Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 22. Feb. 2018 - L 7 SO 2541/17

bei uns veröffentlicht am22.02.2018

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Juni 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

 
Die Beteiligten streiten im vorliegenden Verfahren um Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für die Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 31. Juli 2017.
Der 1959 geborene Kläger ist auf Grund einer kombinierten Persönlichkeitsstörung psychisch behindert. Er bezieht von der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Vom Versorgungsamt ist außerdem ein Grad der Behinderung von 80 (Merkzeichen „B“ und „G“) festgestellt. Seit 26. April 2017 ist der Kläger von der Pflegekasse dem Pflegegrad 1 zugeordnet.
Vom 23. Oktober 2015 bis 31. Juli 2017 war der Kläger im W.-Haus, einem Alten- und Pflegeheim der Altenhilfe der Evangelischen Stadtmission gGmbH (i.F.: Beigeladene), vollstationär aufgenommen. Ab 23. Oktober 2015 gewährte die Beklagte dem Kläger unter Berücksichtigung seines Renteneinkommens unbefristet Hilfe zur Pflege durch Übernahme der ungedeckten Heimkosten sowie außerdem ab 1. November 2015 Hilfe zum Lebensunterhalt in Form eines Barbetrags und ab 1. Dezember 2015 auch einer Bekleidungspauschale, ferner durch jeweils gesonderte Bescheide ab 1. November 2015 „Grundsicherungsleistungen“ (diese mit Befristung zunächst bis zum 30. Juni 2016). Mit Änderungsbescheid vom 4. Juli 2016 bewilligte die Beklagte dem Kläger ab dem 1. Juli 2016 Hilfe zur Pflege durch Übernahme der Heimkosten auf der Grundlage eines Heimentgelts von kalendertäglich 69,06 Euro in Höhe von 2.071,80 Euro (Monate mit 30 Tagen) bzw. von 2.140,86 Euro (Monate mit 31 Tagen), einen monatlichen Barbetrag zur persönlichen Verfügung von 109,08 Euro sowie eine monatliche Bekleidungspauschale von 23,00 Euro; als anrechenbares Einkommen wurde die Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers in (damaliger) Höhe von 376,95 Euro berücksichtigt. Ebenfalls unter dem 4. Juli 2016 erging ein Änderungsbescheid mit Bezug auf die „Grundsicherungsleistungen“ für die Zeit vom 1. Juli 2016 bis 30. Juni 2017 in Höhe von monatlich 439,01 Euro, die – wie schon in den früheren Bescheiden - der Beigeladenen „zugeordnet“ wurden.
Am 7. Dezember 2016 ging bei der Beklagten eine Nachricht des Klägers ein, in der er darüber berichtete, dass er sich am 22. November 2016 eine Norovirus-Infektion zugezogen und daraufhin das Essen „komplett abbestellt“ habe. In der Folgezeit stellte sich heraus, dass der Kläger der Einrichtungsleitung am 27. November 2016 erklärt hatte, die Verpflegung nicht mehr in Anspruch nehmen zu wollen, und deshalb um „Herausrechnung“ der im Heimvertrag geregelten Vergütung für die Verpflegung in Höhe von 11,41 Euro gebeten hatte, was von dort jedoch abgelehnt wurde (u.a. Schreiben des Einrichtungsleiters vom 7. Dezember 2016). Nachdem der Kläger den als einzusetzendes Einkommen von der Beklagten errechneten Betrag von 376,95 Euro auf die ihm von der Beigeladenen erstellte Rechnung für den Monat Dezember 2016 nicht bezahlte, wurde ihm von dieser die fristlose Kündigung des Heimvertrags angedroht (Schreiben vom 10. Januar 2017). Nach Einschaltung der Beklagten, wobei mit der Beigeladenen geklärt wurde, dass ab Dezember 2016 ein Abschlag von 3,50 Euro täglich vom Verpflegungsentgelt im Tagessatz vorgenommen werde, erklärte sich diese schließlich mit Schreiben an den Kläger vom 12. Januar 2017 bereit, ihm ab 1. Dezember 2016 einen „Rabatt“ zu gewähren.
Durch Änderungsbescheid vom 13. Januar 2017 bewilligte die Beklagte dem Kläger nunmehr ab dem 1. Dezember 2016 Hilfe zur Pflege durch Übernahme der Heimkosten auf der Grundlage eines Heimentgelts von kalendertäglich 65,56 Euro (69,06 Euro abzüglich 3,50 Euro) in Höhe von 1.282,92 Euro (Monate mit 30 Tagen) bzw. 1.348,48 Euro (Monate mit 31 Tagen), darauf entfallend auf die Hilfe zur Pflege (Heimkosten) 1.150,84 Euro (Monate mit 30 Tagen) bzw. 1.216,40 Euro (Monate mit 31 Tagen) sowie auf den Barbetrag und die Bekleidungspauschale insgesamt 132,08 Euro, wobei zur Berechnung der Leistungen eine „Gesamtleistung Grundsicherung“ in Höhe von monatlich 554,05 Euro sowie ein vom Kläger einzusetzendes eigenes Einkommen von monatlich 261,91 Euro in Ansatz gebracht wurden. Außerdem erließ die Beklagte den weiteren Änderungsbescheid vom 13. Januar 2017, durch den „Grundsicherungsleistungen“ für die Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 30. Juni 2017 von monatlich 554,05 Euro errechnet wurden. Dieser Betrag setzte sich zusammen aus einem Gesamtbedarf von 815,96 Euro (Regelbedarf 324,00 Euro, Gehbehinderten-Mehrbedarf 55,08 Euro, Kosten der Unterkunft 436,88 Euro), dem ein „Gesamteinkommen“ von 261,91 Euro gegenübergestellt wurde, das die Beklagte aus dem Renteneinkommen (376,95 Euro) unter Abzug eines im Regelsatz enthaltenen „Ernährungsanteils“ (115,05 Euro) ermittelte. Den Betrag von 554,05 Euro (einschließlich der Nachzahlung für den Monat Dezember 2016 <115,04 Euro>) ordnete sie der Beigeladenen zu, sodass er nicht zur Auszahlung an den Kläger gelangte. Der Barbetrag und die Bekleidungspauschale wurden dagegen auf das Konto des Klägers überwiesen.
In einem bei der Beklagten am 19. Januar 2017 per Fax (über die nicht ortsgebundene Fax-Nr. +49...) eingegangenen, nicht mit einer Unterschrift, sondern nur mit dem maschinenschriftlich wiedergegebenen Nachnamen des Klägers versehenen Dokument wurde ein „Widerspruch zu dem Bescheid vom 13.01.2017“ formuliert mit dem Begehren, es stehe „der Grundsicherungs-Etat, zum monatlichen Leben, mit erhöhtem Etat auf Grund eines Küchenlosen Wohnverhältnisses“ zu. Die „Aufteilung in 3,50 Euro für Essen und 8,25 Euro für Personalkosten“ sei rechtswidrig, da weder Essen noch Zubereitung noch Geschirr und Besteck benutzt werde. Der momentane „Einbehalt“ entspreche „ziemlich genau“ der zustehenden Grundsicherung und werde bis zu einer gerichtlichen Klärung beibehalten. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2017 wurde der Widerspruch mit der Begründung zurückgewiesen, bei der Festsetzung des Einkommens des Klägers seit Dezember 2016 sei berücksichtigt worden, dass sich dieser selbst mit Nahrungsmitteln und Getränken versorge, weshalb vom Renteneinkommen ein Betrag von 115,04 Euro abgesetzt werde, der dem „Ernährungsanteil in der Regelleistung“ entspreche und sich aus 35,5048 % von 324,00 Euro errechne; dem Kläger stünden damit neben dem Barbetrag in Höhe von 109,08 Euro und der Bekleidungspauschale in Höhe von 23,00 Euro noch ein Betrag aus dem Renteneinkommen von 115,04 Euro, insgesamt also 247,12 Euro zur Verfügung.
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2017 ist am 2. Februar 2017 beim Sozialgericht Mannheim (SG) per Fax (Fax-Nr. +49...) ein als „Rechtsmittel“ formuliertes Dokument, wiederum ohne Unterschrift, sondern nur mit dem in Maschinenschrift wiedergegebenen Nachnamen des Klägers versehen, eingegangen. Auf den Hinweis in der richterlichen Verfügung vom 21. April 2017, dass die Klage aus Formgründen als unzulässig abgewiesen werden müsste, wenn nicht bis zum 15. Mai 2017 ein eigenhändig unterschriebenes Exemplar der Klageschrift eingereicht werde, hat der Kläger am 11. Mai 2017 persönlich beim SG vorgesprochen und die Unterschriftsleistung auf der Klageschrift nachgeholt.
Während des Klageverfahrens erging der Änderungsbescheid vom 9. Februar 2017, mit dem die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 13. Januar 2017 die Leistungen der Hilfe zur Pflege ab dem 1. Januar 2017 neu berechnete und Hilfe zur Pflege (Heimkosten) für die Zeit vom 1. bis 31. Januar 2017 in Höhe von 1.168,49 Euro nebst einem Barbetrag und einer Bekleidungspauschale (insgesamt 133,43 Euro) sowie für die Zeit ab 1. Februar 2017 in Höhe von (ebenfalls) monatlich 1.168,49 Euro bewilligte. Diesen Berechnungen lag eine (wegen der gestiegenen Ausbildungsumlage) geringfügige Erhöhung des Heimentgelts (65,57 Euro täglich <= 69,07 Euro abzüglich 3,50 Euro>) sowie ein ab 1. Januar 2017 auf monatlich 110,43 Euro geänderter Barbetrag zugrunde, wobei nunmehr von dem Renteneinkommen von 376,10 Euro (wegen des ab 1. Januar 2017 angehobenen Regelbedarfs) ein Betrag von 116,10 Euro („Ernährungsanteil“) sowie ab dem 1. Februar 2017 auch der Barbetrag und die Bekleidungspauschale „freigelassen“ wurden, sodass sich ein vom Kläger noch einzusetzendes Einkommen für den Januar 2017 von 260,00 Euro und ab 1. Februar 2017 von monatlich 126,57 Euro errechnete. Im gesondert erlassenen Änderungsbescheid vom 9. Februar 2017 wies die Beklagte „Grundsicherungsleistungen“ dementsprechend für den Monat Januar 2017 in Höhe von 566,15 Euro sowie für die Zeit vom 1. Februar bis 30. Juni 2017 in Höhe von monatlich 699,58 Euro aus (bei einem Regelbedarf von 327,00 Euro, einem Gehbehinderten-Mehrbedarf von 55,59 Euro sowie Kosten der Unterkunft von 443,56 Euro), wobei die vorgenannten Beträge jeweils der Beigeladenen zugeordnet wurden. Ein weiterer Bescheid vom 16. Juni 2017 betraf die Neuberechnung der „Grundsicherungsleistungen“ ab dem 1. Juli 2017 wegen des geänderten Renteneinkommens des Klägers (ab 1. Juli 2017 nunmehr monatlich 383,27 Euro) mit einer Zuordnung des errechneten Monatsbetrags von 692,41 Euro an die Beigeladene.
Das SG hat als streitbefangen den Bescheid vom 13. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. Januar 2017 erachtet und das Begehren des Klägers dahingehend aufgefasst, es gehe diesem darum, dass ihm ab Dezember 2016 höhere Leistungen zu gewähren seien bzw. der an den Einrichtungsträger zu zahlende Eigenbeitrag reduziert werde. Mit Gerichtsbescheid vom 28. Juni 2017 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Gründen hat es ausgeführt, der Kläger habe die einmonatige Klagefrist gewahrt; mittlerweile liege ein Exemplar der Klageschrift mit der Originalunterschrift des Klägers vor. Die zulässige Klage sei jedoch unbegründet. In den Vergütungssätzen seien in nicht unerheblicher Höhe auch Fixkosten (vor allem Personalkosten für das Küchenpersonal) enthalten; dieser Aufwand falle bei der Beigeladenen auch dann an, wenn der Kläger an der Gemeinschaftsverpflegung nicht teilnehme.
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Gegen den dem Kläger am 30. Juni 2017 zugestellten Gerichtsbescheid ist beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) am 1. Juli 2017 unter der Fax-Nummer +49... ein mit „Berufung und juristische Beschwerde“ überschriebenes Dokument eingegangen, das keine Unterschriftsleistung, sondern erneut lediglich den maschinell wiedergegebenen Nachnamen des Klägers sowie den Zusatz enthalten hat, dass eine handschriftliche Unterschrift „nach den Urteilen des BVerwG nicht von Nöten“ sei. Auf den Hinweis in der Eingangsverfügung vom 4. Juli 2017, dass Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit der Berufungseinlegung mit Blick auf das Schriftformerfordernis des § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bestünden, sowie erneuter Aufforderung zur Unterschriftsleistung (Senatsverfügung vom 6. Juli 2017), ist beim LSG am 27. Juli 2017 – wiederum über die Fax-Nummer +49... – ein Schriftstück eingegangen, das mit einer eingescannten, den Vor- und Nachnamen des Klägers („I. B.“) ausweisenden Unterschrift versehen ist. Dort ist – unter nochmaliger Formulierung von „Berufung und juristische Beschwerde“ – dargelegt, es werde begehrt, „dem Kläger die juristisch unzweifelhaft zustehende Grundsicherungsleistung, aus Gleichstellungsgründen, zuzusprechen, und dieses rückwirkend, ab Antragstellung“. Im Schreiben vom 16. Februar 2018 hat der Kläger den entsprechenden Betrag „auf etwa Euro Achthundert taxiert“.
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Während des Berufungsverfahrens ergingen weitere Bescheide der Beklagten. Nachdem der Kläger von der Pflegekasse rückwirkend zum 26. April 2017 dem Pflegegrad 1 zugeordnet worden war (Bescheid vom 29. Juni 2017), kam es zu einer weiteren Neuberechnung. Durch Änderungsbescheid vom 14. Juli 2017 hob die Beklagte nunmehr den Bescheid vom 9. Februar 2017 für die Zeit ab 26. April 2017 auf und bewilligte Hilfe zur Pflege (Heimkosten) für den Monat April 2017 in Höhe von 1.080,95 Euro, für den Monat Mai 2017 in Höhe von 1.438,95 Euro sowie für die Monate Juni und Juli 2017 in Höhe von jeweils 1.714,86 Euro. Diesen Berechnungen lag ein (wegen des Pflegegrades 1 erhöhter) Tagessatz (bis Mai 2017 78,57 Euro täglich <= 82,07 Euro abzüglich 3,50 Euro>; ab Juni 2017 87,64 Euro <=91,14 Euro abzüglich 3,50 Euro>) zugrunde, ferner der von der Pflegekasse gewährte Zuschuss zur stationären Pflege (125,00 Euro) sowie weiterhin der Ansatz von Barbetrag (110,43 Euro) und Bekleidungspauschale (23,00 Euro) beim Einkommen; daraus errechnete die Beklagte für die Monate April bis Juni 2017 ein einzusetzendes Einkommen von 126,57 Euro sowie ab 1. Juli 2017 von 133,74 Euro. Zum 1. Juli 2017 fand der Kläger eine neue Unterkunft, wo er auch gegenwärtig noch wohnhaft ist; der Einrichtungsträger sprach deswegen zum 31. Juli 2017 die Kündigung des Heimvertrags aus (Schreiben vom 20. Juli 2017). Mit Bescheid vom 17. Juli 2017 stellte die Beklagte darauf die Gewährung von „Leistungen der stationären Grundsicherung“ zum 31. Juli 2017 ein und hob den Bescheid vom 16. Juni 2017 auf. Ab 1. August 2017 wurden dem Kläger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII bewilligt (Bescheid vom 26. Juli 2017).
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Der Kläger beantragt (sinngemäß),
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Juni 2017 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 13. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Januar 2017, der Bescheide vom 9. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2017 sowie des Bescheids vom 14. Juli 2017 zu verurteilen, die Kosten der Hilfe zur Pflege während des stationären Aufenthalts im W.-F.-Haus in H. in der Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 31. Juli 2017 unter vollständiger Außerachtlassung der im Heimentgelt enthaltenen Vergütung für die Verpflegung zu übernehmen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
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Der Senat hat mit Beschluss vom 5. Februar 2018 die Altenhilfe der Evangelischen Stadtmission gGmbH beigeladen. Mit Schriftsatz vom 5. Februar 2018 hat der Einrichtungsleiter des W.-F.-Hauses, F. H., mitgeteilt, dass der gegenüber dem Kläger für die Zeit von Dezember 2016 bis Juli 2017 noch offenstehende Forderungsbetrag von insgesamt 1.270,87 Euro wegen Uneinbringlichkeit ausgebucht worden sei.
18 
Der Senat hat vom Amtsgericht – Betreuungsgericht - (AG) . die über den Kläger geführten Betreuungsakten (B 40 XVII 970/11, B 4018 XVII 1654/16) beigezogen.
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Zur weiteren Darstellung wird auf die beigezogenen Akten, die Verwaltungsakten der Beklagten, die Klageakte des SG (S 9 SO 309/16), die Berufungsakte des Senats (L 7 SO 2541/17) sowie die weiteren Senatsakten (L 7 SO 788/17 ER-B, L 7 SO 1197/17 ER-B, L 7 SO 2572/17 ER-B und L 7 SO 2793/17 ER-B) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
I.
20 
Der Senat entscheidet in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung über die Berufung des Klägers. Das Ablehnungsgesuch des Klägers gegen „die gesamt rechtsbeugend tätig gewordenen Richter des 7. Senates“ (Schreiben vom 16. Februar 2018), die dem Rechtsamt der Beklagten in „eindeutig Parteilicher und Rechtsbeugender Weise vorsätzlich beim Rechtsbruch tätig behilflich“ seien, ist offensichtlich unzulässig. Das Vorbringen des Klägers erschöpft sich darin, ohne objektive Anknüpfungspunkte die Parteilichkeit sämtlicher Mitglieder des Senats lediglich pauschal zu behaupten. Schon diese Kollektivablehnung ist, abgesehen von der die Sachlichkeit gänzlich außer Acht lassenden Wortwahl, zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 60 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) von vornherein völlig ungeeignet und damit rechtsmissbräuchlich. Somit konnte der Senat unter Beteiligung der abgelehnten Richter selbst entscheiden, ohne dass es einer dienstlichen Stellungnahme bedurfte (vgl. dazu nur Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 7. Juli 2017 – 1 BvR 805/17 - ; Bundessozialgericht SozR 4-1500 § 60 Nr. 4). Sollte sich das Ablehnungsgesuch des Klägers auch gegen den Richter am Sozialgericht K. gerichtet haben, wäre auch dieses unzulässig, weil eine Richterablehnung gemäß § 60 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 44 f. ZPO grundsätzlich nur bis zur Beendigung der Instanz gestellt werden kann (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Auflage 2017, § 60 Rdnr. 11 ).
II.
21 
Trotz Ausbleibens von Kläger und Beigeladener im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22. Februar 2018 konnte der Senat verhandeln und entscheiden, da in der Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2018 (dem Kläger zugestellt am 19. Januar 2018, der Beigeladenen zugestellt am 7. Februar 2018) darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle des Ausbleibens von Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (vgl. § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG und hierzu BSG, Beschluss vom 26. Juni 2014 - B 12 KR 67/13 B - ; BSG, Beschluss vom 3. Juli 2017 - B 13 R 34/16 BH - ). Die Voraussetzungen für eine Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung vom 22. Februar 2018 auf einen anderen Termin, die nur aus erheblichen Gründen (§ 202 SGG i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO) in Betracht kommt und insoweit die hinreichende Substantiierung von Terminverlegungsgründen verlangt (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 12. Mai 2017 – B 8 SO 69/16 B - ), liegen nicht vor. Soweit sich der Verlegungsantrag des Klägers vom 16. Februar 2018 darauf beziehen sollte, dass er gemeint hat, aus gesundheitlichen Gründen sei es „zweckmäßig“, zum Termin schon tags zuvor, möglichst mit Begleitung, anzureisen, und hierzu die Übernahme der notwendigen Kosten geltend gemacht hat (vgl. auch sein Schreiben vom 22. Januar 2018), ist er bereits mit der Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 30. Januar 2018 sowie erneut mit der Verfügung vom 16. Februar 2018 darauf hingewiesen worden, dass Gründe für eine zwingende Anreise bereits am Tag vor der mündlichen Verhandlung nicht dargetan worden seien. Im Übrigen ist dem Kläger die Möglichkeit zur An- und Rückreise auf Kosten der Staatskasse für zwei Personen eröffnet worden (vgl. die Mitteilung der Senatsgeschäftsstelle an ihn vom 19. Februar 2018), und zwar ungeachtet dessen, dass bei vom Versorgungsamt zuerkannten Merkzeichen „G“ und „B“ ohnehin die Voraussetzungen für eine kostenlose Beförderung im öffentlichen Personenverkehr für den schwerbehinderten Menschen sowie eine Begleitperson erfüllt sind. Davon hat der in H. wohnhafte Kläger aber offensichtlich keinen Gebrauch machen möchten.
III.
22 
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
23 
1. Der Senat erachtet das Rechtsmittel der Berufung vom Kläger als formgerecht und wirksam eingelegt. Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Sinn und Zweck des Schriftformgebots ist, dass dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können; darüber hinaus muss feststehen, dass es sich bei dem Schreiben nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass es mit Wissen und Wollen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist (BSG SozR 3-1500 § 151 Nr. 4; BSG, Beschluss vom 30. März 2015 – B 12 KR 102/13 B - ). Zwar ist dem Schriftformerfordernis grundsätzlich durch die eigenhändige Unterschrift Rechnung zu tragen (BSGE 37, 279, 280; ferner Leitherer in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 151 Rdnrn. 4 ff. ). Jedoch sind in der Rechtsprechung zahlreiche Ausnahmen anerkannt, wenn dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit auch durch andere Weise als durch eine eigenhändige Unterschrift genügt wird. So ist etwa die elektronische Übertragung einer Textdatei per Computerfax mit eingescannter Unterschrift grundsätzlich ein zulässiger Weg, die Berufung „schriftlich“ im Sinne des § 151 Abs. 1 SGG einzulegen (ständige Rechtsprechung; vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 30. März 2015 – B 12 KR 102/13 B - ; BSG, Beschluss vom 17. März 2016 – B 11 AL 6/16 B - ; ferner zum E-Post-Brief Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 4. April 2016 – 14 UF 204/15 - ). Das gilt jedenfalls dann, wenn sich aus dem Schriftstück selbst oder den Begleitumständen unzweifelhaft die Urheberschaft und der Verbreitungswille ergeben.
24 
Solches ist zur Überzeugung des Senats hier der Fall. Zwar ist das am 27. Juli 2017 beim LSG eingegangene Schreiben, in dem eine Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 28. Juni 2017 formuliert ist, von der nicht ortsgebundenen Fax-Nummer +49... abgesandt worden, die nicht sicher einem Beteiligten zugeordnet werden kann (vgl. hierzu die Senatsbeschlüsse vom 12. April 2017 - L 7 SO 788/17 ER-B und L 7 SO 1197/17 ER-B -). Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten den Kläger betreffenden Eilverfahren sowie dem am 1. Juli 2017 beim LSG eingegangenen Dokument enthält die - auf elektronischem Weg per Computerfax (vgl. zum Übermittlungsweg „E-Mail to Fax“ Bundesfinanzhof BFHE 245, 484 ) – am 27. Juli 2017 übermittelte Berufungsschrift vom 25. Juli 2017 jedoch eine (eingescannte) Unterschrift, die dem Kläger - bei einem Abgleich mit aktenkundigen handschriftlichen Unterschriftsleistungen, insbesondere mit der am 11. Mai 2017 eigenhändig unterzeichneten Klageschrift - eindeutig zugeordnet werden kann. Der Senat hält das Schriftformerfordernis des § 151 Abs. 1 SGG mithin für das vorliegende Berufungsverfahren für gewahrt.
25 
2. Der Senat hat ferner keine Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers bereits zum Zeitpunkt der Klageerhebung und darüber hinaus bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung. Die vom Senat beigezogenen Betreuungsakten des AG H., deren Übersendung der Kläger nach seiner entsprechenden Anhörung dem AG anheimgegeben hat, rechtfertigen nicht die Annahme, dass er prozessunfähig ist. Prozessunfähig sind gemäß § 71 Abs. 1 SGG Personen, die sich nicht durch Verträge verpflichten können, die also nicht geschäftsfähig im Sinne des § 104 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sind (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr. 32). Nach § 104 Nr. 2 BGB ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet (BSG, Beschluss vom 14. August 2017 – B 12 KR 103/14 B - ). Diese sehr strengen Voraussetzungen für die Annahme von Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit sind beim Kläger für das vorliegende Verfahren zu verneinen. Er leidet zwar an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und dissozialen Anteilen (vgl. die gutachtliche Stellungnahme der Priv.-Doz. Dr. H., Oberärztin an der Klinik für Allgemeine Psychiatrie H., vom 2. April 2015, Bl. 1487 ff. der Betreuungsakten B 40 XVII 970/11). Diese psychische Erkrankung hat hier jedoch eine freie Willensbestimmung des Klägers während des gesamten Verfahrens nicht ausgeschlossen. Ausweislich der Niederschrift des AG H. vom 29. Dezember 2016 (Bl. 99 der Akte B 4018 XVII 1654/16) hat der der richterlichen Anhörung des Klägers beiwohnende Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. bei jenem das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung bestätigt, ihn jedoch für in der Lage gehalten, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen und einen freien Willen zu bilden. Das AG H. hat darauf mit Beschluss vom 30. Januar 2017 das (erneute) Verfahren auf Anordnung einer Betreuung eingestellt (vgl. Bl. 109 der Akte B 4018 XVII 1654/16). Dass der Kläger auch gegenwärtig – trotz eigener Rechtsvorstellungen - zu einer Abwägung des Für und Wider in der Lage ist, wird durch sein Handeln in der einstweiligen Rechtsschutzsache vor dem Senat (L 7 SO 2572/17 ER-B) bestätigt, in welcher er einen Eilantrag auf Grundsicherungsleistungen formuliert, diesen jedoch auf richterlichen Hinweis (Verfügung vom 17. August 2017) mit seinem per Fax eingegangenen Schreiben vom 21. August 2017 nicht aufrechterhalten hatte, nachdem die Beklagte ihm mit Bescheid vom 26. Juli 2017 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII ab dem 1. August 2017 bewilligt hatte. Der Kläger ist zwar psychisch behindert, jedoch ist die Schwelle zur Prozessunfähigkeit während des gesamten vorliegenden Gerichtsverfahrens nicht überschritten gewesen. Deshalb war auch die Bestellung eines besonderen Vertreters (§ 72 Abs. 1 SGG) nicht geboten.
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3. Ferner ist die Berufung des Klägers statthaft, weil die Berufungsausschlussgründe des § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht eingreifen. Die Monatsfrist für die Einlegung der Berufung (§ 151 Abs. 1 SGG) ist jedenfalls mit dem am 27. Juli 2017 beim LSG per Computerfax eingegangenen Schreiben des Klägers vom 25. Juli 2017 eingehalten. Die Berufung des Klägers ist jedoch in der Sache nicht begründet.
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a) Dabei steht einer Sachentscheidung nicht entgegen, dass der Kläger weder seinen gegen die Bescheide vom 13. Januar 2017 formulierten Widerspruch noch anfänglich die Klage zum SG (S 9 SO 309/17) eigenhändig unterschrieben hatte. Zwar handelt es sich bei der Regelung § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG zur Form der Widerspruchseinlegung nicht um eine Soll-Vorschrift, wie für die Klage in § 90 i.V.m. § 92 Abs. 1 Satz 3 SGG normiert. Solche Rechtsbehelfe (Widerspruch, Klage) sind indes auch ohne Unterschriftsleistung wirksam eingelegt, wenn sich aus ihnen allein oder mit weiteren Anlagen ergibt, dass sie vom Widerspruchsführer bzw. Kläger stammen (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 84 Rdnr. 3; ders., a.a.O., § 90 Rdnr. 5a ). Vorliegend hatte die Beklagte, ferner zu Anfang auch das SG, keine Zweifel an der Wirksamkeit des jeweils ohne Unterschriftsleistung eingelegten Rechtsbehelfs. Selbst wenn aber solche wegen der fehlenden Unterschriftsleistung bestanden hätten, wäre eine Belehrung über die korrekte Form der Rechtsbehelfseinlegung unter dem Gesichtspunkt behördlicher und prozessualer Fürsorgepflichten erforderlich gewesen, sodass schon mit Blick auf die jeweils lange vor Ablauf der Fristen eingelegten Rechtsbehelfe (Widerspruch, Klage) Wiedereinsetzungsgründe gegeben waren (vgl. hierzu BSG, Beschluss vom 6. Juli 2016 – B 9 SB 1/16 R - ; Bundesverwaltungsgericht BVerwGE 50, 248 ; BFH, Beschluss vom 12. Juli 2017 – X B 16/17 - ).
28 
b) Das prozessuale Begehren des Klägers bedarf freilich der Auslegung im Rahmen des § 123 SGG. Danach ist gemäß der - für Prozesshandlungen entsprechend anwendbaren - Bestimmung des § 133 BGB zur Auslegung eines Antrags nicht am Wortlaut der Erklärung zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen und zu berücksichtigen, soweit er für das Gericht erkennbar ist (BSGE 68, 190, 191 = SozR 3-2500 § 95 Nr. 1). Insoweit haben die Gerichte sich nicht daran zu orientieren, was als Klageantrag zulässig ist, sondern was nach dem klägerischen Vorbringen begehrt wird, soweit jeder vernünftige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung anpassen würde und keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen (BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr. 21). Dabei sind neben dem Wortlaut des Antrags auch sämtliche Schriftsätze des Prozessbeteiligten, seine zu Protokoll des Gerichts gegebenen Erklärungen sowie der Inhalt der Verwaltungsakten heranzuziehen (BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr. 65).
29 
aa) Der Kläger hat in seinem Schreiben vom 25. Juli 2017 formuliert, ihm Grundsicherungsleistungen ab Antragstellung zuzusprechen. Damit können bei verständiger Würdigung seines Vorbringens allerdings nicht Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII gemeint sein. Denn Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41 ff. SGB XII betreffen Hilfen außerhalb von stationären Einrichtungen; hierüber ist indes in den hier angefochtenen Bescheiden nicht entschieden worden. Der Kläger wäre insoweit – mangels einer gerichtlich überprüfbaren Verwaltungsentscheidung - nicht klagebefugt im Sinne des § 54 Abs. 1 SGG (vgl. hierzu etwa BSG SozR 4-3500 § 77 Nr. 1; BSG, Urteil vom 21. September 2010 – B 2 U 25/09 R - ). Zwar hat die Beklagte den (zweiten) Bescheid vom 13. Januar 2017 fälschlicherweise mit „Bescheid über die Änderung von Leistungen nach dem 4. Kapitel Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – für: Ingo Brandes 22.09.1959“ überschrieben. Die Auslegung der betreffenden behördlichen Erklärung aus der Sicht eines objektiven Betrachters (vgl. hierzu BSG SozR 4-3500 § 77 Nr. 1; BSG SozR 4-2600 § 96a Nr. 14) ergibt jedoch, was auch durch die Verlautbarung am Ende des dem Bescheid beigefügten Berechnungsbogens bestätigt wird, wonach der errechnete Betrag der Beigeladenen „zugeordnet“ werde, dass damit nicht eine gesonderte Bewilligung von Grundsicherungsleistungen an den Kläger gemeint war. Der Bescheid ist vielmehr, trotz formaler Trennung, als rechtliche Einheit (vgl. hierzu etwa BSGE 114, 302 = SozR 4-3520 § 1a Nr. 1; BSG, Urteil vom 5. August 2015 – B 4 AS 9/15 R - ) mit dem zeitgleich ergangenen und inhaltlich korrespondierenden Bescheid vom 13. Januar 2017 über die Gewährung von Hilfe zur Pflege in einer stationären Einrichtung zu verstehen.
30 
Dies ergibt sich aus Folgendem: Bei den Leistungen des notwendigen Lebensunterhalts in Einrichtungen – in einer solchen hat sich der Kläger während der gesamten streitbefangenen Zeit befunden - handelt es sich um eine Gesamtleistung (vgl. hierzu Behrend in jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 27b Rdnrn. 9 ff. ), wobei die Bestimmung des § 27b SGB XII in engem Zusammenhang mit den §§ 75 ff. SGB XII steht. Für Bewohner von stationären Einrichtungen werden die Leistungen für die Unterkunft und Verpflegung in der Einrichtung bereitgestellt und erbracht (zu den Grundpauschalen für Unterkunft und Verpflegung vgl. § 76 Abs. 2 Satz 1 SGB XII). Der nach § 27b Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu bestimmende Bedarf stellt deshalb lediglich einen Rechenposten für den in der Einrichtung erbrachten Lebensunterhalt dar (BSGE 114, 147 = SozR 4-3500 § 92a Nr. 1; BSGE 121, 129 = SozR 4-3500 § 92 Nr. 2). Bezüglich des notwendigen Lebensunterhalts in Einrichtungen bedarf es sonach weder einer gesonderten Bewilligung noch handelt es sich um eine Geldleistung, die neben der stationären Leistung erbracht wird (BSG SozR 4-3500 § 106 Nr. 1). Soweit vom Sozialhilfeträger dennoch eine „Bewilligung“ von Grundsicherungsleistungen verlautbart wird, beinhaltet dies nur die Feststellung, dass in der stationären Leistung in der angegebenen Höhe eine – normativ bestimmte – Leistung für den Lebensunterhalt enthalten ist, wobei der Verweis in § 27b Abs. 1 Satz 2 SGB XII auf die Leistungen nach § 42 SGB XII die Funktion hat, denjenigen Anteil des Hilfebedürftigen zu bestimmen, mit dem er aus seinem Einkommen (z.B. seiner Rente) zu den Aufwendungen des Sozialhilfeträgers beitragen muss (vgl. Behrend in jurisPK-SGB XII, a.a.O., § 27b Rdnrn. 36, 76 ). Auch die weiteren Leistungen des notwendigen Lebensunterhalts nach § 27b Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 und Abs. 2 SGB XII, also insbesondere Kleidung und ein Barbetrag zur persönlichen Verfügung, werden nicht als Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII), sondern als Hilfe zum Lebensunterhalt gezahlt (vgl. BSG SozR 4-3500 § 35 Nr. 3; Eicher in JurisPK-SGB XII, a.a.O., Anhang zu § 13 Rdnr. 3 ).
31 
Die oben dargestellten Maßstäbe gelten auch für die nachfolgend ergangenen Bescheide vom 9. Februar 2017 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2017) sowie den Bescheid vom 14. Juli 2017, der wiederum den Bescheid vom 16. Juni 2017 aufgehoben und damit erledigt hat (vgl. § 39 Abs. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch).
32 
bb) Unabhängig von der konkreten Formulierung eines Sachantrags durch den Kläger muss nach allem davon ausgegangen werden, dass es ihm in Wahrheit im vorliegenden Verfahren nicht um Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII geht. Bereits in dem am 19. Januar 2017 bei der Beklagten per Fax eingegangenen Schriftstück hatte der Kläger – wie schon früher in seiner am 7. Dezember 2016 dort eingegangenen Mitteilung - deutlich gemacht, dass er es nicht für gerechtfertigt halte, dass die auf die Verpflegung entfallende Vergütung in der stationären Einrichtung der Beigeladenen bei der Berechnung des im Rahmen der Hilfe zur Pflege anzusetzenden Heimentgelts in der Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 31. Juli 2017 berücksichtigt werde. Sein vorliegendes Klageanliegen zielt mithin bei verständiger Würdigung seines Vorbringens im Ergebnis darauf, dass er seine Rente in dieser Zeit wegen der Selbstverpflegung nicht für den notwendigen Lebensunterhalt in der Einrichtung einzusetzen habe, wobei er errechnet hat, dass der Verpflegungsanteil des Heimentgelts „ziemlich genau“ dem „Einbehalt“ in Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente (bis 30. Juni 2017 376,10 Euro, ab 1. Juli 2017 383,27 Euro monatlich) entspreche. Angefochten sind damit nicht nur die Änderungsbescheide vom 13. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Januar 2017, sondern auch die Änderungsbescheide vom 9. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2017 sowie der Änderungsbescheid vom 14. Juli 2017. Diese Bescheide waren über § 96 Abs. 1 SGG in das Verfahren einzubeziehen (vgl. etwa BSG, Urteil vom 9. Dezember 2016 – B 8 SO 1/15 R - ). Über die bereits während des Klageverfahrens ergangenen, vom SG nicht abgehandelten Bescheide vom 9. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2017 sowie über den erst nach Zustellung des Gerichtsbescheids vom 28. Juni 2017 ergangenen Bescheid vom 14. Juli 2017 hatte der Senat auf Berufung zu entscheiden (vgl. BSG SozR 4-7837 § 4 Nr. 2; BSG SozR 4-7837 § 3 Nr. 1).
33 
b) Die Berufung des Klägers ist indessen in der Sache ohne Erfolg. Hierbei ist zu beachten, dass das Leistungserbringungsrecht im Sozialhilferecht nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (grundlegend BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr. 9) durch das so genannte sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis zwischen dem Träger der Sozialhilfe, dem Leistungsberechtigten und dem Leistungserbringer (bei stationären und teilstationären Leistungen der Einrichtungsträger) geprägt ist; dieses entsteht, wenn der Sozialhilfeträger die Hilfeleistungen an bedürftige Hilfeempfänger nicht durch eigene Einrichtungen oder Dienste im zweiseitigen Rechtsverhältnis erbringt, sondern durch Einrichtungen oder Dienste anderer Träger erbringen lässt. Hierbei sind die Rechtsbeziehungen zwischen dem Hilfeempfänger und dem Leistungserbringer (Erfüllungsverhältnis) zivilrechtlicher Natur; der Sozialhilfeträger tritt insoweit regelmäßig mit dem Bewilligungsbescheid (Kostenübernahmebescheid) der privatrechtlichen Schuld (Zahlungsverpflichtung) des Hilfeempfängers gegenüber dem Leistungserbringer bei (kumulative Schuldübernahme; BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr. 9). Der Schuldbeitritt des Sozialhilfeträgers löst zwar gegen diesen einen unmittelbaren Zahlungsanspruch des Leistungserbringers aus, ändert jedoch nichts an der Rechtsnatur der zugrundeliegenden Schuld; dies hat zur Folge, dass Ansprüche aus dem Erfüllungsverhältnis im Zivilrechtsweg zu verfolgen sind (vgl. nochmals BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr. 9; ferner BSG SozR 4-3500 § 75 Nr. 5; Bundesgerichtshof BGHZ 205, 260 ff.; BGHZ 209, 316 ff.).
34 
Demgemäß war die Beklagte auf der Grundlage der ergangenen, für sie bindend gewordenen Kostenübernahmebescheide, die wiederum auf den heimvertraglichen Vereinbarungen des Klägers mit der Beigeladenen basierten, verpflichtet, die Kosten für die vollstationäre Hilfe zur Pflege des Klägers in deren Einrichtung zu übernehmen. Lediglich in Höhe der Vergütung für die Verpflegung konnte mit der Beigeladenen eine nachträgliche Klärung dahingehend erzielt werden, dass die Beigeladene dem Kläger ab dem 1. Dezember 2016 einen „Rabatt“ gewährte, d.h. hinsichtlich dieses Vergütungsanteils einen Verzicht auf einen Betrag von 3,50 Euro täglich, entsprechend der Reduzierung des Heimentgelts bei Sondenernährung (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 6. Februar 2014 – III ZR 187/13 - ), erklärte. Diesem Verzicht hat die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden Rechnung getragen. Eine weitere Reduzierung des Heimentgelts im Rahmen der Berechnung der Hilfe zur Pflege in einer stationären Einrichtung stand ihr indessen in Anbetracht des heimvertraglichen Erfüllungsverhältnisses aus eigener Macht nicht zu. Solches wäre vom Kläger im Rahmen einer zivilgerichtlichen Auseinandersetzung zu klären gewesen, was er jedoch, wie seinem Vorbringen entnommen werden kann, gerade nicht angestrebt hat. Dessen ungeachtet hat die Beigeladene über den Einrichtungsleiter mit Schriftsatz vom 5. Februar 2018 mitgeteilt, dass der von ihr errechnete, gegen den Kläger für die Zeit von Dezember 2016 bis Juli 2017 noch offenstehende Forderungsbetrag (insgesamt 1.270,87 Euro) wegen Uneinbringlichkeit ausgebucht worden ist. Der Kläger hat demzufolge nach Lage der Dinge nicht mit Nachforderungen der Beigeladenen aus dem Heimvertrag zu rechnen, sodass er sein Renteneinkommen auch nachträglich nicht gegenüber der Beigeladenen anteilig einzusetzen hat. Die ihm vom Rentenversicherungsträger in der Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 31. Juli 2017 ausgezahlten Beträge der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die er vollständig einbehalten hat, dürfte er aber ohnehin bereits vollständig verbraucht haben.
35 
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; eine Kostenauferlegung zugunsten der Beigeladenen kommt nicht in Betracht, nachdem diese im Verfahren keine Anträge gestellt hat (vgl. BSGE 90, 127 = SozR 3-5795 § 10d Nr. 1).
36 
5. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Gründe

 
I.
20 
Der Senat entscheidet in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung über die Berufung des Klägers. Das Ablehnungsgesuch des Klägers gegen „die gesamt rechtsbeugend tätig gewordenen Richter des 7. Senates“ (Schreiben vom 16. Februar 2018), die dem Rechtsamt der Beklagten in „eindeutig Parteilicher und Rechtsbeugender Weise vorsätzlich beim Rechtsbruch tätig behilflich“ seien, ist offensichtlich unzulässig. Das Vorbringen des Klägers erschöpft sich darin, ohne objektive Anknüpfungspunkte die Parteilichkeit sämtlicher Mitglieder des Senats lediglich pauschal zu behaupten. Schon diese Kollektivablehnung ist, abgesehen von der die Sachlichkeit gänzlich außer Acht lassenden Wortwahl, zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 60 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) von vornherein völlig ungeeignet und damit rechtsmissbräuchlich. Somit konnte der Senat unter Beteiligung der abgelehnten Richter selbst entscheiden, ohne dass es einer dienstlichen Stellungnahme bedurfte (vgl. dazu nur Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 7. Juli 2017 – 1 BvR 805/17 - ; Bundessozialgericht SozR 4-1500 § 60 Nr. 4). Sollte sich das Ablehnungsgesuch des Klägers auch gegen den Richter am Sozialgericht K. gerichtet haben, wäre auch dieses unzulässig, weil eine Richterablehnung gemäß § 60 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 44 f. ZPO grundsätzlich nur bis zur Beendigung der Instanz gestellt werden kann (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Auflage 2017, § 60 Rdnr. 11 ).
II.
21 
Trotz Ausbleibens von Kläger und Beigeladener im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22. Februar 2018 konnte der Senat verhandeln und entscheiden, da in der Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2018 (dem Kläger zugestellt am 19. Januar 2018, der Beigeladenen zugestellt am 7. Februar 2018) darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle des Ausbleibens von Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (vgl. § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG und hierzu BSG, Beschluss vom 26. Juni 2014 - B 12 KR 67/13 B - ; BSG, Beschluss vom 3. Juli 2017 - B 13 R 34/16 BH - ). Die Voraussetzungen für eine Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung vom 22. Februar 2018 auf einen anderen Termin, die nur aus erheblichen Gründen (§ 202 SGG i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO) in Betracht kommt und insoweit die hinreichende Substantiierung von Terminverlegungsgründen verlangt (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 12. Mai 2017 – B 8 SO 69/16 B - ), liegen nicht vor. Soweit sich der Verlegungsantrag des Klägers vom 16. Februar 2018 darauf beziehen sollte, dass er gemeint hat, aus gesundheitlichen Gründen sei es „zweckmäßig“, zum Termin schon tags zuvor, möglichst mit Begleitung, anzureisen, und hierzu die Übernahme der notwendigen Kosten geltend gemacht hat (vgl. auch sein Schreiben vom 22. Januar 2018), ist er bereits mit der Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 30. Januar 2018 sowie erneut mit der Verfügung vom 16. Februar 2018 darauf hingewiesen worden, dass Gründe für eine zwingende Anreise bereits am Tag vor der mündlichen Verhandlung nicht dargetan worden seien. Im Übrigen ist dem Kläger die Möglichkeit zur An- und Rückreise auf Kosten der Staatskasse für zwei Personen eröffnet worden (vgl. die Mitteilung der Senatsgeschäftsstelle an ihn vom 19. Februar 2018), und zwar ungeachtet dessen, dass bei vom Versorgungsamt zuerkannten Merkzeichen „G“ und „B“ ohnehin die Voraussetzungen für eine kostenlose Beförderung im öffentlichen Personenverkehr für den schwerbehinderten Menschen sowie eine Begleitperson erfüllt sind. Davon hat der in H. wohnhafte Kläger aber offensichtlich keinen Gebrauch machen möchten.
III.
22 
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
23 
1. Der Senat erachtet das Rechtsmittel der Berufung vom Kläger als formgerecht und wirksam eingelegt. Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Sinn und Zweck des Schriftformgebots ist, dass dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können; darüber hinaus muss feststehen, dass es sich bei dem Schreiben nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass es mit Wissen und Wollen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist (BSG SozR 3-1500 § 151 Nr. 4; BSG, Beschluss vom 30. März 2015 – B 12 KR 102/13 B - ). Zwar ist dem Schriftformerfordernis grundsätzlich durch die eigenhändige Unterschrift Rechnung zu tragen (BSGE 37, 279, 280; ferner Leitherer in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 151 Rdnrn. 4 ff. ). Jedoch sind in der Rechtsprechung zahlreiche Ausnahmen anerkannt, wenn dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit auch durch andere Weise als durch eine eigenhändige Unterschrift genügt wird. So ist etwa die elektronische Übertragung einer Textdatei per Computerfax mit eingescannter Unterschrift grundsätzlich ein zulässiger Weg, die Berufung „schriftlich“ im Sinne des § 151 Abs. 1 SGG einzulegen (ständige Rechtsprechung; vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 30. März 2015 – B 12 KR 102/13 B - ; BSG, Beschluss vom 17. März 2016 – B 11 AL 6/16 B - ; ferner zum E-Post-Brief Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 4. April 2016 – 14 UF 204/15 - ). Das gilt jedenfalls dann, wenn sich aus dem Schriftstück selbst oder den Begleitumständen unzweifelhaft die Urheberschaft und der Verbreitungswille ergeben.
24 
Solches ist zur Überzeugung des Senats hier der Fall. Zwar ist das am 27. Juli 2017 beim LSG eingegangene Schreiben, in dem eine Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 28. Juni 2017 formuliert ist, von der nicht ortsgebundenen Fax-Nummer +49... abgesandt worden, die nicht sicher einem Beteiligten zugeordnet werden kann (vgl. hierzu die Senatsbeschlüsse vom 12. April 2017 - L 7 SO 788/17 ER-B und L 7 SO 1197/17 ER-B -). Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten den Kläger betreffenden Eilverfahren sowie dem am 1. Juli 2017 beim LSG eingegangenen Dokument enthält die - auf elektronischem Weg per Computerfax (vgl. zum Übermittlungsweg „E-Mail to Fax“ Bundesfinanzhof BFHE 245, 484 ) – am 27. Juli 2017 übermittelte Berufungsschrift vom 25. Juli 2017 jedoch eine (eingescannte) Unterschrift, die dem Kläger - bei einem Abgleich mit aktenkundigen handschriftlichen Unterschriftsleistungen, insbesondere mit der am 11. Mai 2017 eigenhändig unterzeichneten Klageschrift - eindeutig zugeordnet werden kann. Der Senat hält das Schriftformerfordernis des § 151 Abs. 1 SGG mithin für das vorliegende Berufungsverfahren für gewahrt.
25 
2. Der Senat hat ferner keine Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers bereits zum Zeitpunkt der Klageerhebung und darüber hinaus bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung. Die vom Senat beigezogenen Betreuungsakten des AG H., deren Übersendung der Kläger nach seiner entsprechenden Anhörung dem AG anheimgegeben hat, rechtfertigen nicht die Annahme, dass er prozessunfähig ist. Prozessunfähig sind gemäß § 71 Abs. 1 SGG Personen, die sich nicht durch Verträge verpflichten können, die also nicht geschäftsfähig im Sinne des § 104 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sind (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr. 32). Nach § 104 Nr. 2 BGB ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet (BSG, Beschluss vom 14. August 2017 – B 12 KR 103/14 B - ). Diese sehr strengen Voraussetzungen für die Annahme von Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit sind beim Kläger für das vorliegende Verfahren zu verneinen. Er leidet zwar an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und dissozialen Anteilen (vgl. die gutachtliche Stellungnahme der Priv.-Doz. Dr. H., Oberärztin an der Klinik für Allgemeine Psychiatrie H., vom 2. April 2015, Bl. 1487 ff. der Betreuungsakten B 40 XVII 970/11). Diese psychische Erkrankung hat hier jedoch eine freie Willensbestimmung des Klägers während des gesamten Verfahrens nicht ausgeschlossen. Ausweislich der Niederschrift des AG H. vom 29. Dezember 2016 (Bl. 99 der Akte B 4018 XVII 1654/16) hat der der richterlichen Anhörung des Klägers beiwohnende Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. bei jenem das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung bestätigt, ihn jedoch für in der Lage gehalten, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen und einen freien Willen zu bilden. Das AG H. hat darauf mit Beschluss vom 30. Januar 2017 das (erneute) Verfahren auf Anordnung einer Betreuung eingestellt (vgl. Bl. 109 der Akte B 4018 XVII 1654/16). Dass der Kläger auch gegenwärtig – trotz eigener Rechtsvorstellungen - zu einer Abwägung des Für und Wider in der Lage ist, wird durch sein Handeln in der einstweiligen Rechtsschutzsache vor dem Senat (L 7 SO 2572/17 ER-B) bestätigt, in welcher er einen Eilantrag auf Grundsicherungsleistungen formuliert, diesen jedoch auf richterlichen Hinweis (Verfügung vom 17. August 2017) mit seinem per Fax eingegangenen Schreiben vom 21. August 2017 nicht aufrechterhalten hatte, nachdem die Beklagte ihm mit Bescheid vom 26. Juli 2017 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII ab dem 1. August 2017 bewilligt hatte. Der Kläger ist zwar psychisch behindert, jedoch ist die Schwelle zur Prozessunfähigkeit während des gesamten vorliegenden Gerichtsverfahrens nicht überschritten gewesen. Deshalb war auch die Bestellung eines besonderen Vertreters (§ 72 Abs. 1 SGG) nicht geboten.
26 
3. Ferner ist die Berufung des Klägers statthaft, weil die Berufungsausschlussgründe des § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht eingreifen. Die Monatsfrist für die Einlegung der Berufung (§ 151 Abs. 1 SGG) ist jedenfalls mit dem am 27. Juli 2017 beim LSG per Computerfax eingegangenen Schreiben des Klägers vom 25. Juli 2017 eingehalten. Die Berufung des Klägers ist jedoch in der Sache nicht begründet.
27 
a) Dabei steht einer Sachentscheidung nicht entgegen, dass der Kläger weder seinen gegen die Bescheide vom 13. Januar 2017 formulierten Widerspruch noch anfänglich die Klage zum SG (S 9 SO 309/17) eigenhändig unterschrieben hatte. Zwar handelt es sich bei der Regelung § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG zur Form der Widerspruchseinlegung nicht um eine Soll-Vorschrift, wie für die Klage in § 90 i.V.m. § 92 Abs. 1 Satz 3 SGG normiert. Solche Rechtsbehelfe (Widerspruch, Klage) sind indes auch ohne Unterschriftsleistung wirksam eingelegt, wenn sich aus ihnen allein oder mit weiteren Anlagen ergibt, dass sie vom Widerspruchsführer bzw. Kläger stammen (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 84 Rdnr. 3; ders., a.a.O., § 90 Rdnr. 5a ). Vorliegend hatte die Beklagte, ferner zu Anfang auch das SG, keine Zweifel an der Wirksamkeit des jeweils ohne Unterschriftsleistung eingelegten Rechtsbehelfs. Selbst wenn aber solche wegen der fehlenden Unterschriftsleistung bestanden hätten, wäre eine Belehrung über die korrekte Form der Rechtsbehelfseinlegung unter dem Gesichtspunkt behördlicher und prozessualer Fürsorgepflichten erforderlich gewesen, sodass schon mit Blick auf die jeweils lange vor Ablauf der Fristen eingelegten Rechtsbehelfe (Widerspruch, Klage) Wiedereinsetzungsgründe gegeben waren (vgl. hierzu BSG, Beschluss vom 6. Juli 2016 – B 9 SB 1/16 R - ; Bundesverwaltungsgericht BVerwGE 50, 248 ; BFH, Beschluss vom 12. Juli 2017 – X B 16/17 - ).
28 
b) Das prozessuale Begehren des Klägers bedarf freilich der Auslegung im Rahmen des § 123 SGG. Danach ist gemäß der - für Prozesshandlungen entsprechend anwendbaren - Bestimmung des § 133 BGB zur Auslegung eines Antrags nicht am Wortlaut der Erklärung zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen und zu berücksichtigen, soweit er für das Gericht erkennbar ist (BSGE 68, 190, 191 = SozR 3-2500 § 95 Nr. 1). Insoweit haben die Gerichte sich nicht daran zu orientieren, was als Klageantrag zulässig ist, sondern was nach dem klägerischen Vorbringen begehrt wird, soweit jeder vernünftige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung anpassen würde und keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen (BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr. 21). Dabei sind neben dem Wortlaut des Antrags auch sämtliche Schriftsätze des Prozessbeteiligten, seine zu Protokoll des Gerichts gegebenen Erklärungen sowie der Inhalt der Verwaltungsakten heranzuziehen (BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr. 65).
29 
aa) Der Kläger hat in seinem Schreiben vom 25. Juli 2017 formuliert, ihm Grundsicherungsleistungen ab Antragstellung zuzusprechen. Damit können bei verständiger Würdigung seines Vorbringens allerdings nicht Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII gemeint sein. Denn Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41 ff. SGB XII betreffen Hilfen außerhalb von stationären Einrichtungen; hierüber ist indes in den hier angefochtenen Bescheiden nicht entschieden worden. Der Kläger wäre insoweit – mangels einer gerichtlich überprüfbaren Verwaltungsentscheidung - nicht klagebefugt im Sinne des § 54 Abs. 1 SGG (vgl. hierzu etwa BSG SozR 4-3500 § 77 Nr. 1; BSG, Urteil vom 21. September 2010 – B 2 U 25/09 R - ). Zwar hat die Beklagte den (zweiten) Bescheid vom 13. Januar 2017 fälschlicherweise mit „Bescheid über die Änderung von Leistungen nach dem 4. Kapitel Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – für: Ingo Brandes 22.09.1959“ überschrieben. Die Auslegung der betreffenden behördlichen Erklärung aus der Sicht eines objektiven Betrachters (vgl. hierzu BSG SozR 4-3500 § 77 Nr. 1; BSG SozR 4-2600 § 96a Nr. 14) ergibt jedoch, was auch durch die Verlautbarung am Ende des dem Bescheid beigefügten Berechnungsbogens bestätigt wird, wonach der errechnete Betrag der Beigeladenen „zugeordnet“ werde, dass damit nicht eine gesonderte Bewilligung von Grundsicherungsleistungen an den Kläger gemeint war. Der Bescheid ist vielmehr, trotz formaler Trennung, als rechtliche Einheit (vgl. hierzu etwa BSGE 114, 302 = SozR 4-3520 § 1a Nr. 1; BSG, Urteil vom 5. August 2015 – B 4 AS 9/15 R - ) mit dem zeitgleich ergangenen und inhaltlich korrespondierenden Bescheid vom 13. Januar 2017 über die Gewährung von Hilfe zur Pflege in einer stationären Einrichtung zu verstehen.
30 
Dies ergibt sich aus Folgendem: Bei den Leistungen des notwendigen Lebensunterhalts in Einrichtungen – in einer solchen hat sich der Kläger während der gesamten streitbefangenen Zeit befunden - handelt es sich um eine Gesamtleistung (vgl. hierzu Behrend in jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 27b Rdnrn. 9 ff. ), wobei die Bestimmung des § 27b SGB XII in engem Zusammenhang mit den §§ 75 ff. SGB XII steht. Für Bewohner von stationären Einrichtungen werden die Leistungen für die Unterkunft und Verpflegung in der Einrichtung bereitgestellt und erbracht (zu den Grundpauschalen für Unterkunft und Verpflegung vgl. § 76 Abs. 2 Satz 1 SGB XII). Der nach § 27b Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu bestimmende Bedarf stellt deshalb lediglich einen Rechenposten für den in der Einrichtung erbrachten Lebensunterhalt dar (BSGE 114, 147 = SozR 4-3500 § 92a Nr. 1; BSGE 121, 129 = SozR 4-3500 § 92 Nr. 2). Bezüglich des notwendigen Lebensunterhalts in Einrichtungen bedarf es sonach weder einer gesonderten Bewilligung noch handelt es sich um eine Geldleistung, die neben der stationären Leistung erbracht wird (BSG SozR 4-3500 § 106 Nr. 1). Soweit vom Sozialhilfeträger dennoch eine „Bewilligung“ von Grundsicherungsleistungen verlautbart wird, beinhaltet dies nur die Feststellung, dass in der stationären Leistung in der angegebenen Höhe eine – normativ bestimmte – Leistung für den Lebensunterhalt enthalten ist, wobei der Verweis in § 27b Abs. 1 Satz 2 SGB XII auf die Leistungen nach § 42 SGB XII die Funktion hat, denjenigen Anteil des Hilfebedürftigen zu bestimmen, mit dem er aus seinem Einkommen (z.B. seiner Rente) zu den Aufwendungen des Sozialhilfeträgers beitragen muss (vgl. Behrend in jurisPK-SGB XII, a.a.O., § 27b Rdnrn. 36, 76 ). Auch die weiteren Leistungen des notwendigen Lebensunterhalts nach § 27b Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 und Abs. 2 SGB XII, also insbesondere Kleidung und ein Barbetrag zur persönlichen Verfügung, werden nicht als Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII), sondern als Hilfe zum Lebensunterhalt gezahlt (vgl. BSG SozR 4-3500 § 35 Nr. 3; Eicher in JurisPK-SGB XII, a.a.O., Anhang zu § 13 Rdnr. 3 ).
31 
Die oben dargestellten Maßstäbe gelten auch für die nachfolgend ergangenen Bescheide vom 9. Februar 2017 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2017) sowie den Bescheid vom 14. Juli 2017, der wiederum den Bescheid vom 16. Juni 2017 aufgehoben und damit erledigt hat (vgl. § 39 Abs. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch).
32 
bb) Unabhängig von der konkreten Formulierung eines Sachantrags durch den Kläger muss nach allem davon ausgegangen werden, dass es ihm in Wahrheit im vorliegenden Verfahren nicht um Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII geht. Bereits in dem am 19. Januar 2017 bei der Beklagten per Fax eingegangenen Schriftstück hatte der Kläger – wie schon früher in seiner am 7. Dezember 2016 dort eingegangenen Mitteilung - deutlich gemacht, dass er es nicht für gerechtfertigt halte, dass die auf die Verpflegung entfallende Vergütung in der stationären Einrichtung der Beigeladenen bei der Berechnung des im Rahmen der Hilfe zur Pflege anzusetzenden Heimentgelts in der Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 31. Juli 2017 berücksichtigt werde. Sein vorliegendes Klageanliegen zielt mithin bei verständiger Würdigung seines Vorbringens im Ergebnis darauf, dass er seine Rente in dieser Zeit wegen der Selbstverpflegung nicht für den notwendigen Lebensunterhalt in der Einrichtung einzusetzen habe, wobei er errechnet hat, dass der Verpflegungsanteil des Heimentgelts „ziemlich genau“ dem „Einbehalt“ in Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente (bis 30. Juni 2017 376,10 Euro, ab 1. Juli 2017 383,27 Euro monatlich) entspreche. Angefochten sind damit nicht nur die Änderungsbescheide vom 13. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Januar 2017, sondern auch die Änderungsbescheide vom 9. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2017 sowie der Änderungsbescheid vom 14. Juli 2017. Diese Bescheide waren über § 96 Abs. 1 SGG in das Verfahren einzubeziehen (vgl. etwa BSG, Urteil vom 9. Dezember 2016 – B 8 SO 1/15 R - ). Über die bereits während des Klageverfahrens ergangenen, vom SG nicht abgehandelten Bescheide vom 9. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2017 sowie über den erst nach Zustellung des Gerichtsbescheids vom 28. Juni 2017 ergangenen Bescheid vom 14. Juli 2017 hatte der Senat auf Berufung zu entscheiden (vgl. BSG SozR 4-7837 § 4 Nr. 2; BSG SozR 4-7837 § 3 Nr. 1).
33 
b) Die Berufung des Klägers ist indessen in der Sache ohne Erfolg. Hierbei ist zu beachten, dass das Leistungserbringungsrecht im Sozialhilferecht nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (grundlegend BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr. 9) durch das so genannte sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis zwischen dem Träger der Sozialhilfe, dem Leistungsberechtigten und dem Leistungserbringer (bei stationären und teilstationären Leistungen der Einrichtungsträger) geprägt ist; dieses entsteht, wenn der Sozialhilfeträger die Hilfeleistungen an bedürftige Hilfeempfänger nicht durch eigene Einrichtungen oder Dienste im zweiseitigen Rechtsverhältnis erbringt, sondern durch Einrichtungen oder Dienste anderer Träger erbringen lässt. Hierbei sind die Rechtsbeziehungen zwischen dem Hilfeempfänger und dem Leistungserbringer (Erfüllungsverhältnis) zivilrechtlicher Natur; der Sozialhilfeträger tritt insoweit regelmäßig mit dem Bewilligungsbescheid (Kostenübernahmebescheid) der privatrechtlichen Schuld (Zahlungsverpflichtung) des Hilfeempfängers gegenüber dem Leistungserbringer bei (kumulative Schuldübernahme; BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr. 9). Der Schuldbeitritt des Sozialhilfeträgers löst zwar gegen diesen einen unmittelbaren Zahlungsanspruch des Leistungserbringers aus, ändert jedoch nichts an der Rechtsnatur der zugrundeliegenden Schuld; dies hat zur Folge, dass Ansprüche aus dem Erfüllungsverhältnis im Zivilrechtsweg zu verfolgen sind (vgl. nochmals BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr. 9; ferner BSG SozR 4-3500 § 75 Nr. 5; Bundesgerichtshof BGHZ 205, 260 ff.; BGHZ 209, 316 ff.).
34 
Demgemäß war die Beklagte auf der Grundlage der ergangenen, für sie bindend gewordenen Kostenübernahmebescheide, die wiederum auf den heimvertraglichen Vereinbarungen des Klägers mit der Beigeladenen basierten, verpflichtet, die Kosten für die vollstationäre Hilfe zur Pflege des Klägers in deren Einrichtung zu übernehmen. Lediglich in Höhe der Vergütung für die Verpflegung konnte mit der Beigeladenen eine nachträgliche Klärung dahingehend erzielt werden, dass die Beigeladene dem Kläger ab dem 1. Dezember 2016 einen „Rabatt“ gewährte, d.h. hinsichtlich dieses Vergütungsanteils einen Verzicht auf einen Betrag von 3,50 Euro täglich, entsprechend der Reduzierung des Heimentgelts bei Sondenernährung (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 6. Februar 2014 – III ZR 187/13 - ), erklärte. Diesem Verzicht hat die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden Rechnung getragen. Eine weitere Reduzierung des Heimentgelts im Rahmen der Berechnung der Hilfe zur Pflege in einer stationären Einrichtung stand ihr indessen in Anbetracht des heimvertraglichen Erfüllungsverhältnisses aus eigener Macht nicht zu. Solches wäre vom Kläger im Rahmen einer zivilgerichtlichen Auseinandersetzung zu klären gewesen, was er jedoch, wie seinem Vorbringen entnommen werden kann, gerade nicht angestrebt hat. Dessen ungeachtet hat die Beigeladene über den Einrichtungsleiter mit Schriftsatz vom 5. Februar 2018 mitgeteilt, dass der von ihr errechnete, gegen den Kläger für die Zeit von Dezember 2016 bis Juli 2017 noch offenstehende Forderungsbetrag (insgesamt 1.270,87 Euro) wegen Uneinbringlichkeit ausgebucht worden ist. Der Kläger hat demzufolge nach Lage der Dinge nicht mit Nachforderungen der Beigeladenen aus dem Heimvertrag zu rechnen, sodass er sein Renteneinkommen auch nachträglich nicht gegenüber der Beigeladenen anteilig einzusetzen hat. Die ihm vom Rentenversicherungsträger in der Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 31. Juli 2017 ausgezahlten Beträge der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die er vollständig einbehalten hat, dürfte er aber ohnehin bereits vollständig verbraucht haben.
35 
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; eine Kostenauferlegung zugunsten der Beigeladenen kommt nicht in Betracht, nachdem diese im Verfahren keine Anträge gestellt hat (vgl. BSGE 90, 127 = SozR 3-5795 § 10d Nr. 1).
36 
5. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Urteilsbesprechung zu Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 22. Feb. 2018 - L 7 SO 2541/17

Urteilsbesprechungen zu Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 22. Feb. 2018 - L 7 SO 2541/17

Referenzen - Gesetze

Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 22. Feb. 2018 - L 7 SO 2541/17 zitiert 29 §§.

