StGB 58. Aufl. § 257 Rn. 6; Walter in LK 12. Aufl. § 257 Rn. 25; Cramer in MünchKomm-StGB § 257 Rn. 10; Altenhain in NK-StGB 3. Aufl. § 257 Rn. 16). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist jedoch - wie unter II. 1 a) ausgeführt - Voraussetzung der Begünstigung , dass der Täter der Begünstigung gegenüber dem Verletzten der Vortat die Möglichkeit der Schadenswiedergutmachung beseitigt oder mindert, die durch die Entziehung der erlangten Vorteile möglich wäre. Eine solche Möglichkeit der Schadenswiedergutmachung ist bei der bloßen Aussicht auf Erlangung eines versprochenen Tatlohns jedoch nicht gegeben, da es sich nicht um einen entziehbaren Vorteil handelt. Ein solches Zahlungsversprechen ist gemäß § 134 BGB nichtig, führt zu keiner - auch nur wirtschaftlichen - Besserstellung und stellt daher keinen relevanten Tatvorteil im Sinne des § 257 StGB dar.
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3. Der Senat schließt aus, dass das Landgericht ohne die Annahme einer tateinheitlich verwirklichten Begünstigung zugunsten des O. im Fall II. 3 eine niedrigere Einzelstrafe als die verhängte Freiheitsstrafe von sechs Monaten festgesetzt hätte. Das Landgericht hat im Fall II. 3 die tateinheitlich angenommene Begünstigung zugunsten des O. nur eingeschränkt strafmildernd gewertet (UA S. 88) und die gleiche - moderate - Einzelstrafe verhängt wie im Fall II. 1.
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4. Das Urteil war um eine Kompensation für einen Konventionsverstoß zu ergänzen. Nach Übersendung der Akten an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main am 28. Juni 2010 ist es zu einer Verletzung des Gebots zügiger Verfahrenserledigung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) gekommen. Bis zur Rücknahme der von der Staatsanwaltschaft eingelegten Revision am 19. Mai 2011 ist das Verfahren ohne sachlichen Grund nicht gefördert worden. Durch das Versäumnis ist eine der Justiz anzulastende, unangemessene Verfahrensverzögerung von etwa elf Monaten eingetreten. Diesen Umstand hat der Senat von Amts wegen zu berücksichtigen. Der Erhebung einer Verfahrensrüge bedarf es im vorliegenden Fall nicht, da die Verfahrensverzögerung nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingetreten ist und der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte (st. Rspr., vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 18. November 2008 - 1 StR 568/08, NStZ-RR 2009, 92).
Über die Kompensation kann der Senat in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO selbst entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 2008 - 3 StR 376/07, NStZ-RR 2008, 208, 209). Auf der Grundlage der Vollstreckungslösung (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, NJW 2008, 860) stellt der Senat fest, dass von der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten zwei Monate Freiheitsstrafe als Entschädigung für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten.
Fischer RiBGH Prof. Dr. Schmitt Berger ist wegen Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert.
Fischer Krehl Ott