Bundesverfassungsgericht Nichtannahmebeschluss, 07. Feb. 2018 - 2 BvR 549/17

ECLI:ECLI:DE:BVerfG:2018:rk20180207.2bvr054917
bei uns veröffentlicht am07.02.2018

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde, die keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung hat, ist nicht zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführer angezeigt, da - soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist - deutlich absehbar ist, dass die Beschwerdeführer auch im Falle der Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würden (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).

2

1. Zwar liegt eine Verletzung des Anspruchs der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör darin, dass das Oberlandesgericht vor Ablauf der von ihm selbst gesetzten Stellungnahmefrist über die Zurückweisung der Berufung entschieden hat; die Entscheidung beruht auf dieser Verletzung jedoch nicht.

3

a) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in funktionalem Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>; BVerfGK 19, 377 <383>). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 ff.>; BVerfGK 19, 377 <383>).

4

(1) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht somit, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 42, 364<367 f.>; 47, 182 <187>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. August 2017 - 2 BvR 863/17 -, juris, Rn. 15). Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen" (vgl. BVerfGK 19, 377 <381>). Von einer solchen ist insbesondere auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>; 98, 218 <263>; BVerfGK 19, 377 <381>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. August 2017 - 2 BvR 3068/14 -, juris, Rn. 51), oder das Gericht eine von ihm geschaffene Verfahrenslage, auf deren Bestand die Beteiligten vertrauen durften, übergeht.

5

Daher gebietet Art. 103 Abs. 1 GG es insbesondere, dass das Gericht den Ablauf gesetzlicher oder von ihm zur Äußerung gesetzter Fristen abzuwarten hat. Wenn das Gericht ein innerhalb einer solchen Frist erfolgtes Vorbringen bei seiner Entscheidung unberücksichtigt lässt, schränkt es das rechtliche Gehör in einer vom Gesetz nicht mehr gedeckten Weise ein und verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 12, 110 <113>; 42, 243 <247>; 64, 224 <227>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Oktober 1991 - 1 BvR 604/90 -, juris, Rn. 16; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. November 2014 - 2 BvR 2799/11 -, juris, Rn. 11; vgl. auch BGH, Beschluss vom 29. November 2016 - VI ZB 27/15 -, NJW 2017, S. 1111 <1112>).

6

In anderen Fällen verlangt das Recht auf rechtliches Gehör zur Vermeidung einer verbotenen Überraschungsentscheidung, dass die geschaffene Prozesslage zuvor wieder beseitigt wird, zumindest in Form einer gerichtlichen Erklärung, die unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass an der bisherigen Prozesslage nicht mehr festgehalten wird beziehungsweise sich diese erledigt hat (vgl. BVerwGE 17, 172 <173>; BFH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 - XI B 84/12 -, juris, Rn. 15 und vom 2. August 2013 - XI B 97/12 -, juris, Rn. 4 m.w.N.; Hömig, in: ders./Wolff, GG, 11. Aufl. 2016, Art. 103 Rn. 6; vgl. etwa zur Hinweispflicht bei abweichender Beweiswürdigung im Berufungsverfahren BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juni 1999 - 2 BvR 762/98 -, juris, Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. März 2015 - 1 BvR 2819/14 -, juris, Rn. 17; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Oktober 2016 - 2 BvR 1313/16 -, juris, Rn. 11; zur Hinweispflicht vor Eintritt in das vereinfachte Verfahren [§ 495a ZPO] BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. November 2008 - 2 BvR 290/08 -, juris, Rn. 10; zur Hinweispflicht vor Klageabweisung nach Wechsel des Berichterstatters BFHE 223, 308). Eines solchen Hinweises bedarf es nur dann nicht, wenn das Gericht zu Recht davon ausgehen kann, dass seine Intention aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei erkennbar ist (vgl. BFH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 - XI B 84/12 -, juris, Rn. 17 und vom 2. August 2013 - XI B 97/12 -, juris, Rn. 7 m.w.N.).

7

(2) Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann jedoch nur Erfolg haben, wenn die angefochtene gerichtliche Entscheidung auf einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruht, wenn also nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Anhörung des Beschwerdeführers das Gericht zu einer anderen Beurteilung des Sachverhalts oder in einem wesentlichen Punkt zu einer anderen Würdigung veranlasst oder im Ganzen zu einer anderen, ihm günstigeren Entscheidung geführt hätte (vgl. BVerfGE 7, 239 <241>; 18, 147 <150>; 28, 17 <19 f.>; 62, 392 <396>; 89, 381 <392 f.>; 112, 185 <206>; BVerfGK 15, 116 <119>; 19, 377 <383>; stRspr). Aus diesem Grunde ist der Substantiierungspflicht aus § 92 BVerfGG bei der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG nur genügt, wenn der Beschwerdeführer darlegt, was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte und welche Folgen sich daraus für die angegriffene Entscheidung ergeben hätten (vgl. BVerfGE 28, 17 <20>; 72, 122 <132>; 91, 1 <25 f.>; 112, 185 <206>).