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 133 Auslegung einer Willenserklärung


Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 54


(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 144


(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hier

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 151


(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. (2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerh

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 202


Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfa

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 96


(1) Nach Klageerhebung wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. (2) Eine Abschrift des neuen Ver

Zivilprozessordnung - ZPO | § 42 Ablehnung eines Richters


(1) Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. (2) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt

Zivilprozessordnung - ZPO | § 227 Terminsänderung


(1) Aus erheblichen Gründen kann ein Termin aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Erhebliche Gründe sind insbesondere nicht1.das Ausbleiben einer Partei oder die Ankündigung, nicht zu erscheinen, wenn nicht das Gericht dafür

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 39 Wirksamkeit des Verwaltungsaktes


(1) Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 123


Das Gericht entscheidet über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 104 Geschäftsunfähigkeit


Geschäftsunfähig ist:1.wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat,2.wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorüberge

Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022) - SGB 12 | § 42 Bedarfe


Die Bedarfe nach diesem Kapitel umfassen: 1. die Regelsätze nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28; § 27a Absatz 3 und Absatz 4 ist anzuwenden; § 29 Absatz 1 Satz 1 letzter Halbsatz und Absatz 2 bis 5 ist nicht anzuwenden,2. die zusätzlichen

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 84


(1) Der Widerspruch ist binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Absatz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch oder zur Niederschrift bei der Stelle einzur

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 60


(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend. (2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen

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(1) Der Vorsitzende bestimmt Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mit. Die Beteiligten sind darauf hinzuweisen, daß im Falle ihres Ausbleibens nach Lage der Akten entschieden werden kan

Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022) - SGB 12 | § 76 Inhalt der Vereinbarungen


(1) In der schriftlichen Vereinbarung mit Erbringern von Leistungen nach dem Siebten bis Neunten Kapitel sind zu regeln: 1. Inhalt, Umfang und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der Leistungen (Leistungsvereinbarung) sowie2. die Vergütung der Le

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 92


(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertr

Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022) - SGB 12 | § 27b Notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen


(1) Der notwendige Lebensunterhalt umfasst 1. in Einrichtungen den darin erbrachten Lebensunterhalt,2. in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt.Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen entspr

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(1) Ein Beteiligter ist prozeßfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann. (2) Minderjährige sind in eigener Sache prozeßfähig, soweit sie durch Vorschriften des bürgerlichen oder öffentlichen Rechts für den Gegenstand des Verfahrens a

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 72


(1) Für einen nicht prozeßfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter kann der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Za

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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 22. Feb. 2018 - L 7 SO 2541/17 zitiert oder wird zitiert von 12 Urteil(en).

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Bundesgerichtshof Urteil, 06. Feb. 2014 - III ZR 187/13

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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 22. Feb. 2018 - L 7 SO 2541/17

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bei uns veröffentlicht am 12.07.2017

Tenor Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Januar 2017 4 V 4265/15 wird als unzulässig verworfen, soweit sie den Solidaritätszuschlag z

Bundessozialgericht Beschluss, 12. Mai 2017 - B 8 SO 69/16 B

bei uns veröffentlicht am 12.05.2017

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Bundessozialgericht Urteil, 09. Dez. 2016 - B 8 SO 1/15 R

bei uns veröffentlicht am 09.12.2016

Tenor Die Revisionen der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 2014 werden zurückgewiesen.

Bundessozialgericht Beschluss, 06. Juli 2016 - B 9 SB 1/16 R

bei uns veröffentlicht am 06.07.2016

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Bundessozialgericht Beschluss, 17. März 2016 - B 11 AL 6/16 B

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Bundessozialgericht Urteil, 05. Aug. 2015 - B 4 AS 9/15 R

bei uns veröffentlicht am 05.08.2015

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Bundessozialgericht Beschluss, 30. März 2015 - B 12 KR 102/13 B

bei uns veröffentlicht am 30.03.2015

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Bundessozialgericht Urteil, 21. Sept. 2010 - B 2 U 25/09 R

bei uns veröffentlicht am 21.09.2010

Tenor Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. August 2009 wird zurückgewiesen.
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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 22. Feb. 2018 - L 7 SO 2541/17

bei uns veröffentlicht am 22.02.2018

Tenor Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Juni 2017 wird zurückgewiesen.Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Tatbestand  1 Die Beteiligten streiten im vorliegenden Verfahren um Sozial

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(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.

(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.

(3) Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung gilt stets als begründet, wenn der Richter dem Vorstand einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts angehört, deren Interessen durch das Verfahren unmittelbar berührt werden.

(4) (weggefallen)

(1) Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.

(2) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen.

(3) Das Ablehnungsrecht steht in jedem Fall beiden Parteien zu.

(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.

(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.

(3) Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung gilt stets als begründet, wenn der Richter dem Vorstand einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts angehört, deren Interessen durch das Verfahren unmittelbar berührt werden.

(4) (weggefallen)

(1) Der Vorsitzende bestimmt Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mit. Die Beteiligten sind darauf hinzuweisen, daß im Falle ihres Ausbleibens nach Lage der Akten entschieden werden kann.

(2) Das Gericht kann Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(3) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.

(1) Aus erheblichen Gründen kann ein Termin aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Erhebliche Gründe sind insbesondere nicht

1.
das Ausbleiben einer Partei oder die Ankündigung, nicht zu erscheinen, wenn nicht das Gericht dafür hält, dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist;
2.
die mangelnde Vorbereitung einer Partei, wenn nicht die Partei dies genügend entschuldigt;
3.
das Einvernehmen der Parteien allein.

(2) Die erheblichen Gründe sind auf Verlangen des Vorsitzenden, für eine Vertagung auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen.

(3) Ein für die Zeit vom 1. Juli bis 31. August bestimmter Termin, mit Ausnahme eines Termins zur Verkündung einer Entscheidung, ist auf Antrag innerhalb einer Woche nach Zugang der Ladung oder Terminsbestimmung zu verlegen. Dies gilt nicht für

1.
Arrestsachen oder die eine einstweilige Verfügung oder einstweilige Anordnung betreffenden Sachen,
2.
Streitigkeiten wegen Überlassung, Benutzung, Räumung oder Herausgabe von Räumen oder wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs,
3.
(weggefallen)
4.
Wechsel- oder Scheckprozesse,
5.
Bausachen, wenn über die Fortsetzung eines angefangenen Baues gestritten wird,
6.
Streitigkeiten wegen Überlassung oder Herausgabe einer Sache an eine Person, bei der die Sache nicht der Pfändung unterworfen ist,
7.
Zwangsvollstreckungsverfahren oder
8.
Verfahren der Vollstreckbarerklärung oder zur Vornahme richterlicher Handlungen im Schiedsverfahren;
dabei genügt es, wenn nur einer von mehreren Ansprüchen die Voraussetzungen erfüllt. Wenn das Verfahren besonderer Beschleunigung bedarf, ist dem Verlegungsantrag nicht zu entsprechen.

(4) Über die Aufhebung sowie Verlegung eines Termins entscheidet der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung; über die Vertagung einer Verhandlung entscheidet das Gericht. Die Entscheidung ist kurz zu begründen. Sie ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. August 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit sind Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

2

Der 1961 geborene Kläger beantragte anlässlich der Ableistung einer Ersatzfreiheitsstrafe die Übernahme der Kosten zum Erhalt seiner Wohnung im Zuständigkeitsbereich des Beklagten für den Zeitraum vom 1.10.2015 bis 15.3.2016. Dies lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 21.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 22.1.2016). Die Klage ist in erster Instanz ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 13.6.2016).

3

Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter, dem die Berufung übertragen worden war (Beschluss vom 13.7.2016), Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 11.8.2016 um 12.15 Uhr bestimmt. Die Anträge des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts sowie auf Erstattung von Fahrtkosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung hat er abgelehnt (Beschlüsse vom 2. und 8.8.2016). Mit Schreiben vom 10.8.2016, beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) per Telefax am 11.8.2016, 8.56 Uhr eingegangen und mit dem Hinweis "Sofort dem Richter vorlegen" versehen, hat der Kläger mitgeteilt, dass er "hinsichtlich seiner akuten Erkrankung (massive Rückenprobleme) nicht zum heutigen Termin erscheinen werde". Ein ärztliches Attest werde zeitnah nachgereicht. Der "ständig fortlaufende Arzt", bei dem er in Behandlung sei, befinde sich derzeit im Urlaub; er müsse deshalb einen anderen Arzt aufsuchen. Es dürfe um Anberaumung eines Ersatztermins gebeten werden. Diesem Schreiben war die erste Seite eines Bescheids über die Feststellung eines Grades der Behinderung von 30 beigefügt. Um 11.01 Uhr desselben Tages übermittelte der Kläger sein Schreiben erneut per Telefax mit dem handschriftlichen Hinweis "Anlage ärztliches Attest". Aus dem beigefügten ärztlichen Attest vom 11.8.2016 ergibt sich, dass der Kläger in regelmäßiger ärztlicher Behandlung stehe und sich zu einer Untersuchung in der Praxis vorgestellt habe. Es werde ärztlicherseits bestätigt, dass er aus gesundheitlichen Gründen den heutigen Termin vor Gericht nicht wahrnehmen könne. Im Termin zur mündlichen Verhandlung, zu dem der Kläger nicht erschienen ist, hat das Gericht ausweislich des Protokolls auf die vom Kläger zugesandten Telefaxe vom 11.8.2016 Bezug genommen und die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 11.8.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es unter anderem ausgeführt, dass dem Antrag auf Verlegung des Termins nicht habe stattgegeben werden müssen.

4

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger Verfahrensfehler geltend. Das LSG habe gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, indem es seinen Antrag auf Terminverlegung nicht vor Verhandlungsbeginn beschieden habe. Das Gericht entscheide grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung. Diesem Grundsatz komme im Berufungsverfahren besondere Bedeutung zu, wenn - wie vorliegend - erstinstanzlich ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden worden sei. Eine entsprechende Entscheidung sei möglich und zumutbar gewesen. Sie sei auch nicht entbehrlich gewesen, denn er - der Kläger - habe einen Antrag auf Terminsaufhebung ausdrücklich gestellt und hierfür gesundheitliche Gründe angegeben. Sofern das LSG in der Urteilsbegründung darauf abgestellt habe, dass er seine Verhandlungsunfähigkeit bzw Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht habe, weil das von ihm vorgelegte Attest von einem Facharzt für Innere Medizin stamme, er aber wegen massiver Rückenprobleme nicht an der Verhandlung habe teilnehmen können, vermöge dies nicht zu überzeugen. Er habe einen Facharzt für Orthopädie nicht kurzfristig aufsuchen können. Die Verhandlungsunfähigkeit habe ihn zudem unvermittelt getroffen.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde, die sich nach entsprechender Prozesserklärung des Klägers nur noch gegen den beklagten Landkreis richtet, ist zulässig; sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, § 62 Sozialgerichtsgesetz, Art 103 Grundgesetz ) den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ( vgl nur BSG SozR 4-1750 § 227 Nr 1 mwN; SozR 3-1750 § 227 Nr 1 mwN; BSG, Urteil vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R) erübrigen sich bei diesem Verfahrensmangel regelmäßig Ausführungen dazu, welches inhaltliche Vorbringen im Einzelnen in Folge der Ablehnung des Verlegungsantrags durch das LSG verhindert worden ist, wenn ein Verfahrensbeteiligter gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Gründe, die ausnahmsweise die Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensmangels der Verletzung des rechtlichen Gehörs für das angefochtene Urteil ausschließen konnten (dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 56; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160a RdNr 16d mwN), sind nicht ersichtlich.

6

Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Das LSG hat mit der Entscheidung über die Berufung des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung am 11.8.2016 dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (§ 62 1. Halbsatz SGG, Art 103 Abs 1 GG).

7

Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Bestandteil des Anspruchs der Beteiligten auf Gewährung des rechtlichen Gehörs in der Form der mündlichen Verhandlung ist daher auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung. Über einen entsprechenden Antrag des verhinderten Beteiligten hat der Vorsitzende (oder das Gericht) zu entscheiden (§ 202 SGG iVm § 227 Abs 4 Zivilprozessordnung). Ein ordnungsgemäß gestellter Verlegungsantrag mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten Terminverlegungsgrund begründet grundsätzlich eine Pflicht des Gerichts zur Terminverlegung (BSG: Urteile vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1; vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - RdNr 16 und vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - RdNr 11; Beschlüsse vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - RdNr 7 und vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B - RdNr 8 ff). Entsprechende Anforderungen an die Verhaltensweise des Gerichts ergeben sich auch aus dem aus Art 2 Abs 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden allgemeinen Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl hierzu etwa BSG, Beschluss vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B; BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6).

8

Vorliegend stellt schon allein die Nichtbescheidung des Verlegungsgesuchs bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung am 11.8.2016 um 12.15 Uhr eine Versagung des rechtlichen Gehörs dar, die das Verfahren in einem wesentlichen Punkt fehlerhaft macht (vgl BSG, Beschluss vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B). Über einen Terminverlegungsantrag muss auch dann noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung entschieden werden, wenn er erst am Tage der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingeht; anderes gilt nur dann, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls ausgeschlossen wäre, dass das Verlegungsgesuch den Richter noch erreichte (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 59; BSG, Beschluss vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B). Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall. Der Antrag ist rechtzeitig - nämlich mehr als drei Stunden vor Beginn der mündlichen Verhandlung - gestellt worden und war dem Gericht ausweislich des Sitzungsprotokolls auch tatsächlich bekannt. Zu dieser Zeit war seine Bescheidung noch möglich; der Kläger hätte über seinen dem Gericht bekannten Telefaxanschluss erreicht werden können.

9

Auch der Sache nach durfte das LSG den Antrag auf Terminverlegung nicht übergehen. Die vom Kläger vorgebrachten Gründe waren in der konkreten Situation als erhebliche iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO anzusehen. Der Kläger hat schriftsätzlich vorgetragen, infolge eingetretener Erkrankung nicht am Termin teilnehmen zu können und überdies zum Ausdruck gebracht, dennoch an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen. Ebenfalls noch rechtzeitig (nämlich mehr als eine Stunde vor der mündlichen Verhandlung; vgl dazu nochmals BSG, Beschluss vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B) hat er überdies von sich aus ein ärztliches Attest mit der Bescheinigung fehlender Fähigkeit zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nachgereicht. Sein Vortrag, aufgrund seiner Erkrankung nicht zum Termin erscheinen zu können, ist damit insgesamt als schlüssig anzusehen. Dies gilt umso mehr, als eine Erkrankung als Verlegungsgrund nicht schon bei Antragstellung zwingend durch Attest glaubhaft zu machen ist; nach § 202 SGG iVm § 227 Abs 2 ZPO hat dies erst auf Verlangen des Vorsitzenden zu erfolgen(vgl BSG, Beschluss vom 7.7.2011 - B 14 AS 35/11 B - RdNr 8). Dass die vom Kläger vorgetragene Erkrankung auch eine chronische ist, schließt die vorgetragene akute Einschränkung nicht aus.

10

Strengere Voraussetzungen bei der Prüfung kurzfristig gestellter Terminverlegungsgesuche hat die höchstrichterliche Rechtsprechung stets auf die Fälle beschränkt, in denen der Kläger anwaltlich vertreten war (so auch im vom LSG zitierten Beschluss des BSG vom 27.5.2014 - B 4 AS 459/13 B). Ist dies nicht der Fall, ist das Gericht auch bei kurzfristig gestellten Anträgen zu einem Hinweis oder zur Aufforderung an den Betroffenen, seinen Vortrag zu ergänzen, oder zu eigenen Nachforschungen verpflichtet (vgl zuletzt BSG: Beschlüsse vom 13.10.2010 - B 6 KA 2/10 B - SozR 4-1500 § 110 Nr 1 - RdNr 13; vom 13.11.2008 - B 13 R 277/08 B - RdNr 17 und vom 21.7.2009 - B 7 AL 9/09 B - RdNr 5; ebenso BFH, Beschluss vom 19.8.2003 - IX B 36/03 - DStRE 2004, 540, 541). Andernfalls hat das Gericht dem Vertagungsantrag, auch wenn er kurz vor dem Termin gestellt worden ist, nachzukommen.

11

Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, das Urteil des LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG wegen des festgestellten Verfahrensmangels aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

12

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Tenor

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 4. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 1. Oktober 2013 wird als unzulässig verworfen.

Die Beigeladene zu 4. hat die Kosten des Klägers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe

1

In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten darüber, ob der Kläger in der Zeit vom 23.12.1994 bis 30.4.1998 in seiner für die damals noch unter "Quattro Kapitalanlagen Vertriebsgesellschaft mbH" firmierenden Beigeladenen zu 4. ausgeübten Tätigkeit der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und im Recht der Arbeitsförderung aufgrund (abhängiger) Beschäftigung unterlag.

2

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 4. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer LSG vom 1.10.2013 ist in entsprechender Anwendung von § 169 S 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen. Die Beigeladene zu 4. hat in der Begründung des Rechtsmittels trotz ihres umfänglichen Vorbringens entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet.

3

Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Die Behauptung, das Berufungsurteil sei inhaltlich unrichtig, kann demgegenüber nicht zur Zulassung der Revision führen (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

4

Die Beigeladene zu 4. beruft sich in ihrer Beschwerdebegründung vom 30.1.2014 auf einen Verfahrensmangel, Divergenz und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

5

1. Ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist der Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens im unmittelbar vorangehenden Rechtszug(vgl zB BSGE 2, 81, 82; 15, 169, 172 = SozR Nr 3 zu § 52 SGG). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann sich der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG stützen. Ferner kann die Geltendmachung eines Verfahrensmangels auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungspflicht) gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Prüfungsmaßstab ist die materiell-rechtliche Rechtsauffassung des LSG (BSG SozR Nr 79 zu § 162 SGG; BSG SozR 1500 § 160 Nr 33). Neben der Geltendmachung des Vorliegens eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht ist mit der Beschwerdebegründung darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verstoß beruhen kann. Ein entscheidungserheblicher Mangel des Berufungsverfahrens wird nur dann substantiiert bezeichnet, wenn der Beschwerdeführer diesen hinsichtlich aller ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegt, sodass das Beschwerdegericht allein anhand dieser Begründung darüber befinden kann, ob die angegriffene Entscheidung des LSG möglicherweise auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht.

6

Die Beigeladene zu 4. rügt in ihrer Beschwerdebegründung (S 9 ff) einen Verstoß der Vorinstanz gegen §§ 151 und 158 SGG. Das LSG habe zu Unrecht in der Sache entschieden. Vielmehr hätte es die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Denn der Kläger habe keine der Schriftformerfordernis des § 151 Abs 1 SGG genügende Berufungsschrift innerhalb der gesetzlichen Frist bei Gericht eingereicht. Das SG-Urteil vom 23.10.2008 sei dem Kläger am 13.11.2008 zugestellt worden. Die vom Kläger einzuhaltende Berufungsfrist habe somit am Montag, dem 15.12.2008, geendet, weil das Fristende (13.12.2008) auf einen Sonnabend gefallen sei (§ 64 Abs 3 SGG). Zwar habe das LSG zutreffend festgestellt, dass durch die E-Mail des Klägers vom 15.12.2008 an das SG die Berufung nicht formwirksam eingelegt worden sei, weil die einfache E-Mail nicht die in § 65a SGG genannten Anforderungen erfülle. Rechtsfehlerhaft sei es allerdings davon ausgegangen, dass das ebenfalls am 15.12.2008 beim SG eingegangene Computerfax des Klägers dem Erfordernis der schriftlichen Form genüge, obwohl es keine eigenständige Unterschrift aufweise. Dem Schriftformerfordernis werde grundsätzlich nur durch die eigenhändige Unterschrift Rechnung getragen. Dem Bedürfnis der Rechtssicherheit könne zwar ausnahmsweise auch auf andere Weise als durch eine eigenständige Unterschrift genügt werden. Dies sei dann der Fall, wenn auf die Urheberschaft und das bewusste in-den-Verkehr-bringen im Einzelfall mittels anderer Umstände geschlossen werden könne. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass sich aus dem bestimmenden Schriftsatz für sich allein oder in Verbindung mit beigefügten Unterlagen ausreichende gewichtige Anhaltspunkte ergäben, aus denen die Urheberschaft und der Wille, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher zu entnehmen sei, ohne dass darüber Beweis erhoben werden müsste (Hinweis auf BSG Urteil vom 6.5.1998 - B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3). Ein solcher Ausnahmefall sei hier jedoch hinsichtlich des Computerfax des Klägers nicht gegeben.

7

Zwar liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, wenn das Berufungsgericht zu Unrecht ein Sachurteil statt eines Prozessurteils nach § 158 S 1 SGG erlassen hat(vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 Nr 19 mwN). Einen solchen Verfahrensfehler hat die Beigeladene zu 4. jedoch nicht entsprechend § 160a Abs 2 S 3 SGG schlüssig bezeichnet. Vielmehr liegt er schon unter Zugrundelegung ihrer eigenen Angaben in der Beschwerdebegründung nicht vor.

8

In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass das Schriftlichkeitserfordernis des § 151 Abs 1 SGG ausnahmsweise auch dann erfüllt sein kann, wenn die Berufungsschrift zwar keine eigenständige Unterschrift enthält, aber sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher, dh ohne die Notwendigkeit einer Klärung durch Beweiserhebung, ergibt(vgl BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 2 S 4; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 3 S 7; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 4 S 11; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 59; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 151 Nr 3a und 3e mwN; vgl auch BVerwG Beschluss vom 30.3.2006 - 8 B 8/06 - NJW 2006, 1989 f).

9

Diese Voraussetzungen für die Annahme des in § 151 Abs 1 SGG normierten Schriftlichkeitserfordernisses trotz Fehlens einer eigenhändigen Unterschrift werden durch den in der Beschwerdebegründung von der Beigeladenen zu 4. wiedergegebenen Sachverhalt selbst dargelegt. Denn die Urheberschaft des Klägers lässt sich vor allem dem Umstand entnehmen, dass das von der Beigeladenen zu 4. ausdrücklich in Bezug genommene Computerfax, das kein elektronisches Dokument iS des § 65a SGG ist(vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 65a RdNr 4 mwN), mit dem "Betreff: Az. S 4 KR 260/01 'Berufung'" die postalische Anschrift und die E-Mail-Adresse des Klägers enthält und die mit diesem Fax eingelegte Berufung mit dem Namen des Klägers abschließt. Zudem hat er durch die Hinzufügung des Hinweises "Dieses Schreiben ist elektronisch erstellt und elektronisch versandt, daher auch ohne Unterschrift gültig" hinreichend deutlich gemacht, dass er aus technischen Gründen auf eine eigenhändige Unterschrift verzichtet hat. Für Letzteres spricht auch der abschließende Hinweis, dass ein unterschriebenes (allerdings nicht zu den Gerichtsakten gelangtes) Exemplar nachgesandt werde. Zwar hat der Kläger im Computerfax ein falsches Urteilsdatum ("11.11.2008" - anstatt zutreffend "23.10.2008") genannt, jedoch hat er das richtige Aktenzeichen des angefochtenen SG-Urteils ("S 4 KR 260/01") mitgeteilt. Darüber hinaus hat der Kläger auf diese besondere Kommunikationsform bereits früher im Gerichtsverfahren zurückgegriffen. Dass der Kläger Berufung einlegen wollte, ergibt sich schließlich auch aus seiner E-Mail an das SG vom selben Tage. Diese Umstände sprechen dagegen, dass die an das SG gerichtete Computerfaxmitteilung nur unbewusst oder versehentlich vom Kläger in den Verkehr gebracht wurde. Soweit die Beigeladene zu 4. meint, das LSG habe diese von ihr in der Beschwerdebegründung wiedergegebenen Umstände im vorliegenden Fall unzutreffend gewürdigt, wendet sie sich im Kern allein gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts (§ 128 Abs 1 S 1 SGG). Hierauf kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde nach der ausdrücklichen Bestimmung in § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nicht gestützt werden.

10

2. Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, nämlich das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt sind. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG eine höchstrichterliche Entscheidung nur unrichtig ausgelegt oder das Recht unrichtig angewandt hat, sondern erst, wenn das LSG Kriterien, die ein in der Norm genanntes Gericht aufgestellt hat, widersprochen, also andere Maßstäbe entwickelt hat. Das LSG weicht damit nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG von einer Entscheidung ua des BSG ab, wenn es einen abstrakten Rechtssatz aufstellt, der einer zu demselben Gegenstand gemachten und fortbestehenden aktuellen abstrakten Aussage des BSG entgegensteht und dem Berufungsurteil tragend zugrunde liegt. Die Beschwerdebegründung muss deshalb aufzeigen, welcher abstrakte Rechtssatz in den genannten höchstrichterlichen Urteilen enthalten ist, und welcher in der instanzabschließenden Entscheidung des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht, und darlegen, dass die Entscheidung hierauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 mwN).

11

a) Die Beigeladene zu 4. behauptet (S 13 f der Beschwerdebegründung), die Entscheidung des LSG beruhe auf folgendem Rechtssatz: "Das Schriftformerfordernis des § 151 SGG sei auch bei fehlender Unterschrift erfüllt, wenn keine Anhaltspunkte vorliegen, dass das Schriftstück nicht vom Kläger stamme oder nicht willentlich von ihm in den Verkehr gebracht wurde." Diese Rechtsauffassung sei mit dem die Urteile des BSG vom 16.11.2000 (B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4) und 6.5.1998 (B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3) tragenden Rechtssatz unvereinbar, dass für die ausnahmsweise Bejahung einer Schriftlichkeit iS des § 151 SGG bei fehlender Unterschrift "ausreichend gewichtige andere Anhaltspunkte vorliegen müssen, aus denen sich eine vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Verkehr zu bringen, ergibt".

12

Damit hat die Beigeladene zu 4. keine entscheidungserhebliche Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG schlüssig aufgezeigt. Denn bereits aus dem Beschwerdevortrag ergibt sich, dass das LSG den ihm von der Beigeladenen zu 4. zugeschriebenen Rechtssatz nicht aufgestellt hat. Das Berufungsgericht hat für die Bejahung der Schriftlichkeit iS des § 151 Abs 1 SGG bei fehlender Unterschrift als nach seiner Rechtsauffassung ausreichend gewichtige andere Anhaltspunkte gewertet, dass - wie die Beigeladene zu 4. selbst vorträgt - es sich bei dem Computerfax um eine für den Kläger durchaus übliche Kommunikationsform gehandelt habe und dass die Computerfaxmitteilung des Klägers das richtige Aktenzeichen des angefochtenen SG-Urteils genannt habe. Sofern die Beigeladene zu 4. meint, diese vom LSG genannten Anhaltspunkte reichten nach der von ihr zitierten BSG-Rechtsprechung nicht aus, um die Formgerechtigkeit einer ohne eigenhändige Unterschrift mittels einer durch ein Computerfax eingelegten Berufung bejahen zu können, rügt sie im Kern die inhaltliche Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung in ihrem Einzelfall. Ihr Vorbringen geht daher über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.

13

b) Weiter trägt die Beigeladene zu 4. auf S 15 f ihrer Beschwerdebegründung vor, das LSG stelle unzutreffend fest, dass der Kläger in der Zeit vom 23.12.1994 bis 30.4.1998 bei der Beigeladenen zu 4. nicht selbstständig tätig gewesen sei. Zur Begründung habe es darauf abgestellt, dass es maßgeblich nicht auf die tatsächlichen Verhältnisse ankomme, sondern auf die rechtlichen Verhältnisse und die den Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Unerheblich sei, ob die Rechtsmacht ausgeübt worden sei. Zwar führe das Berufungsgericht in seinen Entscheidungsgründen aus, dass beim Abweichen der Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen letztere den Ausschlag gäben. Es führe dann allerdings weiter aus, dass maßgeblich jedoch die Rechtsbeziehung sei so wie sie praktiziert werde und die praktizierte Beziehung so wie sie rechtlich zulässig sei. Im Hinblick auf die Rechtsbeziehung sei die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen sei. Zu den tatsächlichen Verhältnissen gehöre also unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht.

14

Damit stelle das LSG - so die Beigeladene zu 4. - sinngemäß den Rechtssatz auf, "dass maßgeblich die Rechtsbeziehung zwischen den Beteiligten ist und nicht die tatsächlichen Verhältnisse sowie die tatsächliche Ausübung eines Rechts". Die Auffassung, dass es maßgeblich auf die rechtlichen Verhältnisse ankomme, widerspreche dem Grundsatz der Beurteilung des Gesamtbilds der Arbeitsleistung sowie des Vorrangs der tatsächlichen Verhältnisse. Die Entscheidung des LSG beruhe daher auf folgendem Rechtssatz: "Maßgeblich ist die dem Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Die rechtlichen Verhältnisse haben generell Vorrang gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen". Diese Rechtsauffassung sei mit dem insbesondere die Urteile des BSG vom 8.12.1987 (7 RAr 25/86), 12.2.2004 (B 12 KR 26/02 R) und 22.6.2005 (B 12 KR 28/03 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 5) tragenden Rechtssatz unvereinbar, "wonach maßgebend für die Beurteilung stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung ist. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben grundsätzlich letztere den Ausschlag".

15

Mit diesem und ihrem weiteren Vortrag unter IV. in ihrer Beschwerdebegründung hat die Beigeladene zu 4. eine entscheidungserhebliche Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG nicht schlüssig dargetan. Sie hat bereits nicht aufgezeigt, dass das LSG überhaupt die ihm "sinngemäß" zugeschriebenen Rechtssätze aufgestellt hat. Denn das Berufungsgericht ist in den Entscheidungsgründen - wie die Beigeladene zu 4. selbst vorträgt - davon ausgegangen, dass "beim Abweichen der Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen letztere den Ausschlag" gäben und dass "zu den tatsächlichen Verhältnissen unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht" gehöre. Schon im Hinblick auf diese Ausführungen des LSG ist die Behauptung der Beigeladenen zu 4., die Vorinstanz habe die von ihr formulierten Rechtssätze aufgestellt, nicht nachvollziehbar. Dies ergibt sich aber auch daraus, dass sich das Berufungsgericht für die von der Beigeladenen zu 4. in ihrer Beschwerdebegründung wiedergegebenen Ausführungen (dort: S 16, 1. Absatz) in seinem Urteil (dort: S 10, 3. Absatz) ausdrücklich auf Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 22.6.2005 - B 12 KR 28/03 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 5 = Juris RdNr 27; Urteil vom 24.1.2007 - B 12 KR 31/06 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 7 = Juris RdNr 17; Urteil vom 29.8.2012 - B 12 KR 25/10 R - BSGE 111, 257 = SozR 4-2400 § 7 Nr 17 = Juris RdNr 16)gestützt und dass es an keiner Stelle in seiner insoweit von der Beigeladenen zu 4. in Bezug genommenen Entscheidung zu erkennen gegeben hat, von diesen Rechtssätzen der zitierten BSG-Rechtsprechung abweichende oder divergierende eigene Rechtssätze aufstellen zu wollen. Auch vor diesem Hintergrund hätte es in der Beschwerdebegründung eingehender Darlegung bedurft, dass die Rechtsauffassung des LSG nicht nur auf einer - im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtlichen - vermeintlich falschen Anwendung der vom BSG aufgestellten Grundsätze zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit im Rahmen des § 7 SGB IV in dem hier vorliegenden konkreten Einzelfall beruht. Dies legt die Beigeladene zu 4. aber nicht dar. Ihr Vorbringen, dass das LSG "vorliegend das Gesamtbild der Arbeitsleistung des Klägers nicht zutreffend gewürdigt" habe, geht deshalb auch hier über eine im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.

16

3. Bei Geltendmachung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) muss die Beschwerdebegründung ausführen, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 60 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16 mwN - stRspr; vgl auch BVerwG NJW 1999, 304 und BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7). Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31).

17

Die Beigeladene zu 4. hält folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam (S 23 der Beschwerdebegründung),

        

"ob bei der Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit bei einem Geschäftsführer und Minderheitsgesellschafter die rechtlichen oder die tatsächlichen Verhältnisse Vorrang haben".

18

Dahingestellt bleiben kann, ob sie damit eine hinreichend konkrete Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG formuliert hat. Denn es fehlt bereits an ausreichenden Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellung. Denn die Beigeladene zu 4. versäumt es, sich mit der umfangreichen und teilweise auch vom LSG in der angefochtenen Entscheidung zitierten Rechtsprechung des BSG zu den Abgrenzungskriterien zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit und zur diesbezüglichen Abwägungsentscheidung auseinanderzusetzen und diese daraufhin zu untersuchen, ob sich aus dieser Rechtsprechung bereits genügend Anhaltspunkte für die Beantwortung der genannten Frage ergeben bzw inwieweit dies nicht der Fall ist (vgl zu diesem Darlegungserfordernis im Rahmen einer Grundsatzrüge allgemein zB BSG Beschluss vom 28.1.2013 - B 12 KR 21/12 B - Juris RdNr 10). Allein der schlichte Hinweis, dass die Frage in der vorliegenden "Ausgestaltung eines Minderheitsgesellschafters" vom BSG noch nicht entschieden worden sei, reicht nicht aus, um (weiteren) höchstrichterlichen Klärungsbedarf darzutun.

19

4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

20

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Tenor

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 4. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 1. Oktober 2013 wird als unzulässig verworfen.

Die Beigeladene zu 4. hat die Kosten des Klägers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe

1

In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten darüber, ob der Kläger in der Zeit vom 23.12.1994 bis 30.4.1998 in seiner für die damals noch unter "Quattro Kapitalanlagen Vertriebsgesellschaft mbH" firmierenden Beigeladenen zu 4. ausgeübten Tätigkeit der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und im Recht der Arbeitsförderung aufgrund (abhängiger) Beschäftigung unterlag.

2

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 4. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer LSG vom 1.10.2013 ist in entsprechender Anwendung von § 169 S 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen. Die Beigeladene zu 4. hat in der Begründung des Rechtsmittels trotz ihres umfänglichen Vorbringens entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet.

3

Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Die Behauptung, das Berufungsurteil sei inhaltlich unrichtig, kann demgegenüber nicht zur Zulassung der Revision führen (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

4

Die Beigeladene zu 4. beruft sich in ihrer Beschwerdebegründung vom 30.1.2014 auf einen Verfahrensmangel, Divergenz und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

5

1. Ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist der Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens im unmittelbar vorangehenden Rechtszug(vgl zB BSGE 2, 81, 82; 15, 169, 172 = SozR Nr 3 zu § 52 SGG). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann sich der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG stützen. Ferner kann die Geltendmachung eines Verfahrensmangels auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungspflicht) gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Prüfungsmaßstab ist die materiell-rechtliche Rechtsauffassung des LSG (BSG SozR Nr 79 zu § 162 SGG; BSG SozR 1500 § 160 Nr 33). Neben der Geltendmachung des Vorliegens eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht ist mit der Beschwerdebegründung darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verstoß beruhen kann. Ein entscheidungserheblicher Mangel des Berufungsverfahrens wird nur dann substantiiert bezeichnet, wenn der Beschwerdeführer diesen hinsichtlich aller ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegt, sodass das Beschwerdegericht allein anhand dieser Begründung darüber befinden kann, ob die angegriffene Entscheidung des LSG möglicherweise auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht.

6

Die Beigeladene zu 4. rügt in ihrer Beschwerdebegründung (S 9 ff) einen Verstoß der Vorinstanz gegen §§ 151 und 158 SGG. Das LSG habe zu Unrecht in der Sache entschieden. Vielmehr hätte es die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Denn der Kläger habe keine der Schriftformerfordernis des § 151 Abs 1 SGG genügende Berufungsschrift innerhalb der gesetzlichen Frist bei Gericht eingereicht. Das SG-Urteil vom 23.10.2008 sei dem Kläger am 13.11.2008 zugestellt worden. Die vom Kläger einzuhaltende Berufungsfrist habe somit am Montag, dem 15.12.2008, geendet, weil das Fristende (13.12.2008) auf einen Sonnabend gefallen sei (§ 64 Abs 3 SGG). Zwar habe das LSG zutreffend festgestellt, dass durch die E-Mail des Klägers vom 15.12.2008 an das SG die Berufung nicht formwirksam eingelegt worden sei, weil die einfache E-Mail nicht die in § 65a SGG genannten Anforderungen erfülle. Rechtsfehlerhaft sei es allerdings davon ausgegangen, dass das ebenfalls am 15.12.2008 beim SG eingegangene Computerfax des Klägers dem Erfordernis der schriftlichen Form genüge, obwohl es keine eigenständige Unterschrift aufweise. Dem Schriftformerfordernis werde grundsätzlich nur durch die eigenhändige Unterschrift Rechnung getragen. Dem Bedürfnis der Rechtssicherheit könne zwar ausnahmsweise auch auf andere Weise als durch eine eigenständige Unterschrift genügt werden. Dies sei dann der Fall, wenn auf die Urheberschaft und das bewusste in-den-Verkehr-bringen im Einzelfall mittels anderer Umstände geschlossen werden könne. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass sich aus dem bestimmenden Schriftsatz für sich allein oder in Verbindung mit beigefügten Unterlagen ausreichende gewichtige Anhaltspunkte ergäben, aus denen die Urheberschaft und der Wille, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher zu entnehmen sei, ohne dass darüber Beweis erhoben werden müsste (Hinweis auf BSG Urteil vom 6.5.1998 - B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3). Ein solcher Ausnahmefall sei hier jedoch hinsichtlich des Computerfax des Klägers nicht gegeben.

7

Zwar liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, wenn das Berufungsgericht zu Unrecht ein Sachurteil statt eines Prozessurteils nach § 158 S 1 SGG erlassen hat(vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 Nr 19 mwN). Einen solchen Verfahrensfehler hat die Beigeladene zu 4. jedoch nicht entsprechend § 160a Abs 2 S 3 SGG schlüssig bezeichnet. Vielmehr liegt er schon unter Zugrundelegung ihrer eigenen Angaben in der Beschwerdebegründung nicht vor.

8

In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass das Schriftlichkeitserfordernis des § 151 Abs 1 SGG ausnahmsweise auch dann erfüllt sein kann, wenn die Berufungsschrift zwar keine eigenständige Unterschrift enthält, aber sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher, dh ohne die Notwendigkeit einer Klärung durch Beweiserhebung, ergibt(vgl BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 2 S 4; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 3 S 7; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 4 S 11; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 59; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 151 Nr 3a und 3e mwN; vgl auch BVerwG Beschluss vom 30.3.2006 - 8 B 8/06 - NJW 2006, 1989 f).

9

Diese Voraussetzungen für die Annahme des in § 151 Abs 1 SGG normierten Schriftlichkeitserfordernisses trotz Fehlens einer eigenhändigen Unterschrift werden durch den in der Beschwerdebegründung von der Beigeladenen zu 4. wiedergegebenen Sachverhalt selbst dargelegt. Denn die Urheberschaft des Klägers lässt sich vor allem dem Umstand entnehmen, dass das von der Beigeladenen zu 4. ausdrücklich in Bezug genommene Computerfax, das kein elektronisches Dokument iS des § 65a SGG ist(vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 65a RdNr 4 mwN), mit dem "Betreff: Az. S 4 KR 260/01 'Berufung'" die postalische Anschrift und die E-Mail-Adresse des Klägers enthält und die mit diesem Fax eingelegte Berufung mit dem Namen des Klägers abschließt. Zudem hat er durch die Hinzufügung des Hinweises "Dieses Schreiben ist elektronisch erstellt und elektronisch versandt, daher auch ohne Unterschrift gültig" hinreichend deutlich gemacht, dass er aus technischen Gründen auf eine eigenhändige Unterschrift verzichtet hat. Für Letzteres spricht auch der abschließende Hinweis, dass ein unterschriebenes (allerdings nicht zu den Gerichtsakten gelangtes) Exemplar nachgesandt werde. Zwar hat der Kläger im Computerfax ein falsches Urteilsdatum ("11.11.2008" - anstatt zutreffend "23.10.2008") genannt, jedoch hat er das richtige Aktenzeichen des angefochtenen SG-Urteils ("S 4 KR 260/01") mitgeteilt. Darüber hinaus hat der Kläger auf diese besondere Kommunikationsform bereits früher im Gerichtsverfahren zurückgegriffen. Dass der Kläger Berufung einlegen wollte, ergibt sich schließlich auch aus seiner E-Mail an das SG vom selben Tage. Diese Umstände sprechen dagegen, dass die an das SG gerichtete Computerfaxmitteilung nur unbewusst oder versehentlich vom Kläger in den Verkehr gebracht wurde. Soweit die Beigeladene zu 4. meint, das LSG habe diese von ihr in der Beschwerdebegründung wiedergegebenen Umstände im vorliegenden Fall unzutreffend gewürdigt, wendet sie sich im Kern allein gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts (§ 128 Abs 1 S 1 SGG). Hierauf kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde nach der ausdrücklichen Bestimmung in § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nicht gestützt werden.

10

2. Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, nämlich das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt sind. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG eine höchstrichterliche Entscheidung nur unrichtig ausgelegt oder das Recht unrichtig angewandt hat, sondern erst, wenn das LSG Kriterien, die ein in der Norm genanntes Gericht aufgestellt hat, widersprochen, also andere Maßstäbe entwickelt hat. Das LSG weicht damit nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG von einer Entscheidung ua des BSG ab, wenn es einen abstrakten Rechtssatz aufstellt, der einer zu demselben Gegenstand gemachten und fortbestehenden aktuellen abstrakten Aussage des BSG entgegensteht und dem Berufungsurteil tragend zugrunde liegt. Die Beschwerdebegründung muss deshalb aufzeigen, welcher abstrakte Rechtssatz in den genannten höchstrichterlichen Urteilen enthalten ist, und welcher in der instanzabschließenden Entscheidung des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht, und darlegen, dass die Entscheidung hierauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 mwN).

11

a) Die Beigeladene zu 4. behauptet (S 13 f der Beschwerdebegründung), die Entscheidung des LSG beruhe auf folgendem Rechtssatz: "Das Schriftformerfordernis des § 151 SGG sei auch bei fehlender Unterschrift erfüllt, wenn keine Anhaltspunkte vorliegen, dass das Schriftstück nicht vom Kläger stamme oder nicht willentlich von ihm in den Verkehr gebracht wurde." Diese Rechtsauffassung sei mit dem die Urteile des BSG vom 16.11.2000 (B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4) und 6.5.1998 (B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3) tragenden Rechtssatz unvereinbar, dass für die ausnahmsweise Bejahung einer Schriftlichkeit iS des § 151 SGG bei fehlender Unterschrift "ausreichend gewichtige andere Anhaltspunkte vorliegen müssen, aus denen sich eine vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Verkehr zu bringen, ergibt".

12

Damit hat die Beigeladene zu 4. keine entscheidungserhebliche Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG schlüssig aufgezeigt. Denn bereits aus dem Beschwerdevortrag ergibt sich, dass das LSG den ihm von der Beigeladenen zu 4. zugeschriebenen Rechtssatz nicht aufgestellt hat. Das Berufungsgericht hat für die Bejahung der Schriftlichkeit iS des § 151 Abs 1 SGG bei fehlender Unterschrift als nach seiner Rechtsauffassung ausreichend gewichtige andere Anhaltspunkte gewertet, dass - wie die Beigeladene zu 4. selbst vorträgt - es sich bei dem Computerfax um eine für den Kläger durchaus übliche Kommunikationsform gehandelt habe und dass die Computerfaxmitteilung des Klägers das richtige Aktenzeichen des angefochtenen SG-Urteils genannt habe. Sofern die Beigeladene zu 4. meint, diese vom LSG genannten Anhaltspunkte reichten nach der von ihr zitierten BSG-Rechtsprechung nicht aus, um die Formgerechtigkeit einer ohne eigenhändige Unterschrift mittels einer durch ein Computerfax eingelegten Berufung bejahen zu können, rügt sie im Kern die inhaltliche Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung in ihrem Einzelfall. Ihr Vorbringen geht daher über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.

13

b) Weiter trägt die Beigeladene zu 4. auf S 15 f ihrer Beschwerdebegründung vor, das LSG stelle unzutreffend fest, dass der Kläger in der Zeit vom 23.12.1994 bis 30.4.1998 bei der Beigeladenen zu 4. nicht selbstständig tätig gewesen sei. Zur Begründung habe es darauf abgestellt, dass es maßgeblich nicht auf die tatsächlichen Verhältnisse ankomme, sondern auf die rechtlichen Verhältnisse und die den Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Unerheblich sei, ob die Rechtsmacht ausgeübt worden sei. Zwar führe das Berufungsgericht in seinen Entscheidungsgründen aus, dass beim Abweichen der Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen letztere den Ausschlag gäben. Es führe dann allerdings weiter aus, dass maßgeblich jedoch die Rechtsbeziehung sei so wie sie praktiziert werde und die praktizierte Beziehung so wie sie rechtlich zulässig sei. Im Hinblick auf die Rechtsbeziehung sei die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen sei. Zu den tatsächlichen Verhältnissen gehöre also unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht.

14

Damit stelle das LSG - so die Beigeladene zu 4. - sinngemäß den Rechtssatz auf, "dass maßgeblich die Rechtsbeziehung zwischen den Beteiligten ist und nicht die tatsächlichen Verhältnisse sowie die tatsächliche Ausübung eines Rechts". Die Auffassung, dass es maßgeblich auf die rechtlichen Verhältnisse ankomme, widerspreche dem Grundsatz der Beurteilung des Gesamtbilds der Arbeitsleistung sowie des Vorrangs der tatsächlichen Verhältnisse. Die Entscheidung des LSG beruhe daher auf folgendem Rechtssatz: "Maßgeblich ist die dem Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Die rechtlichen Verhältnisse haben generell Vorrang gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen". Diese Rechtsauffassung sei mit dem insbesondere die Urteile des BSG vom 8.12.1987 (7 RAr 25/86), 12.2.2004 (B 12 KR 26/02 R) und 22.6.2005 (B 12 KR 28/03 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 5) tragenden Rechtssatz unvereinbar, "wonach maßgebend für die Beurteilung stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung ist. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben grundsätzlich letztere den Ausschlag".

15

Mit diesem und ihrem weiteren Vortrag unter IV. in ihrer Beschwerdebegründung hat die Beigeladene zu 4. eine entscheidungserhebliche Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG nicht schlüssig dargetan. Sie hat bereits nicht aufgezeigt, dass das LSG überhaupt die ihm "sinngemäß" zugeschriebenen Rechtssätze aufgestellt hat. Denn das Berufungsgericht ist in den Entscheidungsgründen - wie die Beigeladene zu 4. selbst vorträgt - davon ausgegangen, dass "beim Abweichen der Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen letztere den Ausschlag" gäben und dass "zu den tatsächlichen Verhältnissen unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht" gehöre. Schon im Hinblick auf diese Ausführungen des LSG ist die Behauptung der Beigeladenen zu 4., die Vorinstanz habe die von ihr formulierten Rechtssätze aufgestellt, nicht nachvollziehbar. Dies ergibt sich aber auch daraus, dass sich das Berufungsgericht für die von der Beigeladenen zu 4. in ihrer Beschwerdebegründung wiedergegebenen Ausführungen (dort: S 16, 1. Absatz) in seinem Urteil (dort: S 10, 3. Absatz) ausdrücklich auf Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 22.6.2005 - B 12 KR 28/03 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 5 = Juris RdNr 27; Urteil vom 24.1.2007 - B 12 KR 31/06 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 7 = Juris RdNr 17; Urteil vom 29.8.2012 - B 12 KR 25/10 R - BSGE 111, 257 = SozR 4-2400 § 7 Nr 17 = Juris RdNr 16)gestützt und dass es an keiner Stelle in seiner insoweit von der Beigeladenen zu 4. in Bezug genommenen Entscheidung zu erkennen gegeben hat, von diesen Rechtssätzen der zitierten BSG-Rechtsprechung abweichende oder divergierende eigene Rechtssätze aufstellen zu wollen. Auch vor diesem Hintergrund hätte es in der Beschwerdebegründung eingehender Darlegung bedurft, dass die Rechtsauffassung des LSG nicht nur auf einer - im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtlichen - vermeintlich falschen Anwendung der vom BSG aufgestellten Grundsätze zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit im Rahmen des § 7 SGB IV in dem hier vorliegenden konkreten Einzelfall beruht. Dies legt die Beigeladene zu 4. aber nicht dar. Ihr Vorbringen, dass das LSG "vorliegend das Gesamtbild der Arbeitsleistung des Klägers nicht zutreffend gewürdigt" habe, geht deshalb auch hier über eine im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.

16

3. Bei Geltendmachung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) muss die Beschwerdebegründung ausführen, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 60 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16 mwN - stRspr; vgl auch BVerwG NJW 1999, 304 und BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7). Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31).

17

Die Beigeladene zu 4. hält folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam (S 23 der Beschwerdebegründung),

        

"ob bei der Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit bei einem Geschäftsführer und Minderheitsgesellschafter die rechtlichen oder die tatsächlichen Verhältnisse Vorrang haben".

18

Dahingestellt bleiben kann, ob sie damit eine hinreichend konkrete Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG formuliert hat. Denn es fehlt bereits an ausreichenden Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellung. Denn die Beigeladene zu 4. versäumt es, sich mit der umfangreichen und teilweise auch vom LSG in der angefochtenen Entscheidung zitierten Rechtsprechung des BSG zu den Abgrenzungskriterien zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit und zur diesbezüglichen Abwägungsentscheidung auseinanderzusetzen und diese daraufhin zu untersuchen, ob sich aus dieser Rechtsprechung bereits genügend Anhaltspunkte für die Beantwortung der genannten Frage ergeben bzw inwieweit dies nicht der Fall ist (vgl zu diesem Darlegungserfordernis im Rahmen einer Grundsatzrüge allgemein zB BSG Beschluss vom 28.1.2013 - B 12 KR 21/12 B - Juris RdNr 10). Allein der schlichte Hinweis, dass die Frage in der vorliegenden "Ausgestaltung eines Minderheitsgesellschafters" vom BSG noch nicht entschieden worden sei, reicht nicht aus, um (weiteren) höchstrichterlichen Klärungsbedarf darzutun.

19

4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

20

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. November 2015 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. In der Sache stritten die Beteiligten über das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld wegen des Eintritts einer Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe in der Zeit vom 28.4.2011 bis 20.7.2011; zuletzt ist die Zulässigkeit der Einlegung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Cottbus streitig gewesen.

2

Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG als unzulässig verworfen (Beschluss vom 10.11.2015). Die durch Computerfax mit eingescannter Unterschrift eingelegte Berufung entspreche nicht dem Schriftformerfordernis des § 151 Abs 1 SGG. Diese Form solle gewährleisten, dass dem Schriftstück hinreichend zuverlässig entnommen werden könne, wer dessen Urheber sei, und dass das Dokument dem Gericht mit Wissen und Wollen des Urhebers zugeleitet worden sei. Hieran fehle es, weil eine zweifelsfreie Zuordnung des Dokuments wegen einer Vielzahl der vom Bevollmächtigten verwendeten Unterschriften nicht möglich sei. Auch sei zweifelhaft, ob der Bevollmächtigte die Absendung des Computerfaxes selbst veranlasst habe.

3

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger einen Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne. Zu Unrecht habe das LSG die mit Computerfax und eingescannter Unterschrift eingelegte Berufung als unwirksam angesehen. In Wirklichkeit seien Zweifel an der Echtheit der Unterschrift nicht gegeben. Die Ausführung zur Arbeitsbelastung des Bevollmächtigten und die Behauptung, dieser verwende vier "erheblich divergierende" Unterschriften, werde bestritten. Das LSG habe insoweit auf die seine Zweifel begründenden Umstände nicht hingewiesen, er habe sich dazu nicht äußern können. Ein weiterer Verfahrensfehler liege darin, dass das LSG dem Antrag vom 30.10.2015 auf Verlegung des Termins am 10.11.2015 nicht nachgekommen sei, obwohl der Bevollmächtigte arbeitsunfähig und sein "avisierter" Vertreter durch einen anderen Termin verhindert gewesen sei.

4

II. Die Beschwerde ist zulässig. Die fristgerecht eingelegte Beschwerde genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG, denn sie bezeichnet substantiiert die Tatsachen(vgl dazu BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36), aus denen sich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 128 Abs 2 SGG) ergeben kann.

5

Die Beschwerde ist begründet, denn die gerügte Verletzung des § 128 Abs 2 SGG liegt vor. Das LSG hat sein Urteil auf Tatsachen und Ergebnisse gestützt, zu denen sich der Kläger nicht äußern konnte. Das Urteil kann auf diesem Mangel auch beruhen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

6

Die elektronische Übertragung einer Textdatei per Computerfax mit eingescannter Unterschrift ist grundsätzlich ein zulässiger Weg, die Berufung "schriftlich" iS des § 151 Abs 1 SGG einzulegen. Die Erfüllung des Formerfordernisses mittels eingescannter Unterschrift stellt dabei eine Ausnahme von dem im Übrigen weiterhin bestehenden Erfordernis dar, dass ein bestimmender Schriftsatz eigenhändig unterschrieben sein muss (dazu BVerfG Beschluss vom 18.4.2007 - 1 BvR 110/07 - NJW 2007, 3117; GmSOGB vom 5.4.2000, GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, 164 f; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 151 RdNr 4, 5). Solche Formerfordernisse dienen der Rechtssicherheit und stellen eine verfassungsrechtlich zulässige Anforderung rechtsstaatlicher Verfahrensordnungen dar (BVerfG Beschluss vom 4.7.2002 - 2 BvR 2168/00 - NJW 2002, 3534). Deshalb wird im Falle der Einlegung einer Berufung durch Computerfax mit eingescannter Unterschrift (ergänzend) auch verlangt, dass sich aus dem Schriftstück selbst oder seinen Begleitumständen keine Zweifel an der Urheberschaft des Unterzeichners oder seinem Willen ergeben dürfen, das Schriftstück in den Verkehr zu bringen (stRspr; GmSOGB vom 5.4.2000, GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, 162; BFH vom 22.6.2010 - VIII R 38/08 - BFHE 230, 115; BVerfG Beschluss vom 4.7.2002 - 2 BvR 2168/00 - NJW 2002, 3534, juris RdNr 23).

7

Von diesen Maßstäben ausgehend trifft die Rüge des Klägers, es entspräche der langjährigen Entwicklung der Rechtsprechung, "… die Übermittlung bestimmender Schriftsätze auch durch elektronische Übertragung einer Textdatei mit eingescannter Unterschrift … zuzulassen", in der Allgemeinheit nicht zu. Auch die Schlussfolgerung, eine Verpflichtung zur Wahrung der Schriftform bestehe nicht, lässt sich mit diesen Vorgaben nicht vereinbaren.

8

Vorliegend hat das LSG aber den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Um das rechtliche Gehör zu wahren, darf das Gericht seine Entscheidung nicht auf Tatsachen oder Beweisergebnisse stützen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG; dazu auch BVerfGE 86, 133, 144 f; BSG Beschluss vom 2.12.2015 - B 9 V 12/15 B). Bei den Umständen, die die Zweifel des LSG an der Urheberschaft des Bevollmächtigten oder seinem Willen, die Berufungsschrift in Verkehr zu bringen, begründen können, handelt es sich um (prozessuale) Tatsachen. Ob sie vorliegen, ist ggf im Wege des Freibeweises zu klären (BGH vom 24.7.2001 - VIII ZR 58/01 - juris RdNr 7). Diese Anforderungen sind vorliegend nicht erfüllt.

9

Zwar hatte das LSG den Kläger auf einen möglichen Formmangel der Berufungsschrift hingewiesen. Hierauf hat der Bevollmächtigte reagiert und mitgeteilt, die Einlegung der Berufung per Computerfax mit eingescannter Unterschrift sei nach der Rechtsprechung zulässig. Das LSG hat darauf nicht mehr reagiert und hatte den Kläger auch nicht zuvor schon auf die Tatsachen hingewiesen, auf die es seine "Zweifel" stützte. Das LSG hat angenommen, der Bevollmächtigte des Klägers sei zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung möglicherweise ortsabwesend gewesen, er verwende mehrere voneinander abweichende Unterschriften, der Schriftsatz sei möglicherweise durch seine Mitarbeiter und ohne sein Zutun versandt worden.

10

Der Hinweis des LSG auf seine "Zweifel" an Urheberschaft oder Verbreitungswillen und die diese Zweifel begründenden Tatsachen ist auch nicht entbehrlich gewesen. Der Kläger musste als gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem Hinweis des LSG auf mangelnde Schriftform nicht damit rechnen, das LSG könne die fehlende Einhaltung der Schriftform mit Zweifeln an Urheberschaft oder Verbreitungswillen des Bevollmächtigten begründen. Da die Einlegung eines Rechtsmittels per Computerfax mit eingescannter Unterschrift wahrt, und soweit sich "keine Zweifel" an der Urheberschaft des Unterzeichners oder seinem Willen ergeben, muss das LSG - wenn es sich auf diese Rückausnahme stützt - einen Hinweis geben, damit der Kläger ggf sich zu diesen Tatsachen äußern kann. Das LSG hat den Kläger nicht nur nicht auf die Umstände hingewiesen, die die Zweifel an Urheberschaft oder Verbreitungswillen des Bevollmächtigten begründeten, es hat auch auf die Quellen seiner Erkenntnisse nicht hingewiesen und diese nicht in den Rechtsstreit eingeführt. Eine Verletzung des § 128 Abs 2 SGG liegt damit vor.

11

Das Urteil des LSG kann auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger sich bei Wahrung des rechtlichen Gehörs geäußert und die Zweifel des LSG - ggf nach Ermittlungen - ausgeräumt hätte. Soweit der Kläger weitere Verfahrensmängel rügt, kann der Senat deren Vorliegen dahinstehen lassen.

12

Der Senat macht von dem ihm durch § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, dass das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses zurückverwiesen wird.

13

Das LSG wird in der abschließenden Kostenentscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entschieden haben.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Ein Beteiligter ist prozeßfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann.

(2) Minderjährige sind in eigener Sache prozeßfähig, soweit sie durch Vorschriften des bürgerlichen oder öffentlichen Rechts für den Gegenstand des Verfahrens als geschäftsfähig anerkannt sind. Zur Zurücknahme eines Rechtsbehelfs bedürfen sie der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters.

(3) Für rechtsfähige und nichtrechtsfähige Personenvereinigungen sowie für Behörden handeln ihre gesetzlichen Vertreter und Vorstände.

(4) Für Entscheidungsgremien im Sinne von § 70 Nr. 4 handelt der Vorsitzende.

(5) In Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts wird das Land durch das Landesversorgungsamt oder nach Maßgabe des Landesrechts durch die Stelle vertreten, der dessen Aufgaben übertragen worden sind oder die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes oder des Rechts der Teilhabe behinderter Menschen zuständig ist.

(6) Die §§ 53 bis 56 der Zivilprozeßordnung gelten entsprechend.

Geschäftsunfähig ist:

1.
wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat,
2.
wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 29. Juli 2014 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten über den versicherungsrechtlichen Status des Klägers in der gesetz-lichen Krankenversicherung im Zeitraum vom 21.7.2001 bis 30.6.2004. Der am 1947 geborene Kläger war seit 1973 als Zahnarzt und seit 1991 in eigener Praxis selbstständig tätig. Der Kläger gab seine Praxis 2004 aus gesundheitlichen Gründen auf und bezog Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Höhe von ca 2000 Euro monatlich. Hintergrund des Streits der Beteiligten sind Beitragsforderungen der Beklagten in Höhe von ca 19 500 Euro (Stand: Juli 2011) inkl Säumniszuschlägen; der Kläger begehrt außerdem weitere Krankengeldzahlungen.

2

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, dass das LSG den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß ermittelt habe. Er regt die Bestellung eines besonderen Vertreters an.

3

II. 1. Die Beschwerde ist unzulässig, da sie nicht von einem gemäß § 73 Abs 4 SGG vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt worden ist. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG vom 29.7.2014 hat der Kläger mit einem von ihm unterzeichneten Schreiben vom 4.9.2014 Beschwerde eingelegt. Das Urteil des LSG ist ihm am 11.8.2014 zugestellt worden. Auf das Erfordernis, sich vor dem BSG durch einen der in § 73 Abs 4 SGG aufgeführten Prozessbevollmächtigten vertreten zu lassen(zur Verfassungsmäßigkeit vgl BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 13 mwN), ist der Kläger in der Rechtsmittelbelehrung des LSG-Urteils und mit Schreiben des Senats vom 10.9.2014, 8.1.2015 und 30.6.2017 hingewiesen worden. In diversen Verfahren vor dem BSG, auch in Verfahren gegen die Nichtzulassung der Revision (zB B 6 KA 19/14 B, B 6 KA 22/13 B, B 6 KA 23/13 B), hat der Kläger einen Bevollmächtigten beauftragt. Der Senat geht nach Auswertung der diversen beigezogenen medizinischen Unterlagen davon aus, dass der Kläger prozessfähig und insbesondere in der Lage ist, wirksam einen Anwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen.

4

Ein besonderer Vertreter war nicht zu bestellen. Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Die vorliegenden Unterlagen rechtfertigen nicht die Annahme, dass der Kläger prozessunfähig ist. Prozessunfähig sind gemäß § 71 Abs 1 SGG Personen, die sich nicht durch Verträge verpflichten können, die also nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB sind(BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 64). Das ist nach § 104 Nr 2 BGB der Fall, wenn sich eine Person in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet; dies gilt auch bei fortschreitender Demenz (Palandt/Ellenberger, BGB, 76. Aufl 2017, § 104 RdNr 5). Diese sehr strengen Voraussetzungen für die Annahme von Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit sind zu verneinen. Hierbei musste sich der Senat auf die beigezogenen medizinischen Unterlagen beschränken, denn der Kläger selbst hat auf Hinweis im vorliegenden Verfahren sinngemäß erklärt, dass er eine weitere Begutachtung ablehne. Weitere Sachverhaltsermittlungen von Amts wegen kommen in dieser Situation nicht in Betracht.

5

Die den Kläger behandelnden Ärzte beschreiben ihn zwar teilweise als verhandlungsunfähig, da die ständige Konfrontation mit den gerichtlichen Streitverfahren, insbesondere im Rahmen einer mündlichen Verhandlung, zu einer Verschlechterung der Depression führen könnte. Auch in dem vom Senat eingeholten Befundbericht des Dr. A. vom 30.3.2015 wird dem Kläger eine Verhandlungsunfähigkeit attestiert. Der Kläger konnte sich jedoch im Rahmen der durchgeführten Begutachtungen verbal ausdrücken und war orientiert zu Raum und Zeit. Er konnte sich um seine Angelegenheiten kümmern oder sich Hilfe Dritter bedienen, zB Rechtsanwälte beauftragen. Aus diesem Grund wurde auch die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt (Gutachten Dr. G. vom 25.9.2010). Der Auszug seiner Ehefrau hatte die psychische Situation verschlechtert und die Depression chronifiziert. Ausweislich der vorliegenden Gutachten aus dem Verfahren B 9 SB 84/15 B (aus den Jahren 2011 bis 2013) leidet der Kläger an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen nebst einer Antriebsstörung; es besteht eine Grübelsymptomatik. Wahnwahrnehmungen, Halluzinationen oder sonstiges psychotisches Erleben liegen nicht vor. Zudem liegt eine Schmerzsymptomatik vor. Der Kläger zeigte außerdem eine Verwahrlosungstendenz, da auch dementielle Zustände hinzugetreten waren. Die beschriebenen Symptome bei Depression und Schmerzstörung begründen keine Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit, denn aus ihnen ergibt sich nicht, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Sie belegen lediglich eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit und das Erfordernis, dass der Kläger sich der Hilfe Dritter bedient. In diesem Kontext ist auch das dem Kläger durch Bescheid vom 17.4.2015 ab 30.12.2013 zuerkannte Merkzeichen "H" zu sehen. Als "hilflos" ist in diesem Zusammenhang derjenige anzusehen, der infolge von Gesundheitsstörungen - nach Teil 2 SGB IX und dem Einkommensteuergesetz - "nicht nur vorübergehend" - für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Häufig und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages sind insbesondere An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Verrichten der Notdurft.

6

Außerdem sind notwendige körperliche Bewegung, geistige Anregung und Möglichkeiten zur Kommunikation zu berücksichtigen (vgl Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2008 Nr 21; Teil A Nr 4 Buchst c Anl zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung). Hilflosigkeit nach Teil 2 SGB IX zwingt daher nicht automatisch zur Annahme von Prozessunfähigkeit. Aus der zuletzt vom Kläger vorgelegten Anlage zum Protokoll Pflegeeinsatz nach § 37 Abs 3 SGB XI vom 13.2.2017 ergibt sich, dass der Kläger aktuell an Depressionen, Neuropathie, M. Parkinson und Fibromyalgie leidet. Die Anlage zeigt allenfalls eine Verschlechterung des körperlichen Gesundheitszustandes des zwischenzeitlich siebzigjährigen Klägers auf, jedoch keine Verschlechterung seines geistigen Gesundheitszustandes. Zudem belegt der darin ausdrücklich attestierte Wunsch des Klägers, sein Haus behindertengerecht umzubauen, dass er durchaus zu vernünftigen Erwägungen in der Lage ist. Eine Betreuung wurde bis heute nicht eingerichtet. Aus dem Umstand, dass der Kläger offenbar - ggf mit selbst organisierter Hilfe - seine gesamten wirtschaftlichen Angelegenheiten nach wie vor eigenständig regelt und mit dem Gericht zu korrespondieren in der Lage ist, darf unter Berücksichtigung der oben erwähnten medizinischen Stellungnahmen geschlossen werden, dass der Kläger zwar psychisch erkrankt ist, damit die Schwelle zur Prozessunfähigkeit entgegen der aktuellen Beurteilung seiner "Helfer" im Schreiben vom 23.7.2017 jedoch nicht erreicht ist.

7

Die von dem Kläger selbst eingelegte Beschwerde ist somit gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen.