8

b) Das Oberlandesgericht hat den in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör in unzulässiger Weise verkürzt, indem es die Berufung vor Ablauf der von ihm selbst gesetzten Frist bereits am 15. November 2016 per Beschluss zurückgewiesen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Beschwerdeführer in ihrem Schriftsatz vom 7. November 2016 bereits in einer Weise geäußert hatten, die als abschließend verstanden werden konnte; selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte das Oberlandesgericht den Fristablauf nach den vorgenannten verfassungsrechtlichen Anforderungen abwarten müssen. Dies hat es auch im Beschluss vom 6. Februar 2017 verkannt und auch dort den Schriftsatz vom 14. November 2016 nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise gewürdigt, so dass der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG auch nicht etwa im Zuge des Anhörungsverfahrens geheilt worden ist (vgl. hierzu BVerfGE 7, 239 <241>; 13, 132 <145>; 52, 131 <152 f.>; 89, 381 <392 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Juli 2016 - 2 BvR 857/14 -, juris, Rn. 11).

9

c) Gleichwohl ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung nicht angezeigt, da ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht. Die Beschwerdeführer haben weder nachvollziehbar dargelegt, dass der Beschluss vom 15. November 2016 auf diesem Gehörsverstoß beruht, noch ist dies sonst ersichtlich.

10

Hinsichtlich der gerügten Anwendbarkeit von § 522 Abs. 2 ZPO und der materiell-rechtlichen Rechtslage haben die Beschwerdeführer mit dem übergangenen Schriftsatz vom 14. November 2016 lediglich ihr Vorbringen aus früheren Schriftsätzen vertieft.

11

Mit Blick auf ihr erstmals im Schriftsatz vom 14. November 2016 geäußertes Begehren, hilfsweise nach § 538 ZPO zu verfahren, um die Frage der Erkennbarkeit der Mängel durch Inaugenscheinnahme zu klären, fehlt es dagegen an der Entscheidungserheblichkeit. Das Landgericht war von der Offensichtlichkeit der Risse ausweislich des Urteils aufgrund einer Inaugenscheinnahme der durch den beweisbelasteten Beklagten vorgelegten Lichtbilder überzeugt. Dass die Beschwerdeführer vorgetragen hätten, die Lichtbilder gäben die tatsächliche Situation nicht wieder, was die Notwendigkeit eines Augenscheins vor Ort hätte begründen können, ist nicht ersichtlich. Dass sie konkrete Abweichungen der Fotografie vom tatsächlichen Zustand behauptet oder anderen konkreten gegenbeweislichen Sachvortrag gemacht und unter Beweis gestellt hätten, tragen sie nicht vor.

12

2. Ein Gehörsverstoß des Landgerichts wäre durch das Berufungsverfahren schließlich prozedural überholt (vgl. BVerfGE 5, 22 <24>; 62, 392 <397>; 73, 322 <326>; 107, 395 <411 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 - 1 BvR 1311/16 -, juris, Rn. 6).

13

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

14

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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(1) Das Berufungsgericht hat die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. (2) Das Berufungsgericht darf die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an d
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In der Begründung der Beschwerde sind das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 495a Verfahren nach billigem Ermessen


Das Gericht kann sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt. Auf Antrag muss mündlich verhandelt werden.

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(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
VI ZB 27/15
vom
29. November 2016
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darf das Gericht
nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden. Eine vorzeitige Entscheidung
kann den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzen
und die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründen (im Anschluss an
BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011 - V ZB 310/10, NJW 2011, 1363).
BGH, Beschluss vom 29. November 2016 - VI ZB 27/15 - OLG Köln
LG Aachen
ECLI:DE:BGH:2016:291116BVIZB27.15.0

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. November 2016 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Wellner, die Richterinnen von Pentz und Dr. Oehler und den Richter Dr. Klein beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 12. Mai 2015 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen. Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 39.500 €.

Gründe:


I.

1
Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Einstandspflicht wegen angeblicher Behandlungsfehler gerichtete Klage mit Urteil vom 11. Februar 2015 weit überwiegend abgewiesen. Das Urteil ist der erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 13. Februar 2015 zugestellt worden. Am 12. März 2015 hat der nunmehr mandatierte Prozessbevollmächtigte des Klägers Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 20. April 2015, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 22. April 2015 zugegangen, hat das Berufungsgericht auf die beabsichtigte Verwerfung der Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist hingewiesen. Am 29. April 2015 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers einen Antrag auf Wiedereinsetzung übersandt und die Berufung begründet. Er hat vorgetragen, vom 22. bis 28. April 2015 urlaubsbedingt abwesend gewesen zu sein. Die Fristversäumung beruhe auf dem Versehen seiner zuverlässigen und ansonsten beanstandungsfrei arbeitenden Rechtsanwaltsfachangestellten Frau W., die die Berufungsbegründungsfrist nicht in den Fristenkalender eingetragen habe. Dem Wiedereinsetzungsantrag ist eine entsprechende eidesstattliche Versicherung der Frau W. beigefügt gewesen.
2
Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 12. Mai 2015 den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unbegründet sei. Der Kläger habe bereits nicht schlüssig dargelegt, dass er ohne ihm zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten gehindert gewesen sei, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten.
3
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Rechtsbeschwerde.

II.

4
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Indem das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen hat, hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
5
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung jedes Schriftsatzes, der innerhalb einer gesetzlichen oder richterlich bestimmten Frist bei Gericht eingeht (BVerfGE 53, 219, 222; vgl. auch Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl., Vor § 128 Rn. 6 jeweils mwN). Danach darf das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden; dabei ist unerheblich, ob es die Sache für entscheidungsreif hält, weil der Antragssteller innerhalb der Frist zu den Wiedereinsetzungsgründen ergänzend vortragen kann und darf (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011 - V ZB 310/10, NJW 2011, 1363 Rn. 4).
6
2. Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen. Das Berufungsgericht hat sich in zivilprozessual unzulässiger Weise der Möglichkeit begeben, Vortrag zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, da es vor Fristablauf einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beschieden hat. Die Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung beträgt nach § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Sie beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Abs. 2 ZPO). Dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ist die Verfügung des Berufungsgerichts am 22. April 2015 zugestellt worden. Selbst wenn man für dessen Kenntnis von der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als Zeitpunkt der Behebung des Hindernisses auf dieses Datum abstellt, war am 12. Mai 2015 die Mo- natsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO noch nicht abgelaufen. Die Bescheidung des Wiedereinsetzungsantrags war mithin verfrüht. Dabei kann dahinstehen , ob - wie von der Beschwerde vorgetragen - eine gerichtliche Hinweispflicht bestand, den Kläger auf seinen für unzureichend erachteten Vortrag hinzuweisen (vgl. zur Reichweite der Hinweispflichten bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand etwa Senatsbeschluss vom 16. August 2016 - VI ZB 19/16, VersR 2016, 1463 Rn. 7 ff.; BGH, Beschlüsse vom 3. April 2008 - I ZB 73/07, GRUR 2008, 837; und vom 10. März 2011 - VII ZB 28/10, NJW-RR 2011, 790).
7
Der Verstoß war entscheidungserheblich, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger seinen Vortrag zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags bis zum Fristablauf hinreichend ergänzt hätte.
8
3. Danach kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Die Sache ist gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneutenEntscheidung unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens des Klägers im Rechtsbeschwerdeverfahren an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Galke Wellner von Pentz Oehler Klein
Vorinstanzen:
LG Aachen, Entscheidung vom 11.02.2015 - 11 O 399/12 -
OLG Köln, Entscheidung vom 12.05.2015 - 5 U 38/15 -

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine britische Staatsbürgerin, führte als technische Redakteurin für inländische Firmen Dokumentationsarbeiten aus. Sie gab für die Jahre 2003 bis 2006 (Streitjahre) weder Umsatzsteuer-Voranmeldungen noch Umsatzsteuererklärungen ab.

2

Die Klägerin hatte gemeinsam mit ihrem Ehemann und vertreten durch diesen am 19. Juni 2001 einen Mietvertrag über eine Wohnung in … geschlossen. Sie wurde unter dieser Anschrift durch ihren Ehemann am 20. August 2001 beim zuständigen Meldeamt mit Einzugsdatum 15. Juli 2001 an- und am 7. Februar 2008 rückwirkend zum 31. Oktober 2001 abgemeldet.

3

Nach einer Steuerfahndungsprüfung setzte das Finanzamt X Umsatzsteuer für die Streitjahre gegen die Klägerin fest. Es ging davon aus, dass die Klägerin in den Streitjahren im Inland ansässig war.

4

Die Einsprüche der Klägerin wies der aufgrund eines Wohnsitzwechsels nunmehr zuständig gewordene Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) mit Einspruchsentscheidung vom 2. Januar 2009 als unbegründet zurück.

5

Auf die Klage der Klägerin hin --mit der sie geltend gemacht hatte, der Sitz ihres Unternehmens habe sich in den Streitjahren in Großbritannien befunden, da sie dort ihren Wohnsitz unterhalten und sich in der Bundesrepublik Deutschland nur zu Besuchszwecken aufgehalten habe-- beschloss das Finanzgericht (FG) am 2. März 2012 u.a., dass "Beweis zu erheben [ist] a) über die Tatsache, dass die Klägerin in den maßgeblichen Zeiträumen von England aus tätig war, durch Vernehmung von A ... als Zeuge sowie b) über den Aufenthaltsort der Klägerin in den Streitjahren durch Vernehmung von aa) B ... bb) C ... cc) D ... als Zeugen".

6

Am 17. April 2012 hob das FG den Beweisbeschluss vom 2. März 2012 hinsichtlich der Vernehmung der Zeugin B auf.

7

Der Zeuge A teilte dem FG mit Schreiben vom 30. April 2012 mit, dass er sich am 2. Mai 2012 --dem Termin zur mündlichen Verhandlung-- eine krebsverdächtige Stelle operativ entfernen lasse. Außerdem liege seine Ehefrau im Wachkoma und die Ärzte rechneten mit ihrem Ableben in den nächsten Tagen.