8

2. Der konkludent gestellte Prozesskostenhilfeantrag hat keinen Erfolg. Voraussetzung für die Bewilligung von PKH und die damit verbundene Beiordnung eines Rechtsanwalts ist nach der Rechtsprechung sowohl des BSG als auch der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ua, dass nicht nur der (grundsätzlich formlose) Antrag auf PKH, sondern auch die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der für diese gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 117 Abs 2 und 4 ZPO), dh mit dem gemäß § 117 Abs 3 ZPO durch die Prozesskostenhilfeformularverordnung vom 6.1.2014 (BGBl I 34) in neuer Fassung eingeführten Formular, bis zum Ablauf der Beschwerdefrist eingereicht wird (vgl BSG SozR 1750 § 117 Nr 1 und 3; BVerfG SozR 1750 § 117 Nr 2 und 6; BVerfG NJW 2000, 3344). Der Kläger hat zwar zwischenzeitlich am 31.7.2017 ein solches Formular vorgelegt, jedoch sind die enthaltenen Angaben zum einen veraltet und zum anderen wurden keine Belege beigefügt. Der Kläger hat damit seine Bedürftigkeit nicht dargetan. Die Angaben in dem Formular über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aus dem Jahr 2009 reichen nicht aus, um eine gegenwärtige Bedürftigkeit darzulegen. Sie belegen darüber hinaus auch keine Bedürftigkeit, denn der Kläger gab im Jahr 2009 Einnahmen in Höhe von monatlich ca 2000 Euro an. Die Angabe, er zahle Darlehensraten in Höhe von ca 1500 Euro monatlich, ist ohne weitere Belege und Erläuterungen weder plausibel noch ist ein solcher Betrag ohne Weiteres als Abzugsposten berücksichtigungsfähig. Soweit in dem vom Kläger unterzeichneten Schreiben vom 23.7.2017, das offenbar von seinen "Helfern" entworfen wurde, ausgeführt wird, der Kläger sei "krankheitsbedingt" nicht in der Lage, aktuelle Angaben zu machen, ist dies weder glaubhaft gemacht noch angesichts seines aktuellen Bemühens um einen behindertengerechten Umbau seines Hauses nachvollziehbar. Ein besonderer Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG, dessen Rechte nicht denen eines Betreuers entsprechen, sondern die auf die Führung der Prozesse und die damit verbundenen Handlungen beschränkt sind, könnte - entgegen der Ansicht des Klägers - die Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht für diesen abgeben, da er nicht in der Lage ist, sich die erforderlichen Informationen zu verschaffen. Darüber hinaus fehlt es aber nach dem oben Gesagten ohnehin an den Voraussetzungen des § 72 Abs 1 SGG.

9

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

(1) Für einen nicht prozeßfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter kann der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen.

(2) Die Bestellung eines besonderen Vertreters ist mit Zustimmung des Beteiligten oder seines gesetzlichen Vertreters auch zulässig, wenn der Aufenthaltsort eines Beteiligten oder seines gesetzlichen Vertreters vom Sitz des Gerichts weit entfernt ist.

(3) bis (5) (weggefallen)

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Der Widerspruch ist binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Absatz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Frist beträgt bei Bekanntgabe im Ausland drei Monate.

(2) Die Frist zur Erhebung des Widerspruchs gilt auch dann als gewahrt, wenn die Widerspruchsschrift bei einer anderen inländischen Behörde oder bei einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde oder, soweit es sich um die Versicherung von Seeleuten handelt, auch bei einem deutschen Seemannsamt eingegangen ist. Die Widerspruchsschrift ist unverzüglich der zuständigen Behörde oder dem zuständigen Versicherungsträger zuzuleiten, der sie der für die Entscheidung zuständigen Stelle vorzulegen hat. Im übrigen gelten die §§ 66 und 67 entsprechend.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt § 67 entsprechend.

Tenor

Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. April 2016 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

In der Hauptsache begehrt der Kläger die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50. Zuletzt war bei dem Kläger wegen einer Depression ein GdB von 30 festgestellt (Bescheid vom 10.9.2013, Widerspruchsbescheid vom 11.2.2014). Die hiergegen gerichtete Klage war erfolglos (Urteil vom 9.9.2015). Gegen das den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 21.9.2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29.9.2015 per E-Mail sinngemäß Berufung beim SG eingelegt, der Ausdruck ist am 7.10.2015 beim LSG eingegangen. Das LSG hat den Kläger wiederholt auf die Formunwirksamkeit einer Berufung per E-Mail und - erfolglos - auch auf das Fehlen einer formgerechten Berufung und die Möglichkeit der Wiedereinsetzung hingewiesen sowie auf eine Entscheidung durch Beschluss, verbunden mit der Gelegenheit zur vorherigen Äußerung. Nach Fristablauf hat es die Berufung verworfen, ohne die Revision zuzulassen (Beschluss vom 27.4.2016).

2

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der "Revision" und einem damit verbundenen PKH-Gesuch mit der Begründung, er sei wegen Krankheit nicht immer zeitnah in der Lage, schriftliche Eingaben zu machen. Das im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte Gutachten sei fehlerhaft.

3

II. 1. Der Antrag auf PKH ist abzulehnen. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 ZPO). Als statthaftes Rechtsmittel kommt sinngemäß allein die Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht, nachdem das LSG die Revision nicht zugelassen hat und diese Entscheidung für den Senat bindend ist (vgl § 160 Abs 1 SGG). Weder die Antragsbegründung noch die Aktenlage lassen bei der gebotenen summarischen Prüfung die erforderliche Erfolgsaussicht für eine Nichtzulassungsbeschwerde erkennen.

4

Hinreichende Erfolgsaussicht hat eine Nichtzulassungsbeschwerde nur, wenn einer der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe mit Erfolg geltend gemacht werden könnte. Die Revision darf danach zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Von diesen Zulassungsgründen lässt sich nach Aktenlage unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe des LSG-Beschlusses und des Vortrags des Klägers keiner feststellen.

5

Die Sache bietet keine Hinweise für eine über den Einzelfall des Klägers hinausgehende, grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG)beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; siehe auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Insbesondere ergibt sich die Grundsätzlichkeit der Bedeutung danach nicht aus dem behaupteten Verstoß gegen Verfahrensrecht oder der geltend gemachten Fehlerhaftigkeit im konkreten Fall.

6

Auch ist nicht ersichtlich, dass das LSG entscheidungstragend von der Rechtsprechung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Es entspricht der gesicherten und vom LSG in Bezug genommenen höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Einlegung der Berufung per einfacher E-Mail weder dem gesetzlich vorgegebenen Schriftformerfordernis (§ 151 Abs 1 SGG) noch den Anforderungen an die Übermittlung elektronischer Dokumente (§ 65a SGG) entspricht (vgl BSG Beschluss vom 15.11.2010 - B 8 SO 71/10 B - Juris; anders ausnahmsweise beim Computerfax BSG Beschluss vom 30.3.2015 - B 12 KR 102/13 B - Juris; vgl insgesamt Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 151 RdNr 23 f).

7

Schließlich fehlt ein ausreichender Anhalt dafür, dass der Kläger einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Entscheidungsrelevante Verfahrensmängel sind weder vom Kläger geltend gemacht noch sonst ersichtlich.

8

Der Kläger macht geltend, entgegen den Ausführungen des LSG habe er die Berufungsfrist eingehalten, mindestens sei ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Damit rügt er als Verfahrensfehler, das LSG hätte in der Sache entscheiden müssen und keine Prozessentscheidung treffen dürfen (vgl dazu BSGE 34, 236, 237 = SozR Nr 57 zu § 51 SGG Bl DA 28 f; BSGE 35, 267, 271 = SozR Nr 5 zu § 551 RVO Bl Aa 8; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 658 ff mwN). Der Kläger hat indessen die Berufungsfrist versäumt, weil er innerhalb der bis zum 21.10.2015 laufenden Berufungsfrist keine dem Schriftformerfordernis des § 151 Abs 1 SGG entsprechende Berufung gegen das Urteil des SG vom 9.9.2015 eingelegt hat. Wiedereinsetzungsgründe (§ 67 SGG) hat der Kläger weder ausreichend dargelegt noch sind sie glaubhaft gemacht worden. Den angeforderten Nachweis über die ursprünglich als Hinderungsgrund für die Einhaltung der Schriftform angeführte Reha hat der Kläger ebenso wenig erbracht wie einen Beleg für seine jetzige Behauptung, dass seine Erkrankung ihn - unabhängig von der Reha - an der Einhaltung der Schriftform der Berufung gehindert haben könnte. Dem LSG kann in diesem Zusammenhang auch keine Verletzung der Fürsorgepflicht angelastet werden. Allerdings nimmt die Rechtsprechung des BSG eine die Wiedereinsetzung gebietende Fürsorgepflichtverletzung an, wenn Schriftsätze weit vor Ablauf der Rechtsmittelfrist übersandt werden und es dem Gericht ohne Weiteres möglich gewesen wäre, auf Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung unter dem Gesichtspunkt des Schriftformerfordernisses hinzuweisen (vgl BSG Beschluss vom 6.10.2011 - B 14 AS 63/11 B = SozR 4-1500 § 67 Nr 9). Das LSG ist diesen Anforderungen jedoch gerecht geworden. Denn es hat den Kläger zuletzt mit Verfügungen vom 17.12.2015 und 4.3.2016 auf die vorbeschriebenen Bedenken hingewiesen und ihm - erfolglos - die Möglichkeit der Wiedereinsetzung eröffnet.

9

2. Die Beschwerde ist ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG), weil sie nicht durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt und begründet worden ist (§ 73 Abs 4 iVm § 160a Abs 1 S 1 und Abs 2 S 1 SGG).

10

3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

11

4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Januar 2017 4 V 4265/15 wird als unzulässig verworfen, soweit sie den Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer für 2008 bis 2010 sowie die Zinsen zur Einkommen- und Umsatzsteuer für 2008 bis 2010 betrifft.

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Januar 2017 4 V 4265/15 aufgehoben. Die Bescheide über Einkommensteuer, Umsatzsteuer und den Gewerbesteuermessbetrag für 2008 und 2009, alle vom 15. September 2015, sowie die Bescheide über Einkommensteuer, Umsatzsteuer und den Gewerbesteuermessbetrag für 2010, alle vom 21. September 2015, werden ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder einen Monat nach anderweitiger Erledigung des Einspruchsverfahrens ohne Sicherheitsleistung in dem Umfang von der Vollziehung ausgesetzt, der sich -nach näherer Maßgabe der Erläuterungen unter III.4. der Entscheidungsgründe- ergibt, wenn die Hinzuschätzungsbeträge je Streitjahr auf einen Netto-Mehrerlös von 3.000 € und eine Mehr-Umsatzsteuer von 570 € begrenzt werden. Die Ermittlung der auszusetzenden Beträge wird dem Finanzamt übertragen.

Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens hat der Antragsteller zu 13 % und der Antragsgegner zu 87 % zu tragen; die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Antragsteller zu 33 % und der Antragsgegner zu 67 % zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) wurde in den Streitjahren 2008 bis 2010 mit seiner --nicht am vorliegenden Verfahren beteiligten und seit 2012 von ihm getrennt lebenden-- Ehefrau (E) zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Er erzielte gewerbliche Einkünfte aus einer Gaststätte, deren Gewinn er durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelte. E war im Betrieb als Angestellte beschäftigt.

2

Mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 brachte der Antragsteller den Betrieb zu Buchwerten in eine GbR ein, an der er zu 98 % und E zu 2 % beteiligt war. Insoweit ist für die Gewinnfeststellung der Jahre 2011 und 2012 beim IV. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) ein Parallelverfahren anhängig (IV B 4/17).

3

Nahezu sämtliche Betriebseinnahmen fielen in Form von Bargeld an, das der Antragsteller in einer offenen Ladenkasse vereinnahmte. Die Einnahmen stammten neben dem laufenden Gaststättenbetrieb noch aus zwei weiteren Bereichen: So richtete der Antragsteller Veranstaltungen aus (Familienfeiern, Buffets); ferner beteiligte er sich an dem einmal jährlich stattfindenden dreitägigen örtlichen Volksfest.

4

Die Einnahmen aus dem laufenden Gaststättenbetrieb notierte der Antragsteller --getrennt je Kassiervorgang-- auf einem Zettel. Durch Summenbildung ermittelte er die Tageseinnahmen und schloss die Summe mit seinem Namenszeichen ab. Die Tageseinnahmen-Zettel enthalten das jeweilige Datum, ansonsten aber kein Ordnungskriterium.

5

Die Einnahmen aus der Bewirtung beim Volksfest notierte der Antragsteller lediglich als Tagessumme. Die Einnahmen aus Veranstaltungen notierte er gleichermaßen in einer Summe pro Veranstaltung auf den Tageseinnahmen-Zetteln. Weitere Unterlagen zu den Veranstaltungen --insbesondere Angebote, Vereinbarungen, Rechnungen oder Quittungen-- hat er im bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht vorgelegt.

6

Die Gaststätte hatte in den Streitjahren keinen festen Ruhetag. Allerdings liegen zu einigen Tagen der Streitjahre keine Aufzeichnungen über Einnahmen vor (2008: 14 Tage; 2009: 25 Tage; 2010: 22 Tage). Dabei handelt es sich ganz überwiegend um Samstage. Der Antragsteller hat hierzu erklärt, die Gaststätte sei an diesen Tagen geschlossen gewesen.

7

Aus den Steuererklärungen des Antragstellers ergeben sich die folgenden betrieblichen Kennzahlen:

Jahr   

Umsatzerlöse 19 %

Gewinn

Rohgewinnaufschlagsatz (RAS)

2008   

142.888 €

28.374 €

123 % 

2009   

124.302 €

19.842 €

181 % 

2010   

119.439 €

20.103 €

187 % 

8

Der Antrags- und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) führte beim Antragsteller eine Außenprüfung für die Streitjahre durch, in deren Verlauf er zu der Einschätzung kam, die Kassenführung sei nicht ordnungsgemäß. Die vollständige Erfassung der Bareinnahmen sei nicht überprüfbar. So sei weder feststellbar, ob sämtliche Einzelbeträge auf den Tageseinnahmen-Zetteln notiert worden seien, noch sei bei den Zetteln sichergestellt, dass sie vollständig und nicht nachträglich austauschbar seien. Gleiches gelte für die Einnahmen aus Veranstaltungen, die sich im Einzelfall auf erhebliche Beträge belaufen hätten. Es sei nicht dokumentiert, ob der Kassenbestand täglich durch tatsächliches Auszählen ermittelt worden sei. Auch sei nicht glaubhaft, dass die gelegentlichen Schließungstage der Gaststätte ausgerechnet auf Samstage entfielen, an denen der Antragsteller im Durchschnitt die höchsten Tageseinnahmen erziele.

9

Der Prüfer ermittelte die Höhe der Hinzuschätzung mittels der sog. "Quantilsschätzung". Dazu führte er zunächst einen Zeitreihenvergleich durch. Dabei schätzte er die monatlichen RAS, indem er die vom Antragsteller im jeweiligen Monat geleisteten Zahlungen für Wareneinkäufe (nach Abzug eines pauschalen Eigenverbrauchs) als Wareneinsatz ansah und ins Verhältnis zu den aufgezeichneten monatlichen Erlösen setzte. Der Prüfer interpretierte diese Werte dahingehend, dass sie erhebliche Schwankungen aufweisen würden, die nicht durch betriebliche Umstände erklärbar seien. Die Aufzeichnungen des Antragstellers seien daher nicht schlüssig und zu verwerfen.

10

Anhand der vom Antragsteller vorgelegten Speisekarten ermittelte der Prüfer, dass die Preise der Gaststätte zum 1. Januar 2009 um durchschnittlich 17 % erhöht worden seien. Daher nahm er eine sog. "Konjunkturbereinigung" vor und legte dem Zeitreihenvergleich für die Jahre 2009 und 2010 nicht die tatsächlichen Erlöse zugrunde, sondern solche Werte, die erst nach Vornahme eines Zuschlags von 17 % den tatsächlichen Erlösen entsprechen würden.

11

Für sein weiteres Vorgehen unterstellte der Prüfer, dass bei Datensätzen, die der Gauß'schen Normalverteilung genügten, 68,27 % der Datensätze innerhalb der ersten Standardabweichung lägen und "damit am wahrscheinlichsten" seien. Im Umkehrschluss lägen 31,73 % der Datensätze (je 15,865 % am oberen bzw. unteren Ende) außerhalb der ersten Standardabweichung. Bei "abgemilderter" Anwendung führe dies dazu, die obersten 20 % der Datensätze außer Betracht zu lassen (hier: sieben der insgesamt 36 RAS-Monatswerte). Der nächsthöchste Wert (hier: der achthöchste der 36 RAS-Monatswerte) sei der zutreffende Schätzwert, der auf den gesamten Drei-Jahres-Zeitraum anzuwenden sei.

12

Dieser achthöchste Wert lag im streitgegenständlichen Drei-Jahres-Zeitraum bei 185 %. Diesen Wert wendete der Prüfer allerdings nur auf das Jahr 2008 an. Für die Jahre 2009 und 2010 nahm er eine umgekehrte "Konjunkturbereinigung" um 17 % vor und legte seiner Schätzung insoweit einen RAS von 233 % zugrunde.

13

Auf diese Weise ermittelte der Prüfer die folgenden Änderungen der Besteuerungsgrundlagen:

Jahr   

2008   

2009   

2010   

Mehrerlös netto

+ 37.000 €

+ 23.000 €

+ 20.000 €

Mehr-Umsatzsteuer

+ 7.030 €

+ 4.370 €

+ 3.800 €

Passivierung der Umsatzsteuer

        

./. 15.200 €

Mehrgewinn

+ 44.030 €

+ 27.370 €

+ 8.600 €

14

Die Passivierung der infolge der Außenprüfung erhöhten Umsatzsteuer im Jahr 2010 beruhte darauf, dass der Prüfer die Auffassung vertrat, infolge der Buchwerteinbringung des Betriebs in die GbR zum 1. Januar 2011 habe der Antragsteller zum 31. Dezember 2010 zur Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich übergehen und einen entsprechenden Übergangsgewinn ermitteln müssen. Dabei seien die Umsatzsteuer-Verbindlichkeiten gewinnmindernd anzusetzen.

15

Am 15. bzw. 21. September 2015 erließ das FA entsprechend geänderte Einkommensteuer- und Umsatzsteuer-Festsetzungen für die Jahre 2008 bis 2010, einen geänderten Gewerbesteuermessbescheid für 2008 sowie erstmalige Gewerbesteuermessbescheide für 2009 und 2010.

16

Hiergegen legte der Antragsteller Einspruch ein, über den das FA noch nicht entschieden hat. Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) hatte beim FA zunächst keinen Erfolg. Während des anschließenden gerichtlichen AdV-Verfahrens gewährte das FA am 19. bzw. 20. Januar 2016 AdV für einen Teil der für das Streitjahr 2008 angeforderten Nachzahlungen. Grundlage hierfür war, dass das FA nunmehr von einer Preiserhöhung zum 1. Januar 2009 von 25,83 % (aufgerundet 26 %) ausging, die "Konjunkturbereinigung" entsprechend anpasste, und dadurch für 2008 einen RAS von noch 165 % (statt bisher 185 %) zugrunde legte. Für AdV-Zwecke geht es seither von einem Netto-Mehrerlös im Jahr 2008 von 25.000 € und einer Mehr-Umsatzsteuer von 4.750 € aus.

17

In Höhe der verbleibenden angeforderten Beträge lehnte das Finanzgericht (FG) den Aussetzungsantrag ab (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2017, 537). Zur Begründung führte es aus, eine Aufzeichnungspflicht folge im Streitfall zwar nicht aus § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG), wohl aber aus § 22 des Umsatzsteuergesetzes (UStG). Diese Pflicht habe der Antragsteller nicht erfüllt. Zwar handele es sich dabei lediglich um einen formellen Mangel. Die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs würden aber auch auf materielle Mängel hindeuten. Die Quantilsschätzung sei eine sachgerechte Methode für die Ermittlung der Höhe der Hinzuschätzung. Wegen der Divergenz zu einer anderen instanzgerichtlichen Entscheidung hat das FG die Beschwerde zugelassen.

18

Die Entscheidung des FG wurde der Prozessbevollmächtigten (P) des Antragstellers, einer Partnerschaftsgesellschaft mit vier Standorten, nach eigenen Angaben --ein förmliches Empfangsbekenntnis befindet sich nicht in den Akten-- am 10. Januar 2017 zugestellt. Am 16. Januar 2017 ging beim FG ein mit normaler Briefpost übersandter, nicht unterschriebener Schriftsatz der P ein, mit dem Beschwerde gegen den FG-Beschluss eingelegt wurde. Das FG wies auf die fehlende Unterschrift nicht hin, sondern beschloss am 17. Januar 2017, der Beschwerde nicht abzuhelfen, und legte das Verfahren dem BFH vor, wo die Akten am 23. Januar 2017 eingingen.

19

Mit Schreiben vom 8. Februar 2017 (der P zugestellt am 11. Februar 2017) wies die Vorsitzende des beschließenden Senats auf die fehlende Unterschrift sowie die Möglichkeit eines Wiedereinsetzungsantrags hin. Mit einem unterschriebenen Schriftsatz, der am 24. Februar 2017 beim BFH einging, legte P nochmals Beschwerde ein, begründete diese zugleich und stellte einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Hierzu führte sie aus, die in ihrer Kanzlei bestehenden Abläufe zum Posteingang, zur Fristenkontrolle und zum Postausgang seien standardisiert und dokumentiert; sie würden von allen Mitarbeitern einheitlich angewandt. Zur Dokumentation der Arbeitsabläufe werde eine Datev-Software eingesetzt. Nach Tz. 4.1 der --dem Wiedereinsetzungsantrag beigefügten-- Arbeitsanweisung sei eine Kontrolle der Unterschrift vorzunehmen. Sei ein Schriftsatz nicht unterschrieben, lege ihn das Kanzleipersonal erneut vor, damit die Unterschrift nachgeholt werde. Diese Verfahrensweise habe sich in einer 40-jährigen Kanzleihistorie eingespielt und bewährt. Es seien bisher keine Fälle bekannt geworden, in denen Schriftsätze die Kanzlei ohne Unterschrift verlassen hätten. Am maßgebenden Tag sei die Zentrale durch die zuverlässigste und ausreichend geschulte Kraft, Frau D, besetzt gewesen.

20

Am Tag des Postausgangs (13. Januar 2017) seien zwei Beschwerdeschriften erstellt worden; eine im vorliegenden Verfahren und eine im Parallelverfahren der GbR. Letztere sei unterschrieben beim BFH eingegangen. Es könne nur gemutmaßt werden, dass an dem Schriftsatz im vorliegenden Verfahren noch eine Korrektur vorzunehmen gewesen und dann versäumt worden sei, die Unterschrift nachzuholen. Beim Eintüten der Beschwerdeschrift müsse die fehlende Unterschrift aufgrund eines nie auszuschließenden menschlichen Versehens unbemerkt geblieben sein.

21

Im elektronischen Postausgangsbuch seien für den 13. Januar 2017 zwei verschiedene Beschwerdeschriften in Sachen des Antragstellers erfasst. Es sei also in der Kanzlei erkannt worden, dass es sich um zwei unterschiedliche Beschwerdeverfahren handele. Das Fehlen der Unterschrift könne daher nicht darauf beruhen, dass der zweite Schriftsatz versehentlich für ein Doppel gehalten worden sei.

22

In der Sache selbst wiederholt und vertieft der Antragsteller sein bisheriges Vorbringen. Er hält seine Aufzeichnungen im Wesentlichen für ordnungsgemäß und bringt Einwendungen gegen die Richtigkeit der Quantilsschätzung vor.

23

Der Antragsteller beantragt,
den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Bescheide über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Zinsen für 2008 und 2009, über Umsatzsteuer und Zinsen für 2008 und 2009 sowie über den Gewerbesteuermessbetrag für 2008 und 2009, alle vom 15. September 2015, sowie die Bescheide über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Zinsen für 2010, über Umsatzsteuer und Zinsen für 2010 sowie über den Gewerbesteuermessbetrag für 2010, alle vom 21. September 2015, ohne Sicherheitsleistung von der Vollziehung auszusetzen.

24

Das FA beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

25

Es ist der Auffassung, Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdefrist könne nicht gewährt werden, da es an einer substantiierten, in sich schlüssigen Darstellung der entscheidungserheblichen Tatsachen fehle. Der Antragsteller habe bereits nicht die Person benannt, die in der Kanzlei der P mit der Fertigstellung der Beschwerdeschrift beauftragt gewesen sei. Auf dieser Unkenntnis, die einen schweren Organisationsmangel darstelle, fuße die Mutmaßung des Antragstellers, möglicherweise sei an dem Schriftsatz noch eine Korrektur vorzunehmen gewesen. Bei einer den Anforderungen genügenden Gestaltung der Abläufe hätte der Antragsteller noch heute den tatsächlichen Geschäftsgang beschreiben und mitteilen können, wer an dem Schriftsatz gearbeitet und ihn ohne Unterschrift zur Post gegeben habe. Es sei daher nicht einmal klar, ob es auf die Zuverlässigkeit der Frau D überhaupt ankomme.

26

In der Sache selbst hält das FA an seiner Auffassung fest, die Aufzeichnungen des Antragstellers seien mangelhaft, die Quantilsschätzung sei eine geeignete Schätzungsmethode und sachgerecht durchgeführt worden, und andere Schätzungsmethoden kämen im Streitfall nicht in Betracht.

Entscheidungsgründe

II.

27

1. Die Beschwerde ist unzulässig, soweit sie den Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer für 2008 bis 2010 sowie die Zinsen zur Einkommen- und Umsatzsteuer für 2008 bis 2010 betrifft.

28

Das FG hatte den erstinstanzlichen Antrag --der ebenfalls das ausdrückliche Begehren nach einer AdV der Festsetzungen des Solidaritätszuschlags und der Zinsen enthielt-- im Interesse des Antragstellers zur Vermeidung einer Unzulässigkeit im Hinblick darauf, dass es sich um bloße Folgebescheide handelt (vgl. BFH-Urteil vom 29. Oktober 1987 VIII R 413/83, BFHE 151, 319, BStBl II 1988, 240) dahingehend ausgelegt, dass der Antragsteller AdV nur in Bezug auf die Einkommensteuer, die Umsatzsteuer und den Gewerbesteuermessbetrag begehrt. Diese Auslegung hat es in seiner Entscheidung ausführlich begründet und in das Rubrum nur die drei genannten Steuerarten (ohne den Solidaritätszuschlag und die Zinsen) aufgenommen.

29

Gleichwohl beantragt der Antragsteller im Beschwerdeverfahren  --entgegen dem Rubrum und der Begründung der finanzgerichtlichen Entscheidung-- nochmals ausdrücklich auch die AdV in Bezug auf den Solidaritätszuschlag und die Zinsen. Insoweit ist aber --weil das FG hierüber zur Vermeidung einer Unzulässigkeitsentscheidung nicht entschieden hat-- noch kein erstinstanzlicher Beschluss ergangen. Eine Erweiterung des Gegenstands des Beschwerdeverfahrens über den Gegenstand der erstinstanzlichen Entscheidung hinaus ist jedoch unzulässig (BFH-Beschluss vom 20. Juni 2007 VIII B 36/07, BFH/NV 2007, 1911, m.w.N.).

30

2. Im Übrigen ist die Beschwerde zulässig.

31

a) Allerdings hat der Antragsteller die zweiwöchige Frist zur Einlegung der Beschwerde nicht gewahrt.

32

aa) Die Beschwerde ist gemäß § 129 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beim FG schriftlich (oder --was vorliegend nicht in Betracht kommt-- zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle) innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung einzulegen. Grundsätzlich folgt aus der gesetzlich ausdrücklich angeordneten Schriftform, dass der bestimmende Schriftsatz eigenhändig unterschrieben werden muss (vgl. § 126 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Dies gilt auch für Schriftsätze, die im finanzgerichtlichen Verfahren eingereicht werden (ständige Rechtsprechung, vgl. aus jüngerer Zeit BFH-Beschluss vom 20. Mai 2015 XI R 48/13, BFH/NV 2015, 1263, Rz 14, m.w.N.).

33

Der im vorliegenden Verfahren angefochtene Beschluss des FG ist P am 10. Januar 2017 zugegangen. Die Einlegungsfrist endete daher am 24. Januar 2017. Innerhalb dieser Frist ist beim FG lediglich ein nicht unterschriebener Schriftsatz eingegangen.

34

bb) Zwar kann ausnahmsweise von dem Unterschriftserfordernis abgesehen werden, wenn aus anderen Gründen ohne Beweisaufnahme feststeht, dass es sich bei dem an das Gericht gelangten, nicht unterschriebenen Schriftstück nicht lediglich um einen Entwurf handelt.

35

Dies ist in der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung etwa angenommen worden, wenn einer nicht unterschriebenen Klageschrift eine vom Kläger eigenhändig unterzeichnete Prozessvollmacht im Original beigefügt war (BFH-Urteil vom 28. September 1995 IV R 76/94, BFH/NV 1996, 332), wenn ein rechtlich unerfahrener Kläger zwar die Klageschrift nicht unterzeichnet, auf dem Briefumschlag aber handschriftlich seinen Namen und seine Anschrift eingetragen hat (BFH-Urteil vom 3. Oktober 1986 III R 207/81, BFHE 148, 205, BStBl II 1987, 131), wenn zwar nicht der --der Schriftform unterliegende-- Antrag, wohl aber ein Begleitschreiben eigenhändig unterzeichnet ist (BFH-Urteil vom 13. Dezember 2001 III R 24/99, BFHE 196, 464, BStBl II 2002, 159), oder wenn ein erforderlicher Gerichtskostenvorschuss noch innerhalb der Klagefrist eingezahlt wird (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 22. Oktober 2004  1 BvR 894/04, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2005, 814, unter II.2.b aa (2)).

36

Ein vergleichbarer Ausnahmesachverhalt ist im Streitfall indes nicht gegeben, weil es innerhalb der Beschwerdefrist über den bloßen Eingang des nicht unterschriebenen --und damit als bloßer Entwurf anzusehenden-- Schriftstücks hinaus kein weiteres Indiz für den ernsthaften Willen des Antragstellers zur formgerechten Erhebung einer Beschwerde gibt.

37

b) Dem Antragsteller ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

38

aa) Gemäß § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag --nach § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO auch ohne Antrag-- Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten steht dem Verschulden des Beteiligten gleich (§ 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO).

39

Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO). Bereits innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist sind (unbeschadet einer späteren Glaubhaftmachung) alle entscheidungserheblichen Tatsachen wenigstens ihrem wesentlichen Inhalt nach schlüssig darzulegen (BFH-Beschlüsse vom 25. März 2003 I B 166/02, BFH/NV 2003, 1193, und vom 29. Oktober 2003 V B 61/03, BFH/NV 2004, 459), es sei denn, die Gründe waren offenkundig oder amtsbekannt (BFH-Urteil vom 17. September 1987 III R 259/84, BFH/NV 1988, 681).

40

bb) Der Senat hat --ebenso wie das FA-- erhebliche Zweifel, ob die Darlegungen des Antragstellers in seinem Wiedereinsetzungsantrag als schlüssige, substantiierte und vollständige Schilderung der maßgebenden Geschehensabläufe innerhalb der Kanzlei der P anzusehen sind.

41

Zum einen wird nicht deutlich, welcher Berufsträger mit der Anfertigung der Beschwerdeschrift befasst war und die Unterschriftsleistung versäumt hat. Zum anderen stellt der Antragsteller ausdrücklich nur eine "Mutmaßung" zum vermeintlichen Geschehensablauf an, gibt aber keine eindeutige Tatsachenschilderung ab.

42

Vor allem aber sind die von P vorgelegten Organisationsunterlagen nicht geeignet, ein Organisationsverschulden auszuschließen. P betreibt ihre Kanzlei an vier Standorten; für die Bearbeitung des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist der Standort in B zuständig. Tz. 4.1 der vorgelegten Kanzleianweisung, aus der sich nach Auffassung des Antragstellers die Pflicht seines Kanzleipersonals zur Kontrolle des Vorhandenseins einer Unterschrift ergeben soll, bezieht sich aber nur auf den Standort S. Der Umstand, dass beispielsweise in der --hier inhaltlich nicht einschlägigen-- Tz. 4.2 der Kanzleianweisung Regelungen enthalten sind, die ausdrücklich zwischen den Standorten B und S differenzieren, zeigt, dass die Nichterwähnung des Standorts B in Tz. 4.1 kein bloßes Versehen sein kann. Hinzu kommt, dass in dem neunteiligen Katalog der Formalprüfungen, der in Tz. 4.1 der Kanzleianweisung enthalten ist, die Prüfung der Unterschrift nicht ausdrücklich erwähnt wird. Lediglich im Einleitungssatz ist von der "unterschriebenen Post" die Rede; eine eindeutige Anordnung, dass das Vorhandensein der Unterschrift zu prüfen ist, fehlt indes. Demgegenüber ist beispielsweise in Tz. 4.3 der Kanzleianweisung in Bezug auf Gewinnermittlungen und Jahresabschlüsse die Kontrolle des Vorhandenseins der Unterschrift ausdrücklich als eigener Punkt in den dortigen Katalog der Formalprüfungen aufgenommen worden; dies lässt durchaus den Umkehrschluss zu, dass eine solche Prüfung in den Fällen der Tz. 4.1 nicht verlangt wird.

43

Auch belegen die eingereichten Ausdrucke aus dem elektronischen Postausgangsbuch nicht zweifelsfrei, dass es gerade die beiden Beschwerdeschriften waren, die am 13. Januar 2017 die Kanzlei der P verlassen haben. In beiden Fällen ist im Postausgangsbuch als Veranlagungsjahr "2017" angegeben. Diese Angabe weicht von den tatsächlichen Streitjahren des vorliegenden Verfahrens (2008 bis 2010) sowie des Parallelverfahrens IV B 4/17 (2011 und 2012) deutlich ab. Auch ist als Porto jeweils "0,55" angegeben. Das günstigste Briefporto betrug am 13. Januar 2017 aber bereits 0,70 €. Hinzu kommt, dass der in der FG-Akte enthaltene Original-Schriftsatz der nicht unterzeichneten Beschwerde nicht geknickt ist, also in einem Umschlag versandt worden sein muss, der so groß ist, dass man ein DIN A4-Schreiben ungefaltet einlegen kann. Das Mindestporto für derartige Sendungen beträgt aber 1,45 €.

44

Zudem hat der Antragsteller das Vorbringen zum Wiedereinsetzungsantrag nicht durch geeignete Mittel --etwa die Vorlage eidesstattlicher Versicherungen der Frau D und des zuständigen Berufsträgers-- glaubhaft gemacht. Er hat auch nach Kenntnisnahme der bereits vom FA mit seiner Beschwerdeerwiderung geäußerten Zweifel weiterhin keine konkretere Darstellung der damaligen Vorgänge abgegeben.

45

cc) Letztlich können diese Zweifel an der hinreichenden Substantiierung des Wiedereinsetzungsantrags aber auf sich beruhen, da dem Antragsteller aus Gründen, die aktenkundig und damit amtsbekannt sind (vgl. dazu BFH-Urteil in BFH/NV 1988, 681), Wiedereinsetzung zu gewähren ist.

46

(1) Ein Prozessbeteiligter kann erwarten, dass offenkundige Versehen, wie das Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift, von dem angerufenen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und als Folge der prozessualen Fürsorgepflicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden (BVerfG-Beschluss in NJW 2005, 814, unter II.2.b bb; dort war der maßgebende Schriftsatz --ebenso wie im vorliegenden Fall-- acht Tage vor Fristablauf beim zuständigen Gericht eingereicht worden).

47

Nach ständiger Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes und des BVerfG ist ein Gericht verpflichtet, einen Schriftsatz, der eindeutig als fehlgeleitet erkennbar ist, im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an die zuständige Stelle weiterzuleiten. Bei einer schuldhaft verzögerten Weiterleitung ist dem Verfahrensbeteiligten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (grundlegend BVerfG-Beschluss vom 20. Juni 1995  1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99, unter C.II.). Dies gilt nach dieser Rechtsprechung unabhängig davon, auf welchen Gründen der Fehler bei der Einreichung des bestimmenden Schriftsatzes beruht (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 93, 99, unter C.II.2.b; vgl. auch BVerfG-Beschluss vom 2. September 2002  1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835). Für ein bereits vorher mit der Sache befasstes Gericht entspricht das Unterbleiben einer Weiterleitung, obwohl bis zum Fristablauf noch eine Spanne von fünf Arbeitstagen zur Verfügung stand, nicht mehr einem ordentlichen Geschäftsgang (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 3. Juli 2006 II ZB 24/05, NJW 2006, 3499). Demgegenüber besteht keine Pflicht zur sofortigen Prüfung und Weiterleitung noch am Tage des Eingangs des Schriftsatzes oder zu einer beschleunigten Weiterleitung per Telefax (BFH-Beschluss vom 27. Oktober 2004 XI B 130/02, BFH/NV 2005, 563).

48

Dementsprechend stellt es einen Verfahrensmangel (Verletzung der Verfahrensförderungspflicht des § 76 Abs. 2 FGO) dar, wenn ein FG bei einer weit vor Ablauf der Klagefrist eingereichten Klage zwar noch innerhalb der Klagefrist auf bestimmte formale Mängel hinweist, aber erst nach drei Jahren ergänzend beanstandet, dass die Klageschrift lediglich mit einer Paraphe versehen sei, und aus diesem Grund die Klage als unzulässig verwirft (BFH-Beschluss vom 30. Januar 1996 V B 89/95, BFH/NV 1996, 683, unter II.3.b).

49

(2) Vorliegend ist die nicht unterschriebene Beschwerdeschrift am 16. Januar 2017 beim FG eingegangen. Bis zum Fristablauf am 24. Januar 2017 verblieben daher acht Kalendertage (bzw. sechs Arbeitstage), um den Antragsteller auf das Fehlen der Unterschrift hinzuweisen. Tatsächlich hat sich das FG bereits am 17. Januar 2017 --im Rahmen seiner Nichtabhilfeentscheidung-- mit der Beschwerde befasst, aber nicht auf das Fehlen der Unterschrift hingewiesen. Hätte es zu diesem Zeitpunkt einen Hinweis erteilt, wäre zu erwarten gewesen, dass der Antragsteller den Formmangel noch innerhalb der Beschwerdefrist geheilt hätte. Dieses Versäumnis des FG überholt das vorherige Verschulden der P, so dass schon deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

III.

50

Soweit die Beschwerde zulässig ist, ist sie zum überwiegenden Teil begründet.

51

Bei Zugrundelegung der im AdV-Verfahren anzuwendenden Maßstäbe (dazu unten 1.) war das FA dem Grunde nach nur hinsichtlich der Veranstaltungen und des Volksfestes zur Schätzung befugt; im Übrigen bestehen bei der gebotenen summarischen Betrachtung ernstliche Zweifel, ob die Aufzeichnungen des Antragstellers den für eine allein auf formelle Fehler gestützte Schätzungsbefugnis erforderlichen Grad an Mangelhaftigkeit aufweisen (unten 2.). Davon ausgehend hat das FA bisher nicht dargelegt, dass die in der Senatsrechtsprechung entwickelten Voraussetzungen dafür, eine Schätzung der Höhe nach auf die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs stützen zu können, erfüllt sind (unten 3.). Zur Berücksichtigung der vorhandenen formellen Mängel der Aufzeichnungen des Antragstellers nimmt der Senat in Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis für AdV-Zwecke einen Sicherheitszuschlag zu den erklärten Einnahmen von 3.000 € netto pro Jahr vor (unten 4.).

52

1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes u.a. dann ganz oder teilweise auszusetzen, wenn --worüber im vorliegenden Verfahren allein gestritten wird-- ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bestehen.

53

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit für das Hauptsacheverfahren überwiegen (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. zuletzt BFH-Beschlüsse vom 24. Mai 2016 V B 123/15, BFH/NV 2016, 1253, Rz 25, und vom 8. Februar 2017 X B 138/16, BFH/NV 2017, 579, Rz 32, m.w.N.).

54

2. Ob diese Voraussetzungen für eine Schätzung (dazu unten a) erfüllt sind, ist für die drei Bereiche, in denen der Antragsteller seine Bareinnahmen erzielt, differenziert zu betrachten. Danach können bei der summarischen Betrachtung, auf die sich der im AdV-Verfahren anzuwendende Prüfungsmaßstab beschränkt, und beim derzeitigen --noch sehr unvollständigen-- Stand der Sachaufklärung und des Vorbringens der Beteiligten ernstliche Zweifel am Bestehen einer Schätzungsbefugnis hinsichtlich der Einnahmen aus dem laufenden Gaststättenbetrieb nicht ausgeschlossen werden (unten b). Demgegenüber bestehen hinsichtlich der Einnahmen aus dem Volksfest (unten c) und den Veranstaltungen (unten d) keine ernstlichen Zweifel an der Schätzungsbefugnis.

55

a) Die Finanzbehörde hat gemäß § 162 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) u.a. dann eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen vorzunehmen, wenn die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden können, sie also nicht den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen oder sonst nach den Umständen des Einzelfalls Anlass besteht, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden.

56

Zwar berechtigen formelle Mängel der Aufzeichnungen nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung nur insoweit zur Schätzung, als sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Ergebnisses der Gewinnermittlung anzuzweifeln (BFH-Entscheidungen vom 17. November 1981 VIII R 174/77, BFHE 135, 11, BStBl II 1982, 430, unter 1.; vom 25. Januar 1990 IV B 140/88, BFH/NV 1990, 484, und in BFH/NV 2012, 1921, Rz 22, mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Jedenfalls dann, wenn vorwiegend Bargeschäfte getätigt werden, können Mängel der Kassenführung aber den gesamten Aufzeichnungen die Ordnungsmäßigkeit nehmen (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 1921, Rz 34).

57

b) Hinsichtlich des laufenden Gaststättenbetriebs bestehen derzeit ernstliche Zweifel an einer Schätzungsbefugnis des FA. Beim gegenwärtigen Stand der Sachaufklärung steht noch nicht fest, ob der Antragsteller die vom Gesetz (dazu unten aa) und der Rechtsprechung (unten bb) aufgestellten formellen Anforderungen an die in Fällen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung zu führenden Aufzeichnungen von Bareinnahmen verfehlt hat (unten cc). Die Bedenken, die das FA hinsichtlich der materiellen Richtigkeit --insbesondere der betragsmäßigen Vollständigkeit-- der Aufzeichnungen geäußert hat, sind beim gegenwärtigen Stand der Sachaufklärung ebenfalls nicht geeignet, ernsthafte Zweifel am Bestehen einer Schätzungsbefugnis auszuschließen (unten dd).

58

aa) Der Antragsteller hat seinen Gewinn durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelt. Zwischen den Beteiligten ist --nach Auffassung des beschließenden Senats zu Recht-- unstreitig, dass er hierzu berechtigt war. § 4 Abs. 3 EStG selbst enthält --mit Ausnahme des hier nicht einschlägigen § 4 Abs. 3 Satz 5 EStG-- keine Regelungen über den formellen Mindestinhalt der Aufzeichnungen, die bei dieser Gewinnermittlungsart zu führen sind.

59

Allerdings ist nach § 22 Abs. 1 Satz 1 UStG jeder Unternehmer verpflichtet, zur Feststellung der Umsatzsteuer und der Grundlagen ihrer Berechnung Aufzeichnungen zu machen. Aus den Aufzeichnungen müssen die vereinbarten --bzw. in den Fällen des § 20 UStG die vereinnahmten-- Entgelte für die vom Unternehmer ausgeführten Lieferungen und sonstigen Leistungen zu ersehen sein (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 und 5 UStG). Die Aufzeichnungen müssen so beschaffen sein, dass es einem sachverständigen Dritten innerhalb einer angemessenen Zeit möglich ist, einen Überblick über die Umsätze des Unternehmers und die abziehbaren Vorsteuern zu erhalten und die Grundlagen für die Steuerberechnung festzustellen (§ 63 Abs. 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung --UStDV--). Dabei darf der Unternehmer das Entgelt und den Steuerbetrag in einer Summe --statt des (Netto-)Entgelts allein-- aufzeichnen (§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 UStDV). Am Schluss jedes Voranmeldungszeitraums hat der Unternehmer u.a. die Summe der Entgelte zu errechnen und aufzuzeichnen (§ 63 Abs. 3 Satz 3 UStDV).

60

Gemäß § 146 Abs. 1 AO in der im Streitjahr noch geltenden Fassung (vor den Änderungen durch das Gesetz vom 22. Dezember 2016, BGBl I 2016, 3152) sind die erforderlichen Aufzeichnungen vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen. Kasseneinnahmen und Kassenausgaben sollen "täglich" festgehalten werden.

61

bb) Der Senat hat bereits entschieden, dass sich in Fällen der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung auch aus den Vorschriften des § 22 UStG und des § 63 UStDV keine Pflicht zur Führung eines Kassenbuchs ergibt. Bei dieser Gewinnermittlungsart gibt es keine Bestandskonten und somit auch kein Kassenkonto. Vereinnahmtes Geld wird sofort Privatvermögen. Die Feststellung eines Kassenbestands, für den bei einer Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich ein Kassenbuch erforderlich ist, kommt nicht in Betracht (ausführlich zum Ganzen Senatsbeschluss vom 16. Februar 2006 X B 57/05, BFH/NV 2006, 940, m.w.N.).

62

In der Literatur wird daher das als "Schuhkarton-Buchführung" bezeichnete Erstellen und Sammeln von Einnahmen- und Ausgabenbelegen, verbunden mit einer regelmäßigen Summenziehung, für ausreichend gehalten (Märtens in Beermann/Gosch, § 146 AO Rz 28; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 4 EStG Rz 522; vgl. auch BFH-Urteil vom 13. Oktober 1989 III R 30, 31/85, BFHE 159, 123, BStBl II 1990, 287, unter II.2.a).

63

Das Niedersächsische FG hat in seiner vom FA und der Vorinstanz mehrfach angeführten Entscheidung (Urteil vom 8. Dezember 2011  12 K 389/09, EFG 2013, 291, unter I.2.h, m.w.N.; Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen durch Senatsbeschluss vom 13. März 2013 X B 16/12, BFH/NV 2013, 902) die folgenden drei Möglichkeiten für eine ordnungsmäßige Aufzeichnung von Bareinnahmen in Fällen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung bei Sachverhalten, in denen die Führung von Einzelaufzeichnungen nach den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen nicht ohnehin als zwingend anzusehen ist, aufgezeigt:

-    

eine geordnete Belegablage mit Einzelaufzeichnungen der Erlöse;

-    

Verzicht sowohl auf Einzelaufzeichnungen als auch auf ein tägliches Auszählen des Kassenbestands, aber Aufbewahrung der Ursprungsaufzeichnungen und Abgleich von Soll- und Ist-Bestand der Kasse "in gewissen Abständen" (insbesondere bei der Nutzung von Registrierkassen);

-    

Verzicht sowohl auf Einzelaufzeichnungen als auch auf die Aufbewahrung von Ursprungsbelegen, aber tägliches tatsächliches Auszählen der Kasse, das in fortlaufenden Kassenberichten dokumentiert wird;

-    

demgegenüber genüge das bloße Aufschreiben des täglichen (Gesamt-)Umsatzes ohne Aufbewahrung weiterer Belege den Anforderungen nicht.

64

cc) Danach kann der Senat bei der --angesichts des vorläufigen Charakters des Eilverfahrens gebotenen-- summarischen und im Zweifel großzügigen Betrachtung auf der Grundlage des derzeitigen Standes der Sachaufklärung nicht feststellen, dass die Aufzeichnungen des Antragstellers über die Einnahmen des laufenden Gaststättenbetriebs die geltenden formellen Anforderungen verletzen. Der Senat weist allerdings ausdrücklich darauf hin, dass in dieser einzelfallbezogenen, ohne hinreichende Sachaufklärungsgrundlage getroffenen, summarischen und großzügigen Betrachtung keine grundsätzliche und abschließende Entscheidung über die in Fällen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung geltenden formellen Pflichten zur Aufzeichnung der Kasseneinnahmen zu sehen ist.

65

Der Antragsteller hat tatsächlich Einzelaufzeichnungen zumindest über die vereinnahmten Geldbeträge geführt (dazu unten (1)). Seine Behauptung, weitere Uraufzeichnungen seien niemals erstellt worden und daher auch nicht aufbewahrungspflichtig, ist vom FA bisher nicht widerlegt worden und daher für Zwecke des AdV-Verfahrens zugrunde zu legen (unten (2)). Eine Rechtsgrundlage dafür, die Aufzeichnungen in gebundener Form führen zu müssen, ist jedenfalls bei Anwendung der im Eilverfahren geltenden Maßstäbe nicht ersichtlich (unten (3)). Darüber hinaus gehende Anforderungen, die der Antragsteller nicht erfüllt hätte, folgen auch nicht aus der vom FA und FG angeführten Rechtsprechung (unten (4)). Damit erfüllen die Aufzeichnungen des Antragstellers die oben zu bb) dargestellten Rechtsprechungsvorgaben (unten (5)). Zwar können diese Vorgaben die inhaltliche Vollständigkeit der Aufzeichnungen systembedingt nicht gewährleisten; ob die bisherigen Rechtsprechungsvorgaben daher unzureichend sind und einer Verschärfung bedürften, ist im Eilverfahren indes nicht zu entscheiden (unten (6)).

66

(1) Zu einer Einzelaufzeichnung seiner Erlöse war der Antragsteller --wie es wohl auch der Auffassung des FG entspricht-- bei summarischer Betrachtung nicht verpflichtet. Er hat allerdings tatsächlich Einzelaufzeichnungen --wenn auch beschränkt auf die reinen Beträge, ohne Angabe der Kundennamen und der im Einzelnen dargebotenen Speisen und Getränke-- geführt.

67

Das bisherige Vorbringen des FA zu der Frage, ob der Antragsteller Einzelaufzeichnungen geführt habe, ist unklar. Im Schriftsatz vom 10. November 2015 formuliert das FA, es treffe zu, dass für die laufenden Gaststättenumsätze Einzelaufzeichnungen geführt worden seien. Demgegenüber vertritt es im Schriftsatz vom 26. Januar 2016 die Auffassung, der Antragsteller habe zwar die Einnahmen je Kunde bzw. je bedienten Tisch getrennt aufgezeichnet; dies seien aber keine Einzelaufzeichnungen. Letzterem könnte der Senat bei summarischer Betrachtung nicht folgen. Mehr als eine getrennte Aufzeichnung pro Kunde wird bei einer Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung und Führung einer offenen Ladenkasse kaum verlangt werden können.

68

(a) Aus § 146 Abs. 1 Satz 1 AO ergab sich in den Streitjahren noch keine allgemeine Einzelaufzeichnungspflicht (anders die Rechtslage seit den Änderungen durch das Gesetz vom 22. Dezember 2016, BGBl I 2016, 3152). Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat lediglich für Kaufleute mit Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich aus den entsprechenden handelsrechtlichen Grundsätzen eine grundsätzliche Einzelaufzeichnungspflicht abgeleitet (BFH-Urteile vom 12. Mai 1966 IV 472/60, BFHE 86, 118, BStBl III 1966, 371, und vom 16. Dezember 2014 X R 42/13, BFHE 248, 99, BStBl II 2015, 519). Zu diesem Personenkreis gehört der Antragsteller aber nicht.

69

(b) Selbst wenn eine grundsätzliche Einzelaufzeichnungspflicht bestünde, könnte der Antragsteller sich für das Unterbleiben von Aufzeichnungen zu den Namen der Kunden und den jeweils zur Verfügung gestellten Speisen und Getränken aber auf die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aus Zumutbarkeitsgründen gewährten Erleichterungen berufen (vgl. hierzu ebenfalls BFH-Urteil in BFHE 86, 118, BStBl III 1966, 371).

70

Das FA bringt hierzu vor, nur bei Einzelhändlern mit einer Vielzahl von Barverkäufen an unbekannte Kunden über den Ladentisch und vergleichbaren Berufsgruppen bestehe keine Einzelaufzeichnungspflicht; hierauf könne sich der Antragsteller als Gastwirt (Dienstleister) nicht berufen.

71

Dem kann der Senat nicht folgen. Die Rechtsprechung hat die gewährten Erleichterungen niemals ausdrücklich auf Warenlieferanten beschränkt, sondern stets aus dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit abgeleitet. Insoweit kann aber bei Klein-Dienstleistern dieselbe Interessenlage bestehen wie bei kleinen Warenlieferanten. Bereits in den Gründen der Entscheidung in BFHE 86, 118, BStBl III 1966, 371 sind neben Einzelhandelsgeschäften auch Spielautomaten sowie Stehbierhallen genannt. Dabei handelt es sich aber ebenfalls um Dienstleistungen. Im Übrigen weist gerade die Darreichung von Speisen und Getränken eine erhebliche Nähe zu dem Verkauf von Waren etwa in einem Bäckereigeschäft auf.

72

(2) Die Behauptung des Antragstellers, er habe keine weiteren Uraufzeichnungen erstellt, so dass solche Aufzeichnungen auch nicht aufbewahrt und vorgelegt werden konnten, ist vom FA bisher nicht widerlegt worden und daher für Zwecke des AdV-Verfahrens zugrunde zu legen.

73

Das FA hat zumindest anfänglich unterstellt, den Einzelaufzeichnungen auf den Tageseinnahmen-Zetteln lägen gesonderte "Kellnerzettel" zugrunde, die als Uraufzeichnungen aufbewahrungspflichtig seien. Der Antragsteller hat die Existenz solcher "Kellnerzettel" bestritten und dazu erklärt, in aller Regel habe er allein bei den Gästen kassiert und den erhaltenen Betrag sogleich auf dem Tageseinnahmen-Zettel notiert. Jedenfalls für Zwecke der im AdV-Verfahren gebotenen lediglich summarischen Prüfung ist --in Ermangelung präsenter Beweismittel, die einen gegenteiligen Schluss zulassen würden-- hier von der Erklärung des Antragstellers auszugehen. Diese ist auch durchaus plausibel, da neben dem Antragsteller lediglich E und eine weitere Aushilfe --beide mit eher geringen Einkünften, die für eine bloße Teilzeitbeschäftigung sprechen-- im Betrieb tätig waren; zusätzlich waren in zwei Streitjahren noch zwei weitere Aushilfen tätig, allerdings angesichts eines Jahreslohns von ca. 1.000 € in äußerst geringem Umfang.

74

Soweit das FA in der Beschwerdeerwiderung die Vorlage von Kassenstreifen und Bons vermisst, hat es bisher nicht dargelegt, dass die vom Antragsteller --in zulässiger und auch vom FA dem Grunde nach nicht beanstandeter Weise-- verwendete offene Ladenkasse überhaupt in der Lage war, solche Belege auszugeben. Auch dies wäre erforderlichenfalls im Hauptsacheverfahren noch zu klären, kann beim derzeitigen Verfahrensstand aber nicht zu Lasten des Antragstellers herangezogen werden. Wenn allerdings die vom Antragsteller verwendete offene Ladenkasse zur Ausgabe von Kassenzetteln oder ähnlichen Belegen technisch in der Lage gewesen sein sollte, dann hätte der Antragsteller diese Belege als Ursprungsaufzeichnungen aufbewahren und dem Prüfer vorlegen müssen (vgl. Urteil des Niedersächsischen FG in EFG 2013, 291, unter I.2.h bb).

75

(3) Eine Rechtsgrundlage dafür, die Aufzeichnungen in gebundener Form führen zu müssen, ist jedenfalls bei Anwendung der im Eilverfahren geltenden Maßstäbe nicht ersichtlich.

76

Das FG hat die Aufzeichnungen nicht als ausreichend angesehen, weil sie auf losen, nicht durchnummerierten Blättern vorgenommen worden sind. Es sei nicht ansatzweise ersichtlich, wann, von wem und auf welche Weise die jeweiligen Tagesumsätze ermittelt worden seien. Sie stammten ersichtlich nur von einer Person und erweckten den Eindruck, sie seien im Nachhinein erstellt worden; Näheres bedürfe der Aufklärung im Hauptsacheverfahren.

77

Indes verlangt § 4 Abs. 3 EStG keine Aufzeichnungen in "Buch"form. Die gebundene oder jedenfalls eine in sich geschlossene Form wird etwa beim Fahrten"buch" verlangt (hierzu BFH-Urteil vom 9. November 2005 VI R 27/05, BFHE 211, 508, BStBl II 2006, 408), aber nicht bei bloßen "Aufzeichnungen".

78

Nicht nachvollziehbar ist des Weiteren, wie das FG zu der Wertung kommt, es sei nicht ansatzweise ersichtlich, vom wem die Tagesumsätze ermittelt worden seien. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller jedenfalls auf sämtlichen Tageseinnahmen-Zetteln, die in den Akten enthalten sind, die Summenbildung mit seinem Namenszeichen versehen hat. Dass es sich bei den weiteren, nicht in den Akten enthaltenen Einnahmezetteln anders verhielte, haben weder das FG noch das FA ausgeführt.

79

Die weitere Feststellung des FG, die Tageseinnahmen-Zettel seien überwiegend durch dieselbe Handschrift erstellt worden, spricht unter den im Streitfall gegebenen Umständen nicht mit dem Grad an Wahrscheinlichkeit, der im Eilverfahren für eine Verneinung ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide erforderlich wäre, für das vom FG angenommene Nacherstellen der Belege. Wie bereits ausgeführt (oben (2)), sind im Betrieb des Antragstellers außer ihm selbst nur noch E und eine Aushilfe (in zwei Streitjahren zwei weitere, äußerst geringfügig beschäftigte Aushilfen) tätig. Es ist also durchaus denkbar, dass in den meisten Fällen der Antragsteller selbst die Aufzeichnungen vorgenommen hat. Eine etwaige Nacherstellung der Tageseinnahmen-Zettel hatte vor dem FG nicht einmal das FA geltend gemacht. Da das FG hier einen Aufklärungsbedarf im Hauptsacheverfahren gesehen hat, hätte es näher gelegen, wegen bestehender tatsächlicher Zweifel AdV zu gewähren.

80

(4) Aus den vom FA angeführten --und vom FG gleichlautend übernommenen-- Entscheidungen lassen sich für den vorliegend zu beurteilenden Streitfall, worauf bereits der Antragsteller zutreffend hingewiesen hat, keine höheren Anforderungen ableiten.

81

Dem Senatsbeschluss in BFH/NV 2013, 902 lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem der dortige Steuerpflichtige --gerade abweichend vom Antragsteller des vorliegenden Verfahrens-- keine Einzelaufzeichnungen über seine Erlöse geführt, sondern lediglich die Tagessumme in sog. Kassenberichte eingetragen hatte. Das dortige FG hatte die Kassenberichte deshalb als nicht ausreichend angesehen, weil in ihnen zahlreiche Streichungen vorgenommen worden und Eintragungen unleserlich waren (Niedersächsisches FG, Urteil in EFG 2013, 291). So liegt der Streitfall indes nicht. Vorliegend hat der Antragsteller Einzelaufzeichnungen seiner Erlöse vorgenommen. Derartige Aufzeichnungen fehlten hingegen in den Fällen, die den vom FA angeführten Entscheidungen des Niedersächsischen FG und des beschließenden Senats zugrunde lagen.

82

In dem Sachverhalt, zu dem das FG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 26. Juli 2007  14 K 3368/06 (nachgehend Senatsbeschluss vom 7. Februar 2008 X B 189/07, beide nicht veröffentlicht --n.v.--) entschieden hat, hatte der Steuerpflichtige eine Registrierkasse genutzt, die von dieser Kasse erstellten Tagesendsummenbons (Z-Bons) aber vernichtet. Damit ist der vorliegende Sachverhalt, in dem das FA bisher nicht einmal vorgetragen hat, die vom Antragsteller verwendete offene Ladenkasse sei technisch überhaupt zur Ausgabe von beleghaften Ursprungsaufzeichnungen in der Lage, nicht vergleichbar.

83

In dem darüber hinaus vom FA angeführten BFH-Beschluss vom 2. September 2008 V B 4/08 (n.v.) wird zwar der zugrunde liegende Sachverhalt nicht vollständig mitgeteilt. Offenbar hatte der dortige Steuerpflichtige aber nur eine Sammlung seiner Ausgangsrechnungen ohne weitere Aufzeichnungen (z.B. Ermittlung der Tageseinnahmen) vorgelegt. Außerdem hatte bereits der Steuerberater des dortigen Steuerpflichtigen pauschale Zuschätzungen zu den Erlösen vorgenommen. Auch damit ist der vorliegende Sachverhalt, in dem der Antragsteller selbst täglich seine Einnahmen ermittelt hat, nicht vergleichbar.

84

Dem Urteil des Saarländischen FG vom 21. Juni 2012  1 K 1124/10 (EFG 2012, 1816) lag ebenfalls ein Sachverhalt zugrunde, in dem lediglich die Gesamtsumme der Tageseinnahmen aufgezeichnet worden war. Das dann erforderliche tägliche Auszählen des Kassenbestands war unterblieben.

85

(5) Damit erfüllen die Aufzeichnungen des Antragstellers die oben zu bb) dargestellten Rechtsprechungsvorgaben. Danach wird eine "geordnete Belegablage mit Einzelaufzeichnung der Erlöse" für ausreichend erachtet. Der Antragsteller hat seine Erlöse betragsmäßig einzeln aufgezeichnet. Da für Zwecke dieses Eilverfahrens zu unterstellen ist, dass der Antragsteller keine weiteren Ursprungsaufzeichnungen geführt hat, handelt es sich bei den Tageseinnahmen-Zetteln um die Ursprungsaufzeichnungen. Das Anbringen des Tagesdatums stellt zumindest ein mögliches Ordnungskriterium dar, so dass auch die Forderung nach einer "geordneten Belegablage" --die nach den unter (3) dargestellten Grundsätzen nicht notwendig in Buchform erfolgen muss-- erfüllt ist.

86

(6) Dem FA ist zwar zuzugeben, dass die Aufzeichnungen des Antragstellers nicht die Gewähr ihrer inhaltlichen Vollständigkeit bieten. Diese fehlende Vollständigkeitsgewähr ist aber im Wesentlichen durch die --zulässige-- Verwendung einer offenen Ladenkasse in Kombination mit den geringeren gesetzlichen Anforderungen an die Aufzeichnungen bei der --hier ebenfalls zulässigen-- Wahl der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung bedingt. Solange der Gesetzgeber eine derartige Kassenführung und eine derartige Gewinnermittlungsart zulässt, kann aus dem Umstand, dass es hier systembedingt keine Vollständigkeitsgewähr geben kann, jedenfalls bei summarischer Betrachtung keine Befugnis zur Vollschätzung abgeleitet werden.

87

Selbst die Führung der vom FA verlangten Kassenberichte würde keineswegs ausschließen, dass zur Steuerhinterziehung entschlossene Steuerpflichtige einen Teil ihrer Erlöse außerhalb ihrer offenen Ladenkasse vereinnahmen und die entsprechenden Beträge von vornherein nicht in ihre Kassenberichte aufnehmen. Die Kassen-Nachschau --als ein mögliches Instrument einer wirksamen Kontrolle der Vollständigkeit der Ursprungsaufzeichnungen-- ist trotz frühzeitiger Kenntnis des Gesetzgebers von der Problematik der vollständigen Einnahmeerfassung in den "Bargeld-Branchen" erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 2018 in § 146b AO aufgenommen worden (Gesetz vom 22. Dezember 2016, BGBl I 2016, 3152).

88

Entscheidend für die Beurteilung der Frage, ob die im Einzelfall vorliegenden Aufzeichnungen ordnungsgemäß sind, ist nicht, ob das verwendete Aufzeichnungssystem bei hinreichender krimineller Energie noch Möglichkeiten zur Steuerverkürzung bietet, sondern ob es den gesetzlichen Anforderungen genügt. Dies ist hier --bei Vornahme der im Eilverfahren gebotenen, hier zugunsten des Antragstellers wirkenden Sachverhaltsunterstellungen-- noch der Fall. Ob die bisherigen Rechtsprechungsvorgaben an die Form und den Inhalt von Aufzeichnungen in Fällen der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung und der Verwendung einer offenen Ladenkasse unzureichend sind und daher noch für die Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 einer Verschärfung bedürften, ist im Eilverfahren nicht zu entscheiden.

89

dd) Auch die Bedenken, die das FA hinsichtlich der materiellen Richtigkeit --insbesondere der betragsmäßigen Vollständigkeit-- der Aufzeichnungen geäußert hat, sind beim gegenwärtigen Stand der Sachaufklärung nicht geeignet, ernsthafte Zweifel am Bestehen einer Schätzungsbefugnis hinsichtlich der Einnahmen aus dem laufenden Gaststättenbetrieb auszuschließen.

90

(1) Seine Bedenken gründet das FA zunächst auf den Umstand, dass für einige Tage des Jahres --noch dazu überwiegend für umsatzstarke Samstage-- keine Tageseinnahmen-Zettel vorliegen. Indes handelt es sich dabei um relativ wenige Tage. Im Betrieb waren --wie bereits dargelegt-- im Wesentlichen der Antragsteller, E und eine bzw. drei Aushilfen tätig. Es ist daher durchaus plausibel, dass eine nahezu ausschließlich vom Inhaber und seiner Ehefrau bewirtschaftete Gaststätte nicht an 365 Tagen im Jahr geöffnet haben kann. Im fortzuführenden Hauptsacheverfahren wird das FA die Möglichkeit haben, mit Hilfe anderer Beweismittel (z.B. Befragung von Zeugen, Auswertung von Inseraten) darzulegen, dass die Gaststätte an Tagen, für die der Antragsteller eine Schließung behauptet, gleichwohl geöffnet hatte. Zudem kommt ein Abgleich mit den Daten von Veranstaltungen in Betracht. Auf die bloße Behauptung des FA, es sei nicht glaubhaft, dass eine inhabergeführte Gaststätte an 14 bis 25 Tagen jährlich geschlossen sei, wird die Inanspruchnahme einer Vollschätzungsbefugnis hingegen nicht gestützt werden können.

91

(2) Auch der Umstand, dass das FA die --von ihm selbst ermittelten-- Warenbestände des Antragstellers für unplausibel hält, ist bei summarischer Betrachtung nicht geeignet, eine materielle Unrichtigkeit der Aufzeichnungen des Antragstellers zu belegen.