8

Nachdem der Zeuge A zur mündlichen Verhandlung am 2. Mai 2012 nicht erschienen war und das FG die Beteiligten von dem Schreiben des Zeugen vom 30. April 2012 in Kenntnis gesetzt hatte, erklärte die Klägerin, dass sie auf den Zeugen nicht verzichte.

9

Das FG wies die Klage nach Schluss der mündlichen Verhandlung, in der die Zeugen C und D vernommen worden waren, als unbegründet ab. Die Klägerin schulde die aus ihren ausgeführten Umsätzen resultierende Umsatzsteuer. Die Steuerschuldnerschaft habe sich nicht auf die inländischen Leistungsempfänger der Klägerin gemäß § 13b Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes a.F. verlagert, da die Klägerin in den Streitjahren nicht im Ausland ansässig gewesen sei. In Ermangelung eines ausländischen Firmensitzes sei auf den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin abzustellen, der sich in den Streitjahren im Inland befunden habe.

10

In den Gründen des angefochtenen Urteils hat das FG zu den Beweisanträgen der Klägerin Stellung genommen und dargelegt, weshalb es nicht verpflichtet gewesen sei, diesen nachzugehen.

11

Mit ihrer wegen Nichtzulassung der Revision eingelegten Beschwerde macht die Klägerin Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend und rügt mangelnde Sachaufklärung und die Verletzung rechtlichen Gehörs durch rechtswidrige Verkürzung der Beweisaufnahme.

Entscheidungsgründe

12

II. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG gemäß § 116 Abs. 6 FGO.

13

1. Ein von der Klägerin geltend gemachter Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, liegt vor.

14

a) Das FG hat der Klägerin rechtliches Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) versagt, indem es ihr vor Erlass des Urteils nicht mit der erforderlichen Klarheit zu erkennen gegeben hat, dass es entgegen dem Beweisbeschluss vom 2. März 2012 nicht mehr beabsichtigte, den Zeugen A zu vernehmen.

15

b) Durch einen Beweisbeschluss entsteht eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer Beweisaufnahme absehen, muss es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. Dezember 2002 X B 26/02, BFH/NV 2003, 343; vom 27. August 2010 III B 113/09, BFH/NV 2010, 2292; vom 19. Januar 2012 X B 4/10, BFH/NV 2012, 958, jeweils m.w.N.).

16

Im Streitfall wurde mit Beweisbeschluss vom 2. März 2012 angeordnet, A als Zeugen zu vernehmen. Den Akten des FG kann kein Hinweis an die Beteiligten entnommen werden, dass der Beweisbeschluss insoweit nicht ausgeführt werde. Auch aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 2. Mai 2012 lässt sich nicht entnehmen, dass das FG zu erkennen gegeben hat, es werde ein Urteil fällen, ohne zuvor den Zeugen A zu hören. Das FG hat ausweislich dieser Niederschrift die Beteiligten lediglich darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Zeuge A dem Gericht am 30. April 2012 mitgeteilt habe, er halte sein Ausbleiben für genügend entschuldigt, weil er sich heute eine krebsverdächtigte Stelle operativ entfernen lasse und außerdem seine Frau im Krankenhaus im Wachkoma liege.

17

c) Ein Hinweis darauf, dass der Beweisbeschluss nicht oder nicht vollständig ausgeführt werde, kann entbehrlich sein. Hierfür genügt jedoch nicht, dass die Beteiligten allgemein in Betracht ziehen müssen, das FG werde von der Beweisaufnahme absehen. Die Beteiligten können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Abweichendes kann nur gelten, wenn das Gericht zu Recht davon ausgehen kann, es sei auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei, dass sich eine angeordnete Beweisaufnahme erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfe (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 958, m.w.N.).

18

Von einer solchen Erledigung durfte das FG im Streitfall nicht ausgehen. Die Klägerin hat --wie sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 2012 ergibt-- ausdrücklich erklärt, dass sie nicht auf den Zeugen verzichte. Das FG konnte hiernach nicht davon ausgehen, dass sich die angeordnete Beweisaufnahme aus der Sicht der Beteiligten erledigt habe.

19

Im Übrigen ist es hiervon auch nicht ausgegangen. Aus den Gründen des angefochtenen Urteils ist zu entnehmen, dass das FG die beantragte Vernehmung des Zeugen A deshalb abgelehnt hat, weil der Beweisantrag der Klägerin auf eine Ausforschung des Zeugen hinauslaufe und zudem die beantragte Vernehmung für die Entscheidung unerheblich sei. Die durch den Beweisbeschluss vom 2. März 2012 geschaffene Verfahrenslage, auf die die Klägerin ihre Prozessführung einrichten durfte, konnte hierdurch jedoch selbst dann nicht nachträglich beseitigt werden, wenn die Ausführungen des FG zur Ablehnung ihres Beweisantrags zutreffend wären, was hier dahinstehen kann.

20

d) Die Klägerin hat diesen Verstoß auch in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 FGO entsprechenden Weise dargelegt.

21

2. Hiernach braucht der Senat nicht mehr auf den von der Klägerin ferner geltend gemachten Verfahrensfehler einzugehen, das FG habe die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) dadurch verletzt, dass es ihre (weitergehenden) Beweisanträge zu Unrecht übergangen habe.