92

Der Antragsteller, der seinen Gewinn durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelt, ist zur Aufzeichnung seiner Warenbestände nicht verpflichtet. Das FA hat die von ihm angenommenen Warenbestände daher anhand einer --weder erläuterten noch aus den Akten nachvollziehbaren-- Rückrechnung aus bestimmten Teilergebnissen des Zeitreihenvergleichs geschätzt. Es hat ausgeführt, dabei über alle drei Streitjahre einen konstanten RAS unterstellt zu haben, und damit zu begründen versucht, weshalb es die von ihm selbst ermittelten Veränderungen der Warenbestände --entgegen der nachvollziehbaren Forderung des Antragstellers-- nicht als Korrektiv in die Schätzung der monatlichen RAS einbezogen hat.

93

Die Annahme eines über drei Jahre konstanten RAS dürfte indes so weit von der betrieblichen Realität entfernt sein, dass eine Verwertung der Ergebnisse der Warenbestands-Schätzung jedenfalls bei summarischer Betrachtung nicht zu Lasten des Antragstellers möglich ist. Das Vorbringen des FA zu den Warenbeständen erscheint insoweit als widersprüchlich: Einerseits will es aus den von ihm angenommenen Warenbeständen Unplausibilitäten ableiten, die zu Lasten des Antragstellers gehen sollen; andererseits hält es aber die von ihm selbst bei der Schätzung dieser Warenbestände angewandte Methodik für so wenig überzeugend, dass es eine Berücksichtigung der Warenbestandsveränderungen bei der Schätzung der monatlichen RAS ablehnt.

94

c) Hinsichtlich der auf dem Volksfest erzielten Erlöse genügen die Aufzeichnungen des Antragstellers hingegen auch bei summarischer Betrachtung nicht den geltenden Anforderungen.

95

Der Antragsteller hat ausweislich der in den Akten enthaltenen Unterlagen insoweit lediglich die Einnahmen eines gesamten Tages in einer Summe notiert. Wie diese Summe zustande gekommen ist, ist den Unterlagen und auch den Erläuterungen des Antragstellers nicht zu entnehmen.

96

Zwar war der Antragsteller auch hinsichtlich seiner Einnahmen aus dem Volksfest von der Pflicht befreit, Einzelaufzeichnungen zu führen, da er "über die Theke hinweg" mit einer unbekannten Vielzahl von Personen Bargeschäfte von geringem Wert tätigte. Da er keine weiteren Ursprungsaufzeichnungen geführt hat, hätte er dann aber nach den oben zu b bb) dargestellten Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, die Tageseinnahmen durch tatsächliches Auszählen ermitteln und dies in einem Kassenbericht dokumentieren müssen. Dies ist nicht geschehen, so dass die Aufzeichnungen in Bezug auf die beim Volksfest erzielten Erlöse formell nicht ordnungsgemäß sind.

97

d) Gleiches gilt in Bezug auf die Einnahmen des Antragstellers aus den Veranstaltungen.

98

aa) Der Senat kann insoweit offenlassen, ob der Antragsteller --mit Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung-- schon vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 146 Abs. 1 AO (Gesetz vom 22. Dezember 2016 mit Wirkung zum 29. Dezember 2016) in diesem Geschäftsbereich zu Einzelaufzeichnungen verpflichtet war. Immerhin waren dem Antragsteller die Namen seiner Geschäftspartner hier bekannt; der Umfang des einzelnen Geschäfts überstieg den Bagatellbereich.

99

bb) Der Antragsteller hat zu den Veranstaltungen weder Angebote noch Vereinbarungen, Rechnungen oder Quittungen vorgelegt. Er hat hierzu behauptet, solche Unterlagen nicht erstellt zu haben, so dass sie auch nicht aufbewahrungspflichtig seien.

100

Das FA hat jedoch substantiiert vorgetragen, dass zu den Kunden des Antragstellers zumindest auch eine GmbH und eine Stadtverwaltung gehörten. Der Senat hält es aber auch bei Anwendung des im AdV-Verfahren gebotenen großzügigen Prüfungsmaßstabs für ausgeschlossen, dass derartige Kunden auf die Ausstellung ordnungsgemäßer Rechnungen verzichten könnten. Eine GmbH benötigt eine solche Rechnung bereits für den Vorsteuerabzug und für ihre eigene Buchhaltung; eine Stadtverwaltung wird Zahlungen in aller Regel nur gegen Vorlage schriftlicher Rechnungen leisten. Daher hält der Senat die Behauptung des Antragstellers, im Veranstaltungsbereich seien keinerlei schriftliche Unterlagen angefallen --auch in Bezug auf jedenfalls einen Teil der anderen Veranstaltungskunden-- nicht für glaubhaft. Schon zum Zwecke der Organisation derartiger Veranstaltungen --insbesondere zur Vermeidung von Missverständnissen im Verhältnis zu seinen Auftraggebern-- dürfte der Antragsteller eigene Aufzeichnungen geführt haben.

101

cc) Für das Hauptsacheverfahren bietet es sich an, dass das FA diejenigen Kunden, die aus den Aufzeichnungen des Antragstellers namentlich bekannt sind, zur Höhe der Zahlbeträge und zu Einzelheiten der Veranstaltungen befragt. Bei Differenzen zu den Angaben des Antragstellers wäre nicht nur ein formeller, sondern zudem ein materieller Mangel der Aufzeichnungen nachgewiesen, der auch die Anwendung gröberer Schätzungsmethoden rechtfertigen würde. Demgegenüber wäre bei einer Übereinstimmung zwischen den Angaben des Antragstellers und seiner Kunden eine Vollschätzung in diesem Bereich nicht zu begründen.

102

e) Damit ist für Zwecke des Eilverfahrens von formellen Mängeln der Aufzeichnungen des Antragstellers in den Bereichen "Volksfest" und "Veranstaltungen", nicht aber im Bereich "laufender Gaststättenbetrieb" auszugehen. Materielle Mängel der Erfassung der Einnahmen hat das FA hingegen bisher nicht konkret dargelegt.

103

aa) Das Gewicht der festgestellten formellen Mängel ist so erheblich, dass sie eine Schätzungsbefugnis begründen können. Ohne die Vorlage der erforderlichen Kassenberichte zu den Einnahmen aus dem Volksfest ist nicht erkennbar, wie die Tagessumme ermittelt worden ist. Das Fehlen jeglicher Unterlagen zu den Veranstaltungen ist ebenfalls ein gewichtiger Mangel, weil es keine andere Möglichkeit zur Kontrolle der inhaltlichen Richtigkeit der Aufzeichnungen des Antragstellers gibt.

104

bb) Allerdings betreffen die festgestellten formellen Mängel lediglich abgegrenzte Teilbereiche des Betriebs des Antragstellers. Für eine Vollschätzung der Erlöse, die auch den laufenden Gaststättenbetrieb umfasst, sieht der Senat daher beim derzeitigen Stand der Sachaufklärung keinen Raum.

105

Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen Sachverhaltsermittlungen des FA und FG nicht beurteilen, wie umfangreich die Erlöse der Bereiche "Volksfest" und "Veranstaltungen" im Verhältnis zu den Gesamterlösen des Antragstellers sind. Das Volksfest beschränkte sich auf einen Zeitraum von drei Tagen jährlich. Auch wenn an diesen Tagen überdurchschnittlich hohe Erlöse erzielt worden sein dürften, dürfte der Anteil am Gesamtjahresumsatz eher gering sein.

106

Ferner hat das FA nicht mitgeteilt, in welchem Umfang die Einnahmen des Antragstellers auf die Durchführung von Veranstaltungen entfallen. Zwar scheint es sich auch hier im Einzelfall um Beträge zu handeln, die im Verhältnis zu den Tageseinnahmen des Antragstellers aus dem laufenden Gaststättenbetrieb durchaus erheblich sind. Unbekannt ist aber, wie häufig der Antragsteller derartige Veranstaltungen ausgerichtet hat. Dies geht im AdV-Verfahren vorläufig zu Lasten des FA, das sich zur Begründung seiner Schätzungsbefugnis auf das Vorhandensein der Mängel und ihr Gewicht beruft und die erforderlichen Angaben unschwer im Rahmen der Außenprüfung hätte ermitteln und darlegen können.

107

3. Dies zugrunde gelegt ist nach dem derzeitigen Stand der Sachaufklärung nicht ersichtlich, dass die in der Senatsrechtsprechung entwickelten Voraussetzungen dafür, eine Schätzung der Höhe nach auf die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs --hier: in der Sonderform der Quantilsschätzung-- stützen zu können, im Streitfall erfüllt sind.

108

Die Anforderungen, die der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung an die Durchführung eines Zeitreihenvergleichs gestellt hat (dazu unten a), gelten bei summarischer Betrachtung auch dann, wenn die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs durch Vornahme einer Quantilsschätzung zur Begründung der Schätzungshöhe herangezogen werden (unten b). Danach ist der Zeitreihenvergleich in Fällen, in denen keine materiellen Mängel der Aufzeichnungen feststellbar sind, grundsätzlich nachrangig zu anderen Schätzungsmethoden; im Streitfall hat das FA die fehlende Eignung anderer Methoden aber bisher nicht hinreichend dargelegt (unten c). Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob der Prüfer den Zeitreihenvergleich im Streitfall technisch korrekt durchgeführt hat (unten d). Schließlich kann der Senat derzeit nicht erkennen, weshalb gerade der von der Quantilsschätzungs-Software der Finanzverwaltung ausgeworfene Wert "am wahrscheinlichsten" sein soll (unten e).

109

a) Der Senat hat in seinem Urteil vom 25. März 2015 X R 20/13 (BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743) in Bezug auf die dort streitgegenständliche Variante des Zeitreihenvergleichs u.a. die folgenden Grundsätze aufgestellt:

-  

Die dort dargestellte Variante des Zeitreihenvergleichs führt auch bei einer formell und materiell ordnungsmäßigen Buchführung denklogisch immer zu einem Mehrergebnis gegenüber der Buchführung, was eine vorsichtige Interpretation der Ergebnisse dieser Methode gebietet (Rz 39).

-  

Die zeitliche Verteilung des Wareneinkaufs durch den Prüfer wird im Regelfall den Schlüssel zum Verständnis und zur Einordnung der Einzelergebnisse des Zeitreihenvergleichs darstellen; die Kenntnis der bei diesem Schätzungsschritt vorgenommenen Wertungen des Prüfers ist für den Steuerpflichtigen daher von erheblicher Bedeutung. Zuordnungsfehler am Anfang oder Ende der maßgeblichen Zehn-Wochen-Periode können aufgrund des mathematischen Hebeleffekts das rechnerische Ergebnis des Zeitreihenvergleichs in erheblichem Umfang beeinflussen und verzerren (Rz 51).

Der Zeitreihenvergleich basiert entscheidend auf der Grundannahme, dass im Betrieb das Verhältnis zwischen dem Wareneinsatz und den Erlösen im betrachteten Zeitraum weitgehend konstant ist. Fehlt es an dieser weitreichenden Konstanz, haben die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs regelmäßig keine hinreichende Aussagekraft (Rz 56).

Bei einer Buchführung, die formell ordnungsgemäß ist oder nur geringfügige formelle Mängel aufweist, kann der Nachweis der materiellen Unrichtigkeit grundsätzlich nicht allein aufgrund der Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs geführt werden (Rz 62).

Ist die Buchführung formell nicht ordnungsgemäß, sind aber materielle Unrichtigkeiten der Einnahmenerfassung nicht konkret nachgewiesen, sind andere Schätzungsmethoden, die auf betriebsinternen Daten aufbauen oder in anderer Weise die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Steuerpflichtigen berücksichtigen, grundsätzlich vorrangig heranzuziehen. Nur wenn solche Schätzungsmethoden nicht sinnvoll einsetzbar sind, können die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs einen Anhaltspunkt für die Höhe der erforderlichen Hinzuschätzung bilden. Diese Ergebnisse sind aber von Amts wegen auf ihre Plausibilität anhand der besonderen betrieblichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zu überprüfen. Bei verbleibenden Zweifeln können Sicherheitsabschläge in einem Umfang geboten sein, der über eine bloße Abrundung des rechnerischen "Mehrergebnisses" hinausgeht (Rz 63 bis 65).

Steht bereits aus anderen Gründen fest, dass die Buchführung nicht nur formell, sondern auch materiell unrichtig ist und übersteigt die Unrichtigkeit eine von den Umständen des Einzelfalls abhängige Bagatellschwelle, können die Ergebnisse eines --technisch korrekt durchgeführten-- Zeitreihenvergleichs auch für die Ermittlung der erforderlichen Hinzuschätzung der Höhe nach herangezogen werden, sofern sich im Einzelfall keine andere Schätzungsmethode aufdrängt, die tendenziell zu genaueren Ergebnissen führt und mit vertretbarem Aufwand einsetzbar ist (Rz 66).

-  

Sofern die Ausgangsparameter (insbesondere die Feststellung des Warenbestands) mit Unsicherheiten behaftet sind, ist von Amts wegen eine Sensitivitätsanalyse durchzuführen, die verdeutlichen muss, welche Auswirkungen die nicht behebbaren Unsicherheiten bei einzelnen Parametern auf die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs haben können (Rz 67 bis 69).

110

b) Diese Anforderungen gelten jedenfalls bei summarischer Betrachtung auch dann, wenn die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs durch Vornahme einer Quantilsschätzung zur Begründung der Höhe einer Hinzuschätzung herangezogen werden sollen.

111

aa) Auch die Quantilsschätzung stellt eine Vollschätzung dar, da das Ergebnis der eigenen Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen vollständig verworfen und durch ein anderes Ergebnis ersetzt wird. Die besonderen Risiken (denknotwendig Ausweis eines Mehrergebnisses auch gegenüber einer formell und materiell ordnungsmäßigen Gewinnermittlung, erhebliche mathematische Hebelwirkungen, Ausgabe großer und kaum vollständig überprüfbarer Datenmengen) bestehen hier ebenso.

112

Letztlich handelt es sich bei der Quantilsschätzung im Kern lediglich um eine geänderte Interpretation der Ergebnisse derjenigen Variante des Zeitreihenvergleichs, die Gegenstand der Senatsentscheidung in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743 war. Während dort der Zehn-Wochen-Zeitraum mit dem höchsten gleitenden RAS als maßgeblich für das Gesamtjahr angesehen wurde, wird bei der Quantilsschätzung der nächsthöchste Einzel-RAS herangezogen, der nach dem Ausscheiden der 20 % höchsten Einzelwerte verbleibt. Eine solche Schätzung wird auch bei einer formell und materiell ordnungsmäßigen Gewinnermittlung regelmäßig zu Mehrergebnissen führen, da der 80 %-Wert meist höher liegen wird als der 50 %-Wert (Mittelwert). Die mathematischen Hebelwirkungen beziehen sich bei der Quantilsschätzung zwar nicht auf den Anfang und das Ende des maßgebenden Zehn-Wochen-Zeitraums, wohl aber auf den Anfang und das Ende desjenigen Zeitraums, dessen RAS nach Ausscheiden der 20 % höchsten Einzelwerte als maßgeblich für das Gesamtjahr herangezogen wird.

113

bb) Diese Einschätzung liegt --jedenfalls im Ergebnis-- auch einem Großteil der bisher bekannt gewordenen instanzgerichtlichen Entscheidungen zur Quantilsschätzung zugrunde.

114

In einem Fall, in dem materielle Mängel der Gewinnermittlung nicht konkret nachgewiesen waren, hat das FG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 24. August 2016  5 V 5089/16, EFG 2017, 12) in einem AdV-Verfahren die Quantilsschätzung nicht als geeignete Schätzungsmethode angesehen und stattdessen eine eigene Hinzuschätzung in geringerer Höhe vorgenommen. Dies entspricht der Senatsrechtsprechung (vgl. Urteil in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 63 ff.).

115

Das FG Hamburg (Beschluss vom 26. August 2016  6 V 81/16) hatte in einem AdV-Beschluss einen Sachverhalt zu beurteilen, in dem Schwarzeinkäufe konkret nachgewiesen waren, die Gewinnermittlung sich also schon ohne den Zeitreihenvergleich als materiell unrichtig erwiesen hatte. Es hat hier die Quantilsschätzung dem Grunde nach nicht beanstandet, der Höhe nach aber erhebliche Korrekturen vorgenommen. Damit liegt auch das FG Hamburg auf der Linie der Senatsrechtsprechung, die bei nachgewiesenen materiellen Mängeln die Heranziehung der Ergebnisse eines technisch korrekt durchgeführten Zeitreihenvergleichs für die Höhe der Hinzuschätzung grundsätzlich zulässt (Urteil in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 66).

116

Demgegenüber hat ein anderer Senat des FG Hamburg (Beschluss vom 31. Oktober 2016  2 V 202/16, EFG 2017, 265) --ebenso wie die Vorinstanz im vorliegenden Verfahren-- in einem Fall, in dem lediglich formelle Mängel nachgewiesen waren, aus den Ergebnissen des Zeitreihenvergleichs und einer Ziffernanalyse auf die materielle Unrichtigkeit der Buchführung geschlossen und eine durchgeführte Quantilsschätzung nicht beanstandet.

117

cc) In der Literatur halten vor allem Autoren, die in der Finanzverwaltung tätig sind, die Quantilsschätzung für eine sachgerechte Schätzungsmethode (z.B. Schumann/Wähnert, Die Steuerberatung 2012, 535; Wähnert, Die steuerliche Betriebsprüfung 2015, 92; Becker, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2016, 1430, 1435; Becker/Schumann/Wähnert, DStR 2017, 1243).

118

Andere Autoren übertragen demgegenüber die in der Senatsrechtsprechung in Bezug auf den Zeitreihenvergleich vorgenommenen Einschränkungen auch auf die Quantilsschätzung (ausführlich Bleschick, DStR 2017, 426, und Krumm, Der Betrieb --DB-- 2017, 1105; ferner Hartmann, EFG 2017, 12).

119

c) Nach der Senatsrechtsprechung ist ein Zeitreihenvergleich in Fällen, in denen --wie hier-- zwar formelle Mängel vorliegen, materielle Mängel der Aufzeichnungen aber nicht konkret nachgewiesen sind, im Verhältnis zu anderen Schätzungsmethoden nachrangig; ggf. sind deutliche Abschläge erforderlich.

120

Bisher hat das FA nicht hinreichend dargelegt, dass eine Heranziehung anderer Schätzungsmethoden im Streitfall ausscheidet. Diese Frage wird daher im Hauptsacheverfahren zu klären sein. Die danach gegenwärtig bestehende Unsicherheit, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Stützung der Schätzungshöhe auf einen Zeitreihenvergleich erfüllt sind, rechtfertigt dem Grunde nach die Gewährung von AdV.

121

aa) Zur Geldverkehrsrechnung hat das FA ausgeführt, diese Methode scheide im Streitfall aus. Sie habe mit Abschaffung der Vermögensteuer und der damit verbundenen Offenlegungspflicht für Privatvermögen stark an Bedeutung verloren. Weder die vom Steuerpflichtigen genutzten Bankkonten noch die dortigen Geldbewegungen könnten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermittelt werden. E habe in einem Gespräch angegeben, der Antragsteller unterhalte ein Bankkonto im Ausland, auf das er regelmäßig Bargeldbeträge eingezahlt habe. Der Antragsteller habe im Eröffnungsgespräch erklärt, die Bareinnahmen in einem Tresor zu lagern und einen Großteil der Ausgaben aus diesem Bargeldbestand zu bestreiten. Die Hobbys, Vorlieben und der Lebensstandard des Antragstellers seien nicht bekannt. Zudem habe der Antragsteller auf eine längere Amerikareise mit unkalkulierbaren Kosten gespart.

122

Hierzu ist anzumerken, dass im Streitfall eine Pflicht zur Abgabe von Vermögensteuererklärungen angesichts der geringen Höhe jedenfalls des erkennbaren Vermögens des Antragstellers und der hohen Freibeträge mutmaßlich nicht bestanden hätte, die Abschaffung der Vermögensteuer im Streitfall --und in vielen anderen Kleinunternehmer-Fällen-- daher nicht kausal für die Durchführbarkeit oder Nichtdurchführbarkeit einer Geldverkehrsrechnung sein kann. Im Gegenteil ist zeitlich nach Abschaffung der Vermögensteuer durch die erheblich erweiterten Möglichkeiten des Kontenabrufs (§ 93 Abs. 7, § 93b AO) und die deutlich gestärkten Möglichkeiten des internationalen Datenaustausches eine Transparenz des Bankkontenbestands eingetreten, die zu Zeiten der Erhebung der Vermögensteuer kaum denkbar gewesen sein dürfte.

123

Unterlagen zu den vermeintlichen Angaben der E zu einem Auslands-Bankkonto des Antragstellers befinden sich nicht in den vom FA vorgelegten Akten, so dass der Senat nicht in der Lage ist, zu beurteilen, wie konkret solche Angaben waren und welche Folgen sie für das vorliegende Verfahren haben könnten. Das FA ist aber frei, im fortgeführten Hauptsacheverfahren diesen Angaben nachzugehen und entsprechende Ermittlungen anzustellen. Sollte E konkrete Angaben zu einem Auslandskonto gemacht haben, dürfte es angesichts des heute erreichten Standes des internationalen Informationsaustausches in Steuersachen durchaus möglich sein, Kenntnis über die dortigen Geldbewegungen zu erlangen und sie in eine Geldverkehrsrechnung einzubeziehen -- sofern sich aus der Höhe etwaiger bisher unbekannter Bargeldeinzahlungen nicht ohnehin bereits auf die materielle Unrichtigkeit der erklärten Einnahmen schließen ließe und damit nach der Senatsrechtsprechung auch die Anwendung gröberer Schätzungsmethoden bis hin zu einem Zeitreihenvergleich zulässig wäre (vgl. Urteil in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 66).

124

Hinsichtlich des Vorbringens des FA zur Nutzung des Tresors ist darauf hinzuweisen, dass der Prüfer zum Eröffnungsgespräch insoweit lediglich notiert hat: "Bareinnahmen Tresor → dann Einzahlung nach Bedarf". Hieraus folgt nur, dass die Bareinnahmen nicht täglich, sondern zusammengefasst für mehrere Tage auf das betriebliche Bankkonto eingezahlt worden sind. Es ist aber nicht ersichtlich, dass dies ein Hindernis für die Vornahme einer Geldverkehrsrechnung darstellen könnte.

125

Informationen zu den Hobbys und dem Lebensstandard des Antragstellers dürften durchaus ermittelbar sein; jedenfalls ist dies der Finanzverwaltung auch in zahlreichen anderen Fällen, die dem Senat bekannt sind, möglich gewesen. Ersatzweise können statistische Durchschnittswerte für die Lebenshaltungskosten herangezogen werden, was in der Verwaltungspraxis nach Kenntnis des Senats durchaus üblich ist. Die vom FA erwähnten Sparbeiträge für die Amerika-Reise wären ebenso wie jede andere Geldposition in die Geldverkehrsrechnung einzubeziehen.

126

bb) Die Erwägungen des FA zur Unmöglichkeit der Durchführung einer Aufschlagkalkulation sind jedenfalls insoweit in tatsächlicher Hinsicht fehlerhaft, als das FA zur Begründung u.a. anführt, es lägen auch für das laufende Gaststättengeschäft keine Informationen zu den Preisgestaltungen vor. Tatsächlich hat der Antragsteller nach Aktenlage alle von ihm in den Streitjahren verwendeten Speisekarten vorgelegt. Damit ist die Preisgestaltung bekannt.

127

d) Darüber hinaus bestehen auch Bedenken, ob der Zeitreihenvergleich im Streitfall technisch korrekt durchgeführt worden ist und der Prüfer bereits von Amts wegen alle betrieblichen Besonderheiten in die von ihm herangezogenen Datengrundlagen einbezogen hat.

128

aa) Die vom Antragsteller während des Prüfungszeitraums vorgenommene erhebliche Preiserhöhung (nach der aktuellen Auffassung des FA immerhin 26 % zum 1. Januar 2009) bedeutet eine wesentliche Änderung im Betrieb, die es bereits methodisch ausschließt, einen durchgehenden Zeitreihenvergleich für die Zeit vor und nach der Preiserhöhung vorzunehmen (vgl. zu dem Erfordernis eines weitgehend konstanten Verhältnisses zwischen Wareneinsatz und Erlösen Urteil in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 56). Das FA hat hierzu in der Beschwerdeerwiderung ausgeführt, mit der "Konjunkturanpassung" hätten die Ergebnisse der Jahre 2009 und 2010 an das Preisniveau des Jahres 2008 angepasst werden sollen, um die Vergleichbarkeit der Schätzung herzustellen. Indes soll eine Schätzung nicht vergleichbar, sondern möglichst realitätsnah sein. Wenn im Prüfungszeitraum eine erhebliche Preiserhöhung stattgefunden hat, dann muss die Schätzung dies berücksichtigen, nicht aber die --nicht miteinander vergleichbaren-- RAS der Jahre vor und nach der Preiserhöhung vergleichbar machen.

129

bb) Im Betrieb des Antragstellers haben die Bargeschäfte zwar sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite weit überwogen. Allerdings hätte der Prüfer von Amts wegen die unbar getätigten Geschäfte in seine Datenanalyse einbeziehen müssen und sie nicht den Bargeschäften gleichstellen dürfen.

130

Auch wenn nur 31 von insgesamt mehr als 4.000 Eingangsrechnungen unbar bezahlt worden sind, dürfte es sich dabei tendenziell um die höheren Beträge handeln, so dass das tatsächliche Gewicht dieser Ausgaben --und die dadurch ausgelöste Verzerrung der Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs-- höher sein dürfte als der geringe prozentuale Anteil an der Gesamtheit der Eingangsrechnungen. Gleiches dürfte für die unbar erzielten Erlöse gelten.

131

Nach Abschluss der Außenprüfung hat das FA zwar erkannt, dass hierin ein Mangel des Zahlenwerks liegt, und den Antragsteller um nochmalige Übermittlung der entsprechenden Eingangsrechnungen und Bankunterlagen gebeten. Der Antragsteller hat hierauf --soweit ersichtlich-- bisher nicht reagiert. Gleichwohl geht die unterbliebene Einbeziehung der unbaren Zahlungen im gegenwärtigen Verfahrensstadium noch zu Lasten des FA, das den Zeitreihenvergleich schon von Anfang an in einer technisch korrekten Form hätte durchführen können und müssen. Sollte der Antragsteller die vom FA nochmals angeforderten Unterlagen allerdings auch im weiteren Verlauf des fortzuführenden Hauptsacheverfahrens nicht vorlegen, würde die darin zu sehende Verletzung seiner Mitwirkungspflichten die Verletzung der Ermittlungspflichten des FA überholen, so dass dem FA dies nicht mehr zum Nachteil gereichen könnte.

132

cc) Eine Verteilung der Einkäufe über den Zeitraum bis zum nächsten Einkauf gleichartiger Waren ist offensichtlich unterblieben. In einem solchen Fall sind einem Zeitreihenvergleich  --vor allem dann, wenn die jeweils betrachteten Zeitabschnitte für die Ermittlung der Einzel-RAS im Verhältnis zur durchschnittlichen Umschlagzeit der eingekauften Waren relativ kurz sind-- aber erhebliche rechnerische Unsicherheiten immanent.

133

Da auch das FA davon ausgeht, dass der Antragsteller selbst bei einer sehr gängigen Ware wie dem Hauptumsatzträger Bier eine Vorratshaltung über einen Zeitraum von bis zu zwei Wochen betrieben hat --was immerhin der Hälfte des vom FA herangezogenen (Monats-)Zeitraums für die Schätzung der einzelnen RAS entspricht--, sind die statistischen Auswirkungen von Verschiebungen der einzelnen Wareneinkäufe als sehr hoch anzusehen.

134

Darüber hinaus berücksichtigt das Vorbringen des FA, der Antragsteller habe im Regelfall knapp einmal wöchentlich Bier eingekauft, nicht, dass in der Gaststätte auch zahlreiche Sorten Schnäpse angeboten wurden. Zu deren Umschlaghäufigkeit hat das FA keine Ermittlungen vorgenommen. Nach der Lebenserfahrung dürfte in diesem Bereich aber durchaus eine nennenswerte --in ihrem Umfang zudem schwankende-- Lagerhaltung bestehen.

135

Unzutreffend ist die Erwägung des FA, etwaige durch den Monatswechsel bedingte Verschiebungen zwischen dem Zeitpunkt des Wareneinkaufs (bzw. der Bezahlung der Eingangsrechnungen) und dem --für die Ermittlung des zutreffenden RAS allein maßgeblichen-- Zeitpunkt des tatsächlichen Wareneinsatzes seien zu vernachlässigen, weil sich die Auswirkungen auf den RAS in den Folgemonaten ausgleichen würden. Dieser Einwand verkennt, dass die Methode der Quantilsschätzung gerade auf der Heranziehung eines der höchsten RAS beruht. Wenn aber ein Teil der in die Betrachtung einbezogenen Einzel-RAS wegen der durch den Monatswechsel bedingten Verschiebungen überhöht ist, kommt es eben nicht zu einem Ausgleich. Vielmehr bleiben diese überhöhten RAS in der Gesamtrechnung bestehen und werden dann zur Begründung der Höhe der Hinzuschätzung herangezogen. Der Antragsteller hat selbst dargelegt, dass im Streitfall bereits eine --auch angesichts der konkreten betrieblichen Verhältnisse als eher geringfügig anzusehende-- Verschiebung eines Wareneinkaufs/Wareneinsatzes im Umfang von nur 250 € über eine Monatsgrenze hinaus zu einer Veränderung des Monatswertes des RAS um 21 Prozentpunkte führt.

136

Die Durchführung von Veranstaltungen, die am jeweiligen Tag zu einem deutlichen "Umsatzsprung" im Vergleich zu einer durchschnittlichen Tageseinnahme geführt hat, wäre ebenfalls gesondert zu betrachten gewesen. In Fällen, in denen der für eine Veranstaltung erforderliche, deutlich erhöhte Wareneinkauf noch vor einem Monatswechsel getätigt wird, die entsprechenden Erlöse aber erst nach dem Monatswechsel vereinnahmt werden, kommt es zu ganz erheblichen Verzerrungen zwischen den einzelnen Monatswerten. Der RAS des Monats, in den die Vereinnahmung des Erlöses fällt, wird deutlich zu hoch ausgewiesen; umgekehrt wird der RAS des Monats, in den der vorbereitende Wareneinkauf fällt, deutlich zu gering ausgewiesen. Da die Idee der hier vom FA angewendeten Variante des Zeitreihenvergleichs gerade darauf beruht, Schwankungen der monatlichen RAS als starkes Indiz für eine materiell fehlerhafte Gewinnermittlung anzusehen, muss das FA es schon bei der Durchführung des Zeitreihenvergleichs --von Amts wegen-- ausschließen, dass betriebliche Besonderheiten derartige rechnerische Schwankungen hervorrufen können.

137

e) Zudem kann der Senat beim derzeitigen Stand des Sachvortrags des FA nicht erkennen, dass gerade der von der Quantilsschätzungs-Software der Finanzverwaltung ausgeworfene Wert "am wahrscheinlichsten" --so die Formulierung des Prüfers-- sei. Insoweit kann sich im Hauptsacheverfahren --sofern dort nach weiterer Sachaufklärung überhaupt die Voraussetzungen für die Durchführung eines Zeitreihenvergleichs festzustellen sein sollten-- die Einholung des Gutachtens eines mathematisch-statistischen Sachverständigen anbieten (vgl. hierzu Krumm, DB 2017, 1105, 1107, re. Sp.), falls das FG nicht selbst über die erforderliche Sachkunde in der Anwendung und Beurteilung mathematisch-statistischer Methoden verfügt.

138

aa) Das FA geht davon aus, dass bei Datensätzen, die der Gauß'schen Normalverteilung genügen, so dass 68,27 % der Datensätze innerhalb der ersten Standardabweichung liegen, der Wert, der sich für den oberen Rand der durch die erste Standardabweichung definierten Bandbreite ergibt, der zutreffende Wert für die Schätzung sei.

139

bb) In mathematischer Hinsicht setzt die Anwendung der statistischen Erkenntnisse zur Gauß'schen Normalverteilung zuvörderst voraus, dass die RAS überhaupt der Normalverteilung folgen und die erhobene Grundgesamtheit (hier: 36 Einzelgrößen) groß genug ist. Beim gegenwärtigen Stand bestehen hinsichtlich beider Voraussetzungen Bedenken.

140

Voraussetzung dafür, dass die Einzelgrößen einer Grundgesamtheit der Gauß'schen Normalverteilung folgen, dürfte im Regelfall sein, dass die Einzelgrößen zutreffend ermittelt wurden. Im Streitfall folgen möglicherweise zwar die --angesichts der Unsicherheiten bei der Schätzung des tatsächlichen Wareneinsatzes nicht mit vertretbarem Aufwand feststellbaren-- exakten tatsächlichen monatlichen RAS eines Betriebs der Gauß'schen Normalverteilung, aber die vom Prüfer relativ grob geschätzten monatlichen RAS weichen mehr oder weniger deutlich von den tatsächlichen monatlichen RAS ab. Insofern ist es jedenfalls nicht selbstverständlich --und wäre ggf. vom FA im Hauptsacheverfahren sachkundig zu belegen--, dass auch die vom Prüfer unter Inkaufnahme eines erheblichen Schätzungsfehlers ermittelten monatlichen RAS normalverteilt sind.

141

Hinzu kommt das möglicherweise nur schwer zu lösende Problem, dass einerseits die Grundgesamtheit (hier: die Anzahl der zur Verfügung stehenden RAS für bestimmte Zeitabschnitte) möglichst hoch sein sollte, um zu einer Normalverteilung zu kommen, gegenläufig aber die Qualität (Validität) des einzelnen RAS mit der Verkürzung des Zeitraums, für den er ermittelt wird, stark abnimmt. So dürften die jeweils für ein Quartal ermittelten RAS zwar je Einzelwert nur eine relativ geringe Fehlermarge aufweisen, da die problematischen Verschiebungen beim Wareneinkauf zu Beginn und zum Ende des jeweiligen Zeitabschnitts hier im Verhältnis zur Gesamthöhe des Wareneinkaufs nicht so stark ins Gewicht fallen wie bei Monats- oder gar Wochenwerten. Indes würden dann für das Jahr 2008 nur vier Einzelwerte und für die --aufgrund der erheblichen Preiserhöhung gesondert zu betrachtenden-- Jahre 2009/2010 nur acht Einzelwerte zur Verfügung stehen. Dies dürfe eine für die Anwendung der Normalverteilung erheblich zu geringe Grundgesamtheit sein.

142

Auf der anderen Seite erhielte man zwar eine ausreichend große Grundgesamtheit, wenn die RAS tageweise ermittelt würden (für 2008 ca. 350 Einzelwerte, für 2009/2010 ca. 700 Einzelwerte). Hier wäre jedoch der einzelne tageweise ermittelte RAS unbrauchbar, da nicht an jedem Tag exakt so viele Waren eingekauft wie am selben Tag verbraucht werden. Es fehlte damit an der Validität der Einzelwerte, so dass ebenfalls nicht davon ausgegangen werden könnte, sie folgten der Normalverteilung.

143

cc) Schließlich wäre zu klären, ob der vom FA behauptete mathematische Erfahrungssatz des Inhalts, dass der "richtige" Wert bei schwankenden und --hier unterstellt-- normalverteilten Gewinnermittlungs-Rohdaten genau dem Mittelwert zuzüglich der ersten Standardabweichung entspricht, tatsächlich existiert.

144

Schon im Ansatz unzutreffend ist in diesem Zusammenhang die Erwägung des FG, die Quantilsschätzung sei schon deshalb eine sachgerechte Schätzungsmethode, weil sie den normalen Geschäftsverlauf als repräsentativ ansehe. Tatsächlich rekurriert die Quantilsschätzung nicht etwa auf den "normalen Geschäftsverlauf", sondern stützt sich für die vorgenommene Vollschätzung auf einen Wert, der in 80 % der Zeitabschnitte gerade nicht erreicht wird.

145

4. Zur Berücksichtigung der vorhandenen formellen Mängel der Aufzeichnungen des Antragstellers nimmt der Senat in Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis für AdV-Zwecke --und ohne jedes Präjudiz für das Hauptsacheverfahren-- einen griffweisen Sicherheitszuschlag zu den erklärten Einnahmen von 3.000 € netto pro Jahr vor.

146

a) Die sicher feststellbaren formellen Mängel beschränken sich nach dem derzeitigen Stand der Sachaufklärung auf die Bereiche "Volksfest" und "Veranstaltungen". Der Anteil dieser Geschäftsbereiche am Gesamterlös steht derzeit nicht fest, was im AdV-Verfahren nicht zu Lasten des Antragstellers gehen darf. Daher bewegt sich der Sicherheitszuschlag am unteren Rand der Bandbreite und repräsentiert den Bereich, in dem es keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Hinzuschätzung gibt.

147

b) Zu Lasten des Antragstellers merkt der Senat allerdings an, dass er derzeit keine Grundlage für die vom Prüfer vorgenommene gewinnmindernde Berücksichtigung der Umsatzsteuer-Mehrergebnisse im Jahr 2010 sieht, und daher in diesem Umfang keine AdV gewähren kann.

148

Obwohl der Antragsteller den Betrieb zum 1. Januar 2011 zu Buchwerten in die Ehegatten-GbR eingebracht hat und sowohl der Antragsteller als auch die GbR ihre Gewinne durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelt haben, vertrat der Prüfer die Auffassung, es sei zwingend eine Aufgabebilanz für das Einzelunternehmen zu erstellen und ein Übergangsgewinn zu berechnen (Tz. 11 des Bp-Berichts). Im Rahmen der Ermittlung dieses Übergangsgewinns hat er die sich aus der Prüfung ergebenden Umsatzsteuer-Verbindlichkeiten (15.200 €) gewinnmindernd passiviert.

149

Für diese Gewinnminderung sieht der Senat indes bei summarischer Prüfung keine Rechtsgrundlage. Wenn sowohl der zu Buchwerten eingebrachte Betrieb als auch die aufnehmende Personengesellschaft ihre Gewinne durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermitteln, ist der einbringende Einzelunternehmer nicht zur Ermittlung eines Übergangsgewinns verpflichtet (vgl. BFH-Urteile vom 13. September 2001 IV R 13/01, BFHE 196, 546, BStBl II 2002, 287, unter II.2., und vom 14. November 2007 XI R 32/06, BFH/NV 2008, 385, unter II.1.d aa), zumal die aufnehmende Personengesellschaft sogleich ein gegenläufiges Übernahmeergebnis ermitteln müsste. Im Rahmen der Ermittlung der von der Vollziehung auszusetzenden Beträge nimmt der Senat daher eine Saldierung mit diesem Rechtsfehler vor.

150

c) Anders als der Antragsteller meint, ist nicht schon deshalb AdV zu gewähren, weil das FA 13 Monate lang nicht über den Einspruch entschieden hat. Der Antragsteller beruft sich hierbei auf den Beschluss des FG Münster vom 16. April 1997  15 V 1134/97 (EFG 1997, 895). Dort war allerdings tragend für die Gewährung von AdV, dass das FA seine im Prüfungsbericht gezogenen Wertungen nicht durch konkrete Tatsachen belegt hatte. Aufgrund des sich daraus ergebenden "erheblichen Aufklärungsbedarfs" hat das FG AdV gewährt. Demgegenüber besteht im Streitfall jedenfalls hinsichtlich der formellen Mangelhaftigkeit der Aufzeichnungen in den Bereichen "Volksfest" und "Veranstaltungen" kein Aufklärungsbedarf mehr.

151

d) Damit ergibt sich die folgende Berechnung der nicht von der Vollziehung auszusetzenden Besteuerungsgrundlagen:

Jahr   

2008   

2009   

2010   

Mehrerlös netto

+ 3.000 €

+ 3.000 €

+ 3.000 €

Mehr-Umsatzsteuer

+ 570 €

+ 570 €

+ 570 €

Passivierung der Umsatzsteuer

        

./. 0 €

Mehrgewinn

+ 3.570 €

+ 3.570 €

+ 3.570 €

152

Die Übertragung der Ermittlung der auszusetzenden Beträge auf das FA beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO.

IV.

153

Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Die für den Antragsteller im Vergleich zum erstinstanzlichen Verfahren ungünstigere Kostenquote für das Beschwerdeverfahren beruht darauf, dass hier zu seinen Lasten auch diejenigen Teile des Antrags zu berücksichtigen waren, die als unzulässig anzusehen sind.

Das Gericht entscheidet über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. August 2009 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf Verletztenrente für die Zeit vom 29.1.2004 bis zum 26.7.2005 streitig.

2

Die Klägerin ist die Witwe des am 9.3.2006 verstorbenen J. N. (im Folgenden: Versicherter), mit dem sie zum Zeitpunkt des Todes in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Der Versicherte bezog ab Juni 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung und nahm im August 2001 eine geringfügige Beschäftigung auf. Mit dem Arbeitgeber vereinbarte er unter dem 28.1.2004, die Beschäftigung "zu unterbrechen". Ab diesem Tag war der Versicherte wegen einer Asbeststaublungenerkrankung arbeitsunfähig. Am 2.2.2004 begab er sich in stationäre Behandlung.

3

Die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft (BG), Rechtsvorgängerin der Beklagten, stellte bei dem Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung als Berufskrankheit (BK) nach Nummer 4105 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung fest (Bescheid vom 5.8.2004). Mit Schreiben vom 15.10.2004 teilte sie ihm mit, dass wegen der BK ein Anspruch auf Verletztengeld und für die Dauer von sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit ein Lohnfortzahlungsanspruch bestehe. Der hiergegen auf Zahlung von Verletztenrente gerichtete Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 22.3.2005). Ab 2.2.2004 bestehe für 78 Wochen ein Anspruch auf Verletztengeld. Erst danach beginne ein Anspruch auf Rente.

4

Das Sozialgericht Münster (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28.5.2008). Während des Berufungsverfahrens stellte die BG wegen der Folgen der BK eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH ab dem 1.8.2005 fest (Bescheid vom 7.9.2005). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die auf Zahlung von Verletztenrente "anstelle von Verletztengeld" ab 29.1.2004 gerichtete Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 28.8.2009). Die geringfügige Beschäftigung eines Beziehers einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei eine vom Schutzzweck des § 45 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) umfasste Tätigkeit und schließe den Anspruch auf Verletztengeld nicht aus. Der Anspruch auf Verletztenrente beginne erst an dem Tag, der auf den Tag folge, an dem der Anspruch auf Verletztengeld ende.

5

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 45 Abs 1 und § 46 Abs 3 Satz 2 Nr 2 SGB VII. Das Verletztengeld sei nur für Versicherte vorgesehen, die zum Kreis der Erwerbstätigen gehörten und ihren Lebensunterhalt vor Eintritt der durch den Versicherungsfall bedingten Arbeitsunfähigkeit aus einer Erwerbstätigkeit oder einer daran anknüpfenden Sozialleistung bestritten hätten. Mit den Einkünften aus der geringfügigen Beschäftigung habe der Versicherte seinen Lebensunterhalt nicht sicherstellen können. Da bereits bei Eintritt des Versicherungsfalls nicht mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit habe gerechnet werden können, habe der Anspruch auf Verletztengeld bereits mit dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit geendet.

6

Während des Revisionsverfahrens hat die Beklagte Verletztengeld für die Zeit vom 10.3.2004 bis zum 26.7.2005 und Verletztenrente ab 27.7.2005 bewilligt (Bescheid vom 19.1.2010).

7

           

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. August 2009 und des Sozialgerichts Münster vom 28. Mai 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Verwaltungsaktes vom 15. Oktober 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2005 zu verurteilen, ihr anstatt des Verletztengeldes die Verletztenrente des Versicherten nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH vom 29. Januar 2004 bis zum 26. Juli 2005 zu zahlen.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie trägt vor, mit dem Verletztengeld seien die Einkünfte aus der geringfügigen Beschäftigung ausgeglichen worden. § 46 Abs 3 Satz 2 Nr 2 SGB VII sei nicht anwendbar.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung gegen das die Klage abweisende Urteil des SG im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen.

11

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 Sozialgerichtsgesetz), mit der unter Aufhebung des den Anspruch auf Verletztengeld feststellenden Verwaltungsaktes vom 15.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.3.2005 die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Verletztenrente für die Zeit vom 29.1.2004 bis zum 26.7.2005 geltend gemacht wird. Diese Klagen sind unzulässig.

12

Nach § 54 Abs 1 SGG kann mit der Anfechtungsklage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes oder seine Abänderung begehrt werden(Satz 1). Sie ist, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt beschwert zu sein (Satz 2). Insoweit reicht es zwar schon aus, dass eine Verletzung in eigenen Rechten möglich ist und der Kläger die Beseitigung einer in seine Rechtssphäre eingreifenden Verwaltungsmaßnahme anstrebt, von der er behauptet, sie sei nicht rechtmäßig (BSG vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 2/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 5 RdNr 18). An der Klagebefugnis fehlt es aber, wenn eine Verletzung subjektiver Rechte nicht in Betracht kommt (BSG vom 14.11.2002 - B 13 RJ 19/01 R - BSGE 90, 127, 130 = SozR 3-5795 § 10d Nr 1 S 4), weil hinsichtlich des Klagebegehrens eine gerichtlich überprüfbare Verwaltungsentscheidung nicht vorliegt (BSG vom 28.10.2008 - B 8 SO 33/07 R - SozR 4-1500 § 77 Nr 1 RdNr 13). Solange der zuständige Unfallversicherungsträger nicht über einen Leistungsanspruch entschieden hat, kann der Versicherte, außer bei rechtswidriger Untätigkeit der Behörde (vgl § 88 SGG), kein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Feststellung haben. Das ist hier der Fall.

13

Durch den Verwaltungsakt vom 15.10.2004 ist allein ein Anspruch auf Verletztengeld festgestellt worden. Er enthält keine Regelung iS des § 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), mit dem die BG einen Anspruch auf Verletztenrente abgelehnt hätte. Bei dem Verletztengeld (§§ 45 ff SGB VII)und der Verletztenrente (§§ 56 ff SGB VII) handelt es sich um unterschiedliche Sozialleistungen, die im SGB VII systematisch voneinander getrennt normiert sind. Sie bilden jeweils einen eigenständigen Gegenstand eines Verwaltungsverfahrens (vgl § 8 SGB X), über den der zuständige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zu entscheiden hat.

14

Über den Anspruch auf Verletztenrente ist auch nicht im Widerspruchsbescheid vom 22.3.2005 entschieden worden. Abgesehen davon, dass die Widerspruchsstelle funktional und sachlich nicht zuständig ist, an Stelle der Ausgangsbehörde des Trägers über ein erstmals im Widerspruchsverfahren geltend gemachtes Recht zu befinden (BSG vom 20.7.2010 - B 2 U 19/09 R), setzt sich auch der Widerspruchsbescheid allein mit dem Anspruch auf Verletztengeld auseinander. Den Inhalt eines Verwaltungsaktes hat das Revisionsgericht in eigener Zuständigkeit festzustellen. Dabei ist Maßstab der Auslegung der "Empfängerhorizont" eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (BSG vom 29.1.2008 - B 5a/5 R 20/06 R - BSGE 100, 1 = SozR 4-3250 § 33 Nr 1, jeweils RdNr 11 mwN). Gemessen daran ist die Formulierung im Widerspruchsbescheid "erst wenn der Anspruch auf Verletztengeld endet, beginnt ein Anspruch auf Rente (§§ 46 Abs. 3 SGB VII, 72 Abs. 1 SGB VII)" nur ein Hinweis auf die bestehende Gesetzeslage. Mit ihr hat die BG keine Regelung über ein Recht des Versicherten auf Verletztenrente getroffen.

15

Der Unzulässigkeit der Anfechtungsklage stehen die Bescheide vom 7.9.2005 und 19.1.2010 nicht entgegen. Der Verwaltungsakt im Bescheid vom 7.9.2005, mit dem ein Anspruch auf Verletztenrente für die Zeit ab 1.8.2005 - und nicht ein früherer Zeitpunkt - festgestellt wurde, ist vom Versicherten nicht angefochten worden und damit für die Beteiligten bindend (§ 77 SGG). Er ist nicht nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden, denn er hat den allein das Verletztengeld betreffenden Verwaltungsakt vom 15.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.3.2005 weder abgeändert noch ersetzt. Seine Einbeziehung kann auch nicht auf eine weite oder analoge Anwendung des § 96 SGG gestützt werden, weil dadurch der Streitstoff erweitert würde und Erwägungen der Prozessökonomie ein solches Ergebnis nicht rechtfertigen(vgl BSG vom 9.12.2003 - B 2 U 54/02 R - BSGE 91, 287 = SozR 4-2700 § 160 Nr 1, jeweils RdNr 5).

16

Auch der Verwaltungsakt im Bescheid der Beklagten vom 19.1.2010 über die Zahlung der Verletztenrente schon ab 27.7.2005 hat daher den hier angefochtenen Verwaltungsakt nicht abgeändert oder ersetzt. Unabhängig davon gilt ein Verwaltungsakt, der während des Revisionsverfahrens den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt, als mit der Klage beim SG angefochten (§ 171 Abs 2 SGG).

17

Die Unzulässigkeit der Anfechtungsklage zieht die Unzulässigkeit der mit ihr kombinierten (unechten) Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) nach sich. Auch diese Leistungsklage setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger die begehrte Leistung abgelehnt hat und kommt daher vor dem Erlass einer entsprechenden Verwaltungsentscheidung nicht in Betracht.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 2015 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für behinderte Menschen während der Teilnahme an einer Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben.

2

Der 1954 geborene Kläger hat die Staatsangehörigkeit Bosnien-Herzegowinas und verfügt über eine zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigende Niederlassungserlaubnis. In Deutschland war er zuletzt von Oktober 2005 bis Ende 2006 als Ofen- bzw Kaminbauer beschäftigt und erhält - nach dem Bezug von Alg nach dem SGB III bis Mitte 2009 - laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Bei ihm ist ein GdB von 20 (Einzel-GdB 20 vH für eine Sehminderung links, 10 vH für eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und 10 vH für eine arterielle Verschlusskrankheit des rechten Beins sowie Teilverlust der 1. und 2. Zehe rechts) anerkannt (Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 3.8.2011). Er kann drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten. In dem Zeitraum vom 1.1.2012 bis 31.12.2012 bewilligte der Beklagte zunächst Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt in Höhe von 706,54 Euro monatlich (Bescheide vom 1.12.2011 und 24.5.2012: KdU in Höhe von 332,54 Euro, Regelbedarf 374 Euro) und vom 1.1.2013 bis 31.12.2013 in Höhe von 714,54 Euro (Bescheide vom 24.11.2012 und 29.5.2013).

3

In den Eingliederungsvereinbarungen vom 8.2.2012, 24.4.2013 und 23.10.2013 hatte sich der Kläger verpflichtet, für jeweils sechs Monate ("je nach Eignung im Initiativzentrum oder den Teilprojekten") an dem Projekt BINS50plus (Beschäftigungsinitiative Süd für über 50-Jährige) teilzunehmen. Wie bereits seit September 2009 nahm er in der Zeit vom 14.2.2012 bis 13.2.2014 das Teilprojekt "Kurs finden 50plus" wahr. Dieses Teilprojekt war nach allgemeiner Beschreibung mit berufs- und gesundheitsorientierenden sowie frei wählbaren Inhalten verbunden und beinhaltete ein dreitägiges "Profilpass-Gruppenseminar", die Teilnahme an dem Kursprogramm über zwei Semester (Halbjahre) mit drei Kursen je Semester aus den Themenbereichen Gesundheitsprävention, Persönlichkeitsentwicklung, gesellschaftliche Integration, Allgemeinbildung und berufliche/künstlerische/sprachliche Entwicklung sowie individuelle Beratung und Coaching (zweimal monatlich nach Vereinbarung). Als "Grundlagen und Ziele" waren Würdigung und Akzeptanz der Lebensleistung, Stärkung der Selbstverantwortung, persönliche Aktivierung, individuelle Unterstützung und begleitende Beratung benannt. Tatsächlich nahm der Kläger im streitigen Zeitraum an zwölf, teils nur eintägigen Kursen (Kontakt und Grenzen, Arbeit im Künstleratelier, Thai Chi für Anfänger, Bogenschießen, Furcht und Angst, Wut und Aggression, Malen und Zeichnen an Orten mit besonderer Energie, Wertschätzung und Akzeptanz, Kontakt und Grenzen, Angst ist die Kraft, gnostische Evangelien und spielerische Monotypie - Bildermaltechnik aus dem 17. Jahrhundert) teil. Die Fahrtkosten wurden erstattet.

4

Den auf die Bewilligungszeiträume seit 1.1.2012 bezogenen Überprüfungsantrag des Klägers vom August 2013 zur Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen Behinderung und der Erbringung von Teilhabeleistungen iS des § 21 Abs 4 SGB II lehnte der Beklagte ab(Bescheid vom 4.9.2013; Widerspruchsbescheid vom 15.11.2013), bewilligte jedoch gleichzeitig für die Zeiträume vom 1.1.2012 bis 31.12.2013 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Warmwasserbereitung. Mit vier Änderungsbescheiden vom 4.9.2013 wurde das Alg II in jedem Monat um den rückwirkend anerkannten "Mehrbedarf Warmwasser" (in 2012 monatlich 8,60 Euro, in 2013 monatlich 8,87 Euro) angehoben.

5

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12.2.2014). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 26.2.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Bewilligungsbescheide seien rechtmäßig. Der Kläger habe in dem streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf höhere Leistungen gehabt. Weder sei eine Leistung nach § 54 Abs 1 Nr 1 bis 3 SGB XII (Schulbildung, schulische Ausbildung, sonstige Ausbildung) erbracht worden noch liege eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX vor. Es fehle an einem behinderungsspezifischen Inhalt, der notwendigen Regelförmigkeit der Maßnahme und einem organisatorischen Rahmen, der eine regelmäßige und nicht unerhebliche zeitliche Beanspruchung des Teilnehmers sowie eine Ausrichtung der Aktivitäten der Teilnehmer auf die Teilhabe am Arbeitsleben beinhalte. Bei BINS50plus handele es sich auch nicht um eine sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben iS des § 21 Abs 4 SGB II. Auch bei derartigen Hilfen müsse es sich um regelförmige Maßnahmen und solche Hilfen handeln, die final auf die Ziele des § 33 Abs 1 SGB IX, also den Ausgleich behinderungsspezifischer Nachteile, ausgerichtet seien. Es sei weder eine regelmäßige, nicht unerhebliche zeitliche Beanspruchung des Teilnehmers gewährleistet noch die erforderliche Ausrichtung der Aktivitäten auf die Teilhabe am Arbeitsleben.

6

Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, bei BINS50plus handele es sich jedenfalls um eine sonstige Hilfe für die Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder sogar um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Die Teilnahme an einer regelförmigen Maßnahme sei gegeben, weil das Projekt jedenfalls weit über das hinausgehe, was auch nicht behinderten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bei der Vermittlung und Beratung durch den Grundsicherungsträger abverlangt werde. Die Maßnahme habe einen organisatorischen Mindestrahmen und sei auch eine solche iS des § 33 SGB IX. Wie der Leistungsbeschreibung und der Zielsetzung einer Integration in den Arbeitsmarkt zu entnehmen sei, diene die Maßnahme der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit befähigten. Die Maßnahme müsse abstrakt, nicht hinsichtlich der einzelnen wahrgenommenen Kurse, beurteilt werden.

7

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 2015 und des Sozialgerichts Augsburg vom 12. Februar 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung der Bescheide vom 4. September 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. November 2013 zu verpflichten, ihm unter weitergehender Abänderung der Bescheide vom 1. Dezember 2011, 24. Mai 2012, 24. November 2012 und 29. Mai 2013 in der Zeit von 14. Februar 2012 bis 31. Dezember 2013 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen Behinderung nach § 21 Abs 4 SGB II zu bewilligen.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er vertritt die Ansicht, es sei zwischen dem abstrakt-generellen Ziel der Maßnahme und deren konkret-individueller Ausgestaltung sowie der Inanspruchnahme durch die Teilnehmer zu unterscheiden. Die Maßnahme BINS50plus sei in hohem Maße individualisiert, weshalb hinsichtlich der Einordnung eine Gesamtschau der belegten Kurse stattfinden müsse. Die von dem Kläger ausgewählten Kurse hätten jeweils nur einen Tag gedauert und wiesen keinen Bezug zur Arbeitsmarkt- oder Berufsorientierung aus.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger in dem streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen der Erbringung einer Teilhabeleistung oder einer Leistung der Eingliederungshilfe hat.

11

Streitgegenstand des Revisionsverfahrens in zeitlicher Hinsicht sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 14.2.2012 bis 31.12.2013, weil der Kläger die Überprüfung der ursprünglichen Bewilligungsbescheide nach seinem ausdrücklichen Klageantrag auf den Zeitraum ab Beginn der Maßnahme BINS50plus (14.2.2012) bis zum 31.12.2013 (Ende der durch die Bescheide vom 4.9.2013 erfassten Bewilligungsabschnitte) beschränkt hat. Gegenstand des Verfahrens ist daher zunächst der Bescheid vom 4.9.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.11.2013, mit dem der Beklagte ausdrücklich auf den Überprüfungsantrag des Klägers vom 14.8.2013 Bezug genommen, einen "Mehrbedarf Warmwasser" anerkannt und die Erbringung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs 4 SGB II abgelehnt hat. In rechtlicher Einheit hiermit stehen die vier - den Zeitraum vom 1.1.2012 bis 31.12.2013 betreffenden - Bewilligungsbescheide vom 4.9.2013, die gleichfalls in das Verfahren einbezogen sind (vgl zur Annahme einer rechtlichen Einheit im Sinne eines einheitlichen Bescheides wegen zeitlich und inhaltlich korrespondierender Verwaltungsakte BSG Urteil vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 28; BSG Beschluss vom 16.4.2013 - B 14 AS 206/12 B - RdNr 8; vgl zu möglichen Konstellationen einer rechtlichen Einheit im Asylbewerberleistungsrecht: BSG Urteil vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R - BSGE 114, 302 ff = SozR 4-3520 § 1a Nr 1, RdNr 15; vgl auch BSG Urteil vom 20.5.2014 - B 1 KR 3/14 R - BSGE 116, 31 = SozR 4-2500 § 272 Nr 1, RdNr 11 f zur Annahme einer rechtlichen Einheit bei Korrektur- und Jahresausgleichsbescheiden zum Risikostrukturausgleich).

12

Der Kläger hat den Streitgegenstand nach dem Inhalt seiner Erklärung in der mündlichen Verhandlung vor dem SG und seinen Anträgen in zulässiger Weise insofern beschränkt, als Unterkunftskosten nicht im Streit stehen. Da diese Abtrennung auch nach der Neufassung des SGB II zum 1.1.2011 möglich ist (vgl BSG Urteil vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10), sind allein die Höhe der weiteren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen (BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 11). Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Begrenzung des Streitgegenstandes nicht bezogen auf die Leistungen für Mehrbedarfe erfolgen kann. Die Überprüfung der Bewilligungsentscheidungen ist hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts iS des § 19 S 1 Nr 1 SGB II vielmehr dem Grunde und der Höhe nach vorzunehmen.

13

Zutreffende Klageart ist hier die Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und Abs 4 iVm § 56 SGG). Der Kläger begehrt mit der Anfechtungsklage die Teilaufhebung (Änderung) des eine weitergehende Rücknahme der ursprünglichen Bewilligungsentscheidungen ablehnenden Bescheides vom 4.9.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.11.2013. Die Verpflichtungsklage ist auf die Änderung der im Zeitpunkt des Überprüfungsantrags von August 2013 bereits bestandskräftigen Ausgangsbescheide vom 1.12.2001, 24.5.2012, 24.11.2012 und 29.5.2013 idF durch die einen Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwasserversorgung im Wege des Überprüfungsverfahrens berücksichtigenden Bescheide vom 4.9.2013 gerichtet (vgl BSG Urteil vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 11 mwN). Die ursprünglichen Bewilligungsbescheide sind auf der Grundlage des § 44 SGB X zu überprüfen. Diese Bescheide sind nicht rechtswidrig iS des § 44 SGB X, weil der Kläger keine höheren Leistungen beanspruchen konnte. Entsprechend ist auch die als auf die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, also über den von dem Beklagten bewilligten Betrag hinaus, gerichtet auszulegende Leistungsklage (§ 123 SGG) ohne Erfolg. Vorliegend sind in den die streitigen Zeiträume regelnden Bescheiden keine Sozialleistungen iS von § 44 Abs 1 SGB X zu Unrecht nicht erbracht worden. Nach § 44 Abs 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

14

Nach den Feststellungen des LSG erfüllte der Kläger zwar die Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II. Er war hilfebedürftig (§ 9 SGB II) und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit ist, soweit - wie hier - kein Feststellungsverfahren eingeleitet worden ist, bereits aus rechtlichen Gründen anzunehmen (vgl Senatsurteil vom 2.4.2014 - B 4 AS 26/13 R - BSGE 115, 210 = SozR 4-4200 § 15 Nr 3, RdNr 49; BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 20; BSG Urteil vom 25.9.2014 - B 8 SO 6/13 R - SozR 4-4200 § 44a Nr 1). Auch Einschränkungen seiner Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs 2 SGB II sind wegen der vorhandenen Niederlassungserlaubnis nicht gegeben; die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II liegen nicht vor. Der Beklagte hat dem Kläger zutreffend Leistungen für den Regelbedarf nach § 20 Abs 2 SGB II als Alleinstehender (374 Euro in 2012 und 382 Euro in 2013) sowie für den Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwassererzeugung nach § 21 Abs 7 SGB II (2,3 % des maßgeblichen Regelbedarfs; 8,60 Euro bzw 8,79 Euro) bewilligt. Einen Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen eines Mehrbedarfs aufgrund der Teilnahme an einer Teilhabeleistung hat er nicht.

15

Nach § 21 Abs 4 SGB II wird bei erwerbsfähigen behinderten Leistungsberechtigten, denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs 1 S 1 Nr 1 bis 3 SGB XII erbracht werden, ein Mehrbedarf von 35 Prozent des nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs anerkannt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG erfüllt der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen insofern, als er zum Kreis der erwerbsfähigen behinderten Leistungsberechtigten gehört. Auch ist nach dem Inhalt der Eingliederungsvereinbarungen davon auszugehen und ausreichend, dass seine Teilnahme an den Kursen des Projektes BINS50plus auf Veranlassung des Beklagten erfolgte (vgl zu diesem Erfordernis: BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 15).

16

Die vom Berufungsgericht festgestellte tatsächliche Teilnahme des Klägers an zwölf, teils nur eintägigen Kursen der Volkshochschule A (VHS) im Rahmen des Projektes "Kurs finden 50plus" in dem hier streitigen Zeitraum erfüllte jedoch nicht die Anforderungen, die an eine den Mehrbedarf für Behinderte auslösende Teilhabeleistung in den drei Alternativen des § 21 Abs 4 SGB II zu stellen sind. Die Annahme einer Maßnahme der Eingliederungshilfe scheidet von vornherein aus. Die von § 54 Abs 1 S 1 Nr 1 bis 3 SGB XII in Bezug genommenen Maßnahmen beinhalten eine angemessene Schulbildung(Nr 1), die Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf (Nr 2) und die Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit (Nr 3). Sie sind damit - für Leistungsberechtigte mit abgeschlossener Schulbildung - ausdrücklich auf einen bestimmten Beruf oder eine angemessene Tätigkeit gerichtete Maßnahmen.

17

Des Weiteren kann dahingestellt bleiben, ob die Teilnahme des Klägers an dem Projekt BINS50plus nach dessen inhaltlicher Ausgestaltung als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben oder als sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben einzuordnen ist. Das LSG hat zugrunde gelegt, dass es für die Annahme einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX neben der Regelförmigkeit der Maßnahme(dazu sogleich) auch an einer behinderungsspezifischen Ausrichtung fehle. Soweit das LSG davon ausgegangen ist, dass es sich bei der Teilnahme des Klägers an den Kursen um "allgemeine Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit" handele, bleibt allerdings offen, ob Rechtsgrundlage der Bewilligung im Falle behinderter Teilnehmer - wie hier dem Kläger - § 16 Abs 1 S 1 SGB II iVm § 45 SGB III oder § 16 Abs 1 S 2 SGB II iVm §§ 115 Nr 1, 45 SGB III war. Erfolgt die Bewilligung einer Teilhabeleistung aufgrund einer Behinderung, ist allerdings regelmäßig davon auszugehen, dass es sich um eine Teilhabeleistung iS des § 33 SGB IX handelt(vgl zur ansonsten erforderlichen Prüfung, welches die nach Inhalt und Schwerpunkt der Maßnahme zutreffende Rechtsgrundlage wäre: BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 44/09 R - FEVS 62, 541 ff; BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 3/10 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 11 RdNr 21, 25 zur Bewertung von allgemeinen Beratungs- und Betreuungsleistungen sowie einer psychotherapeutischen Behandlung).

18

Jedenfalls könnte die Maßnahme BINS50plus den "sonstigen Hilfen" iS des § 21 Abs 4 SGB II zugeordnet werden, die innerhalb dieser Mehrbedarfsregelung gleichwertig neben den Leistungen nach § 33 SGB IX aufgeführt werden(BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 3/10 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 11 RdNr 22). Ein Kausalitätserfordernis in dem Sinne, dass eine nach § 21 Abs 4 SGB II den Mehrbedarf auslösende Maßnahme nur vorliegt, wenn diese selbst schon nach ihrer abstrakten Ausgestaltung speziell auf die Bedürfnisse von behinderten Menschen zugeschnitten ist, ist nicht zugrundezulegen. Der behinderungsbedingte Mehrbedarf knüpft vielmehr typisierend an die Teilnahme an einer Maßnahme an, durch die der Mensch mit Behinderung besser in das Erwerbsleben integriert werden kann (Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII, AsylbLG, § 21 RdNr 41, Stand April 2012; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 12.3.2007 - L 19 AS 41/06 - FEVS 58, 515 ff). Ein damit verbundener Mehrbedarf ist möglicherweise sogar umfassender als bei einer nicht speziell oder vorrangig auf die Bedürfnisse von Behinderten ausgerichteten Maßnahme.