22

3. Der BFH kann gemäß § 116 Abs. 6 FGO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, sofern --wie hier-- die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. Es erscheint sachgerecht, entsprechend dieser Vorschrift zu verfahren, da im Streitfall von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938; vom 22. März 2012 XI B 1/12, BFH/NV 2012, 1170, Rz 19).

23

4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

Gründe

1

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzgericht (FG) gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

2

1. Ein von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) geltend gemachter Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, liegt vor.

3

a) Das FG hat der Klägerin rechtliches Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) versagt, indem es ihr vor Erlass des Urteils nicht mit der unter den gegebenen besonderen Umständen des Streitfalls gebotenen Klarheit zu erkennen gegeben hat, dass es --entgegen der in dem Schreiben des Vorsitzenden vom 6. Juni 2012 angeordneten Anhörung-- nicht mehr beabsichtige, den Zeugen B zu vernehmen.

4

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) entsteht durch einen (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer Beweisaufnahme absehen, muss es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. BFH-Beschlüsse vom 3. Dezember 2002 X B 26/02, BFH/NV 2003, 343; vom 27. August 2010 III B 113/09, BFH/NV 2010, 2292; vom 19. Januar 2012 X B 4/10, BFH/NV 2012, 958; vom 19. Dezember 2012 XI B 84/12, BFH/NV 2013, 745, jeweils m.w.N.).

5

c) Im Streitfall wurde von dem Senatsvorsitzenden des FG am 6. Juni 2012 angeordnet, Herrn B als Zeugen zu dem "Beweisthema: Absatzbemühungen der Klägerin in den Jahren 2007 bis 2009" zu laden. Mit Schreiben noch vom 6. Juni 2012 wurde Herrn B mitgeteilt, er solle in der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2012 als Zeuge zu den Absatzbemühungen der Klägerin in den Jahren 2007 bis 2009 vernommen werden. Mit weiteren Schreiben vom 6. Juni 2012 wurden die Beteiligten hiervon unterrichtet.

6

Den Akten des FG kann kein Hinweis an die Beteiligten entnommen werden, dass von der in dem Schreiben des Vorsitzenden angeordneten Zeugeneinvernahme abgesehen werden solle. Vielmehr hatte der Senatsvorsitzende noch mit Schreiben vom 11. Juni 2012 --kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. Juni 2012-- den Zeugen B aufgefordert, dessen mit Telefax vom 8. Juni 2012 mitgeteilte Verhinderung (längerfristig geplanter Urlaub) nachzuweisen. Auch aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 14. Juni 2012 lässt sich nicht entnehmen, dass das FG zu erkennen gegeben hat, es werde ein Urteil fällen, ohne zuvor den Zeugen B zu hören.

7

d) Ein Hinweis darauf, dass ein Beweisbeschluss nicht oder nicht vollständig ausgeführt werde, kann zwar entbehrlich sein. Hierfür genügt jedoch nicht, dass die Beteiligten allgemein in Betracht ziehen müssen, das FG werde von der Beweisaufnahme absehen. Die Beteiligten können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Abweichendes kann nur gelten, wenn das Gericht zu Recht davon ausgehen kann, es sei auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei, dass sich eine angeordnete Beweisaufnahme erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfe (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2012, 958, und in BFH/NV 2013, 745, jeweils m.w.N.).

8

Entsprechendes gilt unter den besonderen Umständen des Streitfalls für die durch das Schreiben vom 6. Juni 2012 unmittelbar vor Durchführung der mündlichen Verhandlung am 14. Juni 2012 geweckte Erwartung der Beteiligten, der Zeuge B werde vor dem Ergehen eines Urteils noch vernommen. Das FG durfte nicht davon ausgehen, auch aus Sicht der Beteiligten sei zweifelsfrei gewesen, dass sich die angeordnete Zeugeneinvernahme erledigt habe, nachdem es im Termin die ordnungsgemäße Ladung des Zeugen festgestellt hatte und auf dessen Mitteilung, dass er sich im Urlaub befinde, hinwies.

9

e) Die Klägerin hat diesen Verstoß auch in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 FGO entsprechenden Weise dargelegt. Insbesondere war das Beweisthema (Absatzbemühungen der Klägerin) entscheidungserheblich (Urteil, S. 6).

10

2. Hiernach braucht der Senat nicht mehr auf den von der Klägerin ferner geltend gemachten Verfahrensfehler einzugehen, das FG habe es trotz mehrmaliger Bitte unterlassen, sie auf ausstehende Unterlagen oder unzureichenden Sachvortrag hinzuweisen und damit gegen § 76 Abs. 2 FGO verstoßen und es habe die eingereichten Unterlagen zu Unrecht als verspätet zurückgewiesen, obgleich es kurz zuvor noch zu deren Beibringung aufgefordert habe.

11

3. Der BFH kann gemäß § 116 Abs. 6 FGO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, sofern --wie hier-- die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. Es erscheint sachgerecht, entsprechend dieser Vorschrift zu verfahren, da im Streitfall von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938; vom 22. März 2012 XI B 1/12, BFH/NV 2012, 1170, Rz 19).