19

Bezogen auf beide Leistungsarten fehlt es aber an einer Teilnahme an einer regelförmigen besonderen Maßnahme, die nach der Rechtsprechung der beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG für den Mehrbedarf für erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte vorausgesetzt wird und die allein geeignet ist, einen Mehrbedarf beim behinderten Leistungsberechtigten in seiner vom Gesetzgeber angenommenen Zielrichtung auszulösen. Insofern hat der Senat bereits entschieden, dass auch die "sonstigen Hilfen" iS des § 21 Abs 4 SGB II über das hinausgehen müssen, was dem Jobcenter etwa im Rahmen des § 14 SGB II als allgemeine Unterstützungsaufgabe zugewiesen ist. Auch aus systematischen Gründen muss eine gewisse Gleichwertigkeit gefordert werden und darf eine sonstige Hilfe hinsichtlich ihrer Ausgestaltung nicht hinter den Anforderungen zurückstehen, die an die konkret in § 21 Abs 4 SGB II benannten Maßnahmen nach § 33 SGB IX und § 54 Abs 1 Nr 1 bis 3 SGB XII zu stellen sind(BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 3/10 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 11 RdNr 22; BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 20).

20

Das Erfordernis der Teilnahme an einer regelförmigen besonderen Maßnahme folgt aus dem Wortlaut und dem aus der Entstehungsgeschichte der Norm herzuleitenden spezifischen Sinn und Zweck dieser Mehrbedarfsregelung. Insofern weist bereits die Formulierung des § 21 Abs 4 S 2 SGB II ("nach Beendigung der dort genannten Maßnahmen während einer angemessenen Übergangszeit") aus, dass sich die Leistungserbringung innerhalb eines organisatorischen Rahmens vollziehen muss, der eine Bezeichnung als "Maßnahme" rechtfertigt. Auch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift folgt eine einschränkende Auslegung. Die Vorschrift zum Mehrbedarf für behinderte Leistungsberechtigte bei Inanspruchnahme einer Teilhabeleistung geht zurück auf Regelungen im BSHG. Insofern hatte das Recht der Eingliederungshilfe in § 41 Abs 2 S 2 BSHG(idF vom 30.6.1961, BGBl I 815) vorgesehen, dass für Behinderte, die nicht mehr im volksschulpflichtigen Alter waren, für den laufenden Lebensunterhalt ein Mehrbedarf von mindestens 50 vH des maßgebenden Regelbedarfs anzuerkennen war, wenn der Lebensunterhalt nach Regelsätzen bemessen war. Die enge Anlehnung an den Leistungsumfang der vormaligen Ausbildungsbeihilfe belegt, dass der Mehrbedarf an strukturierte Maßnahmen geknüpft war, die jedenfalls vom Grundsatz geeignet waren, einen zusätzlichen Bedarf hervorzurufen (vgl BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 19 f mwN; BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 44/09 R - FEVS 62, 541; BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 3/10 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 11 RdNr 20). Dieses Erfordernis bestätigend enthält die Parallelregelung des § 30 Abs 4 SGB XII zu entsprechendem Mehrbedarf im SGB XII eine strikte Anknüpfung ausschließlich an die strukturierten Maßnahmen des § 54 Abs 1 Nr 1 bis 3 SGB XII und unterstreicht damit das Erfordernis einer regelförmigen besonderen Maßnahme.

21

Der Senat hat hiervon ausgehend bereits entschieden, dass für den Begriff der regelförmigen besonderen Maßnahme die Grundsätze herangezogen werden können, die das BSG zum Begriff der förderungsfähigen Maßnahme im Recht der Weiterbildungsförderung im Arbeitsförderungsrecht entwickelt hat (BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 21 ff). Hiernach ist wesentlich für eine Maßnahme, dass ein mit der Förderung angestrebtes Maßnahmeziel formuliert wird, diese regelmäßig auf eine auf dem Arbeitsmarkt einsetzbare Qualifikation gerichtet ist (BSG Urteil vom 23.6.1981 - 7 RAr 18/80, RdNr 33) und ihr ein festgelegter Lehrplan zugrunde liegt, in dem einzelne unselbständige Bestandteile in einem engen zeitlichen, inhaltlichen und organisatorischen Zusammenhang stehen. Erforderlich ist eine organisatorische Verbundenheit, die unterschiedliche Veranstaltungen in aller Regel schon im Vorhinein als einheitliche Maßnahme ausgewiesen sein lässt (BSG Urteil vom 20.6.1978 - 7 RAr 11/77 - SozR 4100 § 41 Nr 34, S 84; BSG Urteil vom 14.2.1985 - 7 RAr 96/83 - BSGE 58, 44, 47 = SozR 4100 § 34 Nr 12, S 27; Reichel in jurisPR-SozR 16/2010, Anm 2) Bei sinngemäßer Übertragung dieser Grundsätze müssen auch bei einer den Mehrbedarf nach § 21 Abs 4 SGB II auslösenden Maßnahme deren einzelne Elemente von vornherein nach Inhalt und Dauer als einheitliche Maßnahme ausgewiesen sein und entsprechend ihrer Ausgestaltung, insbesondere auch hinsichtlich ihres zeitlichen Umfangs, geeignet sein, den Mehrbedarf in seiner vom Gesetzgeber historisch angenommenen Zielrichtung auszulösen.

22

Diese Schwelle erreichen die von dem Kläger tatsächlich wahrgenommenen Veranstaltungen des Projektes BINS50plus nicht. Besteht - wie hier - eine weitgehend freie Gestaltbarkeit der Bestandteile einer Maßnahme zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, findet - entgegen dem Revisionsvorbringen - keine "abstrakte" Betrachtung im Sinne einer Einbeziehung weiterer möglicher Inhalte des Projekts statt. Bei der Prüfung der Regelförmigkeit der Maßnahme zugrundezulegen ist vielmehr die konkrete tatsächliche Ausgestaltung, die der Kläger im Einvernehmen mit dem SGB II-Träger gewählt hat. Insofern handelt es sich um einzelne, nicht in einem fachlichen oder inhaltlichen Zusammenhang mit dem finalen Ziel einer Teilhabe am Arbeitsleben stehende, teils nur eintägige Veranstaltungen je Halbjahr. Zwar können mit diesen einzelne - auch außerberufliche - Fähigkeiten gefördert werden. Der Beklagte weist jedoch zu Recht darauf hin, dass die weitestgehend freigestellte Wahl von Kursen an der VHS A im Mittelpunkt steht. Da ein zeitlicher Mindestumfang der einzelnen Kurse nicht festgelegt wurde, ist schon nach dem Umfang der zeitlichen Einbindung des Klägers nicht erkennbar, dass die Maßnahme von vornherein strukturiert, etwa durch bestimmte, aufeinander aufbauende Lehrinhalte, Praktika und Prüfungen, verfolgt worden ist. Die stattdessen intendierte offene Ausgestaltung des Projekts BINS50plus entspricht dem Charakter der Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach § 45 SGB III in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 (BGBl I 2854). In einer gegenüber abschließenden und strukturierten Leistungskatalogen für Bildungsmaßnahmen nach den Vorgängerregelungen (insbesondere im AFG) veränderten Begrifflichkeit können nunmehr unter "Maßnahmen" alle Instrumente verstanden werden, die durch Einschaltung Dritter die berufliche Orientierung, Reintegration und Stabilisierung fördern (Bieback in Gagel, SGB II/SGB III, § 45 RdNr 55, Stand März 2013). Diese erfüllen jedoch wegen ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung nicht von vornherein zugleich die Anforderungen, die an strukturierte Teilhabeleistungen iS der Mehrbedarfsregelung des § 21 Abs 4 SGB II zu stellen sind.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Der notwendige Lebensunterhalt umfasst

1.
in Einrichtungen den darin erbrachten Lebensunterhalt,
2.
in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt.
Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen entspricht dem Umfang
1.
der Regelbedarfsstufe 3 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, und den Regelbedarfsstufen 4 bis 6 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
2.
der zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels,
3.
der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 42 Nummer 4 Buchstabe b.

(2) Der weitere notwendige Lebensunterhalt nach Absatz 1 Nummer 2 umfasst insbesondere einen Barbetrag nach Absatz 3 sowie Bekleidung und Schuhe (Bekleidungspauschale) nach Absatz 4; § 31 Absatz 2 Satz 2 ist nicht anzuwenden.

(3) Der Barbetrag nach Absatz 2 steht für die Abdeckung von Bedarfen des notwendigen Lebensunterhalts nach § 27a Absatz 1 zur Verfügung, soweit diese nicht nach Absatz 1 von der stationären Einrichtung gedeckt werden. Die Höhe des Barbetrages beträgt für Leistungsberechtigte nach diesem Kapitel,

1.
die das 18. Lebensjahr vollendet haben, mindestens 27 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28,
2.
haben diese das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet, setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen die Höhe des Barbetrages fest.
Der Barbetrag ist in der sich nach Satz 2 ergebenden Höhe an die Leistungsberechtigten zu zahlen; er ist zu vermindern, wenn und soweit dessen bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für die Leistungsberechtigten nicht möglich ist.

(4) Die Höhe der Bekleidungspauschale nach Absatz 2 setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen fest. Sie ist als Geld- oder Sachleistung zu gewähren; im Falle einer Geldleistung hat die Zahlung monatlich, quartalsweise oder halbjährlich zu erfolgen.

(1) In der schriftlichen Vereinbarung mit Erbringern von Leistungen nach dem Siebten bis Neunten Kapitel sind zu regeln:

1.
Inhalt, Umfang und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der Leistungen (Leistungsvereinbarung) sowie
2.
die Vergütung der Leistung (Vergütungsvereinbarung).

(2) In die Leistungsvereinbarung sind als wesentliche Leistungsmerkmale insbesondere aufzunehmen:

1.
die betriebsnotwendigen Anlagen des Leistungserbringers,
2.
der zu betreuende Personenkreis,
3.
Art, Ziel und Qualität der Leistung,
4.
die Festlegung der personellen Ausstattung,
5.
die Qualifikation des Personals sowie
6.
die erforderliche sächliche Ausstattung.

(3) Die Vergütungsvereinbarung besteht mindestens aus

1.
der Grundpauschale für Unterkunft und Verpflegung,
2.
der Maßnahmepauschale sowie
3.
einem Betrag für betriebsnotwendige Anlagen einschließlich ihrer Ausstattung (Investitionsbetrag).
Förderungen aus öffentlichen Mitteln sind anzurechnen. Die Maßnahmepauschale ist nach Gruppen für Leistungsberechtigte mit vergleichbarem Bedarf sowie bei Leistungen der häuslichen Pflegehilfe für die gemeinsame Inanspruchnahme durch mehrere Leistungsberechtigte zu kalkulieren. Abweichend von Satz 1 können andere geeignete Verfahren zur Vergütung und Abrechnung der Leistung unter Beteiligung der Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen vereinbart werden.

(1) Der notwendige Lebensunterhalt umfasst

1.
in Einrichtungen den darin erbrachten Lebensunterhalt,
2.
in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt.
Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen entspricht dem Umfang
1.
der Regelbedarfsstufe 3 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, und den Regelbedarfsstufen 4 bis 6 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
2.
der zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels,
3.
der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 42 Nummer 4 Buchstabe b.

(2) Der weitere notwendige Lebensunterhalt nach Absatz 1 Nummer 2 umfasst insbesondere einen Barbetrag nach Absatz 3 sowie Bekleidung und Schuhe (Bekleidungspauschale) nach Absatz 4; § 31 Absatz 2 Satz 2 ist nicht anzuwenden.

(3) Der Barbetrag nach Absatz 2 steht für die Abdeckung von Bedarfen des notwendigen Lebensunterhalts nach § 27a Absatz 1 zur Verfügung, soweit diese nicht nach Absatz 1 von der stationären Einrichtung gedeckt werden. Die Höhe des Barbetrages beträgt für Leistungsberechtigte nach diesem Kapitel,

1.
die das 18. Lebensjahr vollendet haben, mindestens 27 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28,
2.
haben diese das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet, setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen die Höhe des Barbetrages fest.
Der Barbetrag ist in der sich nach Satz 2 ergebenden Höhe an die Leistungsberechtigten zu zahlen; er ist zu vermindern, wenn und soweit dessen bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für die Leistungsberechtigten nicht möglich ist.

(4) Die Höhe der Bekleidungspauschale nach Absatz 2 setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen fest. Sie ist als Geld- oder Sachleistung zu gewähren; im Falle einer Geldleistung hat die Zahlung monatlich, quartalsweise oder halbjährlich zu erfolgen.

Die Bedarfe nach diesem Kapitel umfassen:

1.
die Regelsätze nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28; § 27a Absatz 3 und Absatz 4 ist anzuwenden; § 29 Absatz 1 Satz 1 letzter Halbsatz und Absatz 2 bis 5 ist nicht anzuwenden,
2.
die zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels sowie Bedarfe nach § 42b,
3.
die Bedarfe für Bildung und Teilhabe nach dem Dritten Abschnitt des Dritten Kapitels, ausgenommen die Bedarfe nach § 34 Absatz 7,
4.
Bedarfe für Unterkunft und Heizung
a)
bei Leistungsberechtigten außerhalb von Einrichtungen nach § 42a,
b)
bei Leistungsberechtigten, deren notwendiger Lebensunterhalt sich nach § 27b Absatz 1 Satz 2 oder nach § 27c Absatz 1 Nummer 2 ergibt, in Höhe der nach § 45a ermittelten durchschnittlichen Warmmiete von Einpersonenhaushalten,
5.
ergänzende Darlehen nach § 37 Absatz 1 und Darlehen bei am Monatsende fälligen Einkommen nach § 37a.

(1) Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird.

(2) Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.

(3) Ein nichtiger Verwaltungsakt ist unwirksam.

(1) Nach Klageerhebung wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt.

(2) Eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts ist dem Gericht mitzuteilen, bei dem das Verfahren anhängig ist.

Tenor

Die Revisionen der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 2014 werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit ist die Aufhebung der Bewilligung von Auslandssozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) ab 1.11.2010.

2

Die Kläger sind deutsche Staatsangehörige. Der 1947 in Düsseldorf geborene Kläger zu 1 und die 1973 geborene Klägerin zu 2 sind miteinander verheiratet; sie sind die Eltern der 2002 geborenen Klägerin zu 3. Seit 21.7.2005 leben die Kläger in Spanien.

3

Der Beklagte gewährte ihnen seit Januar 2007 Sozialhilfe (Bescheide vom 31.1.2007, 27.1., 16.3. und 25.3.2009, 3.3. und 10.3.2010; Widerspruchsbescheide vom 22.10.2009, 11.12.2009 und 27.5.2010). Gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 haben die Kläger am 19.11.2009 (S 21 SO 190/09), gegen die Bescheide vom 3.3. und 10.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.5.2010 am 9.6.2010 (S 21 SO 284/10) Klagen beim Sozialgericht (SG) Köln erhoben, mit der sie jeweils höhere Leistungen begehrt haben. Das SG hat in beiden Verfahren die Klagen abgewiesen (Urteile vom 20.07.2011). In den dagegen beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingelegten Berufungen haben die Kläger am 20.2.2014 "die Verfahren L 20 SO 482/11 und L 20 SO 483/11 für erledigt" erklärt.

4

Zwischenzeitlich hatte der Beklagte für die Zeit ab 1.11.2010 seine Leistungsbewilligung, gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X), aufgehoben(Bescheid vom 29.7.2010; Widerspruchsbescheid vom 28.10.2010).

5

Das SG hat (auch) die dagegen gerichteten Klagen abgewiesen (Urteil vom 20.7.2011), das LSG die Berufungen der Kläger zurückgewiesen (Urteil vom 10.11.2014). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, in der Sache sei eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X eingetreten, weil die Kläger (spätestens) zum 1.11.2010 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dem Grunde nach die Voraussetzungen für den Bezug von "spanischer Sozialhilfe" erfüllt hätten und damit kein Anspruch mehr auf deutsche Sozialhilfe bestehe.

6

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 24 Abs 2 SGB XII und Verfahrensfehler. Die Klagen seien trotz der früheren Gerichtsverfahren über die Leistungshöhe zulässig.

7

Die Kläger beantragen,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 29.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 aufzuheben.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

9

Er hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässigen Revisionen sind aus anderen Gründen als vom LSG angenommen unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz).

11

Im Ergebnis zu Recht hat das LSG die Berufungen zurückgewiesen; denn die Klagen waren und sind unzulässig. Gegenstand der Klagen ist der Bescheid vom 29.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 (§ 95 SGG), den die Kläger mit ihren Anfechtungsklagen angreifen und mit dem der Beklagte seine Bewilligung von Auslandssozialhilfe ab 1.11.2010 aufgehoben hat. Dieser Bescheid ist rechtlich gemäß § 96 Abs 1 SGG vollumfänglich Gegenstand des früheren Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 (§ 95 SGG) geworden. Auch nachdem die Kläger die Berufungen gegen das - fehlerhaft nur Teile der Klagen (faktische Nichteinbeziehung der Folgebescheide) - abweisende Urteil des SG zurückgenommen haben, bleiben die Klagen unzulässig, weil der hier streitgegenständliche Aufhebungsbescheid mit der Rücknahme der Berufungen bestandskräftig geworden ist.

12

Die Klagen waren zunächst wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 17 Abs 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz). Der Bescheid vom 29.7.2010 ist nämlich mit seiner Bekanntgabe am 2.9.2010 Gegenstand des zu diesem Zeitpunkt bereits anhängigen Klageverfahrens (S 21 SO 190/09) gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 geworden. Nach § 96 Abs 1 SGG(in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 - BGBl I 444 - erhalten hat) wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Geändert oder ersetzt wird ein Bescheid immer, wenn er denselben Streitgegenstand wie der Ursprungsbescheid betrifft, bzw wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 96 RdNr 4 ff mwN). Ergeht auf einen zeitlich nicht beschränkten Dauerverwaltungsakt ein Aufhebungsbescheid, durch den die streitgegenständlichen Leistungen entzogen werden, wird dieser Bescheid in (direkter) Anwendung von § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens(BSGE 77, 175, 176 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2 S 8 f).

13

So ist es hier. Der Beklagte hat im Bescheid vom 25.3.2009 Sozialhilfe zeitlich unbegrenzt bewilligt. Streitgegenstand des zunächst anhängigen Klageverfahrens gegen diesen Bescheid (S 21 SO 190/09) war dabei die Höhe dieser Leistungen ab 1.4.2009. Hiergegen haben sich die Kläger ohne zeitliche Begrenzung des Klagegegenstands gewandt. Auch in der Sache haben die Kläger ihr Klagebegehren nicht auf einzelne abtrennbare Regelungen des Bescheids begrenzt.

14

Durch Bescheide vom 3.3. und 10.3.2010 hat der Beklagte die Leistungen - erneut zeitlich unbegrenzt - der Höhe nach für die Zeit ab 1.4.2010 neu festgesetzt. Auch diese Bescheide sind - als Änderungsbescheide - nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des früheren Klageverfahrens geworden, ohne dass hierdurch der Streitgegenstand begrenzt worden wäre. Der hier streitgegenständliche Bescheid vom 29.7.2010 hat sodann (gestützt auf § 48 SGB X)den Bescheid vom 10.3.2010 aufgehoben. Für den Zeitraum ab 1.11.2010 ist er gemäß § 96 Abs 1 SGG vollständig an die Stelle des seinerseits nach § 96 Abs 1 SGG streitbefangenen Bescheids vom 10.3.2010 getreten. Da die Kläger den Streitgegenstand nicht begrenzt haben (s zuvor), kommt es nicht darauf an, welche Rechtsfolgen sich hieraus für das vorliegende Verfahren ergäben.

15

Die prozessuale Sperrwirkung des § 17 Abs 1 Satz 2 GVG endet zwar mit Abschluss des früheren Verfahrens; die Klagen bleiben aber dennoch unzulässig. Zwar steht ihrer Zulässigkeit nicht die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung entgegen (vgl zur Unzulässigkeit der Klage bei eingetretener Rechtskraft BSG, Beschluss vom 17.12.2015 - B 8 SO 14/14 R). Das SG hat nämlich - in Verkennung der Einbeziehung der Änderungsbescheide vom 3.3. und 10.3. sowie des Aufhebungsbescheids vom 29.7.2010 - mit seinem klageabweisenden Urteil nur über einen Teil des Streitgegenstands, nämlich über den im Einleitungssatz des Tatbestands bezeichneten Zeitraum vom 1.4.2009 bis 31.3.2010, entschieden. Einen Antrag auf Ergänzung des Urteils (vgl § 140 SGG) haben die Kläger nicht gestellt; es ist deshalb nicht entscheidungserheblich, dass ein solcher Antrag (aufgrund bewusster - wenn auch falscher - Entscheidung des SG) ohnehin unzulässig gewesen wäre (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 140 RdNr 2c mwN). Auch im Berufungsverfahren ist eine den Fehler des SG korrigierende gerichtliche Entscheidung betreffend den Zeitraum ab 1.11.2010 nicht ergangen. Zwar hätte der übergangene Anspruch Gegenstand einer Entscheidung im Berufungsverfahren werden können (vgl nur Keller, aaO, § 140 RdNr 2a mwN). Die Kläger haben jedoch ihre Berufungen gegen das die Klagen abweisende Urteil in der nichtöffentlichen Sitzung vom 20.2.2014 zurückgenommen, indem sie (ua) das "Verfahren L 20 SO 482/11 für erledigt erklärt" haben. Diese Erklärung kann nur als Berufungsrücknahme (§ 156 SGG) gewertet werden.

16

Dadurch ist zwar die Rechtshängigkeit der Klagen gegen die Bescheide, über die das SG unter Verkennung des § 96 SGG nicht entschieden hat, folglich auch die Rechtshängigkeit der Klagen gegen den hier streitgegenständlichen Bescheid vom 29.7.2010, entfallen (vgl nur Keller, aaO, § 140 RdNr 3; BGH, Urteil vom 16.2.2005 - VIII ZR 133/04 - NJW-RR 2005, 790, 791) und dieser in Bestandskraft erwachsen (§ 77 SGG); die zwischenzeitlich unzulässig erhobenen gesonderten Klagen gegen diesen Bescheid können gleichwohl nicht zulässig mit dem Ziel der Beseitigung der Bestandskraft weitergeführt werden (vgl Keller, aaO, § 140 RdNr 3), ohne dass ein neues Verwaltungsverfahren zur Überprüfung des bestandskräftigen Bescheids durchgeführt ist (vgl zu diesem Rechtsgedanken auch: BSGE 21, 13 ff = SozR Nr 5 zu § 156 SGG; BSG SozR 4-1500 § 92 Nr 2; BVerwGE 40, 25, 32; BFHE 159, 4, 9 f; 189, 252, 255).

17

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 187/13
Verkündet am:
6. Februar 2014
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 615 Satz 2; SGB XI §§ 85, 86, 87; HeimG § 5 Abs. 7 a.F.; WTG NRW § 5
Abs. 2

a) Zur Auslegung einer heimvertraglichen Regelung, in der hinsichtlich der von dem
Heimträger zu berechnenden Leistungsentgelte auf Regelungen verwiesen wird,
die zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungs- und
Kostenträgern in der Pflegesatzkommission vereinbart sind.

b) Eine heimvertragliche Regelung, in der die Reduzierung des Heimentgelts bei
Heimbewohnern mit Sondenernährung auf rund ein Drittel des Verpflegungsanteils
des Heimentgelts festgelegt wird, ist angemessen im Sinne von § 87 Satz 2
SGB XI, § 5 Abs. 7 HeimG a.F. und § 5 Abs. 2 WTG NRW (Fortführung von
BGH, Urteile vom 22. Januar 2004 - III ZR 68/03, BGHZ 157, 309; vom 4. November
2004 - III ZR 371/03, NJW 2005, 824 und vom 13. Dezember 2007 - III
ZR 172/07, NJW 2008, 653).
BGH, Urteil vom 6. Februar 2014 - III ZR 187/13 - OLG Köln
LG Köln
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 6. Februar 2014 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter
Dr. Herrmann, Hucke, Tombrink und Dr. Remmert

für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 30. April 2013 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsrechtszugs hat der Kläger zu tragen.
Von Rechts wegen

Tatbestand


1
Die Parteien streiten über die Erstattung von Heimkosten für den Zeitraum von März 2007 bis Dezember 2008.
2
Die während des Berufungsverfahrens verstorbene frühere Klägerin wurde von ihrem Ehemann, dem jetzigen Kläger, und den gemeinsamen Söhnen beerbt. Sie lebte aufgrund eines Heimvertrags vom 29. August/19. September 2006 bis zu ihrem Tod in vollstationärer Pflege in einem von der Beklagten betriebenen Heim in B. G. . In § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags ist hinsichtlich der von der Beklagten zu berechnenden leistungsgerechten Entgelte bestimmt, dass sich diese grundsätzlich nach den Regelungen richten, die zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungs- und Kostenträgern in der Pflegesatzkommission jeweils vereinbart sind.
3
Die frühere Klägerin wurde während der gesamten Zeit ihres Heimaufenthalts über eine PEG-Sonde (Magensonde) unter Einschluss der Flüssigkeitsversorgung ernährt. Die Sachkosten für die darüber zugeführte Nahrung übernahm die Krankenkasse, die auch die dafür erforderlichen Hilfsmittel zur Verfügung stellte. Die Beklagte brachte wegen der Sondenernährung der früheren Klägerin von den vereinbarten Heimkosten einen Anteil von 14,5 % des Gesamtentgelts für Unterkunft und Verpflegung in Abzug. Der Verpflegungsanteil an diesem Gesamtentgelt betrug 43,5 %.
4
Die frühere Klägerin und der Kläger haben die Auffassung vertreten, sie hätten einen Anspruch auf Erstattung des gesamten Verpflegungsanteils. Die Regelungen, auf die sich die Beklagte zur Begründung eines Abzugs von lediglich einem Drittel der Verpflegungskosten berufe, seien unwirksam, so dass sich ein Rückzahlungsanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung ergebe. Der Kläger hat behauptet, die Beklagte habe keine Verpflegungsleistungen erbracht , da er die Bestellung, Verwaltung und Verabreichung der Sondennahrung größtenteils selbst übernommen habe.
5
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die in den Vergütungsvereinbarungen zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungsund Kostenträgern geregelte Erstattung von 14,5 % des Unterkunfts- und Verpflegungsanteils der Heimkosten für mittels Magensonde ernährte Heimbewohner sei in den Heimvertrag einbezogen worden und wirksam. In Bezug auf den Verpflegungsanteil der Heimkosten bestehe kein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung. Weitere Einsparungen als die reinen Le- bensmittelkosten träten bei Bewohnern, die über Magensonden ernährt würden, nicht ein. Personal-, Energie- und Raumkosten fielen unverändert an und würden nicht vollständig von den Krankenkassen übernommen oder über das Pflegeentgelt abgegolten.
6
Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, an die frühere Klägerin einen Betrag von 5.612,82 € nebst Zinsen zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Zurückweisung der Berufung der Beklagten.

Entscheidungsgründe


7
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.

I.


8
Nach Auffassung des Berufungsgerichts haben die Rechtsnachfolger der früheren Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung des (restlichen) Verpflegungsanteils der Heimkosten. Es sei zwischen den Parteien unstreitig, dass die zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungs- und Kostenträgern vereinbarten Entgelte nach dem Heimvertrag zwischen der früheren Klägerin und der Beklagten unmittelbar gelten würden. Die im Heimvertrag für den Fall der Ernährung eines Heimbewohners mittels Magensonde vorgesehene Pauschalierung des Betrages für ersparte Aufwendungen auf ein Drittel des Verpflegungskostenanteils sei nicht gemäß § 138 Abs. 1 oder Abs. 2, § 307 Abs. 1 BGB, § 87 Satz 1 SGB XI, § 5 Abs. 2 HeimG NRW in Verbindung mit § 134 BGB oder unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt unwirksam. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Verpflegungsentgelt bei Sondenernährung eines Heimbewohners ergebe sich kein vollständiger Wegfall des Anspruchs des Heimträgers für Verpflegungsleistungen.
9
Die Reduzierung um ein Drittel der Verpflegungskosten stelle eine die wechselseitigen Belange, insbesondere auch die Interessen der Heimbewohner , angemessen berücksichtigende und deshalb wirksame Vergütungsvereinbarung dar. Nach dem seitens des Klägers nicht konkret bestrittenen Vorbringen der Beklagten beschränke sich die Ersparnis des Pflegeheims durch die ausschließliche Nahrungsversorgung von Bewohnern mittels Magensonde im Wesentlichen auf die reinen Lebensmittelkosten, weil insbesondere für die Vorhaltung und Entsorgung der von den Krankenkassen finanzierten Sondennahrung nahezu dieselben Personal-, Energie- und Raumkosten anfielen wie für die Verpflegung von Bewohnern, die ihre Nahrung oral zu sich nähmen. Der Ansatz, als Ersparnis lediglich die reinen Lebensmittelkosten zugrunde zu legen , sei daher zutreffend. Bei einer gemäß § 287 ZPO möglichen Schätzung erscheine der hierfür berücksichtigte Betrag angemessen.
10
Die vom Kläger geltend gemachten Besonderheiten im Fall der früheren Klägerin führten nicht zu einer abweichenden Betrachtungsweise. Es sei ein legitimes Anliegen von Heimträgern, eine Pauschalisierung der Entgelte und damit auch der ersparten Aufwendungen vorzunehmen, bei der es nicht darauf ankomme, ob und in welchem Umfang die vom Pflegeheim bereitgestellten Leistungen von den jeweiligen Bewohnern tatsächlich in Anspruch genommen würden. Dies gelte auch für die Maßnahmen, die der Kläger zur Sicherstellung der Nahrungsversorgung der früheren Klägerin über die Magensonde vorge- nommen habe. Diese Tätigkeiten seien nach dem Heimvertrag vornehmlich in den Aufgaben- und Verantwortungsbereich der Beklagten gefallen, die deshalb hierfür personelle und sachliche Ressourcen habe vorhalten müssen. Derart umfangreiche Heimleistungen von Angehörigen seien nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben der Heimleiterin der Beklagten die Ausnahme, so dass sie nicht bei der Personalbedarfsplanung berücksichtigt werden könnten und deshalb nicht zu höheren ersparten Aufwendungen führten.

II.

11
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.
12
Das Berufungsgericht hat zu Recht und mit weitgehend zutreffender Begründung einen Erstattungsanspruch der Rechtsnachfolger der früheren Klägerin gegen die Beklagte aus §§ 812 ff BGB in Verbindung mit §§ 1922, 2039 BGB verneint. Es ist zu Recht davon ausgegangen, dass in dem zwischen der früheren Klägerin und der Beklagten geschlossenen Heimvertrag vom 29. August /19. September 2006 die Erstattung der wegen der Sondenernährung der früheren Klägerin ersparten Aufwendungen wirksam auf ein Drittel des Verpflegungsanteils der Heimkosten beschränkt worden ist.
13
1. Die Beschränkung der Erstattung ergibt sich aus § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags. Danach richten sich die Entgelte grundsätzlich nach den Regelungen , die zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungsund Kostenträgern in der Pflegesatzkommission jeweils vereinbart sind. Diese Formulierung ist vorliegend als Bezugnahme auf den Beschluss des Grundsatzausschusses für stationäre Pflege in Nordrhein-Westfalen (Grundsatzausschuss ) vom 23. August 2004 betreffend Entgelte für Unterkunft und Verpfle- gung für Heimbewohner mit Sondenernährung auszulegen, der nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Erstattung von rund einem Drittel der Verpflegungskosten für Heimbewohner mit Magensonde festgelegt hat.
14
a) Das Elfte Buch Sozialgesetzbuch sieht verschiedene Verträge vor, in denen Regelungen betreffend die Kosten für Unterkunft und Verpflegung eines in einem Heim versorgten Pflegebedürftigen getroffen werden können. Es sind dies insbesondere Rahmenverträge nach § 75 SGB XI, Vereinbarungen der als Pflegesatzparteien betroffenen Leistungsträger (§ 85 Abs. 2 SGB XI) mit dem Träger des Pflegeheims nach § 87 SGB XI, Vereinbarungen der Pflegesatzkommissionen gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI und Rahmenvereinbarungen der Pflegesatzkommission oder der Vertragsparteien nach § 85 Abs. 2 SGB XI nach § 86 Abs. 3 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI.
15
Die Bestimmung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags bezieht sich ihrem Wortlaut nach auf Vereinbarungen nach § 86 Abs. 1, 3 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI zwischen den dort genannten Vertragsparteien "in der Pflegesatzkommission". Sie bezieht sich dagegen ihrem Wortlaut nach nicht auf die von der Beklagten vorgelegten Vereinbarungen zwischen den als Pflegesatzparteien betroffenen Leistungsträgern (§ 85 Abs. 2 SGB XI) mit der Beklagten als Trägerin des Pflegeheims nach § 87 SGB XI. Denn weder sind Vertragspartner dieser Vereinbarungen die in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags genannten Heimträgerverbände noch handelt es sich um Vereinbarungen "in der Pflegesatzkommission".
16
Regelungen einer Pflegesatzkommission in Nordrhein-Westfalen nach § 86 Abs. 1, 3 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI sind für den streitgegenständlichen Zeitraum von den Parteien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich (vgl. demgegenüber für Bayern den in dem Urteil des OLG Bamberg vom 17. Februar 2006 - 6 U 22/05, juris Rn. 19 zitierten Beschluss der Landespflegesatzkommission Bayern vom 9. März 2004, nach dem im Fall der Sondenernährung ein Minderungsanspruch in Höhe des einrichtungsindividuellen Rohverpflegungssatzes gerechtfertigt ist). Die Formulierung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags ist jedoch als Verweis auf den vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 auszulegen.
17
aa) Der Grundsatzausschuss ist aufgrund § 22 des am 1. Oktober 1999 in Kraft getretenen Rahmenvertrags gemäß § 75 Abs. 1 SGB XI zur Kurzzeitpflege und vollstationären Pflege vom 10. Juni 1999 (Rahmenvertrag) gebildet worden. Nach § 22 Abs. 1 des Rahmenvertrags handelt es sich dabei um einen von den Parteien des Rahmenvertrags (Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, Bundesverband Privater Alten- und Pflegeheime und soziale Dienste e.V., Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe Landesgruppe NRW e.V., Verband der Kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen in NRW e.V., Landschaftsverbände Rheinland und WestfalenLippe , Städtetag Nordrhein-Westfalen, Landkreistag Nordrhein-Westfalen, Landesverbände der Pflegekassen in Nordrhein-Westfalen, Verband der privaten Krankenversicherung e.V.) gebildeten "Grundsatzausschuss im Sinne von § 86 Abs. 3 SGB XI", der unter anderem Verfahren der Ermittlung der Leistungsentgelte regeln soll. Zwar ist in § 86 Abs. 3 SGB XI nicht von einem Grundsatzausschuss , sondern von einer Pflegesatzkommission die Rede. Jedoch besteht sowohl eine Identität der Parteien des Rahmenvertrags und damit des Grund- satzausschusses mit den in § 86 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 SGB XI genannten Parteien der Pflegesatzkommission (Landesverbände der Pflegekassen, Verband der privaten Krankenversicherer e.V., überörtliche oder ein nach Landesrecht bestimmter Träger der Sozialhilfe, Vereinigungen der Pflegeheimträger ) als auch eine Identität des Aufgabenbereichs des Grundsatzausschusses mit dem Aufgabenbereich der Pflegesatzkommission gemäß § 86 Abs. 3 Satz 1 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 1, 3 SGB XI in Bezug auf die Regelung des Verfahrens der Ermittlung der Leistungsentgelte.
18
bb) Die Bestimmung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags nimmt Bezug auf die Regelungen von Leistungsentgelten "zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungs- und Kostenträgern". Damit besteht sowohl hinsichtlich der Parteien der im Heimvertrag in Bezug genommen Regelungen als auch hinsichtlich des in Bezug genommenen Regelungsgegenstands eine Deckungsgleichheit mit den Parteien und dem Regelungsauftrag des Grundsatzausschusses "im Sinne von § 86 Abs. 3 SGB XI" (vgl. § 22 Abs. 1 des Rahmenvertrags). Vor diesem Hintergrund und angesichts des Fehlens von Regelungen einer im Heimvertrag erwähnten Pflegesatzkommission ist die Formulierung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags auf die vom Grundsatzausschuss getroffenen Regelungen zum Verfahren der Leistungsentgeltermittlung zu beziehen und damit auch auf den vorgenannten Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 betreffend Entgelte für Unterkunft und Verpflegung für Heimbewohner mit Sondenernährung.
19
b) Der Einbeziehung des Beschlusses des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 in den Heimvertrag durch § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags steht nicht entgegen, dass nach § 4 Abs. 2 des Heimvertrags das Leistungsentgelt in den einzelnen Pflegestufen (insbesondere für pflegebedingten Aufwand, Unterkunft und Verpflegung) in Anlage 1 des Vertrags definiert ist und dort keine Angaben dazu enthalten sind, ob und in welchem Umfang bei sondenernährten Heimbewohnern die Kosten für Unterkunft und Verpflegung zu reduzieren sind. Vielmehr wird aus der Formulierung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags , wonach sich die Entgelte "grundsätzlich" nach den in Bezug genommenen Regelungen richten, deutlich, dass letztere (nur) insoweit gelten sollen, als der Heimvertrag selbst keine abweichenden Bestimmungen hinsichtlich des Leistungsentgelts enthält. Eine solche (spezielle) ergänzende Regelung ist bezüglich der Anrechnung von ersparten Aufwendungen bei sondenernährten Heimbewohnern und der entsprechenden Reduzierung des Entgelts für Unterkunft und Verpflegung durch die Bezugnahme auf den Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags getroffen worden.
20
2. Die in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags in Verbindung mit dem Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 geregelte nur teilweise Erstattung des von der früheren Klägerin gezahlten Verpflegungsentgelts steht nicht im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteile vom 22. Januar 2004 - III ZR 68/03, BGHZ 157, 309; vom 4. November 2004 - III ZR 371/03, NJW 2005, 824 und vom 13. Dezember 2007 - III ZR 172/07, NJW 2008, 653). Aus der Anwendung der dort niedergelegten Grundsätze ergibt sich im vorliegenden Fall, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, nicht zwingend ein vollständiger Wegfall des Verpflegungsentgelts. Den Entscheidungen des Senats lagen jeweils Fallkonstellationen zugrunde , in denen - anders als hier - weder im Heimvertrag noch in den nach den Bestimmungen des Elften Buchs Sozialgesetzbuch geschlossenen Vereinbarungen Regelungen zur Reduzierung des Heimentgelts bei sondenernährten Heimbewohnern getroffen worden waren (Urteile vom 22. Januar 2004 aaO S.
317 ff; vom 4. November 2004 aaO S. 825 und vom 13. Dezember 2007 Rn. 5). Dementsprechend richtete sich die Anrechnung ersparter Aufwendungen ausschließlich nach § 615 Satz 2 BGB. In Anwendung dieser Vorschrift hat der Senat jeweils einen Anspruch des Heimträgers in voller Höhe des Verpflegungsentgelts verneint (Urteile vom 22. Januar 2004 aaO S. 320 ff; vom 4. November 2004 aaO S. 826 und vom 13. Dezember 2007 Rn. 6). Daraus folgt indes nicht, dass dem Heimträger in jedem Fall einer Sondenernährung und unabhängig sowohl von den heimvertraglichen Bestimmungen als auch von dem Parteivortrag zu den ersparten Aufwendungen im Sinne von § 615 Satz 2 BGB kein Anspruch auch nur auf einen Teil des Verpflegungsentgelts zusteht. Dies gilt - wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat - auch, soweit der Senat in seiner Entscheidung vom 4. November 2004 den dortigen Feststellungsantrag für begründet erachtet hat, dass der beklagte Heimträger nicht berechtigt sei, der Klägerin für die Zeit, in der sie mit Sondennahrung ernährt werde, ein Leistungsentgelt für die Verpflegung in Rechnung zu stellen.
21
3. Die im Heimvertrag im Wege der Bezugnahme auf den Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 für ausschließlich sondenernährte Heimbewohner vorgesehene Reduzierung der zu zahlenden Heimkosten um rund ein Drittel der Verpflegungskosten ist, wie das Berufungsgericht ebenfalls zu Recht angenommen hat, nicht zu beanstanden. Sie verstößt weder gegen § 615 Satz 2 BGB noch ist sie unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 87 Satz 2 SGB XI, § 5 Abs. 7 des Heimgesetzes (HeimG) in der bis zum 30. September 2009 geltenden Fassung und § 5 Abs. 2 des Wohn- und Teilhabegesetzes Nordrhein-Westfalen (WTG NRW).
22
a) Die Reduzierung des Verpflegungsanteils bei sondenernährten Heimbewohnern entspricht im Grundsatz der in § 615 Satz 2 BGB vorgesehenen Anrechnung ersparter Aufwendungen. Soweit die heimvertragliche Regelung nicht individuell auf die Ersparnis des jeweiligen Heimbewohners abstellt, sondern eine pauschalierte Reduzierung enthält, begegnet dies keinen Bedenken.
23
aa) Nach der Rechtsprechung des Senats kann zwar jeder Bewohner erwarten, dass er die für seine Person notwendige Pflege erhält. Hiermit ist jedoch nicht verbunden, dass das Heim seine Leistungen insgesamt individuell abrechnen müsste und der einzelne Bewohner Anpassungen des verabredeten Entgelts je nach individueller Ausnutzung verlangen könnte (Senat, Urteil vom 4. November 2004 aaO S. 826). Vielmehr kann seitens des Heims eine in bestimmtem Maße pauschalierte Abrechnung der Leistungen erfolgen. Dementsprechend kann grundsätzlich auch die Reduzierung eines Entgelts wegen fehlender Inanspruchnahme einer Leistung des Heims durch den Bewohner in pauschalierter Weise erfolgen.
24
Andererseits darf eine solche Pauschalierung nicht dazu führen, dass Bewohner, die mit Sondennahrung verpflegt werden müssen, zu einem Solidarausgleich für die Vergütung eines Leistungsbestandteils herangezogen werden, den sie auf Grund ihrer persönlichen Situation nicht in Anspruch nehmen können (Senat, Urteile vom 4. November 2004 aaO sowie vom 13. Dezember 2007 aaO Rn. 6). Das gilt insbesondere dann, wenn kalkulatorische Gründe nicht zu einer solchen Lösung zwingen. Eine so weitgehende Pauschalierung wird von den Regelungen des Elften Buchs Sozialgesetzbuch, die gleichfalls den Schutz des Heimbewohners im Auge haben, nicht gefordert (Senat, Urteile vom 4. November 2004 und vom 13. Dezember 2007, jeweils aaO). In diesem Zusammenhang hat der Senat darauf hingewiesen, dass der Situation der Sondener- nährung von Heimbewohnern dadurch Rechnung getragen werden kann, dass für jeden Bewohner durchschnittliche Lebensmittelkosten kalkuliert werden. Ein Heim sei ohne weiteres in der Lage, die nicht anfallenden Sachkosten als ersparte Aufwendungen an den Bewohner weiterzugeben (Senat, Urteil vom 4 November 2004 aaO).
25
bb) Diesen Grundsätzen trägt der in den Heimvertrag einbezogene Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 hinreichend Rechnung.
26
Die darin vorgesehene Reduzierung des Heimentgelts um rund ein Drittel des Verpflegungsanteils entspricht nach den Feststellungen des Berufungsgerichts und der dem Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 zugrunde liegenden Empfehlung seines Arbeitskreises (Bl. 223 der Verfahrensakten ) den reinen Lebensmittelkosten beziehungsweise dem reinen Sachkostenaufwand bei Bewohnern mit normaler Ernährung. Die in Bezug auf die Höhe dieser Lebensmittelkosten seitens des Berufungsgerichts gemäß § 287 ZPO erfolgte Schätzung unterliegt einem weiten tatrichterlichen Entscheidungsspielraum und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
27
Die Beschränkung der Reduzierung auf die reinen Sachkosten führt nicht zu einem nach den vorstehenden Grundsätzen unzulässigen, den sondenernährten Heimbewohnern aufgezwungenen Solidarausgleich für die Vergütung von Leistungsbestandteilen, die sie auf Grund ihrer persönlichen Situation nicht in Anspruch nehmen können und die für jeden Bewohner getrennt kalkuliert werden können. Das Berufungsgericht hat insofern zutreffend auf den umfangreichen , von der Revision in Teilen wiedergegebenen Vortrag der Beklagten verwiesen. Darin wird unter Bezugnahme auf Anlage 1 zu § 7 des Rahmenver- trags detailliert und nachvollziehbar erläutert, dass sich die Ersparnis des Pflegeheims im Wesentlichen auf die reinen Lebensmittelkosten beschränkt, weil insbesondere für die Vorhaltung und Entsorgung der von den Krankenkassen finanzierten Sondennahrung nahezu dieselben Personal-, Energie- und Raumkosten anfallen wie für die Verpflegung von Bewohnern, die ihre Nahrung oral zu sich nehmen. Mit diesem Vortrag hat die Beklagte - entgegen der Auffassung der Revision - der sie hinsichtlich der von ihr ersparten Aufwendungen treffenden sekundären Darlegungslast genügt (vgl. zur Darlegungslast im Rahmen von § 324 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F.: BGH, Urteil vom 17. Februar 2004 - X ZR 108/02, NJW-RR 2004, 989, 990). Dem ist der - hinsichtlich der von der Beklagten ersparten Aufwendungen darlegungs- und beweispflichtige - Kläger, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, nicht konkret entgegengetreten.
28
cc) Ist somit grundsätzlich davon auszugehen, dass die Beklagte jenseits der reinen Sachkosten bei der Sondenernährung von Heimbewohnern keine wesentlichen, kalkulatorisch trennbaren Aufwendungen erspart, so gilt vorliegend nicht deshalb etwas anderes, weil der Kläger - wie er behauptet - für seine Ehefrau die Sondennahrung bestellt, gelagert und die verbrauchten Verpackungen und Überleitsysteme entsorgt hat. Das Berufungsgericht hat insofern zutreffend auf die Rechtsprechung des Senats verwiesen, nach der das Heim seine Leistungen nicht insgesamt individuell abrechnen muss und der einzelne Bewohner Anpassungen des verabredeten Entgelts je nach individueller Ausnutzung nicht verlangen kann (Senat, Urteil vom 4. November 2004 aaO S. 826). Die vom Kläger übernommenen Tätigkeiten fallen grundsätzlich in den Aufgaben - und Verantwortungsbereich der Beklagten, die deshalb entsprechende personelle und sachliche Ressourcen vorzuhalten hat und letztere auch nicht angesichts einer - im Ausnahmefall erfolgenden - Übernahme dieser Tätigkeiten durch Angehörige eines Heimbewohners reduzieren kann.
29
b) Aus den vorstehend (zu a bb) genannten Gründen ist die im Heimvertrag vorgesehene Reduzierung des Heimentgelts um rund ein Drittel des Verpflegungsentgelts - wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat - auch angemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 87 Satz 2 SGB XI, § 5 Abs. 7 HeimG a.F. und § 5 Abs. 2 WTG NRW.
30
Zudem ist bei einer an dem Maßstab der Angemessenheit des Leistungsentgelts ausgerichteten Überprüfung des von der Beklagten berechneten Verpflegungsanteils zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die Ausgestaltung des Rechts der Leistungserbringung und Vergütung in den Bestimmungen des Elften Buchs Sozialgesetzbuch selbst Vorkehrungen zum Schutz der Heimbewohner getroffen hat (Senat, Urteil vom 22. Januar 2004 aaO S. 321). Er hat ein auf Vereinbarungen gründendes System geschaffen, in dem die Pflegekassen und übrigen Kostenträger als Sachwalter im Interesse der Heimbewohner angemessene Entgelte für Unterkunft und Verpflegung aushandeln (Senat, Urteile vom 8. November 2001 aaO S. 157; vom 22. Januar 2004 aaO S. 319 f und vom 3. Februar 2005 - III ZR 411/04, NJW-RR 2005, 777, 779 unter Hinweis auf den Entwurf eines Pflege-Versicherungsgesetzes, BT-Drucks. 12/5262 S. 147, 168). Bei der Beurteilung einer die Angemessenheit des Leistungsentgelts betreffenden Frage ist mithin zu beachten, ob sie in den vom Elften Buch Sozialgesetzbuch vorgesehenen Rahmenverträgen oder Vergütungsverträgen eine positive Regelung erfahren hat (vgl. Senat, Urteil vom 22. Januar 2004 aaO).
31
Vorliegend handelt es sich bei dem im Heimvertrag in Bezug genommenen Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 um die Entscheidung eines aufgrund eines Rahmenvertrags nach § 75 Abs. 1 SGB XI eingerichteten Gremiums, in dem die Pflegekassen und übrigen Kostenträger ebenso vertreten waren wie in einer Pflegesatzkommission gemäß § 86 Abs. 1, 3 SGB XI. Bei der Beschlussfassung nahmen sie eine vergleichbare Sachwalterstellung wahr wie bei einer Vereinbarung gemäß § 87 Satz 3 in Verbindung mit § 86 Abs. 3 Satz 1 SGB XI. Darüber hinaus stimmt der Inhalt des Beschlusses vom 23. August 2004 zur Reduzierung des Heimentgelts bei sondenernährten Bewohnern überein mit den entsprechenden Bestimmungen in § 2 Abs. 2 Satz 2 der von der Beklagten mit den Pflegekassen und Sozialhilfeträgern - als Sachwalter der Heimbewohner - geschlossenen Vereinbarungen gemäß §§ 85, 87 SGB XI vom 31. Januar 2007 und 30. Mai 2008. Eine Unangemessenheit von Regelungen dieser Art, bei deren Zustandekommen zum Schutz der Heimbewohner die Pflegekassen und Sozialhilfeträger mitgewirkt haben, wird allenfalls dann in Betracht kommen, wenn hierfür deutliche Anhaltspunkte bestehen. Dies ist indes - wie ausgeführt - vorliegend nicht der Fall.
32
4. Da die von der Beklagten vorgenommene begrenzte Erstattung des Verpflegungsanteils bereits aus § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags begründet ist, kommt es auf die unmittelbare Geltung der vorgenannten Vereinbarungen vom 31. Januar 2007 und vom 30. Mai 2008 im Verhältnis zwischen der früheren Klägerin und der Beklagten gemäß § 85 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 2 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI nicht an. Dementsprechend bedarf die von der Revision angesprochene Frage, ob der in den vorgenannten Normen bestimmten unmittelbaren Verbindlichkeit der dort geregelten Vereinbarungen für die in dem Heim versorgten Pflegebedürftigen verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 22. Januar 2004 aaO S. 316 so- wie - zu § 75 Abs. 1 Satz 4 SGB XI - Senat, Urteil vom 8. November 2001 - III ZR 14/01, BGHZ 149, 146, 151 f, jeweils mwN), keiner Beantwortung.
Schlick Herrmann Hucke
Tombrink Remmert
Vorinstanzen:
LG Köln, Entscheidung vom 02.02.2012 - 24 O 60/11 -
OLG Köln, Entscheidung vom 30.04.2013 - 15 U 22/12 -

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.

(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.

(3) Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung gilt stets als begründet, wenn der Richter dem Vorstand einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts angehört, deren Interessen durch das Verfahren unmittelbar berührt werden.

(4) (weggefallen)

(1) Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.

(2) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen.

(3) Das Ablehnungsrecht steht in jedem Fall beiden Parteien zu.

(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.

(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.

(3) Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung gilt stets als begründet, wenn der Richter dem Vorstand einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts angehört, deren Interessen durch das Verfahren unmittelbar berührt werden.

(4) (weggefallen)

(1) Der Vorsitzende bestimmt Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mit. Die Beteiligten sind darauf hinzuweisen, daß im Falle ihres Ausbleibens nach Lage der Akten entschieden werden kann.

(2) Das Gericht kann Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(3) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.

(1) Aus erheblichen Gründen kann ein Termin aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Erhebliche Gründe sind insbesondere nicht

1.
das Ausbleiben einer Partei oder die Ankündigung, nicht zu erscheinen, wenn nicht das Gericht dafür hält, dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist;
2.
die mangelnde Vorbereitung einer Partei, wenn nicht die Partei dies genügend entschuldigt;
3.
das Einvernehmen der Parteien allein.

(2) Die erheblichen Gründe sind auf Verlangen des Vorsitzenden, für eine Vertagung auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen.

(3) Ein für die Zeit vom 1. Juli bis 31. August bestimmter Termin, mit Ausnahme eines Termins zur Verkündung einer Entscheidung, ist auf Antrag innerhalb einer Woche nach Zugang der Ladung oder Terminsbestimmung zu verlegen. Dies gilt nicht für

1.
Arrestsachen oder die eine einstweilige Verfügung oder einstweilige Anordnung betreffenden Sachen,
2.
Streitigkeiten wegen Überlassung, Benutzung, Räumung oder Herausgabe von Räumen oder wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs,
3.
(weggefallen)
4.
Wechsel- oder Scheckprozesse,
5.
Bausachen, wenn über die Fortsetzung eines angefangenen Baues gestritten wird,
6.
Streitigkeiten wegen Überlassung oder Herausgabe einer Sache an eine Person, bei der die Sache nicht der Pfändung unterworfen ist,
7.
Zwangsvollstreckungsverfahren oder
8.
Verfahren der Vollstreckbarerklärung oder zur Vornahme richterlicher Handlungen im Schiedsverfahren;
dabei genügt es, wenn nur einer von mehreren Ansprüchen die Voraussetzungen erfüllt. Wenn das Verfahren besonderer Beschleunigung bedarf, ist dem Verlegungsantrag nicht zu entsprechen.

(4) Über die Aufhebung sowie Verlegung eines Termins entscheidet der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung; über die Vertagung einer Verhandlung entscheidet das Gericht. Die Entscheidung ist kurz zu begründen. Sie ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. August 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit sind Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

2

Der 1961 geborene Kläger beantragte anlässlich der Ableistung einer Ersatzfreiheitsstrafe die Übernahme der Kosten zum Erhalt seiner Wohnung im Zuständigkeitsbereich des Beklagten für den Zeitraum vom 1.10.2015 bis 15.3.2016. Dies lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 21.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 22.1.2016). Die Klage ist in erster Instanz ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 13.6.2016).

3

Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter, dem die Berufung übertragen worden war (Beschluss vom 13.7.2016), Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 11.8.2016 um 12.15 Uhr bestimmt. Die Anträge des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts sowie auf Erstattung von Fahrtkosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung hat er abgelehnt (Beschlüsse vom 2. und 8.8.2016). Mit Schreiben vom 10.8.2016, beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) per Telefax am 11.8.2016, 8.56 Uhr eingegangen und mit dem Hinweis "Sofort dem Richter vorlegen" versehen, hat der Kläger mitgeteilt, dass er "hinsichtlich seiner akuten Erkrankung (massive Rückenprobleme) nicht zum heutigen Termin erscheinen werde". Ein ärztliches Attest werde zeitnah nachgereicht. Der "ständig fortlaufende Arzt", bei dem er in Behandlung sei, befinde sich derzeit im Urlaub; er müsse deshalb einen anderen Arzt aufsuchen. Es dürfe um Anberaumung eines Ersatztermins gebeten werden. Diesem Schreiben war die erste Seite eines Bescheids über die Feststellung eines Grades der Behinderung von 30 beigefügt. Um 11.01 Uhr desselben Tages übermittelte der Kläger sein Schreiben erneut per Telefax mit dem handschriftlichen Hinweis "Anlage ärztliches Attest". Aus dem beigefügten ärztlichen Attest vom 11.8.2016 ergibt sich, dass der Kläger in regelmäßiger ärztlicher Behandlung stehe und sich zu einer Untersuchung in der Praxis vorgestellt habe. Es werde ärztlicherseits bestätigt, dass er aus gesundheitlichen Gründen den heutigen Termin vor Gericht nicht wahrnehmen könne. Im Termin zur mündlichen Verhandlung, zu dem der Kläger nicht erschienen ist, hat das Gericht ausweislich des Protokolls auf die vom Kläger zugesandten Telefaxe vom 11.8.2016 Bezug genommen und die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 11.8.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es unter anderem ausgeführt, dass dem Antrag auf Verlegung des Termins nicht habe stattgegeben werden müssen.

4

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger Verfahrensfehler geltend. Das LSG habe gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, indem es seinen Antrag auf Terminverlegung nicht vor Verhandlungsbeginn beschieden habe. Das Gericht entscheide grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung. Diesem Grundsatz komme im Berufungsverfahren besondere Bedeutung zu, wenn - wie vorliegend - erstinstanzlich ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden worden sei. Eine entsprechende Entscheidung sei möglich und zumutbar gewesen. Sie sei auch nicht entbehrlich gewesen, denn er - der Kläger - habe einen Antrag auf Terminsaufhebung ausdrücklich gestellt und hierfür gesundheitliche Gründe angegeben. Sofern das LSG in der Urteilsbegründung darauf abgestellt habe, dass er seine Verhandlungsunfähigkeit bzw Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht habe, weil das von ihm vorgelegte Attest von einem Facharzt für Innere Medizin stamme, er aber wegen massiver Rückenprobleme nicht an der Verhandlung habe teilnehmen können, vermöge dies nicht zu überzeugen. Er habe einen Facharzt für Orthopädie nicht kurzfristig aufsuchen können. Die Verhandlungsunfähigkeit habe ihn zudem unvermittelt getroffen.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde, die sich nach entsprechender Prozesserklärung des Klägers nur noch gegen den beklagten Landkreis richtet, ist zulässig; sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, § 62 Sozialgerichtsgesetz, Art 103 Grundgesetz ) den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ( vgl nur BSG SozR 4-1750 § 227 Nr 1 mwN; SozR 3-1750 § 227 Nr 1 mwN; BSG, Urteil vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R) erübrigen sich bei diesem Verfahrensmangel regelmäßig Ausführungen dazu, welches inhaltliche Vorbringen im Einzelnen in Folge der Ablehnung des Verlegungsantrags durch das LSG verhindert worden ist, wenn ein Verfahrensbeteiligter gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Gründe, die ausnahmsweise die Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensmangels der Verletzung des rechtlichen Gehörs für das angefochtene Urteil ausschließen konnten (dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 56; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160a RdNr 16d mwN), sind nicht ersichtlich.

6

Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Das LSG hat mit der Entscheidung über die Berufung des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung am 11.8.2016 dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (§ 62 1. Halbsatz SGG, Art 103 Abs 1 GG).

7

Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Bestandteil des Anspruchs der Beteiligten auf Gewährung des rechtlichen Gehörs in der Form der mündlichen Verhandlung ist daher auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung. Über einen entsprechenden Antrag des verhinderten Beteiligten hat der Vorsitzende (oder das Gericht) zu entscheiden (§ 202 SGG iVm § 227 Abs 4 Zivilprozessordnung). Ein ordnungsgemäß gestellter Verlegungsantrag mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten Terminverlegungsgrund begründet grundsätzlich eine Pflicht des Gerichts zur Terminverlegung (BSG: Urteile vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1; vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - RdNr 16 und vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - RdNr 11; Beschlüsse vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - RdNr 7 und vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B - RdNr 8 ff). Entsprechende Anforderungen an die Verhaltensweise des Gerichts ergeben sich auch aus dem aus Art 2 Abs 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden allgemeinen Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl hierzu etwa BSG, Beschluss vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B; BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6).

8

Vorliegend stellt schon allein die Nichtbescheidung des Verlegungsgesuchs bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung am 11.8.2016 um 12.15 Uhr eine Versagung des rechtlichen Gehörs dar, die das Verfahren in einem wesentlichen Punkt fehlerhaft macht (vgl BSG, Beschluss vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B). Über einen Terminverlegungsantrag muss auch dann noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung entschieden werden, wenn er erst am Tage der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingeht; anderes gilt nur dann, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls ausgeschlossen wäre, dass das Verlegungsgesuch den Richter noch erreichte (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 59; BSG, Beschluss vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B). Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall. Der Antrag ist rechtzeitig - nämlich mehr als drei Stunden vor Beginn der mündlichen Verhandlung - gestellt worden und war dem Gericht ausweislich des Sitzungsprotokolls auch tatsächlich bekannt. Zu dieser Zeit war seine Bescheidung noch möglich; der Kläger hätte über seinen dem Gericht bekannten Telefaxanschluss erreicht werden können.

9

Auch der Sache nach durfte das LSG den Antrag auf Terminverlegung nicht übergehen. Die vom Kläger vorgebrachten Gründe waren in der konkreten Situation als erhebliche iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO anzusehen. Der Kläger hat schriftsätzlich vorgetragen, infolge eingetretener Erkrankung nicht am Termin teilnehmen zu können und überdies zum Ausdruck gebracht, dennoch an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen. Ebenfalls noch rechtzeitig (nämlich mehr als eine Stunde vor der mündlichen Verhandlung; vgl dazu nochmals BSG, Beschluss vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B) hat er überdies von sich aus ein ärztliches Attest mit der Bescheinigung fehlender Fähigkeit zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nachgereicht. Sein Vortrag, aufgrund seiner Erkrankung nicht zum Termin erscheinen zu können, ist damit insgesamt als schlüssig anzusehen. Dies gilt umso mehr, als eine Erkrankung als Verlegungsgrund nicht schon bei Antragstellung zwingend durch Attest glaubhaft zu machen ist; nach § 202 SGG iVm § 227 Abs 2 ZPO hat dies erst auf Verlangen des Vorsitzenden zu erfolgen(vgl BSG, Beschluss vom 7.7.2011 - B 14 AS 35/11 B - RdNr 8). Dass die vom Kläger vorgetragene Erkrankung auch eine chronische ist, schließt die vorgetragene akute Einschränkung nicht aus.

10

Strengere Voraussetzungen bei der Prüfung kurzfristig gestellter Terminverlegungsgesuche hat die höchstrichterliche Rechtsprechung stets auf die Fälle beschränkt, in denen der Kläger anwaltlich vertreten war (so auch im vom LSG zitierten Beschluss des BSG vom 27.5.2014 - B 4 AS 459/13 B). Ist dies nicht der Fall, ist das Gericht auch bei kurzfristig gestellten Anträgen zu einem Hinweis oder zur Aufforderung an den Betroffenen, seinen Vortrag zu ergänzen, oder zu eigenen Nachforschungen verpflichtet (vgl zuletzt BSG: Beschlüsse vom 13.10.2010 - B 6 KA 2/10 B - SozR 4-1500 § 110 Nr 1 - RdNr 13; vom 13.11.2008 - B 13 R 277/08 B - RdNr 17 und vom 21.7.2009 - B 7 AL 9/09 B - RdNr 5; ebenso BFH, Beschluss vom 19.8.2003 - IX B 36/03 - DStRE 2004, 540, 541). Andernfalls hat das Gericht dem Vertagungsantrag, auch wenn er kurz vor dem Termin gestellt worden ist, nachzukommen.

11

Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, das Urteil des LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG wegen des festgestellten Verfahrensmangels aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

12

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Tenor

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 4. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 1. Oktober 2013 wird als unzulässig verworfen.

Die Beigeladene zu 4. hat die Kosten des Klägers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe

1

In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten darüber, ob der Kläger in der Zeit vom 23.12.1994 bis 30.4.1998 in seiner für die damals noch unter "Quattro Kapitalanlagen Vertriebsgesellschaft mbH" firmierenden Beigeladenen zu 4. ausgeübten Tätigkeit der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und im Recht der Arbeitsförderung aufgrund (abhängiger) Beschäftigung unterlag.

2

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 4. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer LSG vom 1.10.2013 ist in entsprechender Anwendung von § 169 S 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen. Die Beigeladene zu 4. hat in der Begründung des Rechtsmittels trotz ihres umfänglichen Vorbringens entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet.

3

Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Die Behauptung, das Berufungsurteil sei inhaltlich unrichtig, kann demgegenüber nicht zur Zulassung der Revision führen (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

4

Die Beigeladene zu 4. beruft sich in ihrer Beschwerdebegründung vom 30.1.2014 auf einen Verfahrensmangel, Divergenz und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

5

1. Ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist der Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens im unmittelbar vorangehenden Rechtszug(vgl zB BSGE 2, 81, 82; 15, 169, 172 = SozR Nr 3 zu § 52 SGG). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann sich der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG stützen. Ferner kann die Geltendmachung eines Verfahrensmangels auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungspflicht) gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Prüfungsmaßstab ist die materiell-rechtliche Rechtsauffassung des LSG (BSG SozR Nr 79 zu § 162 SGG; BSG SozR 1500 § 160 Nr 33). Neben der Geltendmachung des Vorliegens eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht ist mit der Beschwerdebegründung darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verstoß beruhen kann. Ein entscheidungserheblicher Mangel des Berufungsverfahrens wird nur dann substantiiert bezeichnet, wenn der Beschwerdeführer diesen hinsichtlich aller ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegt, sodass das Beschwerdegericht allein anhand dieser Begründung darüber befinden kann, ob die angegriffene Entscheidung des LSG möglicherweise auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht.