12

4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

Das Gericht kann sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt. Auf Antrag muss mündlich verhandelt werden.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine britische Staatsbürgerin, führte als technische Redakteurin für inländische Firmen Dokumentationsarbeiten aus. Sie gab für die Jahre 2003 bis 2006 (Streitjahre) weder Umsatzsteuer-Voranmeldungen noch Umsatzsteuererklärungen ab.

2

Die Klägerin hatte gemeinsam mit ihrem Ehemann und vertreten durch diesen am 19. Juni 2001 einen Mietvertrag über eine Wohnung in … geschlossen. Sie wurde unter dieser Anschrift durch ihren Ehemann am 20. August 2001 beim zuständigen Meldeamt mit Einzugsdatum 15. Juli 2001 an- und am 7. Februar 2008 rückwirkend zum 31. Oktober 2001 abgemeldet.

3

Nach einer Steuerfahndungsprüfung setzte das Finanzamt X Umsatzsteuer für die Streitjahre gegen die Klägerin fest. Es ging davon aus, dass die Klägerin in den Streitjahren im Inland ansässig war.

4

Die Einsprüche der Klägerin wies der aufgrund eines Wohnsitzwechsels nunmehr zuständig gewordene Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) mit Einspruchsentscheidung vom 2. Januar 2009 als unbegründet zurück.

5

Auf die Klage der Klägerin hin --mit der sie geltend gemacht hatte, der Sitz ihres Unternehmens habe sich in den Streitjahren in Großbritannien befunden, da sie dort ihren Wohnsitz unterhalten und sich in der Bundesrepublik Deutschland nur zu Besuchszwecken aufgehalten habe-- beschloss das Finanzgericht (FG) am 2. März 2012 u.a., dass "Beweis zu erheben [ist] a) über die Tatsache, dass die Klägerin in den maßgeblichen Zeiträumen von England aus tätig war, durch Vernehmung von A ... als Zeuge sowie b) über den Aufenthaltsort der Klägerin in den Streitjahren durch Vernehmung von aa) B ... bb) C ... cc) D ... als Zeugen".

6

Am 17. April 2012 hob das FG den Beweisbeschluss vom 2. März 2012 hinsichtlich der Vernehmung der Zeugin B auf.

7

Der Zeuge A teilte dem FG mit Schreiben vom 30. April 2012 mit, dass er sich am 2. Mai 2012 --dem Termin zur mündlichen Verhandlung-- eine krebsverdächtige Stelle operativ entfernen lasse. Außerdem liege seine Ehefrau im Wachkoma und die Ärzte rechneten mit ihrem Ableben in den nächsten Tagen.

8

Nachdem der Zeuge A zur mündlichen Verhandlung am 2. Mai 2012 nicht erschienen war und das FG die Beteiligten von dem Schreiben des Zeugen vom 30. April 2012 in Kenntnis gesetzt hatte, erklärte die Klägerin, dass sie auf den Zeugen nicht verzichte.

9

Das FG wies die Klage nach Schluss der mündlichen Verhandlung, in der die Zeugen C und D vernommen worden waren, als unbegründet ab. Die Klägerin schulde die aus ihren ausgeführten Umsätzen resultierende Umsatzsteuer. Die Steuerschuldnerschaft habe sich nicht auf die inländischen Leistungsempfänger der Klägerin gemäß § 13b Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes a.F. verlagert, da die Klägerin in den Streitjahren nicht im Ausland ansässig gewesen sei. In Ermangelung eines ausländischen Firmensitzes sei auf den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin abzustellen, der sich in den Streitjahren im Inland befunden habe.

10

In den Gründen des angefochtenen Urteils hat das FG zu den Beweisanträgen der Klägerin Stellung genommen und dargelegt, weshalb es nicht verpflichtet gewesen sei, diesen nachzugehen.

11

Mit ihrer wegen Nichtzulassung der Revision eingelegten Beschwerde macht die Klägerin Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend und rügt mangelnde Sachaufklärung und die Verletzung rechtlichen Gehörs durch rechtswidrige Verkürzung der Beweisaufnahme.

Entscheidungsgründe

12

II. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG gemäß § 116 Abs. 6 FGO.

13

1. Ein von der Klägerin geltend gemachter Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, liegt vor.

14

a) Das FG hat der Klägerin rechtliches Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) versagt, indem es ihr vor Erlass des Urteils nicht mit der erforderlichen Klarheit zu erkennen gegeben hat, dass es entgegen dem Beweisbeschluss vom 2. März 2012 nicht mehr beabsichtigte, den Zeugen A zu vernehmen.

15

b) Durch einen Beweisbeschluss entsteht eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer Beweisaufnahme absehen, muss es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. Dezember 2002 X B 26/02, BFH/NV 2003, 343; vom 27. August 2010 III B 113/09, BFH/NV 2010, 2292; vom 19. Januar 2012 X B 4/10, BFH/NV 2012, 958, jeweils m.w.N.).