6

Die Beigeladene zu 4. rügt in ihrer Beschwerdebegründung (S 9 ff) einen Verstoß der Vorinstanz gegen §§ 151 und 158 SGG. Das LSG habe zu Unrecht in der Sache entschieden. Vielmehr hätte es die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Denn der Kläger habe keine der Schriftformerfordernis des § 151 Abs 1 SGG genügende Berufungsschrift innerhalb der gesetzlichen Frist bei Gericht eingereicht. Das SG-Urteil vom 23.10.2008 sei dem Kläger am 13.11.2008 zugestellt worden. Die vom Kläger einzuhaltende Berufungsfrist habe somit am Montag, dem 15.12.2008, geendet, weil das Fristende (13.12.2008) auf einen Sonnabend gefallen sei (§ 64 Abs 3 SGG). Zwar habe das LSG zutreffend festgestellt, dass durch die E-Mail des Klägers vom 15.12.2008 an das SG die Berufung nicht formwirksam eingelegt worden sei, weil die einfache E-Mail nicht die in § 65a SGG genannten Anforderungen erfülle. Rechtsfehlerhaft sei es allerdings davon ausgegangen, dass das ebenfalls am 15.12.2008 beim SG eingegangene Computerfax des Klägers dem Erfordernis der schriftlichen Form genüge, obwohl es keine eigenständige Unterschrift aufweise. Dem Schriftformerfordernis werde grundsätzlich nur durch die eigenhändige Unterschrift Rechnung getragen. Dem Bedürfnis der Rechtssicherheit könne zwar ausnahmsweise auch auf andere Weise als durch eine eigenständige Unterschrift genügt werden. Dies sei dann der Fall, wenn auf die Urheberschaft und das bewusste in-den-Verkehr-bringen im Einzelfall mittels anderer Umstände geschlossen werden könne. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass sich aus dem bestimmenden Schriftsatz für sich allein oder in Verbindung mit beigefügten Unterlagen ausreichende gewichtige Anhaltspunkte ergäben, aus denen die Urheberschaft und der Wille, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher zu entnehmen sei, ohne dass darüber Beweis erhoben werden müsste (Hinweis auf BSG Urteil vom 6.5.1998 - B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3). Ein solcher Ausnahmefall sei hier jedoch hinsichtlich des Computerfax des Klägers nicht gegeben.

7

Zwar liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, wenn das Berufungsgericht zu Unrecht ein Sachurteil statt eines Prozessurteils nach § 158 S 1 SGG erlassen hat(vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 Nr 19 mwN). Einen solchen Verfahrensfehler hat die Beigeladene zu 4. jedoch nicht entsprechend § 160a Abs 2 S 3 SGG schlüssig bezeichnet. Vielmehr liegt er schon unter Zugrundelegung ihrer eigenen Angaben in der Beschwerdebegründung nicht vor.

8

In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass das Schriftlichkeitserfordernis des § 151 Abs 1 SGG ausnahmsweise auch dann erfüllt sein kann, wenn die Berufungsschrift zwar keine eigenständige Unterschrift enthält, aber sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher, dh ohne die Notwendigkeit einer Klärung durch Beweiserhebung, ergibt(vgl BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 2 S 4; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 3 S 7; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 4 S 11; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 59; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 151 Nr 3a und 3e mwN; vgl auch BVerwG Beschluss vom 30.3.2006 - 8 B 8/06 - NJW 2006, 1989 f).

9

Diese Voraussetzungen für die Annahme des in § 151 Abs 1 SGG normierten Schriftlichkeitserfordernisses trotz Fehlens einer eigenhändigen Unterschrift werden durch den in der Beschwerdebegründung von der Beigeladenen zu 4. wiedergegebenen Sachverhalt selbst dargelegt. Denn die Urheberschaft des Klägers lässt sich vor allem dem Umstand entnehmen, dass das von der Beigeladenen zu 4. ausdrücklich in Bezug genommene Computerfax, das kein elektronisches Dokument iS des § 65a SGG ist(vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 65a RdNr 4 mwN), mit dem "Betreff: Az. S 4 KR 260/01 'Berufung'" die postalische Anschrift und die E-Mail-Adresse des Klägers enthält und die mit diesem Fax eingelegte Berufung mit dem Namen des Klägers abschließt. Zudem hat er durch die Hinzufügung des Hinweises "Dieses Schreiben ist elektronisch erstellt und elektronisch versandt, daher auch ohne Unterschrift gültig" hinreichend deutlich gemacht, dass er aus technischen Gründen auf eine eigenhändige Unterschrift verzichtet hat. Für Letzteres spricht auch der abschließende Hinweis, dass ein unterschriebenes (allerdings nicht zu den Gerichtsakten gelangtes) Exemplar nachgesandt werde. Zwar hat der Kläger im Computerfax ein falsches Urteilsdatum ("11.11.2008" - anstatt zutreffend "23.10.2008") genannt, jedoch hat er das richtige Aktenzeichen des angefochtenen SG-Urteils ("S 4 KR 260/01") mitgeteilt. Darüber hinaus hat der Kläger auf diese besondere Kommunikationsform bereits früher im Gerichtsverfahren zurückgegriffen. Dass der Kläger Berufung einlegen wollte, ergibt sich schließlich auch aus seiner E-Mail an das SG vom selben Tage. Diese Umstände sprechen dagegen, dass die an das SG gerichtete Computerfaxmitteilung nur unbewusst oder versehentlich vom Kläger in den Verkehr gebracht wurde. Soweit die Beigeladene zu 4. meint, das LSG habe diese von ihr in der Beschwerdebegründung wiedergegebenen Umstände im vorliegenden Fall unzutreffend gewürdigt, wendet sie sich im Kern allein gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts (§ 128 Abs 1 S 1 SGG). Hierauf kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde nach der ausdrücklichen Bestimmung in § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nicht gestützt werden.

10

2. Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, nämlich das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt sind. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG eine höchstrichterliche Entscheidung nur unrichtig ausgelegt oder das Recht unrichtig angewandt hat, sondern erst, wenn das LSG Kriterien, die ein in der Norm genanntes Gericht aufgestellt hat, widersprochen, also andere Maßstäbe entwickelt hat. Das LSG weicht damit nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG von einer Entscheidung ua des BSG ab, wenn es einen abstrakten Rechtssatz aufstellt, der einer zu demselben Gegenstand gemachten und fortbestehenden aktuellen abstrakten Aussage des BSG entgegensteht und dem Berufungsurteil tragend zugrunde liegt. Die Beschwerdebegründung muss deshalb aufzeigen, welcher abstrakte Rechtssatz in den genannten höchstrichterlichen Urteilen enthalten ist, und welcher in der instanzabschließenden Entscheidung des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht, und darlegen, dass die Entscheidung hierauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 mwN).

11

a) Die Beigeladene zu 4. behauptet (S 13 f der Beschwerdebegründung), die Entscheidung des LSG beruhe auf folgendem Rechtssatz: "Das Schriftformerfordernis des § 151 SGG sei auch bei fehlender Unterschrift erfüllt, wenn keine Anhaltspunkte vorliegen, dass das Schriftstück nicht vom Kläger stamme oder nicht willentlich von ihm in den Verkehr gebracht wurde." Diese Rechtsauffassung sei mit dem die Urteile des BSG vom 16.11.2000 (B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4) und 6.5.1998 (B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3) tragenden Rechtssatz unvereinbar, dass für die ausnahmsweise Bejahung einer Schriftlichkeit iS des § 151 SGG bei fehlender Unterschrift "ausreichend gewichtige andere Anhaltspunkte vorliegen müssen, aus denen sich eine vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Verkehr zu bringen, ergibt".

12

Damit hat die Beigeladene zu 4. keine entscheidungserhebliche Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG schlüssig aufgezeigt. Denn bereits aus dem Beschwerdevortrag ergibt sich, dass das LSG den ihm von der Beigeladenen zu 4. zugeschriebenen Rechtssatz nicht aufgestellt hat. Das Berufungsgericht hat für die Bejahung der Schriftlichkeit iS des § 151 Abs 1 SGG bei fehlender Unterschrift als nach seiner Rechtsauffassung ausreichend gewichtige andere Anhaltspunkte gewertet, dass - wie die Beigeladene zu 4. selbst vorträgt - es sich bei dem Computerfax um eine für den Kläger durchaus übliche Kommunikationsform gehandelt habe und dass die Computerfaxmitteilung des Klägers das richtige Aktenzeichen des angefochtenen SG-Urteils genannt habe. Sofern die Beigeladene zu 4. meint, diese vom LSG genannten Anhaltspunkte reichten nach der von ihr zitierten BSG-Rechtsprechung nicht aus, um die Formgerechtigkeit einer ohne eigenhändige Unterschrift mittels einer durch ein Computerfax eingelegten Berufung bejahen zu können, rügt sie im Kern die inhaltliche Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung in ihrem Einzelfall. Ihr Vorbringen geht daher über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.

13

b) Weiter trägt die Beigeladene zu 4. auf S 15 f ihrer Beschwerdebegründung vor, das LSG stelle unzutreffend fest, dass der Kläger in der Zeit vom 23.12.1994 bis 30.4.1998 bei der Beigeladenen zu 4. nicht selbstständig tätig gewesen sei. Zur Begründung habe es darauf abgestellt, dass es maßgeblich nicht auf die tatsächlichen Verhältnisse ankomme, sondern auf die rechtlichen Verhältnisse und die den Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Unerheblich sei, ob die Rechtsmacht ausgeübt worden sei. Zwar führe das Berufungsgericht in seinen Entscheidungsgründen aus, dass beim Abweichen der Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen letztere den Ausschlag gäben. Es führe dann allerdings weiter aus, dass maßgeblich jedoch die Rechtsbeziehung sei so wie sie praktiziert werde und die praktizierte Beziehung so wie sie rechtlich zulässig sei. Im Hinblick auf die Rechtsbeziehung sei die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen sei. Zu den tatsächlichen Verhältnissen gehöre also unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht.

14

Damit stelle das LSG - so die Beigeladene zu 4. - sinngemäß den Rechtssatz auf, "dass maßgeblich die Rechtsbeziehung zwischen den Beteiligten ist und nicht die tatsächlichen Verhältnisse sowie die tatsächliche Ausübung eines Rechts". Die Auffassung, dass es maßgeblich auf die rechtlichen Verhältnisse ankomme, widerspreche dem Grundsatz der Beurteilung des Gesamtbilds der Arbeitsleistung sowie des Vorrangs der tatsächlichen Verhältnisse. Die Entscheidung des LSG beruhe daher auf folgendem Rechtssatz: "Maßgeblich ist die dem Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Die rechtlichen Verhältnisse haben generell Vorrang gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen". Diese Rechtsauffassung sei mit dem insbesondere die Urteile des BSG vom 8.12.1987 (7 RAr 25/86), 12.2.2004 (B 12 KR 26/02 R) und 22.6.2005 (B 12 KR 28/03 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 5) tragenden Rechtssatz unvereinbar, "wonach maßgebend für die Beurteilung stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung ist. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben grundsätzlich letztere den Ausschlag".

15

Mit diesem und ihrem weiteren Vortrag unter IV. in ihrer Beschwerdebegründung hat die Beigeladene zu 4. eine entscheidungserhebliche Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG nicht schlüssig dargetan. Sie hat bereits nicht aufgezeigt, dass das LSG überhaupt die ihm "sinngemäß" zugeschriebenen Rechtssätze aufgestellt hat. Denn das Berufungsgericht ist in den Entscheidungsgründen - wie die Beigeladene zu 4. selbst vorträgt - davon ausgegangen, dass "beim Abweichen der Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen letztere den Ausschlag" gäben und dass "zu den tatsächlichen Verhältnissen unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht" gehöre. Schon im Hinblick auf diese Ausführungen des LSG ist die Behauptung der Beigeladenen zu 4., die Vorinstanz habe die von ihr formulierten Rechtssätze aufgestellt, nicht nachvollziehbar. Dies ergibt sich aber auch daraus, dass sich das Berufungsgericht für die von der Beigeladenen zu 4. in ihrer Beschwerdebegründung wiedergegebenen Ausführungen (dort: S 16, 1. Absatz) in seinem Urteil (dort: S 10, 3. Absatz) ausdrücklich auf Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 22.6.2005 - B 12 KR 28/03 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 5 = Juris RdNr 27; Urteil vom 24.1.2007 - B 12 KR 31/06 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 7 = Juris RdNr 17; Urteil vom 29.8.2012 - B 12 KR 25/10 R - BSGE 111, 257 = SozR 4-2400 § 7 Nr 17 = Juris RdNr 16)gestützt und dass es an keiner Stelle in seiner insoweit von der Beigeladenen zu 4. in Bezug genommenen Entscheidung zu erkennen gegeben hat, von diesen Rechtssätzen der zitierten BSG-Rechtsprechung abweichende oder divergierende eigene Rechtssätze aufstellen zu wollen. Auch vor diesem Hintergrund hätte es in der Beschwerdebegründung eingehender Darlegung bedurft, dass die Rechtsauffassung des LSG nicht nur auf einer - im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtlichen - vermeintlich falschen Anwendung der vom BSG aufgestellten Grundsätze zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit im Rahmen des § 7 SGB IV in dem hier vorliegenden konkreten Einzelfall beruht. Dies legt die Beigeladene zu 4. aber nicht dar. Ihr Vorbringen, dass das LSG "vorliegend das Gesamtbild der Arbeitsleistung des Klägers nicht zutreffend gewürdigt" habe, geht deshalb auch hier über eine im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.

16

3. Bei Geltendmachung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) muss die Beschwerdebegründung ausführen, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 60 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16 mwN - stRspr; vgl auch BVerwG NJW 1999, 304 und BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7). Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31).

17

Die Beigeladene zu 4. hält folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam (S 23 der Beschwerdebegründung),

        

"ob bei der Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit bei einem Geschäftsführer und Minderheitsgesellschafter die rechtlichen oder die tatsächlichen Verhältnisse Vorrang haben".

18

Dahingestellt bleiben kann, ob sie damit eine hinreichend konkrete Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG formuliert hat. Denn es fehlt bereits an ausreichenden Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellung. Denn die Beigeladene zu 4. versäumt es, sich mit der umfangreichen und teilweise auch vom LSG in der angefochtenen Entscheidung zitierten Rechtsprechung des BSG zu den Abgrenzungskriterien zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit und zur diesbezüglichen Abwägungsentscheidung auseinanderzusetzen und diese daraufhin zu untersuchen, ob sich aus dieser Rechtsprechung bereits genügend Anhaltspunkte für die Beantwortung der genannten Frage ergeben bzw inwieweit dies nicht der Fall ist (vgl zu diesem Darlegungserfordernis im Rahmen einer Grundsatzrüge allgemein zB BSG Beschluss vom 28.1.2013 - B 12 KR 21/12 B - Juris RdNr 10). Allein der schlichte Hinweis, dass die Frage in der vorliegenden "Ausgestaltung eines Minderheitsgesellschafters" vom BSG noch nicht entschieden worden sei, reicht nicht aus, um (weiteren) höchstrichterlichen Klärungsbedarf darzutun.

19

4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

20

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Tenor

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 4. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 1. Oktober 2013 wird als unzulässig verworfen.

Die Beigeladene zu 4. hat die Kosten des Klägers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe

1

In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten darüber, ob der Kläger in der Zeit vom 23.12.1994 bis 30.4.1998 in seiner für die damals noch unter "Quattro Kapitalanlagen Vertriebsgesellschaft mbH" firmierenden Beigeladenen zu 4. ausgeübten Tätigkeit der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und im Recht der Arbeitsförderung aufgrund (abhängiger) Beschäftigung unterlag.

2

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 4. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer LSG vom 1.10.2013 ist in entsprechender Anwendung von § 169 S 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen. Die Beigeladene zu 4. hat in der Begründung des Rechtsmittels trotz ihres umfänglichen Vorbringens entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet.

3

Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Die Behauptung, das Berufungsurteil sei inhaltlich unrichtig, kann demgegenüber nicht zur Zulassung der Revision führen (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

4

Die Beigeladene zu 4. beruft sich in ihrer Beschwerdebegründung vom 30.1.2014 auf einen Verfahrensmangel, Divergenz und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

5

1. Ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist der Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens im unmittelbar vorangehenden Rechtszug(vgl zB BSGE 2, 81, 82; 15, 169, 172 = SozR Nr 3 zu § 52 SGG). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann sich der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG stützen. Ferner kann die Geltendmachung eines Verfahrensmangels auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungspflicht) gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Prüfungsmaßstab ist die materiell-rechtliche Rechtsauffassung des LSG (BSG SozR Nr 79 zu § 162 SGG; BSG SozR 1500 § 160 Nr 33). Neben der Geltendmachung des Vorliegens eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht ist mit der Beschwerdebegründung darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verstoß beruhen kann. Ein entscheidungserheblicher Mangel des Berufungsverfahrens wird nur dann substantiiert bezeichnet, wenn der Beschwerdeführer diesen hinsichtlich aller ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegt, sodass das Beschwerdegericht allein anhand dieser Begründung darüber befinden kann, ob die angegriffene Entscheidung des LSG möglicherweise auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht.

6

Die Beigeladene zu 4. rügt in ihrer Beschwerdebegründung (S 9 ff) einen Verstoß der Vorinstanz gegen §§ 151 und 158 SGG. Das LSG habe zu Unrecht in der Sache entschieden. Vielmehr hätte es die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Denn der Kläger habe keine der Schriftformerfordernis des § 151 Abs 1 SGG genügende Berufungsschrift innerhalb der gesetzlichen Frist bei Gericht eingereicht. Das SG-Urteil vom 23.10.2008 sei dem Kläger am 13.11.2008 zugestellt worden. Die vom Kläger einzuhaltende Berufungsfrist habe somit am Montag, dem 15.12.2008, geendet, weil das Fristende (13.12.2008) auf einen Sonnabend gefallen sei (§ 64 Abs 3 SGG). Zwar habe das LSG zutreffend festgestellt, dass durch die E-Mail des Klägers vom 15.12.2008 an das SG die Berufung nicht formwirksam eingelegt worden sei, weil die einfache E-Mail nicht die in § 65a SGG genannten Anforderungen erfülle. Rechtsfehlerhaft sei es allerdings davon ausgegangen, dass das ebenfalls am 15.12.2008 beim SG eingegangene Computerfax des Klägers dem Erfordernis der schriftlichen Form genüge, obwohl es keine eigenständige Unterschrift aufweise. Dem Schriftformerfordernis werde grundsätzlich nur durch die eigenhändige Unterschrift Rechnung getragen. Dem Bedürfnis der Rechtssicherheit könne zwar ausnahmsweise auch auf andere Weise als durch eine eigenständige Unterschrift genügt werden. Dies sei dann der Fall, wenn auf die Urheberschaft und das bewusste in-den-Verkehr-bringen im Einzelfall mittels anderer Umstände geschlossen werden könne. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass sich aus dem bestimmenden Schriftsatz für sich allein oder in Verbindung mit beigefügten Unterlagen ausreichende gewichtige Anhaltspunkte ergäben, aus denen die Urheberschaft und der Wille, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher zu entnehmen sei, ohne dass darüber Beweis erhoben werden müsste (Hinweis auf BSG Urteil vom 6.5.1998 - B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3). Ein solcher Ausnahmefall sei hier jedoch hinsichtlich des Computerfax des Klägers nicht gegeben.

7

Zwar liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, wenn das Berufungsgericht zu Unrecht ein Sachurteil statt eines Prozessurteils nach § 158 S 1 SGG erlassen hat(vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 Nr 19 mwN). Einen solchen Verfahrensfehler hat die Beigeladene zu 4. jedoch nicht entsprechend § 160a Abs 2 S 3 SGG schlüssig bezeichnet. Vielmehr liegt er schon unter Zugrundelegung ihrer eigenen Angaben in der Beschwerdebegründung nicht vor.

8

In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass das Schriftlichkeitserfordernis des § 151 Abs 1 SGG ausnahmsweise auch dann erfüllt sein kann, wenn die Berufungsschrift zwar keine eigenständige Unterschrift enthält, aber sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher, dh ohne die Notwendigkeit einer Klärung durch Beweiserhebung, ergibt(vgl BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 2 S 4; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 3 S 7; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 4 S 11; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 59; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 151 Nr 3a und 3e mwN; vgl auch BVerwG Beschluss vom 30.3.2006 - 8 B 8/06 - NJW 2006, 1989 f).

9

Diese Voraussetzungen für die Annahme des in § 151 Abs 1 SGG normierten Schriftlichkeitserfordernisses trotz Fehlens einer eigenhändigen Unterschrift werden durch den in der Beschwerdebegründung von der Beigeladenen zu 4. wiedergegebenen Sachverhalt selbst dargelegt. Denn die Urheberschaft des Klägers lässt sich vor allem dem Umstand entnehmen, dass das von der Beigeladenen zu 4. ausdrücklich in Bezug genommene Computerfax, das kein elektronisches Dokument iS des § 65a SGG ist(vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 65a RdNr 4 mwN), mit dem "Betreff: Az. S 4 KR 260/01 'Berufung'" die postalische Anschrift und die E-Mail-Adresse des Klägers enthält und die mit diesem Fax eingelegte Berufung mit dem Namen des Klägers abschließt. Zudem hat er durch die Hinzufügung des Hinweises "Dieses Schreiben ist elektronisch erstellt und elektronisch versandt, daher auch ohne Unterschrift gültig" hinreichend deutlich gemacht, dass er aus technischen Gründen auf eine eigenhändige Unterschrift verzichtet hat. Für Letzteres spricht auch der abschließende Hinweis, dass ein unterschriebenes (allerdings nicht zu den Gerichtsakten gelangtes) Exemplar nachgesandt werde. Zwar hat der Kläger im Computerfax ein falsches Urteilsdatum ("11.11.2008" - anstatt zutreffend "23.10.2008") genannt, jedoch hat er das richtige Aktenzeichen des angefochtenen SG-Urteils ("S 4 KR 260/01") mitgeteilt. Darüber hinaus hat der Kläger auf diese besondere Kommunikationsform bereits früher im Gerichtsverfahren zurückgegriffen. Dass der Kläger Berufung einlegen wollte, ergibt sich schließlich auch aus seiner E-Mail an das SG vom selben Tage. Diese Umstände sprechen dagegen, dass die an das SG gerichtete Computerfaxmitteilung nur unbewusst oder versehentlich vom Kläger in den Verkehr gebracht wurde. Soweit die Beigeladene zu 4. meint, das LSG habe diese von ihr in der Beschwerdebegründung wiedergegebenen Umstände im vorliegenden Fall unzutreffend gewürdigt, wendet sie sich im Kern allein gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts (§ 128 Abs 1 S 1 SGG). Hierauf kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde nach der ausdrücklichen Bestimmung in § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nicht gestützt werden.

10

2. Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, nämlich das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt sind. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG eine höchstrichterliche Entscheidung nur unrichtig ausgelegt oder das Recht unrichtig angewandt hat, sondern erst, wenn das LSG Kriterien, die ein in der Norm genanntes Gericht aufgestellt hat, widersprochen, also andere Maßstäbe entwickelt hat. Das LSG weicht damit nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG von einer Entscheidung ua des BSG ab, wenn es einen abstrakten Rechtssatz aufstellt, der einer zu demselben Gegenstand gemachten und fortbestehenden aktuellen abstrakten Aussage des BSG entgegensteht und dem Berufungsurteil tragend zugrunde liegt. Die Beschwerdebegründung muss deshalb aufzeigen, welcher abstrakte Rechtssatz in den genannten höchstrichterlichen Urteilen enthalten ist, und welcher in der instanzabschließenden Entscheidung des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht, und darlegen, dass die Entscheidung hierauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 mwN).

11

a) Die Beigeladene zu 4. behauptet (S 13 f der Beschwerdebegründung), die Entscheidung des LSG beruhe auf folgendem Rechtssatz: "Das Schriftformerfordernis des § 151 SGG sei auch bei fehlender Unterschrift erfüllt, wenn keine Anhaltspunkte vorliegen, dass das Schriftstück nicht vom Kläger stamme oder nicht willentlich von ihm in den Verkehr gebracht wurde." Diese Rechtsauffassung sei mit dem die Urteile des BSG vom 16.11.2000 (B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4) und 6.5.1998 (B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3) tragenden Rechtssatz unvereinbar, dass für die ausnahmsweise Bejahung einer Schriftlichkeit iS des § 151 SGG bei fehlender Unterschrift "ausreichend gewichtige andere Anhaltspunkte vorliegen müssen, aus denen sich eine vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Verkehr zu bringen, ergibt".

12

Damit hat die Beigeladene zu 4. keine entscheidungserhebliche Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG schlüssig aufgezeigt. Denn bereits aus dem Beschwerdevortrag ergibt sich, dass das LSG den ihm von der Beigeladenen zu 4. zugeschriebenen Rechtssatz nicht aufgestellt hat. Das Berufungsgericht hat für die Bejahung der Schriftlichkeit iS des § 151 Abs 1 SGG bei fehlender Unterschrift als nach seiner Rechtsauffassung ausreichend gewichtige andere Anhaltspunkte gewertet, dass - wie die Beigeladene zu 4. selbst vorträgt - es sich bei dem Computerfax um eine für den Kläger durchaus übliche Kommunikationsform gehandelt habe und dass die Computerfaxmitteilung des Klägers das richtige Aktenzeichen des angefochtenen SG-Urteils genannt habe. Sofern die Beigeladene zu 4. meint, diese vom LSG genannten Anhaltspunkte reichten nach der von ihr zitierten BSG-Rechtsprechung nicht aus, um die Formgerechtigkeit einer ohne eigenhändige Unterschrift mittels einer durch ein Computerfax eingelegten Berufung bejahen zu können, rügt sie im Kern die inhaltliche Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung in ihrem Einzelfall. Ihr Vorbringen geht daher über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.

13

b) Weiter trägt die Beigeladene zu 4. auf S 15 f ihrer Beschwerdebegründung vor, das LSG stelle unzutreffend fest, dass der Kläger in der Zeit vom 23.12.1994 bis 30.4.1998 bei der Beigeladenen zu 4. nicht selbstständig tätig gewesen sei. Zur Begründung habe es darauf abgestellt, dass es maßgeblich nicht auf die tatsächlichen Verhältnisse ankomme, sondern auf die rechtlichen Verhältnisse und die den Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Unerheblich sei, ob die Rechtsmacht ausgeübt worden sei. Zwar führe das Berufungsgericht in seinen Entscheidungsgründen aus, dass beim Abweichen der Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen letztere den Ausschlag gäben. Es führe dann allerdings weiter aus, dass maßgeblich jedoch die Rechtsbeziehung sei so wie sie praktiziert werde und die praktizierte Beziehung so wie sie rechtlich zulässig sei. Im Hinblick auf die Rechtsbeziehung sei die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen sei. Zu den tatsächlichen Verhältnissen gehöre also unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht.

14

Damit stelle das LSG - so die Beigeladene zu 4. - sinngemäß den Rechtssatz auf, "dass maßgeblich die Rechtsbeziehung zwischen den Beteiligten ist und nicht die tatsächlichen Verhältnisse sowie die tatsächliche Ausübung eines Rechts". Die Auffassung, dass es maßgeblich auf die rechtlichen Verhältnisse ankomme, widerspreche dem Grundsatz der Beurteilung des Gesamtbilds der Arbeitsleistung sowie des Vorrangs der tatsächlichen Verhältnisse. Die Entscheidung des LSG beruhe daher auf folgendem Rechtssatz: "Maßgeblich ist die dem Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Die rechtlichen Verhältnisse haben generell Vorrang gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen". Diese Rechtsauffassung sei mit dem insbesondere die Urteile des BSG vom 8.12.1987 (7 RAr 25/86), 12.2.2004 (B 12 KR 26/02 R) und 22.6.2005 (B 12 KR 28/03 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 5) tragenden Rechtssatz unvereinbar, "wonach maßgebend für die Beurteilung stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung ist. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben grundsätzlich letztere den Ausschlag".

15

Mit diesem und ihrem weiteren Vortrag unter IV. in ihrer Beschwerdebegründung hat die Beigeladene zu 4. eine entscheidungserhebliche Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG nicht schlüssig dargetan. Sie hat bereits nicht aufgezeigt, dass das LSG überhaupt die ihm "sinngemäß" zugeschriebenen Rechtssätze aufgestellt hat. Denn das Berufungsgericht ist in den Entscheidungsgründen - wie die Beigeladene zu 4. selbst vorträgt - davon ausgegangen, dass "beim Abweichen der Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen letztere den Ausschlag" gäben und dass "zu den tatsächlichen Verhältnissen unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht" gehöre. Schon im Hinblick auf diese Ausführungen des LSG ist die Behauptung der Beigeladenen zu 4., die Vorinstanz habe die von ihr formulierten Rechtssätze aufgestellt, nicht nachvollziehbar. Dies ergibt sich aber auch daraus, dass sich das Berufungsgericht für die von der Beigeladenen zu 4. in ihrer Beschwerdebegründung wiedergegebenen Ausführungen (dort: S 16, 1. Absatz) in seinem Urteil (dort: S 10, 3. Absatz) ausdrücklich auf Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 22.6.2005 - B 12 KR 28/03 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 5 = Juris RdNr 27; Urteil vom 24.1.2007 - B 12 KR 31/06 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 7 = Juris RdNr 17; Urteil vom 29.8.2012 - B 12 KR 25/10 R - BSGE 111, 257 = SozR 4-2400 § 7 Nr 17 = Juris RdNr 16)gestützt und dass es an keiner Stelle in seiner insoweit von der Beigeladenen zu 4. in Bezug genommenen Entscheidung zu erkennen gegeben hat, von diesen Rechtssätzen der zitierten BSG-Rechtsprechung abweichende oder divergierende eigene Rechtssätze aufstellen zu wollen. Auch vor diesem Hintergrund hätte es in der Beschwerdebegründung eingehender Darlegung bedurft, dass die Rechtsauffassung des LSG nicht nur auf einer - im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtlichen - vermeintlich falschen Anwendung der vom BSG aufgestellten Grundsätze zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit im Rahmen des § 7 SGB IV in dem hier vorliegenden konkreten Einzelfall beruht. Dies legt die Beigeladene zu 4. aber nicht dar. Ihr Vorbringen, dass das LSG "vorliegend das Gesamtbild der Arbeitsleistung des Klägers nicht zutreffend gewürdigt" habe, geht deshalb auch hier über eine im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus.

16

3. Bei Geltendmachung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) muss die Beschwerdebegründung ausführen, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 60 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16 mwN - stRspr; vgl auch BVerwG NJW 1999, 304 und BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7). Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31).

17

Die Beigeladene zu 4. hält folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam (S 23 der Beschwerdebegründung),

        

"ob bei der Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit bei einem Geschäftsführer und Minderheitsgesellschafter die rechtlichen oder die tatsächlichen Verhältnisse Vorrang haben".

18

Dahingestellt bleiben kann, ob sie damit eine hinreichend konkrete Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG formuliert hat. Denn es fehlt bereits an ausreichenden Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellung. Denn die Beigeladene zu 4. versäumt es, sich mit der umfangreichen und teilweise auch vom LSG in der angefochtenen Entscheidung zitierten Rechtsprechung des BSG zu den Abgrenzungskriterien zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit und zur diesbezüglichen Abwägungsentscheidung auseinanderzusetzen und diese daraufhin zu untersuchen, ob sich aus dieser Rechtsprechung bereits genügend Anhaltspunkte für die Beantwortung der genannten Frage ergeben bzw inwieweit dies nicht der Fall ist (vgl zu diesem Darlegungserfordernis im Rahmen einer Grundsatzrüge allgemein zB BSG Beschluss vom 28.1.2013 - B 12 KR 21/12 B - Juris RdNr 10). Allein der schlichte Hinweis, dass die Frage in der vorliegenden "Ausgestaltung eines Minderheitsgesellschafters" vom BSG noch nicht entschieden worden sei, reicht nicht aus, um (weiteren) höchstrichterlichen Klärungsbedarf darzutun.

19

4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

20

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. November 2015 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. In der Sache stritten die Beteiligten über das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld wegen des Eintritts einer Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe in der Zeit vom 28.4.2011 bis 20.7.2011; zuletzt ist die Zulässigkeit der Einlegung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Cottbus streitig gewesen.

2

Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG als unzulässig verworfen (Beschluss vom 10.11.2015). Die durch Computerfax mit eingescannter Unterschrift eingelegte Berufung entspreche nicht dem Schriftformerfordernis des § 151 Abs 1 SGG. Diese Form solle gewährleisten, dass dem Schriftstück hinreichend zuverlässig entnommen werden könne, wer dessen Urheber sei, und dass das Dokument dem Gericht mit Wissen und Wollen des Urhebers zugeleitet worden sei. Hieran fehle es, weil eine zweifelsfreie Zuordnung des Dokuments wegen einer Vielzahl der vom Bevollmächtigten verwendeten Unterschriften nicht möglich sei. Auch sei zweifelhaft, ob der Bevollmächtigte die Absendung des Computerfaxes selbst veranlasst habe.

3

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger einen Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne. Zu Unrecht habe das LSG die mit Computerfax und eingescannter Unterschrift eingelegte Berufung als unwirksam angesehen. In Wirklichkeit seien Zweifel an der Echtheit der Unterschrift nicht gegeben. Die Ausführung zur Arbeitsbelastung des Bevollmächtigten und die Behauptung, dieser verwende vier "erheblich divergierende" Unterschriften, werde bestritten. Das LSG habe insoweit auf die seine Zweifel begründenden Umstände nicht hingewiesen, er habe sich dazu nicht äußern können. Ein weiterer Verfahrensfehler liege darin, dass das LSG dem Antrag vom 30.10.2015 auf Verlegung des Termins am 10.11.2015 nicht nachgekommen sei, obwohl der Bevollmächtigte arbeitsunfähig und sein "avisierter" Vertreter durch einen anderen Termin verhindert gewesen sei.

4

II. Die Beschwerde ist zulässig. Die fristgerecht eingelegte Beschwerde genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG, denn sie bezeichnet substantiiert die Tatsachen(vgl dazu BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36), aus denen sich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 128 Abs 2 SGG) ergeben kann.

5

Die Beschwerde ist begründet, denn die gerügte Verletzung des § 128 Abs 2 SGG liegt vor. Das LSG hat sein Urteil auf Tatsachen und Ergebnisse gestützt, zu denen sich der Kläger nicht äußern konnte. Das Urteil kann auf diesem Mangel auch beruhen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

6

Die elektronische Übertragung einer Textdatei per Computerfax mit eingescannter Unterschrift ist grundsätzlich ein zulässiger Weg, die Berufung "schriftlich" iS des § 151 Abs 1 SGG einzulegen. Die Erfüllung des Formerfordernisses mittels eingescannter Unterschrift stellt dabei eine Ausnahme von dem im Übrigen weiterhin bestehenden Erfordernis dar, dass ein bestimmender Schriftsatz eigenhändig unterschrieben sein muss (dazu BVerfG Beschluss vom 18.4.2007 - 1 BvR 110/07 - NJW 2007, 3117; GmSOGB vom 5.4.2000, GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, 164 f; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 151 RdNr 4, 5). Solche Formerfordernisse dienen der Rechtssicherheit und stellen eine verfassungsrechtlich zulässige Anforderung rechtsstaatlicher Verfahrensordnungen dar (BVerfG Beschluss vom 4.7.2002 - 2 BvR 2168/00 - NJW 2002, 3534). Deshalb wird im Falle der Einlegung einer Berufung durch Computerfax mit eingescannter Unterschrift (ergänzend) auch verlangt, dass sich aus dem Schriftstück selbst oder seinen Begleitumständen keine Zweifel an der Urheberschaft des Unterzeichners oder seinem Willen ergeben dürfen, das Schriftstück in den Verkehr zu bringen (stRspr; GmSOGB vom 5.4.2000, GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, 162; BFH vom 22.6.2010 - VIII R 38/08 - BFHE 230, 115; BVerfG Beschluss vom 4.7.2002 - 2 BvR 2168/00 - NJW 2002, 3534, juris RdNr 23).

7

Von diesen Maßstäben ausgehend trifft die Rüge des Klägers, es entspräche der langjährigen Entwicklung der Rechtsprechung, "… die Übermittlung bestimmender Schriftsätze auch durch elektronische Übertragung einer Textdatei mit eingescannter Unterschrift … zuzulassen", in der Allgemeinheit nicht zu. Auch die Schlussfolgerung, eine Verpflichtung zur Wahrung der Schriftform bestehe nicht, lässt sich mit diesen Vorgaben nicht vereinbaren.

8

Vorliegend hat das LSG aber den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Um das rechtliche Gehör zu wahren, darf das Gericht seine Entscheidung nicht auf Tatsachen oder Beweisergebnisse stützen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG; dazu auch BVerfGE 86, 133, 144 f; BSG Beschluss vom 2.12.2015 - B 9 V 12/15 B). Bei den Umständen, die die Zweifel des LSG an der Urheberschaft des Bevollmächtigten oder seinem Willen, die Berufungsschrift in Verkehr zu bringen, begründen können, handelt es sich um (prozessuale) Tatsachen. Ob sie vorliegen, ist ggf im Wege des Freibeweises zu klären (BGH vom 24.7.2001 - VIII ZR 58/01 - juris RdNr 7). Diese Anforderungen sind vorliegend nicht erfüllt.

9

Zwar hatte das LSG den Kläger auf einen möglichen Formmangel der Berufungsschrift hingewiesen. Hierauf hat der Bevollmächtigte reagiert und mitgeteilt, die Einlegung der Berufung per Computerfax mit eingescannter Unterschrift sei nach der Rechtsprechung zulässig. Das LSG hat darauf nicht mehr reagiert und hatte den Kläger auch nicht zuvor schon auf die Tatsachen hingewiesen, auf die es seine "Zweifel" stützte. Das LSG hat angenommen, der Bevollmächtigte des Klägers sei zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung möglicherweise ortsabwesend gewesen, er verwende mehrere voneinander abweichende Unterschriften, der Schriftsatz sei möglicherweise durch seine Mitarbeiter und ohne sein Zutun versandt worden.

10

Der Hinweis des LSG auf seine "Zweifel" an Urheberschaft oder Verbreitungswillen und die diese Zweifel begründenden Tatsachen ist auch nicht entbehrlich gewesen. Der Kläger musste als gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem Hinweis des LSG auf mangelnde Schriftform nicht damit rechnen, das LSG könne die fehlende Einhaltung der Schriftform mit Zweifeln an Urheberschaft oder Verbreitungswillen des Bevollmächtigten begründen. Da die Einlegung eines Rechtsmittels per Computerfax mit eingescannter Unterschrift wahrt, und soweit sich "keine Zweifel" an der Urheberschaft des Unterzeichners oder seinem Willen ergeben, muss das LSG - wenn es sich auf diese Rückausnahme stützt - einen Hinweis geben, damit der Kläger ggf sich zu diesen Tatsachen äußern kann. Das LSG hat den Kläger nicht nur nicht auf die Umstände hingewiesen, die die Zweifel an Urheberschaft oder Verbreitungswillen des Bevollmächtigten begründeten, es hat auch auf die Quellen seiner Erkenntnisse nicht hingewiesen und diese nicht in den Rechtsstreit eingeführt. Eine Verletzung des § 128 Abs 2 SGG liegt damit vor.

11

Das Urteil des LSG kann auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger sich bei Wahrung des rechtlichen Gehörs geäußert und die Zweifel des LSG - ggf nach Ermittlungen - ausgeräumt hätte. Soweit der Kläger weitere Verfahrensmängel rügt, kann der Senat deren Vorliegen dahinstehen lassen.

12

Der Senat macht von dem ihm durch § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, dass das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses zurückverwiesen wird.

13

Das LSG wird in der abschließenden Kostenentscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entschieden haben.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Ein Beteiligter ist prozeßfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann.

(2) Minderjährige sind in eigener Sache prozeßfähig, soweit sie durch Vorschriften des bürgerlichen oder öffentlichen Rechts für den Gegenstand des Verfahrens als geschäftsfähig anerkannt sind. Zur Zurücknahme eines Rechtsbehelfs bedürfen sie der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters.

(3) Für rechtsfähige und nichtrechtsfähige Personenvereinigungen sowie für Behörden handeln ihre gesetzlichen Vertreter und Vorstände.

(4) Für Entscheidungsgremien im Sinne von § 70 Nr. 4 handelt der Vorsitzende.

(5) In Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts wird das Land durch das Landesversorgungsamt oder nach Maßgabe des Landesrechts durch die Stelle vertreten, der dessen Aufgaben übertragen worden sind oder die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes oder des Rechts der Teilhabe behinderter Menschen zuständig ist.

(6) Die §§ 53 bis 56 der Zivilprozeßordnung gelten entsprechend.

Geschäftsunfähig ist:

1.
wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat,
2.
wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 29. Juli 2014 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten über den versicherungsrechtlichen Status des Klägers in der gesetz-lichen Krankenversicherung im Zeitraum vom 21.7.2001 bis 30.6.2004. Der am 1947 geborene Kläger war seit 1973 als Zahnarzt und seit 1991 in eigener Praxis selbstständig tätig. Der Kläger gab seine Praxis 2004 aus gesundheitlichen Gründen auf und bezog Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Höhe von ca 2000 Euro monatlich. Hintergrund des Streits der Beteiligten sind Beitragsforderungen der Beklagten in Höhe von ca 19 500 Euro (Stand: Juli 2011) inkl Säumniszuschlägen; der Kläger begehrt außerdem weitere Krankengeldzahlungen.

2

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, dass das LSG den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß ermittelt habe. Er regt die Bestellung eines besonderen Vertreters an.

3

II. 1. Die Beschwerde ist unzulässig, da sie nicht von einem gemäß § 73 Abs 4 SGG vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt worden ist. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG vom 29.7.2014 hat der Kläger mit einem von ihm unterzeichneten Schreiben vom 4.9.2014 Beschwerde eingelegt. Das Urteil des LSG ist ihm am 11.8.2014 zugestellt worden. Auf das Erfordernis, sich vor dem BSG durch einen der in § 73 Abs 4 SGG aufgeführten Prozessbevollmächtigten vertreten zu lassen(zur Verfassungsmäßigkeit vgl BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 13 mwN), ist der Kläger in der Rechtsmittelbelehrung des LSG-Urteils und mit Schreiben des Senats vom 10.9.2014, 8.1.2015 und 30.6.2017 hingewiesen worden. In diversen Verfahren vor dem BSG, auch in Verfahren gegen die Nichtzulassung der Revision (zB B 6 KA 19/14 B, B 6 KA 22/13 B, B 6 KA 23/13 B), hat der Kläger einen Bevollmächtigten beauftragt. Der Senat geht nach Auswertung der diversen beigezogenen medizinischen Unterlagen davon aus, dass der Kläger prozessfähig und insbesondere in der Lage ist, wirksam einen Anwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen.

4

Ein besonderer Vertreter war nicht zu bestellen. Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Die vorliegenden Unterlagen rechtfertigen nicht die Annahme, dass der Kläger prozessunfähig ist. Prozessunfähig sind gemäß § 71 Abs 1 SGG Personen, die sich nicht durch Verträge verpflichten können, die also nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB sind(BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 64). Das ist nach § 104 Nr 2 BGB der Fall, wenn sich eine Person in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet; dies gilt auch bei fortschreitender Demenz (Palandt/Ellenberger, BGB, 76. Aufl 2017, § 104 RdNr 5). Diese sehr strengen Voraussetzungen für die Annahme von Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit sind zu verneinen. Hierbei musste sich der Senat auf die beigezogenen medizinischen Unterlagen beschränken, denn der Kläger selbst hat auf Hinweis im vorliegenden Verfahren sinngemäß erklärt, dass er eine weitere Begutachtung ablehne. Weitere Sachverhaltsermittlungen von Amts wegen kommen in dieser Situation nicht in Betracht.

5

Die den Kläger behandelnden Ärzte beschreiben ihn zwar teilweise als verhandlungsunfähig, da die ständige Konfrontation mit den gerichtlichen Streitverfahren, insbesondere im Rahmen einer mündlichen Verhandlung, zu einer Verschlechterung der Depression führen könnte. Auch in dem vom Senat eingeholten Befundbericht des Dr. A. vom 30.3.2015 wird dem Kläger eine Verhandlungsunfähigkeit attestiert. Der Kläger konnte sich jedoch im Rahmen der durchgeführten Begutachtungen verbal ausdrücken und war orientiert zu Raum und Zeit. Er konnte sich um seine Angelegenheiten kümmern oder sich Hilfe Dritter bedienen, zB Rechtsanwälte beauftragen. Aus diesem Grund wurde auch die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt (Gutachten Dr. G. vom 25.9.2010). Der Auszug seiner Ehefrau hatte die psychische Situation verschlechtert und die Depression chronifiziert. Ausweislich der vorliegenden Gutachten aus dem Verfahren B 9 SB 84/15 B (aus den Jahren 2011 bis 2013) leidet der Kläger an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen nebst einer Antriebsstörung; es besteht eine Grübelsymptomatik. Wahnwahrnehmungen, Halluzinationen oder sonstiges psychotisches Erleben liegen nicht vor. Zudem liegt eine Schmerzsymptomatik vor. Der Kläger zeigte außerdem eine Verwahrlosungstendenz, da auch dementielle Zustände hinzugetreten waren. Die beschriebenen Symptome bei Depression und Schmerzstörung begründen keine Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit, denn aus ihnen ergibt sich nicht, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Sie belegen lediglich eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit und das Erfordernis, dass der Kläger sich der Hilfe Dritter bedient. In diesem Kontext ist auch das dem Kläger durch Bescheid vom 17.4.2015 ab 30.12.2013 zuerkannte Merkzeichen "H" zu sehen. Als "hilflos" ist in diesem Zusammenhang derjenige anzusehen, der infolge von Gesundheitsstörungen - nach Teil 2 SGB IX und dem Einkommensteuergesetz - "nicht nur vorübergehend" - für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Häufig und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages sind insbesondere An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Verrichten der Notdurft.

6

Außerdem sind notwendige körperliche Bewegung, geistige Anregung und Möglichkeiten zur Kommunikation zu berücksichtigen (vgl Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2008 Nr 21; Teil A Nr 4 Buchst c Anl zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung). Hilflosigkeit nach Teil 2 SGB IX zwingt daher nicht automatisch zur Annahme von Prozessunfähigkeit. Aus der zuletzt vom Kläger vorgelegten Anlage zum Protokoll Pflegeeinsatz nach § 37 Abs 3 SGB XI vom 13.2.2017 ergibt sich, dass der Kläger aktuell an Depressionen, Neuropathie, M. Parkinson und Fibromyalgie leidet. Die Anlage zeigt allenfalls eine Verschlechterung des körperlichen Gesundheitszustandes des zwischenzeitlich siebzigjährigen Klägers auf, jedoch keine Verschlechterung seines geistigen Gesundheitszustandes. Zudem belegt der darin ausdrücklich attestierte Wunsch des Klägers, sein Haus behindertengerecht umzubauen, dass er durchaus zu vernünftigen Erwägungen in der Lage ist. Eine Betreuung wurde bis heute nicht eingerichtet. Aus dem Umstand, dass der Kläger offenbar - ggf mit selbst organisierter Hilfe - seine gesamten wirtschaftlichen Angelegenheiten nach wie vor eigenständig regelt und mit dem Gericht zu korrespondieren in der Lage ist, darf unter Berücksichtigung der oben erwähnten medizinischen Stellungnahmen geschlossen werden, dass der Kläger zwar psychisch erkrankt ist, damit die Schwelle zur Prozessunfähigkeit entgegen der aktuellen Beurteilung seiner "Helfer" im Schreiben vom 23.7.2017 jedoch nicht erreicht ist.

7

Die von dem Kläger selbst eingelegte Beschwerde ist somit gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen.

8

2. Der konkludent gestellte Prozesskostenhilfeantrag hat keinen Erfolg. Voraussetzung für die Bewilligung von PKH und die damit verbundene Beiordnung eines Rechtsanwalts ist nach der Rechtsprechung sowohl des BSG als auch der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ua, dass nicht nur der (grundsätzlich formlose) Antrag auf PKH, sondern auch die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der für diese gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 117 Abs 2 und 4 ZPO), dh mit dem gemäß § 117 Abs 3 ZPO durch die Prozesskostenhilfeformularverordnung vom 6.1.2014 (BGBl I 34) in neuer Fassung eingeführten Formular, bis zum Ablauf der Beschwerdefrist eingereicht wird (vgl BSG SozR 1750 § 117 Nr 1 und 3; BVerfG SozR 1750 § 117 Nr 2 und 6; BVerfG NJW 2000, 3344). Der Kläger hat zwar zwischenzeitlich am 31.7.2017 ein solches Formular vorgelegt, jedoch sind die enthaltenen Angaben zum einen veraltet und zum anderen wurden keine Belege beigefügt. Der Kläger hat damit seine Bedürftigkeit nicht dargetan. Die Angaben in dem Formular über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aus dem Jahr 2009 reichen nicht aus, um eine gegenwärtige Bedürftigkeit darzulegen. Sie belegen darüber hinaus auch keine Bedürftigkeit, denn der Kläger gab im Jahr 2009 Einnahmen in Höhe von monatlich ca 2000 Euro an. Die Angabe, er zahle Darlehensraten in Höhe von ca 1500 Euro monatlich, ist ohne weitere Belege und Erläuterungen weder plausibel noch ist ein solcher Betrag ohne Weiteres als Abzugsposten berücksichtigungsfähig. Soweit in dem vom Kläger unterzeichneten Schreiben vom 23.7.2017, das offenbar von seinen "Helfern" entworfen wurde, ausgeführt wird, der Kläger sei "krankheitsbedingt" nicht in der Lage, aktuelle Angaben zu machen, ist dies weder glaubhaft gemacht noch angesichts seines aktuellen Bemühens um einen behindertengerechten Umbau seines Hauses nachvollziehbar. Ein besonderer Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG, dessen Rechte nicht denen eines Betreuers entsprechen, sondern die auf die Führung der Prozesse und die damit verbundenen Handlungen beschränkt sind, könnte - entgegen der Ansicht des Klägers - die Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht für diesen abgeben, da er nicht in der Lage ist, sich die erforderlichen Informationen zu verschaffen. Darüber hinaus fehlt es aber nach dem oben Gesagten ohnehin an den Voraussetzungen des § 72 Abs 1 SGG.

9

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

(1) Für einen nicht prozeßfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter kann der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen.

(2) Die Bestellung eines besonderen Vertreters ist mit Zustimmung des Beteiligten oder seines gesetzlichen Vertreters auch zulässig, wenn der Aufenthaltsort eines Beteiligten oder seines gesetzlichen Vertreters vom Sitz des Gerichts weit entfernt ist.

(3) bis (5) (weggefallen)

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Der Widerspruch ist binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Absatz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Frist beträgt bei Bekanntgabe im Ausland drei Monate.

(2) Die Frist zur Erhebung des Widerspruchs gilt auch dann als gewahrt, wenn die Widerspruchsschrift bei einer anderen inländischen Behörde oder bei einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde oder, soweit es sich um die Versicherung von Seeleuten handelt, auch bei einem deutschen Seemannsamt eingegangen ist. Die Widerspruchsschrift ist unverzüglich der zuständigen Behörde oder dem zuständigen Versicherungsträger zuzuleiten, der sie der für die Entscheidung zuständigen Stelle vorzulegen hat. Im übrigen gelten die §§ 66 und 67 entsprechend.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt § 67 entsprechend.

Tenor

Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. April 2016 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

In der Hauptsache begehrt der Kläger die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50. Zuletzt war bei dem Kläger wegen einer Depression ein GdB von 30 festgestellt (Bescheid vom 10.9.2013, Widerspruchsbescheid vom 11.2.2014). Die hiergegen gerichtete Klage war erfolglos (Urteil vom 9.9.2015). Gegen das den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 21.9.2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29.9.2015 per E-Mail sinngemäß Berufung beim SG eingelegt, der Ausdruck ist am 7.10.2015 beim LSG eingegangen. Das LSG hat den Kläger wiederholt auf die Formunwirksamkeit einer Berufung per E-Mail und - erfolglos - auch auf das Fehlen einer formgerechten Berufung und die Möglichkeit der Wiedereinsetzung hingewiesen sowie auf eine Entscheidung durch Beschluss, verbunden mit der Gelegenheit zur vorherigen Äußerung. Nach Fristablauf hat es die Berufung verworfen, ohne die Revision zuzulassen (Beschluss vom 27.4.2016).

2

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der "Revision" und einem damit verbundenen PKH-Gesuch mit der Begründung, er sei wegen Krankheit nicht immer zeitnah in der Lage, schriftliche Eingaben zu machen. Das im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte Gutachten sei fehlerhaft.

3

II. 1. Der Antrag auf PKH ist abzulehnen. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 ZPO). Als statthaftes Rechtsmittel kommt sinngemäß allein die Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht, nachdem das LSG die Revision nicht zugelassen hat und diese Entscheidung für den Senat bindend ist (vgl § 160 Abs 1 SGG). Weder die Antragsbegründung noch die Aktenlage lassen bei der gebotenen summarischen Prüfung die erforderliche Erfolgsaussicht für eine Nichtzulassungsbeschwerde erkennen.

4

Hinreichende Erfolgsaussicht hat eine Nichtzulassungsbeschwerde nur, wenn einer der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe mit Erfolg geltend gemacht werden könnte. Die Revision darf danach zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Von diesen Zulassungsgründen lässt sich nach Aktenlage unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe des LSG-Beschlusses und des Vortrags des Klägers keiner feststellen.

5

Die Sache bietet keine Hinweise für eine über den Einzelfall des Klägers hinausgehende, grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG)beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; siehe auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Insbesondere ergibt sich die Grundsätzlichkeit der Bedeutung danach nicht aus dem behaupteten Verstoß gegen Verfahrensrecht oder der geltend gemachten Fehlerhaftigkeit im konkreten Fall.

6

Auch ist nicht ersichtlich, dass das LSG entscheidungstragend von der Rechtsprechung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Es entspricht der gesicherten und vom LSG in Bezug genommenen höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Einlegung der Berufung per einfacher E-Mail weder dem gesetzlich vorgegebenen Schriftformerfordernis (§ 151 Abs 1 SGG) noch den Anforderungen an die Übermittlung elektronischer Dokumente (§ 65a SGG) entspricht (vgl BSG Beschluss vom 15.11.2010 - B 8 SO 71/10 B - Juris; anders ausnahmsweise beim Computerfax BSG Beschluss vom 30.3.2015 - B 12 KR 102/13 B - Juris; vgl insgesamt Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 151 RdNr 23 f).

7

Schließlich fehlt ein ausreichender Anhalt dafür, dass der Kläger einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Entscheidungsrelevante Verfahrensmängel sind weder vom Kläger geltend gemacht noch sonst ersichtlich.

8

Der Kläger macht geltend, entgegen den Ausführungen des LSG habe er die Berufungsfrist eingehalten, mindestens sei ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Damit rügt er als Verfahrensfehler, das LSG hätte in der Sache entscheiden müssen und keine Prozessentscheidung treffen dürfen (vgl dazu BSGE 34, 236, 237 = SozR Nr 57 zu § 51 SGG Bl DA 28 f; BSGE 35, 267, 271 = SozR Nr 5 zu § 551 RVO Bl Aa 8; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 658 ff mwN). Der Kläger hat indessen die Berufungsfrist versäumt, weil er innerhalb der bis zum 21.10.2015 laufenden Berufungsfrist keine dem Schriftformerfordernis des § 151 Abs 1 SGG entsprechende Berufung gegen das Urteil des SG vom 9.9.2015 eingelegt hat. Wiedereinsetzungsgründe (§ 67 SGG) hat der Kläger weder ausreichend dargelegt noch sind sie glaubhaft gemacht worden. Den angeforderten Nachweis über die ursprünglich als Hinderungsgrund für die Einhaltung der Schriftform angeführte Reha hat der Kläger ebenso wenig erbracht wie einen Beleg für seine jetzige Behauptung, dass seine Erkrankung ihn - unabhängig von der Reha - an der Einhaltung der Schriftform der Berufung gehindert haben könnte. Dem LSG kann in diesem Zusammenhang auch keine Verletzung der Fürsorgepflicht angelastet werden. Allerdings nimmt die Rechtsprechung des BSG eine die Wiedereinsetzung gebietende Fürsorgepflichtverletzung an, wenn Schriftsätze weit vor Ablauf der Rechtsmittelfrist übersandt werden und es dem Gericht ohne Weiteres möglich gewesen wäre, auf Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung unter dem Gesichtspunkt des Schriftformerfordernisses hinzuweisen (vgl BSG Beschluss vom 6.10.2011 - B 14 AS 63/11 B = SozR 4-1500 § 67 Nr 9). Das LSG ist diesen Anforderungen jedoch gerecht geworden. Denn es hat den Kläger zuletzt mit Verfügungen vom 17.12.2015 und 4.3.2016 auf die vorbeschriebenen Bedenken hingewiesen und ihm - erfolglos - die Möglichkeit der Wiedereinsetzung eröffnet.

9

2. Die Beschwerde ist ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG), weil sie nicht durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt und begründet worden ist (§ 73 Abs 4 iVm § 160a Abs 1 S 1 und Abs 2 S 1 SGG).

10

3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

11

4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Januar 2017 4 V 4265/15 wird als unzulässig verworfen, soweit sie den Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer für 2008 bis 2010 sowie die Zinsen zur Einkommen- und Umsatzsteuer für 2008 bis 2010 betrifft.

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Januar 2017 4 V 4265/15 aufgehoben. Die Bescheide über Einkommensteuer, Umsatzsteuer und den Gewerbesteuermessbetrag für 2008 und 2009, alle vom 15. September 2015, sowie die Bescheide über Einkommensteuer, Umsatzsteuer und den Gewerbesteuermessbetrag für 2010, alle vom 21. September 2015, werden ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder einen Monat nach anderweitiger Erledigung des Einspruchsverfahrens ohne Sicherheitsleistung in dem Umfang von der Vollziehung ausgesetzt, der sich -nach näherer Maßgabe der Erläuterungen unter III.4. der Entscheidungsgründe- ergibt, wenn die Hinzuschätzungsbeträge je Streitjahr auf einen Netto-Mehrerlös von 3.000 € und eine Mehr-Umsatzsteuer von 570 € begrenzt werden. Die Ermittlung der auszusetzenden Beträge wird dem Finanzamt übertragen.

Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens hat der Antragsteller zu 13 % und der Antragsgegner zu 87 % zu tragen; die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Antragsteller zu 33 % und der Antragsgegner zu 67 % zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) wurde in den Streitjahren 2008 bis 2010 mit seiner --nicht am vorliegenden Verfahren beteiligten und seit 2012 von ihm getrennt lebenden-- Ehefrau (E) zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Er erzielte gewerbliche Einkünfte aus einer Gaststätte, deren Gewinn er durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelte. E war im Betrieb als Angestellte beschäftigt.

2

Mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 brachte der Antragsteller den Betrieb zu Buchwerten in eine GbR ein, an der er zu 98 % und E zu 2 % beteiligt war. Insoweit ist für die Gewinnfeststellung der Jahre 2011 und 2012 beim IV. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) ein Parallelverfahren anhängig (IV B 4/17).

3

Nahezu sämtliche Betriebseinnahmen fielen in Form von Bargeld an, das der Antragsteller in einer offenen Ladenkasse vereinnahmte. Die Einnahmen stammten neben dem laufenden Gaststättenbetrieb noch aus zwei weiteren Bereichen: So richtete der Antragsteller Veranstaltungen aus (Familienfeiern, Buffets); ferner beteiligte er sich an dem einmal jährlich stattfindenden dreitägigen örtlichen Volksfest.

4

Die Einnahmen aus dem laufenden Gaststättenbetrieb notierte der Antragsteller --getrennt je Kassiervorgang-- auf einem Zettel. Durch Summenbildung ermittelte er die Tageseinnahmen und schloss die Summe mit seinem Namenszeichen ab. Die Tageseinnahmen-Zettel enthalten das jeweilige Datum, ansonsten aber kein Ordnungskriterium.

5

Die Einnahmen aus der Bewirtung beim Volksfest notierte der Antragsteller lediglich als Tagessumme. Die Einnahmen aus Veranstaltungen notierte er gleichermaßen in einer Summe pro Veranstaltung auf den Tageseinnahmen-Zetteln. Weitere Unterlagen zu den Veranstaltungen --insbesondere Angebote, Vereinbarungen, Rechnungen oder Quittungen-- hat er im bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht vorgelegt.

6

Die Gaststätte hatte in den Streitjahren keinen festen Ruhetag. Allerdings liegen zu einigen Tagen der Streitjahre keine Aufzeichnungen über Einnahmen vor (2008: 14 Tage; 2009: 25 Tage; 2010: 22 Tage). Dabei handelt es sich ganz überwiegend um Samstage. Der Antragsteller hat hierzu erklärt, die Gaststätte sei an diesen Tagen geschlossen gewesen.

7

Aus den Steuererklärungen des Antragstellers ergeben sich die folgenden betrieblichen Kennzahlen:

Jahr   

Umsatzerlöse 19 %

Gewinn

Rohgewinnaufschlagsatz (RAS)

2008   

142.888 €

28.374 €

123 % 

2009   

124.302 €

19.842 €

181 % 

2010   

119.439 €

20.103 €

187 % 

8

Der Antrags- und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) führte beim Antragsteller eine Außenprüfung für die Streitjahre durch, in deren Verlauf er zu der Einschätzung kam, die Kassenführung sei nicht ordnungsgemäß. Die vollständige Erfassung der Bareinnahmen sei nicht überprüfbar. So sei weder feststellbar, ob sämtliche Einzelbeträge auf den Tageseinnahmen-Zetteln notiert worden seien, noch sei bei den Zetteln sichergestellt, dass sie vollständig und nicht nachträglich austauschbar seien. Gleiches gelte für die Einnahmen aus Veranstaltungen, die sich im Einzelfall auf erhebliche Beträge belaufen hätten. Es sei nicht dokumentiert, ob der Kassenbestand täglich durch tatsächliches Auszählen ermittelt worden sei. Auch sei nicht glaubhaft, dass die gelegentlichen Schließungstage der Gaststätte ausgerechnet auf Samstage entfielen, an denen der Antragsteller im Durchschnitt die höchsten Tageseinnahmen erziele.

9

Der Prüfer ermittelte die Höhe der Hinzuschätzung mittels der sog. "Quantilsschätzung". Dazu führte er zunächst einen Zeitreihenvergleich durch. Dabei schätzte er die monatlichen RAS, indem er die vom Antragsteller im jeweiligen Monat geleisteten Zahlungen für Wareneinkäufe (nach Abzug eines pauschalen Eigenverbrauchs) als Wareneinsatz ansah und ins Verhältnis zu den aufgezeichneten monatlichen Erlösen setzte. Der Prüfer interpretierte diese Werte dahingehend, dass sie erhebliche Schwankungen aufweisen würden, die nicht durch betriebliche Umstände erklärbar seien. Die Aufzeichnungen des Antragstellers seien daher nicht schlüssig und zu verwerfen.

10

Anhand der vom Antragsteller vorgelegten Speisekarten ermittelte der Prüfer, dass die Preise der Gaststätte zum 1. Januar 2009 um durchschnittlich 17 % erhöht worden seien. Daher nahm er eine sog. "Konjunkturbereinigung" vor und legte dem Zeitreihenvergleich für die Jahre 2009 und 2010 nicht die tatsächlichen Erlöse zugrunde, sondern solche Werte, die erst nach Vornahme eines Zuschlags von 17 % den tatsächlichen Erlösen entsprechen würden.

11

Für sein weiteres Vorgehen unterstellte der Prüfer, dass bei Datensätzen, die der Gauß'schen Normalverteilung genügten, 68,27 % der Datensätze innerhalb der ersten Standardabweichung lägen und "damit am wahrscheinlichsten" seien. Im Umkehrschluss lägen 31,73 % der Datensätze (je 15,865 % am oberen bzw. unteren Ende) außerhalb der ersten Standardabweichung. Bei "abgemilderter" Anwendung führe dies dazu, die obersten 20 % der Datensätze außer Betracht zu lassen (hier: sieben der insgesamt 36 RAS-Monatswerte). Der nächsthöchste Wert (hier: der achthöchste der 36 RAS-Monatswerte) sei der zutreffende Schätzwert, der auf den gesamten Drei-Jahres-Zeitraum anzuwenden sei.

12

Dieser achthöchste Wert lag im streitgegenständlichen Drei-Jahres-Zeitraum bei 185 %. Diesen Wert wendete der Prüfer allerdings nur auf das Jahr 2008 an. Für die Jahre 2009 und 2010 nahm er eine umgekehrte "Konjunkturbereinigung" um 17 % vor und legte seiner Schätzung insoweit einen RAS von 233 % zugrunde.

13

Auf diese Weise ermittelte der Prüfer die folgenden Änderungen der Besteuerungsgrundlagen:

Jahr   

2008   

2009   

2010   

Mehrerlös netto

+ 37.000 €

+ 23.000 €

+ 20.000 €

Mehr-Umsatzsteuer

+ 7.030 €

+ 4.370 €

+ 3.800 €

Passivierung der Umsatzsteuer

        

./. 15.200 €

Mehrgewinn

+ 44.030 €

+ 27.370 €

+ 8.600 €

14

Die Passivierung der infolge der Außenprüfung erhöhten Umsatzsteuer im Jahr 2010 beruhte darauf, dass der Prüfer die Auffassung vertrat, infolge der Buchwerteinbringung des Betriebs in die GbR zum 1. Januar 2011 habe der Antragsteller zum 31. Dezember 2010 zur Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich übergehen und einen entsprechenden Übergangsgewinn ermitteln müssen. Dabei seien die Umsatzsteuer-Verbindlichkeiten gewinnmindernd anzusetzen.

15

Am 15. bzw. 21. September 2015 erließ das FA entsprechend geänderte Einkommensteuer- und Umsatzsteuer-Festsetzungen für die Jahre 2008 bis 2010, einen geänderten Gewerbesteuermessbescheid für 2008 sowie erstmalige Gewerbesteuermessbescheide für 2009 und 2010.

16

Hiergegen legte der Antragsteller Einspruch ein, über den das FA noch nicht entschieden hat. Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) hatte beim FA zunächst keinen Erfolg. Während des anschließenden gerichtlichen AdV-Verfahrens gewährte das FA am 19. bzw. 20. Januar 2016 AdV für einen Teil der für das Streitjahr 2008 angeforderten Nachzahlungen. Grundlage hierfür war, dass das FA nunmehr von einer Preiserhöhung zum 1. Januar 2009 von 25,83 % (aufgerundet 26 %) ausging, die "Konjunkturbereinigung" entsprechend anpasste, und dadurch für 2008 einen RAS von noch 165 % (statt bisher 185 %) zugrunde legte. Für AdV-Zwecke geht es seither von einem Netto-Mehrerlös im Jahr 2008 von 25.000 € und einer Mehr-Umsatzsteuer von 4.750 € aus.

17

In Höhe der verbleibenden angeforderten Beträge lehnte das Finanzgericht (FG) den Aussetzungsantrag ab (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2017, 537). Zur Begründung führte es aus, eine Aufzeichnungspflicht folge im Streitfall zwar nicht aus § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG), wohl aber aus § 22 des Umsatzsteuergesetzes (UStG). Diese Pflicht habe der Antragsteller nicht erfüllt. Zwar handele es sich dabei lediglich um einen formellen Mangel. Die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs würden aber auch auf materielle Mängel hindeuten. Die Quantilsschätzung sei eine sachgerechte Methode für die Ermittlung der Höhe der Hinzuschätzung. Wegen der Divergenz zu einer anderen instanzgerichtlichen Entscheidung hat das FG die Beschwerde zugelassen.

18

Die Entscheidung des FG wurde der Prozessbevollmächtigten (P) des Antragstellers, einer Partnerschaftsgesellschaft mit vier Standorten, nach eigenen Angaben --ein förmliches Empfangsbekenntnis befindet sich nicht in den Akten-- am 10. Januar 2017 zugestellt. Am 16. Januar 2017 ging beim FG ein mit normaler Briefpost übersandter, nicht unterschriebener Schriftsatz der P ein, mit dem Beschwerde gegen den FG-Beschluss eingelegt wurde. Das FG wies auf die fehlende Unterschrift nicht hin, sondern beschloss am 17. Januar 2017, der Beschwerde nicht abzuhelfen, und legte das Verfahren dem BFH vor, wo die Akten am 23. Januar 2017 eingingen.

19

Mit Schreiben vom 8. Februar 2017 (der P zugestellt am 11. Februar 2017) wies die Vorsitzende des beschließenden Senats auf die fehlende Unterschrift sowie die Möglichkeit eines Wiedereinsetzungsantrags hin. Mit einem unterschriebenen Schriftsatz, der am 24. Februar 2017 beim BFH einging, legte P nochmals Beschwerde ein, begründete diese zugleich und stellte einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Hierzu führte sie aus, die in ihrer Kanzlei bestehenden Abläufe zum Posteingang, zur Fristenkontrolle und zum Postausgang seien standardisiert und dokumentiert; sie würden von allen Mitarbeitern einheitlich angewandt. Zur Dokumentation der Arbeitsabläufe werde eine Datev-Software eingesetzt. Nach Tz. 4.1 der --dem Wiedereinsetzungsantrag beigefügten-- Arbeitsanweisung sei eine Kontrolle der Unterschrift vorzunehmen. Sei ein Schriftsatz nicht unterschrieben, lege ihn das Kanzleipersonal erneut vor, damit die Unterschrift nachgeholt werde. Diese Verfahrensweise habe sich in einer 40-jährigen Kanzleihistorie eingespielt und bewährt. Es seien bisher keine Fälle bekannt geworden, in denen Schriftsätze die Kanzlei ohne Unterschrift verlassen hätten. Am maßgebenden Tag sei die Zentrale durch die zuverlässigste und ausreichend geschulte Kraft, Frau D, besetzt gewesen.

20

Am Tag des Postausgangs (13. Januar 2017) seien zwei Beschwerdeschriften erstellt worden; eine im vorliegenden Verfahren und eine im Parallelverfahren der GbR. Letztere sei unterschrieben beim BFH eingegangen. Es könne nur gemutmaßt werden, dass an dem Schriftsatz im vorliegenden Verfahren noch eine Korrektur vorzunehmen gewesen und dann versäumt worden sei, die Unterschrift nachzuholen. Beim Eintüten der Beschwerdeschrift müsse die fehlende Unterschrift aufgrund eines nie auszuschließenden menschlichen Versehens unbemerkt geblieben sein.

21

Im elektronischen Postausgangsbuch seien für den 13. Januar 2017 zwei verschiedene Beschwerdeschriften in Sachen des Antragstellers erfasst. Es sei also in der Kanzlei erkannt worden, dass es sich um zwei unterschiedliche Beschwerdeverfahren handele. Das Fehlen der Unterschrift könne daher nicht darauf beruhen, dass der zweite Schriftsatz versehentlich für ein Doppel gehalten worden sei.

22

In der Sache selbst wiederholt und vertieft der Antragsteller sein bisheriges Vorbringen. Er hält seine Aufzeichnungen im Wesentlichen für ordnungsgemäß und bringt Einwendungen gegen die Richtigkeit der Quantilsschätzung vor.

23

Der Antragsteller beantragt,
den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Bescheide über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Zinsen für 2008 und 2009, über Umsatzsteuer und Zinsen für 2008 und 2009 sowie über den Gewerbesteuermessbetrag für 2008 und 2009, alle vom 15. September 2015, sowie die Bescheide über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Zinsen für 2010, über Umsatzsteuer und Zinsen für 2010 sowie über den Gewerbesteuermessbetrag für 2010, alle vom 21. September 2015, ohne Sicherheitsleistung von der Vollziehung auszusetzen.

24

Das FA beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

25

Es ist der Auffassung, Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdefrist könne nicht gewährt werden, da es an einer substantiierten, in sich schlüssigen Darstellung der entscheidungserheblichen Tatsachen fehle. Der Antragsteller habe bereits nicht die Person benannt, die in der Kanzlei der P mit der Fertigstellung der Beschwerdeschrift beauftragt gewesen sei. Auf dieser Unkenntnis, die einen schweren Organisationsmangel darstelle, fuße die Mutmaßung des Antragstellers, möglicherweise sei an dem Schriftsatz noch eine Korrektur vorzunehmen gewesen. Bei einer den Anforderungen genügenden Gestaltung der Abläufe hätte der Antragsteller noch heute den tatsächlichen Geschäftsgang beschreiben und mitteilen können, wer an dem Schriftsatz gearbeitet und ihn ohne Unterschrift zur Post gegeben habe. Es sei daher nicht einmal klar, ob es auf die Zuverlässigkeit der Frau D überhaupt ankomme.

26

In der Sache selbst hält das FA an seiner Auffassung fest, die Aufzeichnungen des Antragstellers seien mangelhaft, die Quantilsschätzung sei eine geeignete Schätzungsmethode und sachgerecht durchgeführt worden, und andere Schätzungsmethoden kämen im Streitfall nicht in Betracht.

Entscheidungsgründe

II.

27

1. Die Beschwerde ist unzulässig, soweit sie den Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer für 2008 bis 2010 sowie die Zinsen zur Einkommen- und Umsatzsteuer für 2008 bis 2010 betrifft.

28

Das FG hatte den erstinstanzlichen Antrag --der ebenfalls das ausdrückliche Begehren nach einer AdV der Festsetzungen des Solidaritätszuschlags und der Zinsen enthielt-- im Interesse des Antragstellers zur Vermeidung einer Unzulässigkeit im Hinblick darauf, dass es sich um bloße Folgebescheide handelt (vgl. BFH-Urteil vom 29. Oktober 1987 VIII R 413/83, BFHE 151, 319, BStBl II 1988, 240) dahingehend ausgelegt, dass der Antragsteller AdV nur in Bezug auf die Einkommensteuer, die Umsatzsteuer und den Gewerbesteuermessbetrag begehrt. Diese Auslegung hat es in seiner Entscheidung ausführlich begründet und in das Rubrum nur die drei genannten Steuerarten (ohne den Solidaritätszuschlag und die Zinsen) aufgenommen.

29

Gleichwohl beantragt der Antragsteller im Beschwerdeverfahren  --entgegen dem Rubrum und der Begründung der finanzgerichtlichen Entscheidung-- nochmals ausdrücklich auch die AdV in Bezug auf den Solidaritätszuschlag und die Zinsen. Insoweit ist aber --weil das FG hierüber zur Vermeidung einer Unzulässigkeitsentscheidung nicht entschieden hat-- noch kein erstinstanzlicher Beschluss ergangen. Eine Erweiterung des Gegenstands des Beschwerdeverfahrens über den Gegenstand der erstinstanzlichen Entscheidung hinaus ist jedoch unzulässig (BFH-Beschluss vom 20. Juni 2007 VIII B 36/07, BFH/NV 2007, 1911, m.w.N.).

30

2. Im Übrigen ist die Beschwerde zulässig.

31

a) Allerdings hat der Antragsteller die zweiwöchige Frist zur Einlegung der Beschwerde nicht gewahrt.

32

aa) Die Beschwerde ist gemäß § 129 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beim FG schriftlich (oder --was vorliegend nicht in Betracht kommt-- zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle) innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung einzulegen. Grundsätzlich folgt aus der gesetzlich ausdrücklich angeordneten Schriftform, dass der bestimmende Schriftsatz eigenhändig unterschrieben werden muss (vgl. § 126 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Dies gilt auch für Schriftsätze, die im finanzgerichtlichen Verfahren eingereicht werden (ständige Rechtsprechung, vgl. aus jüngerer Zeit BFH-Beschluss vom 20. Mai 2015 XI R 48/13, BFH/NV 2015, 1263, Rz 14, m.w.N.).

33

Der im vorliegenden Verfahren angefochtene Beschluss des FG ist P am 10. Januar 2017 zugegangen. Die Einlegungsfrist endete daher am 24. Januar 2017. Innerhalb dieser Frist ist beim FG lediglich ein nicht unterschriebener Schriftsatz eingegangen.

34

bb) Zwar kann ausnahmsweise von dem Unterschriftserfordernis abgesehen werden, wenn aus anderen Gründen ohne Beweisaufnahme feststeht, dass es sich bei dem an das Gericht gelangten, nicht unterschriebenen Schriftstück nicht lediglich um einen Entwurf handelt.

35

Dies ist in der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung etwa angenommen worden, wenn einer nicht unterschriebenen Klageschrift eine vom Kläger eigenhändig unterzeichnete Prozessvollmacht im Original beigefügt war (BFH-Urteil vom 28. September 1995 IV R 76/94, BFH/NV 1996, 332), wenn ein rechtlich unerfahrener Kläger zwar die Klageschrift nicht unterzeichnet, auf dem Briefumschlag aber handschriftlich seinen Namen und seine Anschrift eingetragen hat (BFH-Urteil vom 3. Oktober 1986 III R 207/81, BFHE 148, 205, BStBl II 1987, 131), wenn zwar nicht der --der Schriftform unterliegende-- Antrag, wohl aber ein Begleitschreiben eigenhändig unterzeichnet ist (BFH-Urteil vom 13. Dezember 2001 III R 24/99, BFHE 196, 464, BStBl II 2002, 159), oder wenn ein erforderlicher Gerichtskostenvorschuss noch innerhalb der Klagefrist eingezahlt wird (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 22. Oktober 2004  1 BvR 894/04, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2005, 814, unter II.2.b aa (2)).

36

Ein vergleichbarer Ausnahmesachverhalt ist im Streitfall indes nicht gegeben, weil es innerhalb der Beschwerdefrist über den bloßen Eingang des nicht unterschriebenen --und damit als bloßer Entwurf anzusehenden-- Schriftstücks hinaus kein weiteres Indiz für den ernsthaften Willen des Antragstellers zur formgerechten Erhebung einer Beschwerde gibt.

37

b) Dem Antragsteller ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

38

aa) Gemäß § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag --nach § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO auch ohne Antrag-- Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten steht dem Verschulden des Beteiligten gleich (§ 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO).

39

Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO). Bereits innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist sind (unbeschadet einer späteren Glaubhaftmachung) alle entscheidungserheblichen Tatsachen wenigstens ihrem wesentlichen Inhalt nach schlüssig darzulegen (BFH-Beschlüsse vom 25. März 2003 I B 166/02, BFH/NV 2003, 1193, und vom 29. Oktober 2003 V B 61/03, BFH/NV 2004, 459), es sei denn, die Gründe waren offenkundig oder amtsbekannt (BFH-Urteil vom 17. September 1987 III R 259/84, BFH/NV 1988, 681).

40

bb) Der Senat hat --ebenso wie das FA-- erhebliche Zweifel, ob die Darlegungen des Antragstellers in seinem Wiedereinsetzungsantrag als schlüssige, substantiierte und vollständige Schilderung der maßgebenden Geschehensabläufe innerhalb der Kanzlei der P anzusehen sind.

41

Zum einen wird nicht deutlich, welcher Berufsträger mit der Anfertigung der Beschwerdeschrift befasst war und die Unterschriftsleistung versäumt hat. Zum anderen stellt der Antragsteller ausdrücklich nur eine "Mutmaßung" zum vermeintlichen Geschehensablauf an, gibt aber keine eindeutige Tatsachenschilderung ab.

42

Vor allem aber sind die von P vorgelegten Organisationsunterlagen nicht geeignet, ein Organisationsverschulden auszuschließen. P betreibt ihre Kanzlei an vier Standorten; für die Bearbeitung des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist der Standort in B zuständig. Tz. 4.1 der vorgelegten Kanzleianweisung, aus der sich nach Auffassung des Antragstellers die Pflicht seines Kanzleipersonals zur Kontrolle des Vorhandenseins einer Unterschrift ergeben soll, bezieht sich aber nur auf den Standort S. Der Umstand, dass beispielsweise in der --hier inhaltlich nicht einschlägigen-- Tz. 4.2 der Kanzleianweisung Regelungen enthalten sind, die ausdrücklich zwischen den Standorten B und S differenzieren, zeigt, dass die Nichterwähnung des Standorts B in Tz. 4.1 kein bloßes Versehen sein kann. Hinzu kommt, dass in dem neunteiligen Katalog der Formalprüfungen, der in Tz. 4.1 der Kanzleianweisung enthalten ist, die Prüfung der Unterschrift nicht ausdrücklich erwähnt wird. Lediglich im Einleitungssatz ist von der "unterschriebenen Post" die Rede; eine eindeutige Anordnung, dass das Vorhandensein der Unterschrift zu prüfen ist, fehlt indes. Demgegenüber ist beispielsweise in Tz. 4.3 der Kanzleianweisung in Bezug auf Gewinnermittlungen und Jahresabschlüsse die Kontrolle des Vorhandenseins der Unterschrift ausdrücklich als eigener Punkt in den dortigen Katalog der Formalprüfungen aufgenommen worden; dies lässt durchaus den Umkehrschluss zu, dass eine solche Prüfung in den Fällen der Tz. 4.1 nicht verlangt wird.

43

Auch belegen die eingereichten Ausdrucke aus dem elektronischen Postausgangsbuch nicht zweifelsfrei, dass es gerade die beiden Beschwerdeschriften waren, die am 13. Januar 2017 die Kanzlei der P verlassen haben. In beiden Fällen ist im Postausgangsbuch als Veranlagungsjahr "2017" angegeben. Diese Angabe weicht von den tatsächlichen Streitjahren des vorliegenden Verfahrens (2008 bis 2010) sowie des Parallelverfahrens IV B 4/17 (2011 und 2012) deutlich ab. Auch ist als Porto jeweils "0,55" angegeben. Das günstigste Briefporto betrug am 13. Januar 2017 aber bereits 0,70 €. Hinzu kommt, dass der in der FG-Akte enthaltene Original-Schriftsatz der nicht unterzeichneten Beschwerde nicht geknickt ist, also in einem Umschlag versandt worden sein muss, der so groß ist, dass man ein DIN A4-Schreiben ungefaltet einlegen kann. Das Mindestporto für derartige Sendungen beträgt aber 1,45 €.

44

Zudem hat der Antragsteller das Vorbringen zum Wiedereinsetzungsantrag nicht durch geeignete Mittel --etwa die Vorlage eidesstattlicher Versicherungen der Frau D und des zuständigen Berufsträgers-- glaubhaft gemacht. Er hat auch nach Kenntnisnahme der bereits vom FA mit seiner Beschwerdeerwiderung geäußerten Zweifel weiterhin keine konkretere Darstellung der damaligen Vorgänge abgegeben.

45

cc) Letztlich können diese Zweifel an der hinreichenden Substantiierung des Wiedereinsetzungsantrags aber auf sich beruhen, da dem Antragsteller aus Gründen, die aktenkundig und damit amtsbekannt sind (vgl. dazu BFH-Urteil in BFH/NV 1988, 681), Wiedereinsetzung zu gewähren ist.

46

(1) Ein Prozessbeteiligter kann erwarten, dass offenkundige Versehen, wie das Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift, von dem angerufenen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und als Folge der prozessualen Fürsorgepflicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden (BVerfG-Beschluss in NJW 2005, 814, unter II.2.b bb; dort war der maßgebende Schriftsatz --ebenso wie im vorliegenden Fall-- acht Tage vor Fristablauf beim zuständigen Gericht eingereicht worden).

47

Nach ständiger Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes und des BVerfG ist ein Gericht verpflichtet, einen Schriftsatz, der eindeutig als fehlgeleitet erkennbar ist, im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an die zuständige Stelle weiterzuleiten. Bei einer schuldhaft verzögerten Weiterleitung ist dem Verfahrensbeteiligten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (grundlegend BVerfG-Beschluss vom 20. Juni 1995  1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99, unter C.II.). Dies gilt nach dieser Rechtsprechung unabhängig davon, auf welchen Gründen der Fehler bei der Einreichung des bestimmenden Schriftsatzes beruht (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 93, 99, unter C.II.2.b; vgl. auch BVerfG-Beschluss vom 2. September 2002  1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835). Für ein bereits vorher mit der Sache befasstes Gericht entspricht das Unterbleiben einer Weiterleitung, obwohl bis zum Fristablauf noch eine Spanne von fünf Arbeitstagen zur Verfügung stand, nicht mehr einem ordentlichen Geschäftsgang (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 3. Juli 2006 II ZB 24/05, NJW 2006, 3499). Demgegenüber besteht keine Pflicht zur sofortigen Prüfung und Weiterleitung noch am Tage des Eingangs des Schriftsatzes oder zu einer beschleunigten Weiterleitung per Telefax (BFH-Beschluss vom 27. Oktober 2004 XI B 130/02, BFH/NV 2005, 563).

48

Dementsprechend stellt es einen Verfahrensmangel (Verletzung der Verfahrensförderungspflicht des § 76 Abs. 2 FGO) dar, wenn ein FG bei einer weit vor Ablauf der Klagefrist eingereichten Klage zwar noch innerhalb der Klagefrist auf bestimmte formale Mängel hinweist, aber erst nach drei Jahren ergänzend beanstandet, dass die Klageschrift lediglich mit einer Paraphe versehen sei, und aus diesem Grund die Klage als unzulässig verwirft (BFH-Beschluss vom 30. Januar 1996 V B 89/95, BFH/NV 1996, 683, unter II.3.b).

49

(2) Vorliegend ist die nicht unterschriebene Beschwerdeschrift am 16. Januar 2017 beim FG eingegangen. Bis zum Fristablauf am 24. Januar 2017 verblieben daher acht Kalendertage (bzw. sechs Arbeitstage), um den Antragsteller auf das Fehlen der Unterschrift hinzuweisen. Tatsächlich hat sich das FG bereits am 17. Januar 2017 --im Rahmen seiner Nichtabhilfeentscheidung-- mit der Beschwerde befasst, aber nicht auf das Fehlen der Unterschrift hingewiesen. Hätte es zu diesem Zeitpunkt einen Hinweis erteilt, wäre zu erwarten gewesen, dass der Antragsteller den Formmangel noch innerhalb der Beschwerdefrist geheilt hätte. Dieses Versäumnis des FG überholt das vorherige Verschulden der P, so dass schon deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

III.

50

Soweit die Beschwerde zulässig ist, ist sie zum überwiegenden Teil begründet.

51

Bei Zugrundelegung der im AdV-Verfahren anzuwendenden Maßstäbe (dazu unten 1.) war das FA dem Grunde nach nur hinsichtlich der Veranstaltungen und des Volksfestes zur Schätzung befugt; im Übrigen bestehen bei der gebotenen summarischen Betrachtung ernstliche Zweifel, ob die Aufzeichnungen des Antragstellers den für eine allein auf formelle Fehler gestützte Schätzungsbefugnis erforderlichen Grad an Mangelhaftigkeit aufweisen (unten 2.). Davon ausgehend hat das FA bisher nicht dargelegt, dass die in der Senatsrechtsprechung entwickelten Voraussetzungen dafür, eine Schätzung der Höhe nach auf die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs stützen zu können, erfüllt sind (unten 3.). Zur Berücksichtigung der vorhandenen formellen Mängel der Aufzeichnungen des Antragstellers nimmt der Senat in Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis für AdV-Zwecke einen Sicherheitszuschlag zu den erklärten Einnahmen von 3.000 € netto pro Jahr vor (unten 4.).

52

1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes u.a. dann ganz oder teilweise auszusetzen, wenn --worüber im vorliegenden Verfahren allein gestritten wird-- ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bestehen.

53

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit für das Hauptsacheverfahren überwiegen (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. zuletzt BFH-Beschlüsse vom 24. Mai 2016 V B 123/15, BFH/NV 2016, 1253, Rz 25, und vom 8. Februar 2017 X B 138/16, BFH/NV 2017, 579, Rz 32, m.w.N.).

54

2. Ob diese Voraussetzungen für eine Schätzung (dazu unten a) erfüllt sind, ist für die drei Bereiche, in denen der Antragsteller seine Bareinnahmen erzielt, differenziert zu betrachten. Danach können bei der summarischen Betrachtung, auf die sich der im AdV-Verfahren anzuwendende Prüfungsmaßstab beschränkt, und beim derzeitigen --noch sehr unvollständigen-- Stand der Sachaufklärung und des Vorbringens der Beteiligten ernstliche Zweifel am Bestehen einer Schätzungsbefugnis hinsichtlich der Einnahmen aus dem laufenden Gaststättenbetrieb nicht ausgeschlossen werden (unten b). Demgegenüber bestehen hinsichtlich der Einnahmen aus dem Volksfest (unten c) und den Veranstaltungen (unten d) keine ernstlichen Zweifel an der Schätzungsbefugnis.

55

a) Die Finanzbehörde hat gemäß § 162 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) u.a. dann eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen vorzunehmen, wenn die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden können, sie also nicht den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen oder sonst nach den Umständen des Einzelfalls Anlass besteht, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden.

56

Zwar berechtigen formelle Mängel der Aufzeichnungen nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung nur insoweit zur Schätzung, als sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Ergebnisses der Gewinnermittlung anzuzweifeln (BFH-Entscheidungen vom 17. November 1981 VIII R 174/77, BFHE 135, 11, BStBl II 1982, 430, unter 1.; vom 25. Januar 1990 IV B 140/88, BFH/NV 1990, 484, und in BFH/NV 2012, 1921, Rz 22, mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Jedenfalls dann, wenn vorwiegend Bargeschäfte getätigt werden, können Mängel der Kassenführung aber den gesamten Aufzeichnungen die Ordnungsmäßigkeit nehmen (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 1921, Rz 34).

57

b) Hinsichtlich des laufenden Gaststättenbetriebs bestehen derzeit ernstliche Zweifel an einer Schätzungsbefugnis des FA. Beim gegenwärtigen Stand der Sachaufklärung steht noch nicht fest, ob der Antragsteller die vom Gesetz (dazu unten aa) und der Rechtsprechung (unten bb) aufgestellten formellen Anforderungen an die in Fällen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung zu führenden Aufzeichnungen von Bareinnahmen verfehlt hat (unten cc). Die Bedenken, die das FA hinsichtlich der materiellen Richtigkeit --insbesondere der betragsmäßigen Vollständigkeit-- der Aufzeichnungen geäußert hat, sind beim gegenwärtigen Stand der Sachaufklärung ebenfalls nicht geeignet, ernsthafte Zweifel am Bestehen einer Schätzungsbefugnis auszuschließen (unten dd).

58

aa) Der Antragsteller hat seinen Gewinn durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelt. Zwischen den Beteiligten ist --nach Auffassung des beschließenden Senats zu Recht-- unstreitig, dass er hierzu berechtigt war. § 4 Abs. 3 EStG selbst enthält --mit Ausnahme des hier nicht einschlägigen § 4 Abs. 3 Satz 5 EStG-- keine Regelungen über den formellen Mindestinhalt der Aufzeichnungen, die bei dieser Gewinnermittlungsart zu führen sind.

59

Allerdings ist nach § 22 Abs. 1 Satz 1 UStG jeder Unternehmer verpflichtet, zur Feststellung der Umsatzsteuer und der Grundlagen ihrer Berechnung Aufzeichnungen zu machen. Aus den Aufzeichnungen müssen die vereinbarten --bzw. in den Fällen des § 20 UStG die vereinnahmten-- Entgelte für die vom Unternehmer ausgeführten Lieferungen und sonstigen Leistungen zu ersehen sein (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 und 5 UStG). Die Aufzeichnungen müssen so beschaffen sein, dass es einem sachverständigen Dritten innerhalb einer angemessenen Zeit möglich ist, einen Überblick über die Umsätze des Unternehmers und die abziehbaren Vorsteuern zu erhalten und die Grundlagen für die Steuerberechnung festzustellen (§ 63 Abs. 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung --UStDV--). Dabei darf der Unternehmer das Entgelt und den Steuerbetrag in einer Summe --statt des (Netto-)Entgelts allein-- aufzeichnen (§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 UStDV). Am Schluss jedes Voranmeldungszeitraums hat der Unternehmer u.a. die Summe der Entgelte zu errechnen und aufzuzeichnen (§ 63 Abs. 3 Satz 3 UStDV).

60

Gemäß § 146 Abs. 1 AO in der im Streitjahr noch geltenden Fassung (vor den Änderungen durch das Gesetz vom 22. Dezember 2016, BGBl I 2016, 3152) sind die erforderlichen Aufzeichnungen vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen. Kasseneinnahmen und Kassenausgaben sollen "täglich" festgehalten werden.

61

bb) Der Senat hat bereits entschieden, dass sich in Fällen der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung auch aus den Vorschriften des § 22 UStG und des § 63 UStDV keine Pflicht zur Führung eines Kassenbuchs ergibt. Bei dieser Gewinnermittlungsart gibt es keine Bestandskonten und somit auch kein Kassenkonto. Vereinnahmtes Geld wird sofort Privatvermögen. Die Feststellung eines Kassenbestands, für den bei einer Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich ein Kassenbuch erforderlich ist, kommt nicht in Betracht (ausführlich zum Ganzen Senatsbeschluss vom 16. Februar 2006 X B 57/05, BFH/NV 2006, 940, m.w.N.).

62

In der Literatur wird daher das als "Schuhkarton-Buchführung" bezeichnete Erstellen und Sammeln von Einnahmen- und Ausgabenbelegen, verbunden mit einer regelmäßigen Summenziehung, für ausreichend gehalten (Märtens in Beermann/Gosch, § 146 AO Rz 28; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 4 EStG Rz 522; vgl. auch BFH-Urteil vom 13. Oktober 1989 III R 30, 31/85, BFHE 159, 123, BStBl II 1990, 287, unter II.2.a).

63

Das Niedersächsische FG hat in seiner vom FA und der Vorinstanz mehrfach angeführten Entscheidung (Urteil vom 8. Dezember 2011  12 K 389/09, EFG 2013, 291, unter I.2.h, m.w.N.; Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen durch Senatsbeschluss vom 13. März 2013 X B 16/12, BFH/NV 2013, 902) die folgenden drei Möglichkeiten für eine ordnungsmäßige Aufzeichnung von Bareinnahmen in Fällen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung bei Sachverhalten, in denen die Führung von Einzelaufzeichnungen nach den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen nicht ohnehin als zwingend anzusehen ist, aufgezeigt:

-    

eine geordnete Belegablage mit Einzelaufzeichnungen der Erlöse;

-    

Verzicht sowohl auf Einzelaufzeichnungen als auch auf ein tägliches Auszählen des Kassenbestands, aber Aufbewahrung der Ursprungsaufzeichnungen und Abgleich von Soll- und Ist-Bestand der Kasse "in gewissen Abständen" (insbesondere bei der Nutzung von Registrierkassen);

-    

Verzicht sowohl auf Einzelaufzeichnungen als auch auf die Aufbewahrung von Ursprungsbelegen, aber tägliches tatsächliches Auszählen der Kasse, das in fortlaufenden Kassenberichten dokumentiert wird;

-    

demgegenüber genüge das bloße Aufschreiben des täglichen (Gesamt-)Umsatzes ohne Aufbewahrung weiterer Belege den Anforderungen nicht.

64

cc) Danach kann der Senat bei der --angesichts des vorläufigen Charakters des Eilverfahrens gebotenen-- summarischen und im Zweifel großzügigen Betrachtung auf der Grundlage des derzeitigen Standes der Sachaufklärung nicht feststellen, dass die Aufzeichnungen des Antragstellers über die Einnahmen des laufenden Gaststättenbetriebs die geltenden formellen Anforderungen verletzen. Der Senat weist allerdings ausdrücklich darauf hin, dass in dieser einzelfallbezogenen, ohne hinreichende Sachaufklärungsgrundlage getroffenen, summarischen und großzügigen Betrachtung keine grundsätzliche und abschließende Entscheidung über die in Fällen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung geltenden formellen Pflichten zur Aufzeichnung der Kasseneinnahmen zu sehen ist.

65

Der Antragsteller hat tatsächlich Einzelaufzeichnungen zumindest über die vereinnahmten Geldbeträge geführt (dazu unten (1)). Seine Behauptung, weitere Uraufzeichnungen seien niemals erstellt worden und daher auch nicht aufbewahrungspflichtig, ist vom FA bisher nicht widerlegt worden und daher für Zwecke des AdV-Verfahrens zugrunde zu legen (unten (2)). Eine Rechtsgrundlage dafür, die Aufzeichnungen in gebundener Form führen zu müssen, ist jedenfalls bei Anwendung der im Eilverfahren geltenden Maßstäbe nicht ersichtlich (unten (3)). Darüber hinaus gehende Anforderungen, die der Antragsteller nicht erfüllt hätte, folgen auch nicht aus der vom FA und FG angeführten Rechtsprechung (unten (4)). Damit erfüllen die Aufzeichnungen des Antragstellers die oben zu bb) dargestellten Rechtsprechungsvorgaben (unten (5)). Zwar können diese Vorgaben die inhaltliche Vollständigkeit der Aufzeichnungen systembedingt nicht gewährleisten; ob die bisherigen Rechtsprechungsvorgaben daher unzureichend sind und einer Verschärfung bedürften, ist im Eilverfahren indes nicht zu entscheiden (unten (6)).

66

(1) Zu einer Einzelaufzeichnung seiner Erlöse war der Antragsteller --wie es wohl auch der Auffassung des FG entspricht-- bei summarischer Betrachtung nicht verpflichtet. Er hat allerdings tatsächlich Einzelaufzeichnungen --wenn auch beschränkt auf die reinen Beträge, ohne Angabe der Kundennamen und der im Einzelnen dargebotenen Speisen und Getränke-- geführt.

67

Das bisherige Vorbringen des FA zu der Frage, ob der Antragsteller Einzelaufzeichnungen geführt habe, ist unklar. Im Schriftsatz vom 10. November 2015 formuliert das FA, es treffe zu, dass für die laufenden Gaststättenumsätze Einzelaufzeichnungen geführt worden seien. Demgegenüber vertritt es im Schriftsatz vom 26. Januar 2016 die Auffassung, der Antragsteller habe zwar die Einnahmen je Kunde bzw. je bedienten Tisch getrennt aufgezeichnet; dies seien aber keine Einzelaufzeichnungen. Letzterem könnte der Senat bei summarischer Betrachtung nicht folgen. Mehr als eine getrennte Aufzeichnung pro Kunde wird bei einer Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung und Führung einer offenen Ladenkasse kaum verlangt werden können.

68

(a) Aus § 146 Abs. 1 Satz 1 AO ergab sich in den Streitjahren noch keine allgemeine Einzelaufzeichnungspflicht (anders die Rechtslage seit den Änderungen durch das Gesetz vom 22. Dezember 2016, BGBl I 2016, 3152). Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat lediglich für Kaufleute mit Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich aus den entsprechenden handelsrechtlichen Grundsätzen eine grundsätzliche Einzelaufzeichnungspflicht abgeleitet (BFH-Urteile vom 12. Mai 1966 IV 472/60, BFHE 86, 118, BStBl III 1966, 371, und vom 16. Dezember 2014 X R 42/13, BFHE 248, 99, BStBl II 2015, 519). Zu diesem Personenkreis gehört der Antragsteller aber nicht.

69

(b) Selbst wenn eine grundsätzliche Einzelaufzeichnungspflicht bestünde, könnte der Antragsteller sich für das Unterbleiben von Aufzeichnungen zu den Namen der Kunden und den jeweils zur Verfügung gestellten Speisen und Getränken aber auf die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aus Zumutbarkeitsgründen gewährten Erleichterungen berufen (vgl. hierzu ebenfalls BFH-Urteil in BFHE 86, 118, BStBl III 1966, 371).

70

Das FA bringt hierzu vor, nur bei Einzelhändlern mit einer Vielzahl von Barverkäufen an unbekannte Kunden über den Ladentisch und vergleichbaren Berufsgruppen bestehe keine Einzelaufzeichnungspflicht; hierauf könne sich der Antragsteller als Gastwirt (Dienstleister) nicht berufen.

71

Dem kann der Senat nicht folgen. Die Rechtsprechung hat die gewährten Erleichterungen niemals ausdrücklich auf Warenlieferanten beschränkt, sondern stets aus dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit abgeleitet. Insoweit kann aber bei Klein-Dienstleistern dieselbe Interessenlage bestehen wie bei kleinen Warenlieferanten. Bereits in den Gründen der Entscheidung in BFHE 86, 118, BStBl III 1966, 371 sind neben Einzelhandelsgeschäften auch Spielautomaten sowie Stehbierhallen genannt. Dabei handelt es sich aber ebenfalls um Dienstleistungen. Im Übrigen weist gerade die Darreichung von Speisen und Getränken eine erhebliche Nähe zu dem Verkauf von Waren etwa in einem Bäckereigeschäft auf.

72

(2) Die Behauptung des Antragstellers, er habe keine weiteren Uraufzeichnungen erstellt, so dass solche Aufzeichnungen auch nicht aufbewahrt und vorgelegt werden konnten, ist vom FA bisher nicht widerlegt worden und daher für Zwecke des AdV-Verfahrens zugrunde zu legen.

73

Das FA hat zumindest anfänglich unterstellt, den Einzelaufzeichnungen auf den Tageseinnahmen-Zetteln lägen gesonderte "Kellnerzettel" zugrunde, die als Uraufzeichnungen aufbewahrungspflichtig seien. Der Antragsteller hat die Existenz solcher "Kellnerzettel" bestritten und dazu erklärt, in aller Regel habe er allein bei den Gästen kassiert und den erhaltenen Betrag sogleich auf dem Tageseinnahmen-Zettel notiert. Jedenfalls für Zwecke der im AdV-Verfahren gebotenen lediglich summarischen Prüfung ist --in Ermangelung präsenter Beweismittel, die einen gegenteiligen Schluss zulassen würden-- hier von der Erklärung des Antragstellers auszugehen. Diese ist auch durchaus plausibel, da neben dem Antragsteller lediglich E und eine weitere Aushilfe --beide mit eher geringen Einkünften, die für eine bloße Teilzeitbeschäftigung sprechen-- im Betrieb tätig waren; zusätzlich waren in zwei Streitjahren noch zwei weitere Aushilfen tätig, allerdings angesichts eines Jahreslohns von ca. 1.000 € in äußerst geringem Umfang.

74

Soweit das FA in der Beschwerdeerwiderung die Vorlage von Kassenstreifen und Bons vermisst, hat es bisher nicht dargelegt, dass die vom Antragsteller --in zulässiger und auch vom FA dem Grunde nach nicht beanstandeter Weise-- verwendete offene Ladenkasse überhaupt in der Lage war, solche Belege auszugeben. Auch dies wäre erforderlichenfalls im Hauptsacheverfahren noch zu klären, kann beim derzeitigen Verfahrensstand aber nicht zu Lasten des Antragstellers herangezogen werden. Wenn allerdings die vom Antragsteller verwendete offene Ladenkasse zur Ausgabe von Kassenzetteln oder ähnlichen Belegen technisch in der Lage gewesen sein sollte, dann hätte der Antragsteller diese Belege als Ursprungsaufzeichnungen aufbewahren und dem Prüfer vorlegen müssen (vgl. Urteil des Niedersächsischen FG in EFG 2013, 291, unter I.2.h bb).

75

(3) Eine Rechtsgrundlage dafür, die Aufzeichnungen in gebundener Form führen zu müssen, ist jedenfalls bei Anwendung der im Eilverfahren geltenden Maßstäbe nicht ersichtlich.

76

Das FG hat die Aufzeichnungen nicht als ausreichend angesehen, weil sie auf losen, nicht durchnummerierten Blättern vorgenommen worden sind. Es sei nicht ansatzweise ersichtlich, wann, von wem und auf welche Weise die jeweiligen Tagesumsätze ermittelt worden seien. Sie stammten ersichtlich nur von einer Person und erweckten den Eindruck, sie seien im Nachhinein erstellt worden; Näheres bedürfe der Aufklärung im Hauptsacheverfahren.

77

Indes verlangt § 4 Abs. 3 EStG keine Aufzeichnungen in "Buch"form. Die gebundene oder jedenfalls eine in sich geschlossene Form wird etwa beim Fahrten"buch" verlangt (hierzu BFH-Urteil vom 9. November 2005 VI R 27/05, BFHE 211, 508, BStBl II 2006, 408), aber nicht bei bloßen "Aufzeichnungen".

78

Nicht nachvollziehbar ist des Weiteren, wie das FG zu der Wertung kommt, es sei nicht ansatzweise ersichtlich, vom wem die Tagesumsätze ermittelt worden seien. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller jedenfalls auf sämtlichen Tageseinnahmen-Zetteln, die in den Akten enthalten sind, die Summenbildung mit seinem Namenszeichen versehen hat. Dass es sich bei den weiteren, nicht in den Akten enthaltenen Einnahmezetteln anders verhielte, haben weder das FG noch das FA ausgeführt.

79

Die weitere Feststellung des FG, die Tageseinnahmen-Zettel seien überwiegend durch dieselbe Handschrift erstellt worden, spricht unter den im Streitfall gegebenen Umständen nicht mit dem Grad an Wahrscheinlichkeit, der im Eilverfahren für eine Verneinung ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide erforderlich wäre, für das vom FG angenommene Nacherstellen der Belege. Wie bereits ausgeführt (oben (2)), sind im Betrieb des Antragstellers außer ihm selbst nur noch E und eine Aushilfe (in zwei Streitjahren zwei weitere, äußerst geringfügig beschäftigte Aushilfen) tätig. Es ist also durchaus denkbar, dass in den meisten Fällen der Antragsteller selbst die Aufzeichnungen vorgenommen hat. Eine etwaige Nacherstellung der Tageseinnahmen-Zettel hatte vor dem FG nicht einmal das FA geltend gemacht. Da das FG hier einen Aufklärungsbedarf im Hauptsacheverfahren gesehen hat, hätte es näher gelegen, wegen bestehender tatsächlicher Zweifel AdV zu gewähren.

80

(4) Aus den vom FA angeführten --und vom FG gleichlautend übernommenen-- Entscheidungen lassen sich für den vorliegend zu beurteilenden Streitfall, worauf bereits der Antragsteller zutreffend hingewiesen hat, keine höheren Anforderungen ableiten.

81

Dem Senatsbeschluss in BFH/NV 2013, 902 lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem der dortige Steuerpflichtige --gerade abweichend vom Antragsteller des vorliegenden Verfahrens-- keine Einzelaufzeichnungen über seine Erlöse geführt, sondern lediglich die Tagessumme in sog. Kassenberichte eingetragen hatte. Das dortige FG hatte die Kassenberichte deshalb als nicht ausreichend angesehen, weil in ihnen zahlreiche Streichungen vorgenommen worden und Eintragungen unleserlich waren (Niedersächsisches FG, Urteil in EFG 2013, 291). So liegt der Streitfall indes nicht. Vorliegend hat der Antragsteller Einzelaufzeichnungen seiner Erlöse vorgenommen. Derartige Aufzeichnungen fehlten hingegen in den Fällen, die den vom FA angeführten Entscheidungen des Niedersächsischen FG und des beschließenden Senats zugrunde lagen.

82

In dem Sachverhalt, zu dem das FG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 26. Juli 2007  14 K 3368/06 (nachgehend Senatsbeschluss vom 7. Februar 2008 X B 189/07, beide nicht veröffentlicht --n.v.--) entschieden hat, hatte der Steuerpflichtige eine Registrierkasse genutzt, die von dieser Kasse erstellten Tagesendsummenbons (Z-Bons) aber vernichtet. Damit ist der vorliegende Sachverhalt, in dem das FA bisher nicht einmal vorgetragen hat, die vom Antragsteller verwendete offene Ladenkasse sei technisch überhaupt zur Ausgabe von beleghaften Ursprungsaufzeichnungen in der Lage, nicht vergleichbar.

83

In dem darüber hinaus vom FA angeführten BFH-Beschluss vom 2. September 2008 V B 4/08 (n.v.) wird zwar der zugrunde liegende Sachverhalt nicht vollständig mitgeteilt. Offenbar hatte der dortige Steuerpflichtige aber nur eine Sammlung seiner Ausgangsrechnungen ohne weitere Aufzeichnungen (z.B. Ermittlung der Tageseinnahmen) vorgelegt. Außerdem hatte bereits der Steuerberater des dortigen Steuerpflichtigen pauschale Zuschätzungen zu den Erlösen vorgenommen. Auch damit ist der vorliegende Sachverhalt, in dem der Antragsteller selbst täglich seine Einnahmen ermittelt hat, nicht vergleichbar.

84

Dem Urteil des Saarländischen FG vom 21. Juni 2012  1 K 1124/10 (EFG 2012, 1816) lag ebenfalls ein Sachverhalt zugrunde, in dem lediglich die Gesamtsumme der Tageseinnahmen aufgezeichnet worden war. Das dann erforderliche tägliche Auszählen des Kassenbestands war unterblieben.

85

(5) Damit erfüllen die Aufzeichnungen des Antragstellers die oben zu bb) dargestellten Rechtsprechungsvorgaben. Danach wird eine "geordnete Belegablage mit Einzelaufzeichnung der Erlöse" für ausreichend erachtet. Der Antragsteller hat seine Erlöse betragsmäßig einzeln aufgezeichnet. Da für Zwecke dieses Eilverfahrens zu unterstellen ist, dass der Antragsteller keine weiteren Ursprungsaufzeichnungen geführt hat, handelt es sich bei den Tageseinnahmen-Zetteln um die Ursprungsaufzeichnungen. Das Anbringen des Tagesdatums stellt zumindest ein mögliches Ordnungskriterium dar, so dass auch die Forderung nach einer "geordneten Belegablage" --die nach den unter (3) dargestellten Grundsätzen nicht notwendig in Buchform erfolgen muss-- erfüllt ist.

86

(6) Dem FA ist zwar zuzugeben, dass die Aufzeichnungen des Antragstellers nicht die Gewähr ihrer inhaltlichen Vollständigkeit bieten. Diese fehlende Vollständigkeitsgewähr ist aber im Wesentlichen durch die --zulässige-- Verwendung einer offenen Ladenkasse in Kombination mit den geringeren gesetzlichen Anforderungen an die Aufzeichnungen bei der --hier ebenfalls zulässigen-- Wahl der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung bedingt. Solange der Gesetzgeber eine derartige Kassenführung und eine derartige Gewinnermittlungsart zulässt, kann aus dem Umstand, dass es hier systembedingt keine Vollständigkeitsgewähr geben kann, jedenfalls bei summarischer Betrachtung keine Befugnis zur Vollschätzung abgeleitet werden.

87

Selbst die Führung der vom FA verlangten Kassenberichte würde keineswegs ausschließen, dass zur Steuerhinterziehung entschlossene Steuerpflichtige einen Teil ihrer Erlöse außerhalb ihrer offenen Ladenkasse vereinnahmen und die entsprechenden Beträge von vornherein nicht in ihre Kassenberichte aufnehmen. Die Kassen-Nachschau --als ein mögliches Instrument einer wirksamen Kontrolle der Vollständigkeit der Ursprungsaufzeichnungen-- ist trotz frühzeitiger Kenntnis des Gesetzgebers von der Problematik der vollständigen Einnahmeerfassung in den "Bargeld-Branchen" erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 2018 in § 146b AO aufgenommen worden (Gesetz vom 22. Dezember 2016, BGBl I 2016, 3152).

88

Entscheidend für die Beurteilung der Frage, ob die im Einzelfall vorliegenden Aufzeichnungen ordnungsgemäß sind, ist nicht, ob das verwendete Aufzeichnungssystem bei hinreichender krimineller Energie noch Möglichkeiten zur Steuerverkürzung bietet, sondern ob es den gesetzlichen Anforderungen genügt. Dies ist hier --bei Vornahme der im Eilverfahren gebotenen, hier zugunsten des Antragstellers wirkenden Sachverhaltsunterstellungen-- noch der Fall. Ob die bisherigen Rechtsprechungsvorgaben an die Form und den Inhalt von Aufzeichnungen in Fällen der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung und der Verwendung einer offenen Ladenkasse unzureichend sind und daher noch für die Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 einer Verschärfung bedürften, ist im Eilverfahren nicht zu entscheiden.

89

dd) Auch die Bedenken, die das FA hinsichtlich der materiellen Richtigkeit --insbesondere der betragsmäßigen Vollständigkeit-- der Aufzeichnungen geäußert hat, sind beim gegenwärtigen Stand der Sachaufklärung nicht geeignet, ernsthafte Zweifel am Bestehen einer Schätzungsbefugnis hinsichtlich der Einnahmen aus dem laufenden Gaststättenbetrieb auszuschließen.

90

(1) Seine Bedenken gründet das FA zunächst auf den Umstand, dass für einige Tage des Jahres --noch dazu überwiegend für umsatzstarke Samstage-- keine Tageseinnahmen-Zettel vorliegen. Indes handelt es sich dabei um relativ wenige Tage. Im Betrieb waren --wie bereits dargelegt-- im Wesentlichen der Antragsteller, E und eine bzw. drei Aushilfen tätig. Es ist daher durchaus plausibel, dass eine nahezu ausschließlich vom Inhaber und seiner Ehefrau bewirtschaftete Gaststätte nicht an 365 Tagen im Jahr geöffnet haben kann. Im fortzuführenden Hauptsacheverfahren wird das FA die Möglichkeit haben, mit Hilfe anderer Beweismittel (z.B. Befragung von Zeugen, Auswertung von Inseraten) darzulegen, dass die Gaststätte an Tagen, für die der Antragsteller eine Schließung behauptet, gleichwohl geöffnet hatte. Zudem kommt ein Abgleich mit den Daten von Veranstaltungen in Betracht. Auf die bloße Behauptung des FA, es sei nicht glaubhaft, dass eine inhabergeführte Gaststätte an 14 bis 25 Tagen jährlich geschlossen sei, wird die Inanspruchnahme einer Vollschätzungsbefugnis hingegen nicht gestützt werden können.

91

(2) Auch der Umstand, dass das FA die --von ihm selbst ermittelten-- Warenbestände des Antragstellers für unplausibel hält, ist bei summarischer Betrachtung nicht geeignet, eine materielle Unrichtigkeit der Aufzeichnungen des Antragstellers zu belegen.

92

Der Antragsteller, der seinen Gewinn durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelt, ist zur Aufzeichnung seiner Warenbestände nicht verpflichtet. Das FA hat die von ihm angenommenen Warenbestände daher anhand einer --weder erläuterten noch aus den Akten nachvollziehbaren-- Rückrechnung aus bestimmten Teilergebnissen des Zeitreihenvergleichs geschätzt. Es hat ausgeführt, dabei über alle drei Streitjahre einen konstanten RAS unterstellt zu haben, und damit zu begründen versucht, weshalb es die von ihm selbst ermittelten Veränderungen der Warenbestände --entgegen der nachvollziehbaren Forderung des Antragstellers-- nicht als Korrektiv in die Schätzung der monatlichen RAS einbezogen hat.

93

Die Annahme eines über drei Jahre konstanten RAS dürfte indes so weit von der betrieblichen Realität entfernt sein, dass eine Verwertung der Ergebnisse der Warenbestands-Schätzung jedenfalls bei summarischer Betrachtung nicht zu Lasten des Antragstellers möglich ist. Das Vorbringen des FA zu den Warenbeständen erscheint insoweit als widersprüchlich: Einerseits will es aus den von ihm angenommenen Warenbeständen Unplausibilitäten ableiten, die zu Lasten des Antragstellers gehen sollen; andererseits hält es aber die von ihm selbst bei der Schätzung dieser Warenbestände angewandte Methodik für so wenig überzeugend, dass es eine Berücksichtigung der Warenbestandsveränderungen bei der Schätzung der monatlichen RAS ablehnt.

94

c) Hinsichtlich der auf dem Volksfest erzielten Erlöse genügen die Aufzeichnungen des Antragstellers hingegen auch bei summarischer Betrachtung nicht den geltenden Anforderungen.

95

Der Antragsteller hat ausweislich der in den Akten enthaltenen Unterlagen insoweit lediglich die Einnahmen eines gesamten Tages in einer Summe notiert. Wie diese Summe zustande gekommen ist, ist den Unterlagen und auch den Erläuterungen des Antragstellers nicht zu entnehmen.

96

Zwar war der Antragsteller auch hinsichtlich seiner Einnahmen aus dem Volksfest von der Pflicht befreit, Einzelaufzeichnungen zu führen, da er "über die Theke hinweg" mit einer unbekannten Vielzahl von Personen Bargeschäfte von geringem Wert tätigte. Da er keine weiteren Ursprungsaufzeichnungen geführt hat, hätte er dann aber nach den oben zu b bb) dargestellten Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, die Tageseinnahmen durch tatsächliches Auszählen ermitteln und dies in einem Kassenbericht dokumentieren müssen. Dies ist nicht geschehen, so dass die Aufzeichnungen in Bezug auf die beim Volksfest erzielten Erlöse formell nicht ordnungsgemäß sind.

97

d) Gleiches gilt in Bezug auf die Einnahmen des Antragstellers aus den Veranstaltungen.

98

aa) Der Senat kann insoweit offenlassen, ob der Antragsteller --mit Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung-- schon vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 146 Abs. 1 AO (Gesetz vom 22. Dezember 2016 mit Wirkung zum 29. Dezember 2016) in diesem Geschäftsbereich zu Einzelaufzeichnungen verpflichtet war. Immerhin waren dem Antragsteller die Namen seiner Geschäftspartner hier bekannt; der Umfang des einzelnen Geschäfts überstieg den Bagatellbereich.

99

bb) Der Antragsteller hat zu den Veranstaltungen weder Angebote noch Vereinbarungen, Rechnungen oder Quittungen vorgelegt. Er hat hierzu behauptet, solche Unterlagen nicht erstellt zu haben, so dass sie auch nicht aufbewahrungspflichtig seien.

100

Das FA hat jedoch substantiiert vorgetragen, dass zu den Kunden des Antragstellers zumindest auch eine GmbH und eine Stadtverwaltung gehörten. Der Senat hält es aber auch bei Anwendung des im AdV-Verfahren gebotenen großzügigen Prüfungsmaßstabs für ausgeschlossen, dass derartige Kunden auf die Ausstellung ordnungsgemäßer Rechnungen verzichten könnten. Eine GmbH benötigt eine solche Rechnung bereits für den Vorsteuerabzug und für ihre eigene Buchhaltung; eine Stadtverwaltung wird Zahlungen in aller Regel nur gegen Vorlage schriftlicher Rechnungen leisten. Daher hält der Senat die Behauptung des Antragstellers, im Veranstaltungsbereich seien keinerlei schriftliche Unterlagen angefallen --auch in Bezug auf jedenfalls einen Teil der anderen Veranstaltungskunden-- nicht für glaubhaft. Schon zum Zwecke der Organisation derartiger Veranstaltungen --insbesondere zur Vermeidung von Missverständnissen im Verhältnis zu seinen Auftraggebern-- dürfte der Antragsteller eigene Aufzeichnungen geführt haben.

101

cc) Für das Hauptsacheverfahren bietet es sich an, dass das FA diejenigen Kunden, die aus den Aufzeichnungen des Antragstellers namentlich bekannt sind, zur Höhe der Zahlbeträge und zu Einzelheiten der Veranstaltungen befragt. Bei Differenzen zu den Angaben des Antragstellers wäre nicht nur ein formeller, sondern zudem ein materieller Mangel der Aufzeichnungen nachgewiesen, der auch die Anwendung gröberer Schätzungsmethoden rechtfertigen würde. Demgegenüber wäre bei einer Übereinstimmung zwischen den Angaben des Antragstellers und seiner Kunden eine Vollschätzung in diesem Bereich nicht zu begründen.

102

e) Damit ist für Zwecke des Eilverfahrens von formellen Mängeln der Aufzeichnungen des Antragstellers in den Bereichen "Volksfest" und "Veranstaltungen", nicht aber im Bereich "laufender Gaststättenbetrieb" auszugehen. Materielle Mängel der Erfassung der Einnahmen hat das FA hingegen bisher nicht konkret dargelegt.

103

aa) Das Gewicht der festgestellten formellen Mängel ist so erheblich, dass sie eine Schätzungsbefugnis begründen können. Ohne die Vorlage der erforderlichen Kassenberichte zu den Einnahmen aus dem Volksfest ist nicht erkennbar, wie die Tagessumme ermittelt worden ist. Das Fehlen jeglicher Unterlagen zu den Veranstaltungen ist ebenfalls ein gewichtiger Mangel, weil es keine andere Möglichkeit zur Kontrolle der inhaltlichen Richtigkeit der Aufzeichnungen des Antragstellers gibt.

104

bb) Allerdings betreffen die festgestellten formellen Mängel lediglich abgegrenzte Teilbereiche des Betriebs des Antragstellers. Für eine Vollschätzung der Erlöse, die auch den laufenden Gaststättenbetrieb umfasst, sieht der Senat daher beim derzeitigen Stand der Sachaufklärung keinen Raum.

105

Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen Sachverhaltsermittlungen des FA und FG nicht beurteilen, wie umfangreich die Erlöse der Bereiche "Volksfest" und "Veranstaltungen" im Verhältnis zu den Gesamterlösen des Antragstellers sind. Das Volksfest beschränkte sich auf einen Zeitraum von drei Tagen jährlich. Auch wenn an diesen Tagen überdurchschnittlich hohe Erlöse erzielt worden sein dürften, dürfte der Anteil am Gesamtjahresumsatz eher gering sein.

106

Ferner hat das FA nicht mitgeteilt, in welchem Umfang die Einnahmen des Antragstellers auf die Durchführung von Veranstaltungen entfallen. Zwar scheint es sich auch hier im Einzelfall um Beträge zu handeln, die im Verhältnis zu den Tageseinnahmen des Antragstellers aus dem laufenden Gaststättenbetrieb durchaus erheblich sind. Unbekannt ist aber, wie häufig der Antragsteller derartige Veranstaltungen ausgerichtet hat. Dies geht im AdV-Verfahren vorläufig zu Lasten des FA, das sich zur Begründung seiner Schätzungsbefugnis auf das Vorhandensein der Mängel und ihr Gewicht beruft und die erforderlichen Angaben unschwer im Rahmen der Außenprüfung hätte ermitteln und darlegen können.

107

3. Dies zugrunde gelegt ist nach dem derzeitigen Stand der Sachaufklärung nicht ersichtlich, dass die in der Senatsrechtsprechung entwickelten Voraussetzungen dafür, eine Schätzung der Höhe nach auf die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs --hier: in der Sonderform der Quantilsschätzung-- stützen zu können, im Streitfall erfüllt sind.

108

Die Anforderungen, die der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung an die Durchführung eines Zeitreihenvergleichs gestellt hat (dazu unten a), gelten bei summarischer Betrachtung auch dann, wenn die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs durch Vornahme einer Quantilsschätzung zur Begründung der Schätzungshöhe herangezogen werden (unten b). Danach ist der Zeitreihenvergleich in Fällen, in denen keine materiellen Mängel der Aufzeichnungen feststellbar sind, grundsätzlich nachrangig zu anderen Schätzungsmethoden; im Streitfall hat das FA die fehlende Eignung anderer Methoden aber bisher nicht hinreichend dargelegt (unten c). Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob der Prüfer den Zeitreihenvergleich im Streitfall technisch korrekt durchgeführt hat (unten d). Schließlich kann der Senat derzeit nicht erkennen, weshalb gerade der von der Quantilsschätzungs-Software der Finanzverwaltung ausgeworfene Wert "am wahrscheinlichsten" sein soll (unten e).

109

a) Der Senat hat in seinem Urteil vom 25. März 2015 X R 20/13 (BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743) in Bezug auf die dort streitgegenständliche Variante des Zeitreihenvergleichs u.a. die folgenden Grundsätze aufgestellt:

-  

Die dort dargestellte Variante des Zeitreihenvergleichs führt auch bei einer formell und materiell ordnungsmäßigen Buchführung denklogisch immer zu einem Mehrergebnis gegenüber der Buchführung, was eine vorsichtige Interpretation der Ergebnisse dieser Methode gebietet (Rz 39).

-  

Die zeitliche Verteilung des Wareneinkaufs durch den Prüfer wird im Regelfall den Schlüssel zum Verständnis und zur Einordnung der Einzelergebnisse des Zeitreihenvergleichs darstellen; die Kenntnis der bei diesem Schätzungsschritt vorgenommenen Wertungen des Prüfers ist für den Steuerpflichtigen daher von erheblicher Bedeutung. Zuordnungsfehler am Anfang oder Ende der maßgeblichen Zehn-Wochen-Periode können aufgrund des mathematischen Hebeleffekts das rechnerische Ergebnis des Zeitreihenvergleichs in erheblichem Umfang beeinflussen und verzerren (Rz 51).

Der Zeitreihenvergleich basiert entscheidend auf der Grundannahme, dass im Betrieb das Verhältnis zwischen dem Wareneinsatz und den Erlösen im betrachteten Zeitraum weitgehend konstant ist. Fehlt es an dieser weitreichenden Konstanz, haben die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs regelmäßig keine hinreichende Aussagekraft (Rz 56).

Bei einer Buchführung, die formell ordnungsgemäß ist oder nur geringfügige formelle Mängel aufweist, kann der Nachweis der materiellen Unrichtigkeit grundsätzlich nicht allein aufgrund der Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs geführt werden (Rz 62).

Ist die Buchführung formell nicht ordnungsgemäß, sind aber materielle Unrichtigkeiten der Einnahmenerfassung nicht konkret nachgewiesen, sind andere Schätzungsmethoden, die auf betriebsinternen Daten aufbauen oder in anderer Weise die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Steuerpflichtigen berücksichtigen, grundsätzlich vorrangig heranzuziehen. Nur wenn solche Schätzungsmethoden nicht sinnvoll einsetzbar sind, können die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs einen Anhaltspunkt für die Höhe der erforderlichen Hinzuschätzung bilden. Diese Ergebnisse sind aber von Amts wegen auf ihre Plausibilität anhand der besonderen betrieblichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zu überprüfen. Bei verbleibenden Zweifeln können Sicherheitsabschläge in einem Umfang geboten sein, der über eine bloße Abrundung des rechnerischen "Mehrergebnisses" hinausgeht (Rz 63 bis 65).

Steht bereits aus anderen Gründen fest, dass die Buchführung nicht nur formell, sondern auch materiell unrichtig ist und übersteigt die Unrichtigkeit eine von den Umständen des Einzelfalls abhängige Bagatellschwelle, können die Ergebnisse eines --technisch korrekt durchgeführten-- Zeitreihenvergleichs auch für die Ermittlung der erforderlichen Hinzuschätzung der Höhe nach herangezogen werden, sofern sich im Einzelfall keine andere Schätzungsmethode aufdrängt, die tendenziell zu genaueren Ergebnissen führt und mit vertretbarem Aufwand einsetzbar ist (Rz 66).

-  

Sofern die Ausgangsparameter (insbesondere die Feststellung des Warenbestands) mit Unsicherheiten behaftet sind, ist von Amts wegen eine Sensitivitätsanalyse durchzuführen, die verdeutlichen muss, welche Auswirkungen die nicht behebbaren Unsicherheiten bei einzelnen Parametern auf die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs haben können (Rz 67 bis 69).

110

b) Diese Anforderungen gelten jedenfalls bei summarischer Betrachtung auch dann, wenn die Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs durch Vornahme einer Quantilsschätzung zur Begründung der Höhe einer Hinzuschätzung herangezogen werden sollen.

111

aa) Auch die Quantilsschätzung stellt eine Vollschätzung dar, da das Ergebnis der eigenen Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen vollständig verworfen und durch ein anderes Ergebnis ersetzt wird. Die besonderen Risiken (denknotwendig Ausweis eines Mehrergebnisses auch gegenüber einer formell und materiell ordnungsmäßigen Gewinnermittlung, erhebliche mathematische Hebelwirkungen, Ausgabe großer und kaum vollständig überprüfbarer Datenmengen) bestehen hier ebenso.

112

Letztlich handelt es sich bei der Quantilsschätzung im Kern lediglich um eine geänderte Interpretation der Ergebnisse derjenigen Variante des Zeitreihenvergleichs, die Gegenstand der Senatsentscheidung in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743 war. Während dort der Zehn-Wochen-Zeitraum mit dem höchsten gleitenden RAS als maßgeblich für das Gesamtjahr angesehen wurde, wird bei der Quantilsschätzung der nächsthöchste Einzel-RAS herangezogen, der nach dem Ausscheiden der 20 % höchsten Einzelwerte verbleibt. Eine solche Schätzung wird auch bei einer formell und materiell ordnungsmäßigen Gewinnermittlung regelmäßig zu Mehrergebnissen führen, da der 80 %-Wert meist höher liegen wird als der 50 %-Wert (Mittelwert). Die mathematischen Hebelwirkungen beziehen sich bei der Quantilsschätzung zwar nicht auf den Anfang und das Ende des maßgebenden Zehn-Wochen-Zeitraums, wohl aber auf den Anfang und das Ende desjenigen Zeitraums, dessen RAS nach Ausscheiden der 20 % höchsten Einzelwerte als maßgeblich für das Gesamtjahr herangezogen wird.

113

bb) Diese Einschätzung liegt --jedenfalls im Ergebnis-- auch einem Großteil der bisher bekannt gewordenen instanzgerichtlichen Entscheidungen zur Quantilsschätzung zugrunde.

114

In einem Fall, in dem materielle Mängel der Gewinnermittlung nicht konkret nachgewiesen waren, hat das FG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 24. August 2016  5 V 5089/16, EFG 2017, 12) in einem AdV-Verfahren die Quantilsschätzung nicht als geeignete Schätzungsmethode angesehen und stattdessen eine eigene Hinzuschätzung in geringerer Höhe vorgenommen. Dies entspricht der Senatsrechtsprechung (vgl. Urteil in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 63 ff.).

115

Das FG Hamburg (Beschluss vom 26. August 2016  6 V 81/16) hatte in einem AdV-Beschluss einen Sachverhalt zu beurteilen, in dem Schwarzeinkäufe konkret nachgewiesen waren, die Gewinnermittlung sich also schon ohne den Zeitreihenvergleich als materiell unrichtig erwiesen hatte. Es hat hier die Quantilsschätzung dem Grunde nach nicht beanstandet, der Höhe nach aber erhebliche Korrekturen vorgenommen. Damit liegt auch das FG Hamburg auf der Linie der Senatsrechtsprechung, die bei nachgewiesenen materiellen Mängeln die Heranziehung der Ergebnisse eines technisch korrekt durchgeführten Zeitreihenvergleichs für die Höhe der Hinzuschätzung grundsätzlich zulässt (Urteil in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 66).

116

Demgegenüber hat ein anderer Senat des FG Hamburg (Beschluss vom 31. Oktober 2016  2 V 202/16, EFG 2017, 265) --ebenso wie die Vorinstanz im vorliegenden Verfahren-- in einem Fall, in dem lediglich formelle Mängel nachgewiesen waren, aus den Ergebnissen des Zeitreihenvergleichs und einer Ziffernanalyse auf die materielle Unrichtigkeit der Buchführung geschlossen und eine durchgeführte Quantilsschätzung nicht beanstandet.

117

cc) In der Literatur halten vor allem Autoren, die in der Finanzverwaltung tätig sind, die Quantilsschätzung für eine sachgerechte Schätzungsmethode (z.B. Schumann/Wähnert, Die Steuerberatung 2012, 535; Wähnert, Die steuerliche Betriebsprüfung 2015, 92; Becker, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2016, 1430, 1435; Becker/Schumann/Wähnert, DStR 2017, 1243).

118

Andere Autoren übertragen demgegenüber die in der Senatsrechtsprechung in Bezug auf den Zeitreihenvergleich vorgenommenen Einschränkungen auch auf die Quantilsschätzung (ausführlich Bleschick, DStR 2017, 426, und Krumm, Der Betrieb --DB-- 2017, 1105; ferner Hartmann, EFG 2017, 12).

119

c) Nach der Senatsrechtsprechung ist ein Zeitreihenvergleich in Fällen, in denen --wie hier-- zwar formelle Mängel vorliegen, materielle Mängel der Aufzeichnungen aber nicht konkret nachgewiesen sind, im Verhältnis zu anderen Schätzungsmethoden nachrangig; ggf. sind deutliche Abschläge erforderlich.