16

Im Streitfall wurde mit Beweisbeschluss vom 2. März 2012 angeordnet, A als Zeugen zu vernehmen. Den Akten des FG kann kein Hinweis an die Beteiligten entnommen werden, dass der Beweisbeschluss insoweit nicht ausgeführt werde. Auch aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 2. Mai 2012 lässt sich nicht entnehmen, dass das FG zu erkennen gegeben hat, es werde ein Urteil fällen, ohne zuvor den Zeugen A zu hören. Das FG hat ausweislich dieser Niederschrift die Beteiligten lediglich darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Zeuge A dem Gericht am 30. April 2012 mitgeteilt habe, er halte sein Ausbleiben für genügend entschuldigt, weil er sich heute eine krebsverdächtigte Stelle operativ entfernen lasse und außerdem seine Frau im Krankenhaus im Wachkoma liege.

17

c) Ein Hinweis darauf, dass der Beweisbeschluss nicht oder nicht vollständig ausgeführt werde, kann entbehrlich sein. Hierfür genügt jedoch nicht, dass die Beteiligten allgemein in Betracht ziehen müssen, das FG werde von der Beweisaufnahme absehen. Die Beteiligten können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Abweichendes kann nur gelten, wenn das Gericht zu Recht davon ausgehen kann, es sei auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei, dass sich eine angeordnete Beweisaufnahme erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfe (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 958, m.w.N.).

18

Von einer solchen Erledigung durfte das FG im Streitfall nicht ausgehen. Die Klägerin hat --wie sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 2012 ergibt-- ausdrücklich erklärt, dass sie nicht auf den Zeugen verzichte. Das FG konnte hiernach nicht davon ausgehen, dass sich die angeordnete Beweisaufnahme aus der Sicht der Beteiligten erledigt habe.

19

Im Übrigen ist es hiervon auch nicht ausgegangen. Aus den Gründen des angefochtenen Urteils ist zu entnehmen, dass das FG die beantragte Vernehmung des Zeugen A deshalb abgelehnt hat, weil der Beweisantrag der Klägerin auf eine Ausforschung des Zeugen hinauslaufe und zudem die beantragte Vernehmung für die Entscheidung unerheblich sei. Die durch den Beweisbeschluss vom 2. März 2012 geschaffene Verfahrenslage, auf die die Klägerin ihre Prozessführung einrichten durfte, konnte hierdurch jedoch selbst dann nicht nachträglich beseitigt werden, wenn die Ausführungen des FG zur Ablehnung ihres Beweisantrags zutreffend wären, was hier dahinstehen kann.

20

d) Die Klägerin hat diesen Verstoß auch in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 FGO entsprechenden Weise dargelegt.

21

2. Hiernach braucht der Senat nicht mehr auf den von der Klägerin ferner geltend gemachten Verfahrensfehler einzugehen, das FG habe die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) dadurch verletzt, dass es ihre (weitergehenden) Beweisanträge zu Unrecht übergangen habe.

22

3. Der BFH kann gemäß § 116 Abs. 6 FGO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, sofern --wie hier-- die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. Es erscheint sachgerecht, entsprechend dieser Vorschrift zu verfahren, da im Streitfall von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938; vom 22. März 2012 XI B 1/12, BFH/NV 2012, 1170, Rz 19).

23

4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

Gründe

1

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzgericht (FG) gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

2

1. Ein von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) geltend gemachter Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, liegt vor.

3

a) Das FG hat der Klägerin rechtliches Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) versagt, indem es ihr vor Erlass des Urteils nicht mit der unter den gegebenen besonderen Umständen des Streitfalls gebotenen Klarheit zu erkennen gegeben hat, dass es --entgegen der in dem Schreiben des Vorsitzenden vom 6. Juni 2012 angeordneten Anhörung-- nicht mehr beabsichtige, den Zeugen B zu vernehmen.

4

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) entsteht durch einen (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer Beweisaufnahme absehen, muss es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. BFH-Beschlüsse vom 3. Dezember 2002 X B 26/02, BFH/NV 2003, 343; vom 27. August 2010 III B 113/09, BFH/NV 2010, 2292; vom 19. Januar 2012 X B 4/10, BFH/NV 2012, 958; vom 19. Dezember 2012 XI B 84/12, BFH/NV 2013, 745, jeweils m.w.N.).

5

c) Im Streitfall wurde von dem Senatsvorsitzenden des FG am 6. Juni 2012 angeordnet, Herrn B als Zeugen zu dem "Beweisthema: Absatzbemühungen der Klägerin in den Jahren 2007 bis 2009" zu laden. Mit Schreiben noch vom 6. Juni 2012 wurde Herrn B mitgeteilt, er solle in der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2012 als Zeuge zu den Absatzbemühungen der Klägerin in den Jahren 2007 bis 2009 vernommen werden. Mit weiteren Schreiben vom 6. Juni 2012 wurden die Beteiligten hiervon unterrichtet.

6

Den Akten des FG kann kein Hinweis an die Beteiligten entnommen werden, dass von der in dem Schreiben des Vorsitzenden angeordneten Zeugeneinvernahme abgesehen werden solle. Vielmehr hatte der Senatsvorsitzende noch mit Schreiben vom 11. Juni 2012 --kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. Juni 2012-- den Zeugen B aufgefordert, dessen mit Telefax vom 8. Juni 2012 mitgeteilte Verhinderung (längerfristig geplanter Urlaub) nachzuweisen. Auch aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 14. Juni 2012 lässt sich nicht entnehmen, dass das FG zu erkennen gegeben hat, es werde ein Urteil fällen, ohne zuvor den Zeugen B zu hören.

7

d) Ein Hinweis darauf, dass ein Beweisbeschluss nicht oder nicht vollständig ausgeführt werde, kann zwar entbehrlich sein. Hierfür genügt jedoch nicht, dass die Beteiligten allgemein in Betracht ziehen müssen, das FG werde von der Beweisaufnahme absehen. Die Beteiligten können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Abweichendes kann nur gelten, wenn das Gericht zu Recht davon ausgehen kann, es sei auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei, dass sich eine angeordnete Beweisaufnahme erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfe (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2012, 958, und in BFH/NV 2013, 745, jeweils m.w.N.).

8

Entsprechendes gilt unter den besonderen Umständen des Streitfalls für die durch das Schreiben vom 6. Juni 2012 unmittelbar vor Durchführung der mündlichen Verhandlung am 14. Juni 2012 geweckte Erwartung der Beteiligten, der Zeuge B werde vor dem Ergehen eines Urteils noch vernommen. Das FG durfte nicht davon ausgehen, auch aus Sicht der Beteiligten sei zweifelsfrei gewesen, dass sich die angeordnete Zeugeneinvernahme erledigt habe, nachdem es im Termin die ordnungsgemäße Ladung des Zeugen festgestellt hatte und auf dessen Mitteilung, dass er sich im Urlaub befinde, hinwies.

9

e) Die Klägerin hat diesen Verstoß auch in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 FGO entsprechenden Weise dargelegt. Insbesondere war das Beweisthema (Absatzbemühungen der Klägerin) entscheidungserheblich (Urteil, S. 6).

10

2. Hiernach braucht der Senat nicht mehr auf den von der Klägerin ferner geltend gemachten Verfahrensfehler einzugehen, das FG habe es trotz mehrmaliger Bitte unterlassen, sie auf ausstehende Unterlagen oder unzureichenden Sachvortrag hinzuweisen und damit gegen § 76 Abs. 2 FGO verstoßen und es habe die eingereichten Unterlagen zu Unrecht als verspätet zurückgewiesen, obgleich es kurz zuvor noch zu deren Beibringung aufgefordert habe.

11

3. Der BFH kann gemäß § 116 Abs. 6 FGO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, sofern --wie hier-- die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. Es erscheint sachgerecht, entsprechend dieser Vorschrift zu verfahren, da im Streitfall von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938; vom 22. März 2012 XI B 1/12, BFH/NV 2012, 1170, Rz 19).

12

4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

In der Begründung der Beschwerde sind das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.

(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass

1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat,
2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat,
3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und
4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
Das Berufungsgericht oder der Vorsitzende hat zuvor die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Beschluss nach Satz 1 ist zu begründen, soweit die Gründe für die Zurückweisung nicht bereits in dem Hinweis nach Satz 2 enthalten sind. Ein anfechtbarer Beschluss hat darüber hinaus eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen zu enthalten.

(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.

(1) Das Berufungsgericht hat die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden.

(2) Das Berufungsgericht darf die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges nur zurückverweisen,

1.
soweit das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist,
2.
wenn durch das angefochtene Urteil ein Einspruch als unzulässig verworfen ist,
3.
wenn durch das angefochtene Urteil nur über die Zulässigkeit der Klage entschieden ist,
4.
wenn im Falle eines nach Grund und Betrag streitigen Anspruchs durch das angefochtene Urteil über den Grund des Anspruchs vorab entschieden oder die Klage abgewiesen ist, es sei denn, dass der Streit über den Betrag des Anspruchs zur Entscheidung reif ist,
5.
wenn das angefochtene Urteil im Urkunden- oder Wechselprozess unter Vorbehalt der Rechte erlassen ist,
6.
wenn das angefochtene Urteil ein Versäumnisurteil ist oder
7.
wenn das angefochtene Urteil ein entgegen den Voraussetzungen des § 301 erlassenes Teilurteil ist
und eine Partei die Zurückverweisung beantragt. Im Fall der Nummer 3 hat das Berufungsgericht sämtliche Rügen zu erledigen. Im Fall der Nummer 7 bedarf es eines Antrags nicht.

(1) Die Entscheidung nach § 93b und § 93c ergeht ohne mündliche Verhandlung. Sie ist unanfechtbar. Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf keiner Begründung.

(2) Solange und soweit der Senat nicht über die Annahme der Verfassungsbeschwerde entschieden hat, kann die Kammer alle das Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffenden Entscheidungen erlassen. Eine einstweilige Anordnung, mit der die Anwendung eines Gesetzes ganz oder teilweise ausgesetzt wird, kann nur der Senat treffen; § 32 Abs. 7 bleibt unberührt. Der Senat entscheidet auch in den Fällen des § 32 Abs. 3.

(3) Die Entscheidungen der Kammer ergehen durch einstimmigen Beschluß. Die Annahme durch den Senat ist beschlossen, wenn mindestens drei Richter ihr zustimmen.