120

Bisher hat das FA nicht hinreichend dargelegt, dass eine Heranziehung anderer Schätzungsmethoden im Streitfall ausscheidet. Diese Frage wird daher im Hauptsacheverfahren zu klären sein. Die danach gegenwärtig bestehende Unsicherheit, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Stützung der Schätzungshöhe auf einen Zeitreihenvergleich erfüllt sind, rechtfertigt dem Grunde nach die Gewährung von AdV.

121

aa) Zur Geldverkehrsrechnung hat das FA ausgeführt, diese Methode scheide im Streitfall aus. Sie habe mit Abschaffung der Vermögensteuer und der damit verbundenen Offenlegungspflicht für Privatvermögen stark an Bedeutung verloren. Weder die vom Steuerpflichtigen genutzten Bankkonten noch die dortigen Geldbewegungen könnten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermittelt werden. E habe in einem Gespräch angegeben, der Antragsteller unterhalte ein Bankkonto im Ausland, auf das er regelmäßig Bargeldbeträge eingezahlt habe. Der Antragsteller habe im Eröffnungsgespräch erklärt, die Bareinnahmen in einem Tresor zu lagern und einen Großteil der Ausgaben aus diesem Bargeldbestand zu bestreiten. Die Hobbys, Vorlieben und der Lebensstandard des Antragstellers seien nicht bekannt. Zudem habe der Antragsteller auf eine längere Amerikareise mit unkalkulierbaren Kosten gespart.

122

Hierzu ist anzumerken, dass im Streitfall eine Pflicht zur Abgabe von Vermögensteuererklärungen angesichts der geringen Höhe jedenfalls des erkennbaren Vermögens des Antragstellers und der hohen Freibeträge mutmaßlich nicht bestanden hätte, die Abschaffung der Vermögensteuer im Streitfall --und in vielen anderen Kleinunternehmer-Fällen-- daher nicht kausal für die Durchführbarkeit oder Nichtdurchführbarkeit einer Geldverkehrsrechnung sein kann. Im Gegenteil ist zeitlich nach Abschaffung der Vermögensteuer durch die erheblich erweiterten Möglichkeiten des Kontenabrufs (§ 93 Abs. 7, § 93b AO) und die deutlich gestärkten Möglichkeiten des internationalen Datenaustausches eine Transparenz des Bankkontenbestands eingetreten, die zu Zeiten der Erhebung der Vermögensteuer kaum denkbar gewesen sein dürfte.

123

Unterlagen zu den vermeintlichen Angaben der E zu einem Auslands-Bankkonto des Antragstellers befinden sich nicht in den vom FA vorgelegten Akten, so dass der Senat nicht in der Lage ist, zu beurteilen, wie konkret solche Angaben waren und welche Folgen sie für das vorliegende Verfahren haben könnten. Das FA ist aber frei, im fortgeführten Hauptsacheverfahren diesen Angaben nachzugehen und entsprechende Ermittlungen anzustellen. Sollte E konkrete Angaben zu einem Auslandskonto gemacht haben, dürfte es angesichts des heute erreichten Standes des internationalen Informationsaustausches in Steuersachen durchaus möglich sein, Kenntnis über die dortigen Geldbewegungen zu erlangen und sie in eine Geldverkehrsrechnung einzubeziehen -- sofern sich aus der Höhe etwaiger bisher unbekannter Bargeldeinzahlungen nicht ohnehin bereits auf die materielle Unrichtigkeit der erklärten Einnahmen schließen ließe und damit nach der Senatsrechtsprechung auch die Anwendung gröberer Schätzungsmethoden bis hin zu einem Zeitreihenvergleich zulässig wäre (vgl. Urteil in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 66).

124

Hinsichtlich des Vorbringens des FA zur Nutzung des Tresors ist darauf hinzuweisen, dass der Prüfer zum Eröffnungsgespräch insoweit lediglich notiert hat: "Bareinnahmen Tresor → dann Einzahlung nach Bedarf". Hieraus folgt nur, dass die Bareinnahmen nicht täglich, sondern zusammengefasst für mehrere Tage auf das betriebliche Bankkonto eingezahlt worden sind. Es ist aber nicht ersichtlich, dass dies ein Hindernis für die Vornahme einer Geldverkehrsrechnung darstellen könnte.

125

Informationen zu den Hobbys und dem Lebensstandard des Antragstellers dürften durchaus ermittelbar sein; jedenfalls ist dies der Finanzverwaltung auch in zahlreichen anderen Fällen, die dem Senat bekannt sind, möglich gewesen. Ersatzweise können statistische Durchschnittswerte für die Lebenshaltungskosten herangezogen werden, was in der Verwaltungspraxis nach Kenntnis des Senats durchaus üblich ist. Die vom FA erwähnten Sparbeiträge für die Amerika-Reise wären ebenso wie jede andere Geldposition in die Geldverkehrsrechnung einzubeziehen.

126

bb) Die Erwägungen des FA zur Unmöglichkeit der Durchführung einer Aufschlagkalkulation sind jedenfalls insoweit in tatsächlicher Hinsicht fehlerhaft, als das FA zur Begründung u.a. anführt, es lägen auch für das laufende Gaststättengeschäft keine Informationen zu den Preisgestaltungen vor. Tatsächlich hat der Antragsteller nach Aktenlage alle von ihm in den Streitjahren verwendeten Speisekarten vorgelegt. Damit ist die Preisgestaltung bekannt.

127

d) Darüber hinaus bestehen auch Bedenken, ob der Zeitreihenvergleich im Streitfall technisch korrekt durchgeführt worden ist und der Prüfer bereits von Amts wegen alle betrieblichen Besonderheiten in die von ihm herangezogenen Datengrundlagen einbezogen hat.

128

aa) Die vom Antragsteller während des Prüfungszeitraums vorgenommene erhebliche Preiserhöhung (nach der aktuellen Auffassung des FA immerhin 26 % zum 1. Januar 2009) bedeutet eine wesentliche Änderung im Betrieb, die es bereits methodisch ausschließt, einen durchgehenden Zeitreihenvergleich für die Zeit vor und nach der Preiserhöhung vorzunehmen (vgl. zu dem Erfordernis eines weitgehend konstanten Verhältnisses zwischen Wareneinsatz und Erlösen Urteil in BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 56). Das FA hat hierzu in der Beschwerdeerwiderung ausgeführt, mit der "Konjunkturanpassung" hätten die Ergebnisse der Jahre 2009 und 2010 an das Preisniveau des Jahres 2008 angepasst werden sollen, um die Vergleichbarkeit der Schätzung herzustellen. Indes soll eine Schätzung nicht vergleichbar, sondern möglichst realitätsnah sein. Wenn im Prüfungszeitraum eine erhebliche Preiserhöhung stattgefunden hat, dann muss die Schätzung dies berücksichtigen, nicht aber die --nicht miteinander vergleichbaren-- RAS der Jahre vor und nach der Preiserhöhung vergleichbar machen.

129

bb) Im Betrieb des Antragstellers haben die Bargeschäfte zwar sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite weit überwogen. Allerdings hätte der Prüfer von Amts wegen die unbar getätigten Geschäfte in seine Datenanalyse einbeziehen müssen und sie nicht den Bargeschäften gleichstellen dürfen.

130

Auch wenn nur 31 von insgesamt mehr als 4.000 Eingangsrechnungen unbar bezahlt worden sind, dürfte es sich dabei tendenziell um die höheren Beträge handeln, so dass das tatsächliche Gewicht dieser Ausgaben --und die dadurch ausgelöste Verzerrung der Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs-- höher sein dürfte als der geringe prozentuale Anteil an der Gesamtheit der Eingangsrechnungen. Gleiches dürfte für die unbar erzielten Erlöse gelten.

131

Nach Abschluss der Außenprüfung hat das FA zwar erkannt, dass hierin ein Mangel des Zahlenwerks liegt, und den Antragsteller um nochmalige Übermittlung der entsprechenden Eingangsrechnungen und Bankunterlagen gebeten. Der Antragsteller hat hierauf --soweit ersichtlich-- bisher nicht reagiert. Gleichwohl geht die unterbliebene Einbeziehung der unbaren Zahlungen im gegenwärtigen Verfahrensstadium noch zu Lasten des FA, das den Zeitreihenvergleich schon von Anfang an in einer technisch korrekten Form hätte durchführen können und müssen. Sollte der Antragsteller die vom FA nochmals angeforderten Unterlagen allerdings auch im weiteren Verlauf des fortzuführenden Hauptsacheverfahrens nicht vorlegen, würde die darin zu sehende Verletzung seiner Mitwirkungspflichten die Verletzung der Ermittlungspflichten des FA überholen, so dass dem FA dies nicht mehr zum Nachteil gereichen könnte.

132

cc) Eine Verteilung der Einkäufe über den Zeitraum bis zum nächsten Einkauf gleichartiger Waren ist offensichtlich unterblieben. In einem solchen Fall sind einem Zeitreihenvergleich  --vor allem dann, wenn die jeweils betrachteten Zeitabschnitte für die Ermittlung der Einzel-RAS im Verhältnis zur durchschnittlichen Umschlagzeit der eingekauften Waren relativ kurz sind-- aber erhebliche rechnerische Unsicherheiten immanent.

133

Da auch das FA davon ausgeht, dass der Antragsteller selbst bei einer sehr gängigen Ware wie dem Hauptumsatzträger Bier eine Vorratshaltung über einen Zeitraum von bis zu zwei Wochen betrieben hat --was immerhin der Hälfte des vom FA herangezogenen (Monats-)Zeitraums für die Schätzung der einzelnen RAS entspricht--, sind die statistischen Auswirkungen von Verschiebungen der einzelnen Wareneinkäufe als sehr hoch anzusehen.

134

Darüber hinaus berücksichtigt das Vorbringen des FA, der Antragsteller habe im Regelfall knapp einmal wöchentlich Bier eingekauft, nicht, dass in der Gaststätte auch zahlreiche Sorten Schnäpse angeboten wurden. Zu deren Umschlaghäufigkeit hat das FA keine Ermittlungen vorgenommen. Nach der Lebenserfahrung dürfte in diesem Bereich aber durchaus eine nennenswerte --in ihrem Umfang zudem schwankende-- Lagerhaltung bestehen.

135

Unzutreffend ist die Erwägung des FA, etwaige durch den Monatswechsel bedingte Verschiebungen zwischen dem Zeitpunkt des Wareneinkaufs (bzw. der Bezahlung der Eingangsrechnungen) und dem --für die Ermittlung des zutreffenden RAS allein maßgeblichen-- Zeitpunkt des tatsächlichen Wareneinsatzes seien zu vernachlässigen, weil sich die Auswirkungen auf den RAS in den Folgemonaten ausgleichen würden. Dieser Einwand verkennt, dass die Methode der Quantilsschätzung gerade auf der Heranziehung eines der höchsten RAS beruht. Wenn aber ein Teil der in die Betrachtung einbezogenen Einzel-RAS wegen der durch den Monatswechsel bedingten Verschiebungen überhöht ist, kommt es eben nicht zu einem Ausgleich. Vielmehr bleiben diese überhöhten RAS in der Gesamtrechnung bestehen und werden dann zur Begründung der Höhe der Hinzuschätzung herangezogen. Der Antragsteller hat selbst dargelegt, dass im Streitfall bereits eine --auch angesichts der konkreten betrieblichen Verhältnisse als eher geringfügig anzusehende-- Verschiebung eines Wareneinkaufs/Wareneinsatzes im Umfang von nur 250 € über eine Monatsgrenze hinaus zu einer Veränderung des Monatswertes des RAS um 21 Prozentpunkte führt.

136

Die Durchführung von Veranstaltungen, die am jeweiligen Tag zu einem deutlichen "Umsatzsprung" im Vergleich zu einer durchschnittlichen Tageseinnahme geführt hat, wäre ebenfalls gesondert zu betrachten gewesen. In Fällen, in denen der für eine Veranstaltung erforderliche, deutlich erhöhte Wareneinkauf noch vor einem Monatswechsel getätigt wird, die entsprechenden Erlöse aber erst nach dem Monatswechsel vereinnahmt werden, kommt es zu ganz erheblichen Verzerrungen zwischen den einzelnen Monatswerten. Der RAS des Monats, in den die Vereinnahmung des Erlöses fällt, wird deutlich zu hoch ausgewiesen; umgekehrt wird der RAS des Monats, in den der vorbereitende Wareneinkauf fällt, deutlich zu gering ausgewiesen. Da die Idee der hier vom FA angewendeten Variante des Zeitreihenvergleichs gerade darauf beruht, Schwankungen der monatlichen RAS als starkes Indiz für eine materiell fehlerhafte Gewinnermittlung anzusehen, muss das FA es schon bei der Durchführung des Zeitreihenvergleichs --von Amts wegen-- ausschließen, dass betriebliche Besonderheiten derartige rechnerische Schwankungen hervorrufen können.

137

e) Zudem kann der Senat beim derzeitigen Stand des Sachvortrags des FA nicht erkennen, dass gerade der von der Quantilsschätzungs-Software der Finanzverwaltung ausgeworfene Wert "am wahrscheinlichsten" --so die Formulierung des Prüfers-- sei. Insoweit kann sich im Hauptsacheverfahren --sofern dort nach weiterer Sachaufklärung überhaupt die Voraussetzungen für die Durchführung eines Zeitreihenvergleichs festzustellen sein sollten-- die Einholung des Gutachtens eines mathematisch-statistischen Sachverständigen anbieten (vgl. hierzu Krumm, DB 2017, 1105, 1107, re. Sp.), falls das FG nicht selbst über die erforderliche Sachkunde in der Anwendung und Beurteilung mathematisch-statistischer Methoden verfügt.

138

aa) Das FA geht davon aus, dass bei Datensätzen, die der Gauß'schen Normalverteilung genügen, so dass 68,27 % der Datensätze innerhalb der ersten Standardabweichung liegen, der Wert, der sich für den oberen Rand der durch die erste Standardabweichung definierten Bandbreite ergibt, der zutreffende Wert für die Schätzung sei.

139

bb) In mathematischer Hinsicht setzt die Anwendung der statistischen Erkenntnisse zur Gauß'schen Normalverteilung zuvörderst voraus, dass die RAS überhaupt der Normalverteilung folgen und die erhobene Grundgesamtheit (hier: 36 Einzelgrößen) groß genug ist. Beim gegenwärtigen Stand bestehen hinsichtlich beider Voraussetzungen Bedenken.

140

Voraussetzung dafür, dass die Einzelgrößen einer Grundgesamtheit der Gauß'schen Normalverteilung folgen, dürfte im Regelfall sein, dass die Einzelgrößen zutreffend ermittelt wurden. Im Streitfall folgen möglicherweise zwar die --angesichts der Unsicherheiten bei der Schätzung des tatsächlichen Wareneinsatzes nicht mit vertretbarem Aufwand feststellbaren-- exakten tatsächlichen monatlichen RAS eines Betriebs der Gauß'schen Normalverteilung, aber die vom Prüfer relativ grob geschätzten monatlichen RAS weichen mehr oder weniger deutlich von den tatsächlichen monatlichen RAS ab. Insofern ist es jedenfalls nicht selbstverständlich --und wäre ggf. vom FA im Hauptsacheverfahren sachkundig zu belegen--, dass auch die vom Prüfer unter Inkaufnahme eines erheblichen Schätzungsfehlers ermittelten monatlichen RAS normalverteilt sind.

141

Hinzu kommt das möglicherweise nur schwer zu lösende Problem, dass einerseits die Grundgesamtheit (hier: die Anzahl der zur Verfügung stehenden RAS für bestimmte Zeitabschnitte) möglichst hoch sein sollte, um zu einer Normalverteilung zu kommen, gegenläufig aber die Qualität (Validität) des einzelnen RAS mit der Verkürzung des Zeitraums, für den er ermittelt wird, stark abnimmt. So dürften die jeweils für ein Quartal ermittelten RAS zwar je Einzelwert nur eine relativ geringe Fehlermarge aufweisen, da die problematischen Verschiebungen beim Wareneinkauf zu Beginn und zum Ende des jeweiligen Zeitabschnitts hier im Verhältnis zur Gesamthöhe des Wareneinkaufs nicht so stark ins Gewicht fallen wie bei Monats- oder gar Wochenwerten. Indes würden dann für das Jahr 2008 nur vier Einzelwerte und für die --aufgrund der erheblichen Preiserhöhung gesondert zu betrachtenden-- Jahre 2009/2010 nur acht Einzelwerte zur Verfügung stehen. Dies dürfe eine für die Anwendung der Normalverteilung erheblich zu geringe Grundgesamtheit sein.

142

Auf der anderen Seite erhielte man zwar eine ausreichend große Grundgesamtheit, wenn die RAS tageweise ermittelt würden (für 2008 ca. 350 Einzelwerte, für 2009/2010 ca. 700 Einzelwerte). Hier wäre jedoch der einzelne tageweise ermittelte RAS unbrauchbar, da nicht an jedem Tag exakt so viele Waren eingekauft wie am selben Tag verbraucht werden. Es fehlte damit an der Validität der Einzelwerte, so dass ebenfalls nicht davon ausgegangen werden könnte, sie folgten der Normalverteilung.

143

cc) Schließlich wäre zu klären, ob der vom FA behauptete mathematische Erfahrungssatz des Inhalts, dass der "richtige" Wert bei schwankenden und --hier unterstellt-- normalverteilten Gewinnermittlungs-Rohdaten genau dem Mittelwert zuzüglich der ersten Standardabweichung entspricht, tatsächlich existiert.

144

Schon im Ansatz unzutreffend ist in diesem Zusammenhang die Erwägung des FG, die Quantilsschätzung sei schon deshalb eine sachgerechte Schätzungsmethode, weil sie den normalen Geschäftsverlauf als repräsentativ ansehe. Tatsächlich rekurriert die Quantilsschätzung nicht etwa auf den "normalen Geschäftsverlauf", sondern stützt sich für die vorgenommene Vollschätzung auf einen Wert, der in 80 % der Zeitabschnitte gerade nicht erreicht wird.

145

4. Zur Berücksichtigung der vorhandenen formellen Mängel der Aufzeichnungen des Antragstellers nimmt der Senat in Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis für AdV-Zwecke --und ohne jedes Präjudiz für das Hauptsacheverfahren-- einen griffweisen Sicherheitszuschlag zu den erklärten Einnahmen von 3.000 € netto pro Jahr vor.

146

a) Die sicher feststellbaren formellen Mängel beschränken sich nach dem derzeitigen Stand der Sachaufklärung auf die Bereiche "Volksfest" und "Veranstaltungen". Der Anteil dieser Geschäftsbereiche am Gesamterlös steht derzeit nicht fest, was im AdV-Verfahren nicht zu Lasten des Antragstellers gehen darf. Daher bewegt sich der Sicherheitszuschlag am unteren Rand der Bandbreite und repräsentiert den Bereich, in dem es keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Hinzuschätzung gibt.

147

b) Zu Lasten des Antragstellers merkt der Senat allerdings an, dass er derzeit keine Grundlage für die vom Prüfer vorgenommene gewinnmindernde Berücksichtigung der Umsatzsteuer-Mehrergebnisse im Jahr 2010 sieht, und daher in diesem Umfang keine AdV gewähren kann.

148

Obwohl der Antragsteller den Betrieb zum 1. Januar 2011 zu Buchwerten in die Ehegatten-GbR eingebracht hat und sowohl der Antragsteller als auch die GbR ihre Gewinne durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermittelt haben, vertrat der Prüfer die Auffassung, es sei zwingend eine Aufgabebilanz für das Einzelunternehmen zu erstellen und ein Übergangsgewinn zu berechnen (Tz. 11 des Bp-Berichts). Im Rahmen der Ermittlung dieses Übergangsgewinns hat er die sich aus der Prüfung ergebenden Umsatzsteuer-Verbindlichkeiten (15.200 €) gewinnmindernd passiviert.

149

Für diese Gewinnminderung sieht der Senat indes bei summarischer Prüfung keine Rechtsgrundlage. Wenn sowohl der zu Buchwerten eingebrachte Betrieb als auch die aufnehmende Personengesellschaft ihre Gewinne durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung ermitteln, ist der einbringende Einzelunternehmer nicht zur Ermittlung eines Übergangsgewinns verpflichtet (vgl. BFH-Urteile vom 13. September 2001 IV R 13/01, BFHE 196, 546, BStBl II 2002, 287, unter II.2., und vom 14. November 2007 XI R 32/06, BFH/NV 2008, 385, unter II.1.d aa), zumal die aufnehmende Personengesellschaft sogleich ein gegenläufiges Übernahmeergebnis ermitteln müsste. Im Rahmen der Ermittlung der von der Vollziehung auszusetzenden Beträge nimmt der Senat daher eine Saldierung mit diesem Rechtsfehler vor.

150

c) Anders als der Antragsteller meint, ist nicht schon deshalb AdV zu gewähren, weil das FA 13 Monate lang nicht über den Einspruch entschieden hat. Der Antragsteller beruft sich hierbei auf den Beschluss des FG Münster vom 16. April 1997  15 V 1134/97 (EFG 1997, 895). Dort war allerdings tragend für die Gewährung von AdV, dass das FA seine im Prüfungsbericht gezogenen Wertungen nicht durch konkrete Tatsachen belegt hatte. Aufgrund des sich daraus ergebenden "erheblichen Aufklärungsbedarfs" hat das FG AdV gewährt. Demgegenüber besteht im Streitfall jedenfalls hinsichtlich der formellen Mangelhaftigkeit der Aufzeichnungen in den Bereichen "Volksfest" und "Veranstaltungen" kein Aufklärungsbedarf mehr.

151

d) Damit ergibt sich die folgende Berechnung der nicht von der Vollziehung auszusetzenden Besteuerungsgrundlagen:

Jahr   

2008   

2009   

2010   

Mehrerlös netto

+ 3.000 €

+ 3.000 €

+ 3.000 €

Mehr-Umsatzsteuer

+ 570 €

+ 570 €

+ 570 €

Passivierung der Umsatzsteuer

        

./. 0 €

Mehrgewinn

+ 3.570 €

+ 3.570 €

+ 3.570 €

152

Die Übertragung der Ermittlung der auszusetzenden Beträge auf das FA beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO.

IV.

153

Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Die für den Antragsteller im Vergleich zum erstinstanzlichen Verfahren ungünstigere Kostenquote für das Beschwerdeverfahren beruht darauf, dass hier zu seinen Lasten auch diejenigen Teile des Antrags zu berücksichtigen waren, die als unzulässig anzusehen sind.

Das Gericht entscheidet über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. August 2009 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf Verletztenrente für die Zeit vom 29.1.2004 bis zum 26.7.2005 streitig.

2

Die Klägerin ist die Witwe des am 9.3.2006 verstorbenen J. N. (im Folgenden: Versicherter), mit dem sie zum Zeitpunkt des Todes in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Der Versicherte bezog ab Juni 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung und nahm im August 2001 eine geringfügige Beschäftigung auf. Mit dem Arbeitgeber vereinbarte er unter dem 28.1.2004, die Beschäftigung "zu unterbrechen". Ab diesem Tag war der Versicherte wegen einer Asbeststaublungenerkrankung arbeitsunfähig. Am 2.2.2004 begab er sich in stationäre Behandlung.

3

Die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft (BG), Rechtsvorgängerin der Beklagten, stellte bei dem Versicherten eine Asbeststaublungenerkrankung als Berufskrankheit (BK) nach Nummer 4105 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung fest (Bescheid vom 5.8.2004). Mit Schreiben vom 15.10.2004 teilte sie ihm mit, dass wegen der BK ein Anspruch auf Verletztengeld und für die Dauer von sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit ein Lohnfortzahlungsanspruch bestehe. Der hiergegen auf Zahlung von Verletztenrente gerichtete Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 22.3.2005). Ab 2.2.2004 bestehe für 78 Wochen ein Anspruch auf Verletztengeld. Erst danach beginne ein Anspruch auf Rente.

4

Das Sozialgericht Münster (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28.5.2008). Während des Berufungsverfahrens stellte die BG wegen der Folgen der BK eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH ab dem 1.8.2005 fest (Bescheid vom 7.9.2005). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die auf Zahlung von Verletztenrente "anstelle von Verletztengeld" ab 29.1.2004 gerichtete Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 28.8.2009). Die geringfügige Beschäftigung eines Beziehers einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei eine vom Schutzzweck des § 45 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) umfasste Tätigkeit und schließe den Anspruch auf Verletztengeld nicht aus. Der Anspruch auf Verletztenrente beginne erst an dem Tag, der auf den Tag folge, an dem der Anspruch auf Verletztengeld ende.

5

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 45 Abs 1 und § 46 Abs 3 Satz 2 Nr 2 SGB VII. Das Verletztengeld sei nur für Versicherte vorgesehen, die zum Kreis der Erwerbstätigen gehörten und ihren Lebensunterhalt vor Eintritt der durch den Versicherungsfall bedingten Arbeitsunfähigkeit aus einer Erwerbstätigkeit oder einer daran anknüpfenden Sozialleistung bestritten hätten. Mit den Einkünften aus der geringfügigen Beschäftigung habe der Versicherte seinen Lebensunterhalt nicht sicherstellen können. Da bereits bei Eintritt des Versicherungsfalls nicht mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit habe gerechnet werden können, habe der Anspruch auf Verletztengeld bereits mit dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit geendet.

6

Während des Revisionsverfahrens hat die Beklagte Verletztengeld für die Zeit vom 10.3.2004 bis zum 26.7.2005 und Verletztenrente ab 27.7.2005 bewilligt (Bescheid vom 19.1.2010).

7

           

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. August 2009 und des Sozialgerichts Münster vom 28. Mai 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Verwaltungsaktes vom 15. Oktober 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2005 zu verurteilen, ihr anstatt des Verletztengeldes die Verletztenrente des Versicherten nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH vom 29. Januar 2004 bis zum 26. Juli 2005 zu zahlen.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie trägt vor, mit dem Verletztengeld seien die Einkünfte aus der geringfügigen Beschäftigung ausgeglichen worden. § 46 Abs 3 Satz 2 Nr 2 SGB VII sei nicht anwendbar.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung gegen das die Klage abweisende Urteil des SG im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen.

11

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 Sozialgerichtsgesetz), mit der unter Aufhebung des den Anspruch auf Verletztengeld feststellenden Verwaltungsaktes vom 15.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.3.2005 die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Verletztenrente für die Zeit vom 29.1.2004 bis zum 26.7.2005 geltend gemacht wird. Diese Klagen sind unzulässig.

12

Nach § 54 Abs 1 SGG kann mit der Anfechtungsklage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes oder seine Abänderung begehrt werden(Satz 1). Sie ist, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt beschwert zu sein (Satz 2). Insoweit reicht es zwar schon aus, dass eine Verletzung in eigenen Rechten möglich ist und der Kläger die Beseitigung einer in seine Rechtssphäre eingreifenden Verwaltungsmaßnahme anstrebt, von der er behauptet, sie sei nicht rechtmäßig (BSG vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 2/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 5 RdNr 18). An der Klagebefugnis fehlt es aber, wenn eine Verletzung subjektiver Rechte nicht in Betracht kommt (BSG vom 14.11.2002 - B 13 RJ 19/01 R - BSGE 90, 127, 130 = SozR 3-5795 § 10d Nr 1 S 4), weil hinsichtlich des Klagebegehrens eine gerichtlich überprüfbare Verwaltungsentscheidung nicht vorliegt (BSG vom 28.10.2008 - B 8 SO 33/07 R - SozR 4-1500 § 77 Nr 1 RdNr 13). Solange der zuständige Unfallversicherungsträger nicht über einen Leistungsanspruch entschieden hat, kann der Versicherte, außer bei rechtswidriger Untätigkeit der Behörde (vgl § 88 SGG), kein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Feststellung haben. Das ist hier der Fall.

13

Durch den Verwaltungsakt vom 15.10.2004 ist allein ein Anspruch auf Verletztengeld festgestellt worden. Er enthält keine Regelung iS des § 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), mit dem die BG einen Anspruch auf Verletztenrente abgelehnt hätte. Bei dem Verletztengeld (§§ 45 ff SGB VII)und der Verletztenrente (§§ 56 ff SGB VII) handelt es sich um unterschiedliche Sozialleistungen, die im SGB VII systematisch voneinander getrennt normiert sind. Sie bilden jeweils einen eigenständigen Gegenstand eines Verwaltungsverfahrens (vgl § 8 SGB X), über den der zuständige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zu entscheiden hat.

14

Über den Anspruch auf Verletztenrente ist auch nicht im Widerspruchsbescheid vom 22.3.2005 entschieden worden. Abgesehen davon, dass die Widerspruchsstelle funktional und sachlich nicht zuständig ist, an Stelle der Ausgangsbehörde des Trägers über ein erstmals im Widerspruchsverfahren geltend gemachtes Recht zu befinden (BSG vom 20.7.2010 - B 2 U 19/09 R), setzt sich auch der Widerspruchsbescheid allein mit dem Anspruch auf Verletztengeld auseinander. Den Inhalt eines Verwaltungsaktes hat das Revisionsgericht in eigener Zuständigkeit festzustellen. Dabei ist Maßstab der Auslegung der "Empfängerhorizont" eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (BSG vom 29.1.2008 - B 5a/5 R 20/06 R - BSGE 100, 1 = SozR 4-3250 § 33 Nr 1, jeweils RdNr 11 mwN). Gemessen daran ist die Formulierung im Widerspruchsbescheid "erst wenn der Anspruch auf Verletztengeld endet, beginnt ein Anspruch auf Rente (§§ 46 Abs. 3 SGB VII, 72 Abs. 1 SGB VII)" nur ein Hinweis auf die bestehende Gesetzeslage. Mit ihr hat die BG keine Regelung über ein Recht des Versicherten auf Verletztenrente getroffen.

15

Der Unzulässigkeit der Anfechtungsklage stehen die Bescheide vom 7.9.2005 und 19.1.2010 nicht entgegen. Der Verwaltungsakt im Bescheid vom 7.9.2005, mit dem ein Anspruch auf Verletztenrente für die Zeit ab 1.8.2005 - und nicht ein früherer Zeitpunkt - festgestellt wurde, ist vom Versicherten nicht angefochten worden und damit für die Beteiligten bindend (§ 77 SGG). Er ist nicht nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden, denn er hat den allein das Verletztengeld betreffenden Verwaltungsakt vom 15.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.3.2005 weder abgeändert noch ersetzt. Seine Einbeziehung kann auch nicht auf eine weite oder analoge Anwendung des § 96 SGG gestützt werden, weil dadurch der Streitstoff erweitert würde und Erwägungen der Prozessökonomie ein solches Ergebnis nicht rechtfertigen(vgl BSG vom 9.12.2003 - B 2 U 54/02 R - BSGE 91, 287 = SozR 4-2700 § 160 Nr 1, jeweils RdNr 5).

16

Auch der Verwaltungsakt im Bescheid der Beklagten vom 19.1.2010 über die Zahlung der Verletztenrente schon ab 27.7.2005 hat daher den hier angefochtenen Verwaltungsakt nicht abgeändert oder ersetzt. Unabhängig davon gilt ein Verwaltungsakt, der während des Revisionsverfahrens den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt, als mit der Klage beim SG angefochten (§ 171 Abs 2 SGG).

17

Die Unzulässigkeit der Anfechtungsklage zieht die Unzulässigkeit der mit ihr kombinierten (unechten) Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) nach sich. Auch diese Leistungsklage setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger die begehrte Leistung abgelehnt hat und kommt daher vor dem Erlass einer entsprechenden Verwaltungsentscheidung nicht in Betracht.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 2015 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für behinderte Menschen während der Teilnahme an einer Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben.

2

Der 1954 geborene Kläger hat die Staatsangehörigkeit Bosnien-Herzegowinas und verfügt über eine zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigende Niederlassungserlaubnis. In Deutschland war er zuletzt von Oktober 2005 bis Ende 2006 als Ofen- bzw Kaminbauer beschäftigt und erhält - nach dem Bezug von Alg nach dem SGB III bis Mitte 2009 - laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Bei ihm ist ein GdB von 20 (Einzel-GdB 20 vH für eine Sehminderung links, 10 vH für eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und 10 vH für eine arterielle Verschlusskrankheit des rechten Beins sowie Teilverlust der 1. und 2. Zehe rechts) anerkannt (Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 3.8.2011). Er kann drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten. In dem Zeitraum vom 1.1.2012 bis 31.12.2012 bewilligte der Beklagte zunächst Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt in Höhe von 706,54 Euro monatlich (Bescheide vom 1.12.2011 und 24.5.2012: KdU in Höhe von 332,54 Euro, Regelbedarf 374 Euro) und vom 1.1.2013 bis 31.12.2013 in Höhe von 714,54 Euro (Bescheide vom 24.11.2012 und 29.5.2013).

3

In den Eingliederungsvereinbarungen vom 8.2.2012, 24.4.2013 und 23.10.2013 hatte sich der Kläger verpflichtet, für jeweils sechs Monate ("je nach Eignung im Initiativzentrum oder den Teilprojekten") an dem Projekt BINS50plus (Beschäftigungsinitiative Süd für über 50-Jährige) teilzunehmen. Wie bereits seit September 2009 nahm er in der Zeit vom 14.2.2012 bis 13.2.2014 das Teilprojekt "Kurs finden 50plus" wahr. Dieses Teilprojekt war nach allgemeiner Beschreibung mit berufs- und gesundheitsorientierenden sowie frei wählbaren Inhalten verbunden und beinhaltete ein dreitägiges "Profilpass-Gruppenseminar", die Teilnahme an dem Kursprogramm über zwei Semester (Halbjahre) mit drei Kursen je Semester aus den Themenbereichen Gesundheitsprävention, Persönlichkeitsentwicklung, gesellschaftliche Integration, Allgemeinbildung und berufliche/künstlerische/sprachliche Entwicklung sowie individuelle Beratung und Coaching (zweimal monatlich nach Vereinbarung). Als "Grundlagen und Ziele" waren Würdigung und Akzeptanz der Lebensleistung, Stärkung der Selbstverantwortung, persönliche Aktivierung, individuelle Unterstützung und begleitende Beratung benannt. Tatsächlich nahm der Kläger im streitigen Zeitraum an zwölf, teils nur eintägigen Kursen (Kontakt und Grenzen, Arbeit im Künstleratelier, Thai Chi für Anfänger, Bogenschießen, Furcht und Angst, Wut und Aggression, Malen und Zeichnen an Orten mit besonderer Energie, Wertschätzung und Akzeptanz, Kontakt und Grenzen, Angst ist die Kraft, gnostische Evangelien und spielerische Monotypie - Bildermaltechnik aus dem 17. Jahrhundert) teil. Die Fahrtkosten wurden erstattet.

4

Den auf die Bewilligungszeiträume seit 1.1.2012 bezogenen Überprüfungsantrag des Klägers vom August 2013 zur Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen Behinderung und der Erbringung von Teilhabeleistungen iS des § 21 Abs 4 SGB II lehnte der Beklagte ab(Bescheid vom 4.9.2013; Widerspruchsbescheid vom 15.11.2013), bewilligte jedoch gleichzeitig für die Zeiträume vom 1.1.2012 bis 31.12.2013 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Warmwasserbereitung. Mit vier Änderungsbescheiden vom 4.9.2013 wurde das Alg II in jedem Monat um den rückwirkend anerkannten "Mehrbedarf Warmwasser" (in 2012 monatlich 8,60 Euro, in 2013 monatlich 8,87 Euro) angehoben.

5

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12.2.2014). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 26.2.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Bewilligungsbescheide seien rechtmäßig. Der Kläger habe in dem streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf höhere Leistungen gehabt. Weder sei eine Leistung nach § 54 Abs 1 Nr 1 bis 3 SGB XII (Schulbildung, schulische Ausbildung, sonstige Ausbildung) erbracht worden noch liege eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX vor. Es fehle an einem behinderungsspezifischen Inhalt, der notwendigen Regelförmigkeit der Maßnahme und einem organisatorischen Rahmen, der eine regelmäßige und nicht unerhebliche zeitliche Beanspruchung des Teilnehmers sowie eine Ausrichtung der Aktivitäten der Teilnehmer auf die Teilhabe am Arbeitsleben beinhalte. Bei BINS50plus handele es sich auch nicht um eine sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben iS des § 21 Abs 4 SGB II. Auch bei derartigen Hilfen müsse es sich um regelförmige Maßnahmen und solche Hilfen handeln, die final auf die Ziele des § 33 Abs 1 SGB IX, also den Ausgleich behinderungsspezifischer Nachteile, ausgerichtet seien. Es sei weder eine regelmäßige, nicht unerhebliche zeitliche Beanspruchung des Teilnehmers gewährleistet noch die erforderliche Ausrichtung der Aktivitäten auf die Teilhabe am Arbeitsleben.

6

Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, bei BINS50plus handele es sich jedenfalls um eine sonstige Hilfe für die Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder sogar um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Die Teilnahme an einer regelförmigen Maßnahme sei gegeben, weil das Projekt jedenfalls weit über das hinausgehe, was auch nicht behinderten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bei der Vermittlung und Beratung durch den Grundsicherungsträger abverlangt werde. Die Maßnahme habe einen organisatorischen Mindestrahmen und sei auch eine solche iS des § 33 SGB IX. Wie der Leistungsbeschreibung und der Zielsetzung einer Integration in den Arbeitsmarkt zu entnehmen sei, diene die Maßnahme der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit befähigten. Die Maßnahme müsse abstrakt, nicht hinsichtlich der einzelnen wahrgenommenen Kurse, beurteilt werden.

7

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 2015 und des Sozialgerichts Augsburg vom 12. Februar 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung der Bescheide vom 4. September 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. November 2013 zu verpflichten, ihm unter weitergehender Abänderung der Bescheide vom 1. Dezember 2011, 24. Mai 2012, 24. November 2012 und 29. Mai 2013 in der Zeit von 14. Februar 2012 bis 31. Dezember 2013 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen Behinderung nach § 21 Abs 4 SGB II zu bewilligen.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er vertritt die Ansicht, es sei zwischen dem abstrakt-generellen Ziel der Maßnahme und deren konkret-individueller Ausgestaltung sowie der Inanspruchnahme durch die Teilnehmer zu unterscheiden. Die Maßnahme BINS50plus sei in hohem Maße individualisiert, weshalb hinsichtlich der Einordnung eine Gesamtschau der belegten Kurse stattfinden müsse. Die von dem Kläger ausgewählten Kurse hätten jeweils nur einen Tag gedauert und wiesen keinen Bezug zur Arbeitsmarkt- oder Berufsorientierung aus.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger in dem streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen der Erbringung einer Teilhabeleistung oder einer Leistung der Eingliederungshilfe hat.

11

Streitgegenstand des Revisionsverfahrens in zeitlicher Hinsicht sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 14.2.2012 bis 31.12.2013, weil der Kläger die Überprüfung der ursprünglichen Bewilligungsbescheide nach seinem ausdrücklichen Klageantrag auf den Zeitraum ab Beginn der Maßnahme BINS50plus (14.2.2012) bis zum 31.12.2013 (Ende der durch die Bescheide vom 4.9.2013 erfassten Bewilligungsabschnitte) beschränkt hat. Gegenstand des Verfahrens ist daher zunächst der Bescheid vom 4.9.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.11.2013, mit dem der Beklagte ausdrücklich auf den Überprüfungsantrag des Klägers vom 14.8.2013 Bezug genommen, einen "Mehrbedarf Warmwasser" anerkannt und die Erbringung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs 4 SGB II abgelehnt hat. In rechtlicher Einheit hiermit stehen die vier - den Zeitraum vom 1.1.2012 bis 31.12.2013 betreffenden - Bewilligungsbescheide vom 4.9.2013, die gleichfalls in das Verfahren einbezogen sind (vgl zur Annahme einer rechtlichen Einheit im Sinne eines einheitlichen Bescheides wegen zeitlich und inhaltlich korrespondierender Verwaltungsakte BSG Urteil vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 28; BSG Beschluss vom 16.4.2013 - B 14 AS 206/12 B - RdNr 8; vgl zu möglichen Konstellationen einer rechtlichen Einheit im Asylbewerberleistungsrecht: BSG Urteil vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R - BSGE 114, 302 ff = SozR 4-3520 § 1a Nr 1, RdNr 15; vgl auch BSG Urteil vom 20.5.2014 - B 1 KR 3/14 R - BSGE 116, 31 = SozR 4-2500 § 272 Nr 1, RdNr 11 f zur Annahme einer rechtlichen Einheit bei Korrektur- und Jahresausgleichsbescheiden zum Risikostrukturausgleich).

12

Der Kläger hat den Streitgegenstand nach dem Inhalt seiner Erklärung in der mündlichen Verhandlung vor dem SG und seinen Anträgen in zulässiger Weise insofern beschränkt, als Unterkunftskosten nicht im Streit stehen. Da diese Abtrennung auch nach der Neufassung des SGB II zum 1.1.2011 möglich ist (vgl BSG Urteil vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10), sind allein die Höhe der weiteren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen (BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 11). Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Begrenzung des Streitgegenstandes nicht bezogen auf die Leistungen für Mehrbedarfe erfolgen kann. Die Überprüfung der Bewilligungsentscheidungen ist hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts iS des § 19 S 1 Nr 1 SGB II vielmehr dem Grunde und der Höhe nach vorzunehmen.

13

Zutreffende Klageart ist hier die Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und Abs 4 iVm § 56 SGG). Der Kläger begehrt mit der Anfechtungsklage die Teilaufhebung (Änderung) des eine weitergehende Rücknahme der ursprünglichen Bewilligungsentscheidungen ablehnenden Bescheides vom 4.9.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.11.2013. Die Verpflichtungsklage ist auf die Änderung der im Zeitpunkt des Überprüfungsantrags von August 2013 bereits bestandskräftigen Ausgangsbescheide vom 1.12.2001, 24.5.2012, 24.11.2012 und 29.5.2013 idF durch die einen Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwasserversorgung im Wege des Überprüfungsverfahrens berücksichtigenden Bescheide vom 4.9.2013 gerichtet (vgl BSG Urteil vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 11 mwN). Die ursprünglichen Bewilligungsbescheide sind auf der Grundlage des § 44 SGB X zu überprüfen. Diese Bescheide sind nicht rechtswidrig iS des § 44 SGB X, weil der Kläger keine höheren Leistungen beanspruchen konnte. Entsprechend ist auch die als auf die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, also über den von dem Beklagten bewilligten Betrag hinaus, gerichtet auszulegende Leistungsklage (§ 123 SGG) ohne Erfolg. Vorliegend sind in den die streitigen Zeiträume regelnden Bescheiden keine Sozialleistungen iS von § 44 Abs 1 SGB X zu Unrecht nicht erbracht worden. Nach § 44 Abs 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

14

Nach den Feststellungen des LSG erfüllte der Kläger zwar die Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II. Er war hilfebedürftig (§ 9 SGB II) und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit ist, soweit - wie hier - kein Feststellungsverfahren eingeleitet worden ist, bereits aus rechtlichen Gründen anzunehmen (vgl Senatsurteil vom 2.4.2014 - B 4 AS 26/13 R - BSGE 115, 210 = SozR 4-4200 § 15 Nr 3, RdNr 49; BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 20; BSG Urteil vom 25.9.2014 - B 8 SO 6/13 R - SozR 4-4200 § 44a Nr 1). Auch Einschränkungen seiner Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs 2 SGB II sind wegen der vorhandenen Niederlassungserlaubnis nicht gegeben; die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II liegen nicht vor. Der Beklagte hat dem Kläger zutreffend Leistungen für den Regelbedarf nach § 20 Abs 2 SGB II als Alleinstehender (374 Euro in 2012 und 382 Euro in 2013) sowie für den Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwassererzeugung nach § 21 Abs 7 SGB II (2,3 % des maßgeblichen Regelbedarfs; 8,60 Euro bzw 8,79 Euro) bewilligt. Einen Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen eines Mehrbedarfs aufgrund der Teilnahme an einer Teilhabeleistung hat er nicht.

15

Nach § 21 Abs 4 SGB II wird bei erwerbsfähigen behinderten Leistungsberechtigten, denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs 1 S 1 Nr 1 bis 3 SGB XII erbracht werden, ein Mehrbedarf von 35 Prozent des nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs anerkannt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG erfüllt der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen insofern, als er zum Kreis der erwerbsfähigen behinderten Leistungsberechtigten gehört. Auch ist nach dem Inhalt der Eingliederungsvereinbarungen davon auszugehen und ausreichend, dass seine Teilnahme an den Kursen des Projektes BINS50plus auf Veranlassung des Beklagten erfolgte (vgl zu diesem Erfordernis: BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 15).

16

Die vom Berufungsgericht festgestellte tatsächliche Teilnahme des Klägers an zwölf, teils nur eintägigen Kursen der Volkshochschule A (VHS) im Rahmen des Projektes "Kurs finden 50plus" in dem hier streitigen Zeitraum erfüllte jedoch nicht die Anforderungen, die an eine den Mehrbedarf für Behinderte auslösende Teilhabeleistung in den drei Alternativen des § 21 Abs 4 SGB II zu stellen sind. Die Annahme einer Maßnahme der Eingliederungshilfe scheidet von vornherein aus. Die von § 54 Abs 1 S 1 Nr 1 bis 3 SGB XII in Bezug genommenen Maßnahmen beinhalten eine angemessene Schulbildung(Nr 1), die Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf (Nr 2) und die Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit (Nr 3). Sie sind damit - für Leistungsberechtigte mit abgeschlossener Schulbildung - ausdrücklich auf einen bestimmten Beruf oder eine angemessene Tätigkeit gerichtete Maßnahmen.

17

Des Weiteren kann dahingestellt bleiben, ob die Teilnahme des Klägers an dem Projekt BINS50plus nach dessen inhaltlicher Ausgestaltung als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben oder als sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben einzuordnen ist. Das LSG hat zugrunde gelegt, dass es für die Annahme einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX neben der Regelförmigkeit der Maßnahme(dazu sogleich) auch an einer behinderungsspezifischen Ausrichtung fehle. Soweit das LSG davon ausgegangen ist, dass es sich bei der Teilnahme des Klägers an den Kursen um "allgemeine Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit" handele, bleibt allerdings offen, ob Rechtsgrundlage der Bewilligung im Falle behinderter Teilnehmer - wie hier dem Kläger - § 16 Abs 1 S 1 SGB II iVm § 45 SGB III oder § 16 Abs 1 S 2 SGB II iVm §§ 115 Nr 1, 45 SGB III war. Erfolgt die Bewilligung einer Teilhabeleistung aufgrund einer Behinderung, ist allerdings regelmäßig davon auszugehen, dass es sich um eine Teilhabeleistung iS des § 33 SGB IX handelt(vgl zur ansonsten erforderlichen Prüfung, welches die nach Inhalt und Schwerpunkt der Maßnahme zutreffende Rechtsgrundlage wäre: BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 44/09 R - FEVS 62, 541 ff; BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 3/10 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 11 RdNr 21, 25 zur Bewertung von allgemeinen Beratungs- und Betreuungsleistungen sowie einer psychotherapeutischen Behandlung).

18

Jedenfalls könnte die Maßnahme BINS50plus den "sonstigen Hilfen" iS des § 21 Abs 4 SGB II zugeordnet werden, die innerhalb dieser Mehrbedarfsregelung gleichwertig neben den Leistungen nach § 33 SGB IX aufgeführt werden(BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 3/10 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 11 RdNr 22). Ein Kausalitätserfordernis in dem Sinne, dass eine nach § 21 Abs 4 SGB II den Mehrbedarf auslösende Maßnahme nur vorliegt, wenn diese selbst schon nach ihrer abstrakten Ausgestaltung speziell auf die Bedürfnisse von behinderten Menschen zugeschnitten ist, ist nicht zugrundezulegen. Der behinderungsbedingte Mehrbedarf knüpft vielmehr typisierend an die Teilnahme an einer Maßnahme an, durch die der Mensch mit Behinderung besser in das Erwerbsleben integriert werden kann (Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII, AsylbLG, § 21 RdNr 41, Stand April 2012; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 12.3.2007 - L 19 AS 41/06 - FEVS 58, 515 ff). Ein damit verbundener Mehrbedarf ist möglicherweise sogar umfassender als bei einer nicht speziell oder vorrangig auf die Bedürfnisse von Behinderten ausgerichteten Maßnahme.

19

Bezogen auf beide Leistungsarten fehlt es aber an einer Teilnahme an einer regelförmigen besonderen Maßnahme, die nach der Rechtsprechung der beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG für den Mehrbedarf für erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte vorausgesetzt wird und die allein geeignet ist, einen Mehrbedarf beim behinderten Leistungsberechtigten in seiner vom Gesetzgeber angenommenen Zielrichtung auszulösen. Insofern hat der Senat bereits entschieden, dass auch die "sonstigen Hilfen" iS des § 21 Abs 4 SGB II über das hinausgehen müssen, was dem Jobcenter etwa im Rahmen des § 14 SGB II als allgemeine Unterstützungsaufgabe zugewiesen ist. Auch aus systematischen Gründen muss eine gewisse Gleichwertigkeit gefordert werden und darf eine sonstige Hilfe hinsichtlich ihrer Ausgestaltung nicht hinter den Anforderungen zurückstehen, die an die konkret in § 21 Abs 4 SGB II benannten Maßnahmen nach § 33 SGB IX und § 54 Abs 1 Nr 1 bis 3 SGB XII zu stellen sind(BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 3/10 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 11 RdNr 22; BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 20).

20

Das Erfordernis der Teilnahme an einer regelförmigen besonderen Maßnahme folgt aus dem Wortlaut und dem aus der Entstehungsgeschichte der Norm herzuleitenden spezifischen Sinn und Zweck dieser Mehrbedarfsregelung. Insofern weist bereits die Formulierung des § 21 Abs 4 S 2 SGB II ("nach Beendigung der dort genannten Maßnahmen während einer angemessenen Übergangszeit") aus, dass sich die Leistungserbringung innerhalb eines organisatorischen Rahmens vollziehen muss, der eine Bezeichnung als "Maßnahme" rechtfertigt. Auch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift folgt eine einschränkende Auslegung. Die Vorschrift zum Mehrbedarf für behinderte Leistungsberechtigte bei Inanspruchnahme einer Teilhabeleistung geht zurück auf Regelungen im BSHG. Insofern hatte das Recht der Eingliederungshilfe in § 41 Abs 2 S 2 BSHG(idF vom 30.6.1961, BGBl I 815) vorgesehen, dass für Behinderte, die nicht mehr im volksschulpflichtigen Alter waren, für den laufenden Lebensunterhalt ein Mehrbedarf von mindestens 50 vH des maßgebenden Regelbedarfs anzuerkennen war, wenn der Lebensunterhalt nach Regelsätzen bemessen war. Die enge Anlehnung an den Leistungsumfang der vormaligen Ausbildungsbeihilfe belegt, dass der Mehrbedarf an strukturierte Maßnahmen geknüpft war, die jedenfalls vom Grundsatz geeignet waren, einen zusätzlichen Bedarf hervorzurufen (vgl BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 19 f mwN; BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 44/09 R - FEVS 62, 541; BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 3/10 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 11 RdNr 20). Dieses Erfordernis bestätigend enthält die Parallelregelung des § 30 Abs 4 SGB XII zu entsprechendem Mehrbedarf im SGB XII eine strikte Anknüpfung ausschließlich an die strukturierten Maßnahmen des § 54 Abs 1 Nr 1 bis 3 SGB XII und unterstreicht damit das Erfordernis einer regelförmigen besonderen Maßnahme.

21

Der Senat hat hiervon ausgehend bereits entschieden, dass für den Begriff der regelförmigen besonderen Maßnahme die Grundsätze herangezogen werden können, die das BSG zum Begriff der förderungsfähigen Maßnahme im Recht der Weiterbildungsförderung im Arbeitsförderungsrecht entwickelt hat (BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 4 AS 59/09 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 9 RdNr 21 ff). Hiernach ist wesentlich für eine Maßnahme, dass ein mit der Förderung angestrebtes Maßnahmeziel formuliert wird, diese regelmäßig auf eine auf dem Arbeitsmarkt einsetzbare Qualifikation gerichtet ist (BSG Urteil vom 23.6.1981 - 7 RAr 18/80, RdNr 33) und ihr ein festgelegter Lehrplan zugrunde liegt, in dem einzelne unselbständige Bestandteile in einem engen zeitlichen, inhaltlichen und organisatorischen Zusammenhang stehen. Erforderlich ist eine organisatorische Verbundenheit, die unterschiedliche Veranstaltungen in aller Regel schon im Vorhinein als einheitliche Maßnahme ausgewiesen sein lässt (BSG Urteil vom 20.6.1978 - 7 RAr 11/77 - SozR 4100 § 41 Nr 34, S 84; BSG Urteil vom 14.2.1985 - 7 RAr 96/83 - BSGE 58, 44, 47 = SozR 4100 § 34 Nr 12, S 27; Reichel in jurisPR-SozR 16/2010, Anm 2) Bei sinngemäßer Übertragung dieser Grundsätze müssen auch bei einer den Mehrbedarf nach § 21 Abs 4 SGB II auslösenden Maßnahme deren einzelne Elemente von vornherein nach Inhalt und Dauer als einheitliche Maßnahme ausgewiesen sein und entsprechend ihrer Ausgestaltung, insbesondere auch hinsichtlich ihres zeitlichen Umfangs, geeignet sein, den Mehrbedarf in seiner vom Gesetzgeber historisch angenommenen Zielrichtung auszulösen.

22

Diese Schwelle erreichen die von dem Kläger tatsächlich wahrgenommenen Veranstaltungen des Projektes BINS50plus nicht. Besteht - wie hier - eine weitgehend freie Gestaltbarkeit der Bestandteile einer Maßnahme zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, findet - entgegen dem Revisionsvorbringen - keine "abstrakte" Betrachtung im Sinne einer Einbeziehung weiterer möglicher Inhalte des Projekts statt. Bei der Prüfung der Regelförmigkeit der Maßnahme zugrundezulegen ist vielmehr die konkrete tatsächliche Ausgestaltung, die der Kläger im Einvernehmen mit dem SGB II-Träger gewählt hat. Insofern handelt es sich um einzelne, nicht in einem fachlichen oder inhaltlichen Zusammenhang mit dem finalen Ziel einer Teilhabe am Arbeitsleben stehende, teils nur eintägige Veranstaltungen je Halbjahr. Zwar können mit diesen einzelne - auch außerberufliche - Fähigkeiten gefördert werden. Der Beklagte weist jedoch zu Recht darauf hin, dass die weitestgehend freigestellte Wahl von Kursen an der VHS A im Mittelpunkt steht. Da ein zeitlicher Mindestumfang der einzelnen Kurse nicht festgelegt wurde, ist schon nach dem Umfang der zeitlichen Einbindung des Klägers nicht erkennbar, dass die Maßnahme von vornherein strukturiert, etwa durch bestimmte, aufeinander aufbauende Lehrinhalte, Praktika und Prüfungen, verfolgt worden ist. Die stattdessen intendierte offene Ausgestaltung des Projekts BINS50plus entspricht dem Charakter der Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach § 45 SGB III in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 (BGBl I 2854). In einer gegenüber abschließenden und strukturierten Leistungskatalogen für Bildungsmaßnahmen nach den Vorgängerregelungen (insbesondere im AFG) veränderten Begrifflichkeit können nunmehr unter "Maßnahmen" alle Instrumente verstanden werden, die durch Einschaltung Dritter die berufliche Orientierung, Reintegration und Stabilisierung fördern (Bieback in Gagel, SGB II/SGB III, § 45 RdNr 55, Stand März 2013). Diese erfüllen jedoch wegen ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung nicht von vornherein zugleich die Anforderungen, die an strukturierte Teilhabeleistungen iS der Mehrbedarfsregelung des § 21 Abs 4 SGB II zu stellen sind.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Der notwendige Lebensunterhalt umfasst

1.
in Einrichtungen den darin erbrachten Lebensunterhalt,
2.
in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt.
Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen entspricht dem Umfang
1.
der Regelbedarfsstufe 3 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, und den Regelbedarfsstufen 4 bis 6 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
2.
der zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels,
3.
der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 42 Nummer 4 Buchstabe b.

(2) Der weitere notwendige Lebensunterhalt nach Absatz 1 Nummer 2 umfasst insbesondere einen Barbetrag nach Absatz 3 sowie Bekleidung und Schuhe (Bekleidungspauschale) nach Absatz 4; § 31 Absatz 2 Satz 2 ist nicht anzuwenden.

(3) Der Barbetrag nach Absatz 2 steht für die Abdeckung von Bedarfen des notwendigen Lebensunterhalts nach § 27a Absatz 1 zur Verfügung, soweit diese nicht nach Absatz 1 von der stationären Einrichtung gedeckt werden. Die Höhe des Barbetrages beträgt für Leistungsberechtigte nach diesem Kapitel,

1.
die das 18. Lebensjahr vollendet haben, mindestens 27 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28,
2.
haben diese das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet, setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen die Höhe des Barbetrages fest.
Der Barbetrag ist in der sich nach Satz 2 ergebenden Höhe an die Leistungsberechtigten zu zahlen; er ist zu vermindern, wenn und soweit dessen bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für die Leistungsberechtigten nicht möglich ist.

(4) Die Höhe der Bekleidungspauschale nach Absatz 2 setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen fest. Sie ist als Geld- oder Sachleistung zu gewähren; im Falle einer Geldleistung hat die Zahlung monatlich, quartalsweise oder halbjährlich zu erfolgen.

(1) In der schriftlichen Vereinbarung mit Erbringern von Leistungen nach dem Siebten bis Neunten Kapitel sind zu regeln:

1.
Inhalt, Umfang und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der Leistungen (Leistungsvereinbarung) sowie
2.
die Vergütung der Leistung (Vergütungsvereinbarung).

(2) In die Leistungsvereinbarung sind als wesentliche Leistungsmerkmale insbesondere aufzunehmen:

1.
die betriebsnotwendigen Anlagen des Leistungserbringers,
2.
der zu betreuende Personenkreis,
3.
Art, Ziel und Qualität der Leistung,
4.
die Festlegung der personellen Ausstattung,
5.
die Qualifikation des Personals sowie
6.
die erforderliche sächliche Ausstattung.

(3) Die Vergütungsvereinbarung besteht mindestens aus

1.
der Grundpauschale für Unterkunft und Verpflegung,
2.
der Maßnahmepauschale sowie
3.
einem Betrag für betriebsnotwendige Anlagen einschließlich ihrer Ausstattung (Investitionsbetrag).
Förderungen aus öffentlichen Mitteln sind anzurechnen. Die Maßnahmepauschale ist nach Gruppen für Leistungsberechtigte mit vergleichbarem Bedarf sowie bei Leistungen der häuslichen Pflegehilfe für die gemeinsame Inanspruchnahme durch mehrere Leistungsberechtigte zu kalkulieren. Abweichend von Satz 1 können andere geeignete Verfahren zur Vergütung und Abrechnung der Leistung unter Beteiligung der Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen vereinbart werden.

(1) Der notwendige Lebensunterhalt umfasst

1.
in Einrichtungen den darin erbrachten Lebensunterhalt,
2.
in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt.
Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen entspricht dem Umfang
1.
der Regelbedarfsstufe 3 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, und den Regelbedarfsstufen 4 bis 6 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
2.
der zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels,
3.
der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 42 Nummer 4 Buchstabe b.

(2) Der weitere notwendige Lebensunterhalt nach Absatz 1 Nummer 2 umfasst insbesondere einen Barbetrag nach Absatz 3 sowie Bekleidung und Schuhe (Bekleidungspauschale) nach Absatz 4; § 31 Absatz 2 Satz 2 ist nicht anzuwenden.

(3) Der Barbetrag nach Absatz 2 steht für die Abdeckung von Bedarfen des notwendigen Lebensunterhalts nach § 27a Absatz 1 zur Verfügung, soweit diese nicht nach Absatz 1 von der stationären Einrichtung gedeckt werden. Die Höhe des Barbetrages beträgt für Leistungsberechtigte nach diesem Kapitel,

1.
die das 18. Lebensjahr vollendet haben, mindestens 27 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28,
2.
haben diese das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet, setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen die Höhe des Barbetrages fest.
Der Barbetrag ist in der sich nach Satz 2 ergebenden Höhe an die Leistungsberechtigten zu zahlen; er ist zu vermindern, wenn und soweit dessen bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für die Leistungsberechtigten nicht möglich ist.

(4) Die Höhe der Bekleidungspauschale nach Absatz 2 setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen fest. Sie ist als Geld- oder Sachleistung zu gewähren; im Falle einer Geldleistung hat die Zahlung monatlich, quartalsweise oder halbjährlich zu erfolgen.

Die Bedarfe nach diesem Kapitel umfassen:

1.
die Regelsätze nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28; § 27a Absatz 3 und Absatz 4 ist anzuwenden; § 29 Absatz 1 Satz 1 letzter Halbsatz und Absatz 2 bis 5 ist nicht anzuwenden,
2.
die zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels sowie Bedarfe nach § 42b,
3.
die Bedarfe für Bildung und Teilhabe nach dem Dritten Abschnitt des Dritten Kapitels, ausgenommen die Bedarfe nach § 34 Absatz 7,
4.
Bedarfe für Unterkunft und Heizung
a)
bei Leistungsberechtigten außerhalb von Einrichtungen nach § 42a,
b)
bei Leistungsberechtigten, deren notwendiger Lebensunterhalt sich nach § 27b Absatz 1 Satz 2 oder nach § 27c Absatz 1 Nummer 2 ergibt, in Höhe der nach § 45a ermittelten durchschnittlichen Warmmiete von Einpersonenhaushalten,
5.
ergänzende Darlehen nach § 37 Absatz 1 und Darlehen bei am Monatsende fälligen Einkommen nach § 37a.

(1) Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird.

(2) Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.

(3) Ein nichtiger Verwaltungsakt ist unwirksam.

(1) Nach Klageerhebung wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt.

(2) Eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts ist dem Gericht mitzuteilen, bei dem das Verfahren anhängig ist.

Tenor

Die Revisionen der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 2014 werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit ist die Aufhebung der Bewilligung von Auslandssozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) ab 1.11.2010.

2

Die Kläger sind deutsche Staatsangehörige. Der 1947 in Düsseldorf geborene Kläger zu 1 und die 1973 geborene Klägerin zu 2 sind miteinander verheiratet; sie sind die Eltern der 2002 geborenen Klägerin zu 3. Seit 21.7.2005 leben die Kläger in Spanien.

3

Der Beklagte gewährte ihnen seit Januar 2007 Sozialhilfe (Bescheide vom 31.1.2007, 27.1., 16.3. und 25.3.2009, 3.3. und 10.3.2010; Widerspruchsbescheide vom 22.10.2009, 11.12.2009 und 27.5.2010). Gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 haben die Kläger am 19.11.2009 (S 21 SO 190/09), gegen die Bescheide vom 3.3. und 10.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.5.2010 am 9.6.2010 (S 21 SO 284/10) Klagen beim Sozialgericht (SG) Köln erhoben, mit der sie jeweils höhere Leistungen begehrt haben. Das SG hat in beiden Verfahren die Klagen abgewiesen (Urteile vom 20.07.2011). In den dagegen beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingelegten Berufungen haben die Kläger am 20.2.2014 "die Verfahren L 20 SO 482/11 und L 20 SO 483/11 für erledigt" erklärt.

4

Zwischenzeitlich hatte der Beklagte für die Zeit ab 1.11.2010 seine Leistungsbewilligung, gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X), aufgehoben(Bescheid vom 29.7.2010; Widerspruchsbescheid vom 28.10.2010).

5

Das SG hat (auch) die dagegen gerichteten Klagen abgewiesen (Urteil vom 20.7.2011), das LSG die Berufungen der Kläger zurückgewiesen (Urteil vom 10.11.2014). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, in der Sache sei eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X eingetreten, weil die Kläger (spätestens) zum 1.11.2010 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dem Grunde nach die Voraussetzungen für den Bezug von "spanischer Sozialhilfe" erfüllt hätten und damit kein Anspruch mehr auf deutsche Sozialhilfe bestehe.

6

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 24 Abs 2 SGB XII und Verfahrensfehler. Die Klagen seien trotz der früheren Gerichtsverfahren über die Leistungshöhe zulässig.

7

Die Kläger beantragen,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 29.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 aufzuheben.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

9

Er hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässigen Revisionen sind aus anderen Gründen als vom LSG angenommen unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz).

11

Im Ergebnis zu Recht hat das LSG die Berufungen zurückgewiesen; denn die Klagen waren und sind unzulässig. Gegenstand der Klagen ist der Bescheid vom 29.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 (§ 95 SGG), den die Kläger mit ihren Anfechtungsklagen angreifen und mit dem der Beklagte seine Bewilligung von Auslandssozialhilfe ab 1.11.2010 aufgehoben hat. Dieser Bescheid ist rechtlich gemäß § 96 Abs 1 SGG vollumfänglich Gegenstand des früheren Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 (§ 95 SGG) geworden. Auch nachdem die Kläger die Berufungen gegen das - fehlerhaft nur Teile der Klagen (faktische Nichteinbeziehung der Folgebescheide) - abweisende Urteil des SG zurückgenommen haben, bleiben die Klagen unzulässig, weil der hier streitgegenständliche Aufhebungsbescheid mit der Rücknahme der Berufungen bestandskräftig geworden ist.

12

Die Klagen waren zunächst wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 17 Abs 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz). Der Bescheid vom 29.7.2010 ist nämlich mit seiner Bekanntgabe am 2.9.2010 Gegenstand des zu diesem Zeitpunkt bereits anhängigen Klageverfahrens (S 21 SO 190/09) gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 geworden. Nach § 96 Abs 1 SGG(in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 - BGBl I 444 - erhalten hat) wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Geändert oder ersetzt wird ein Bescheid immer, wenn er denselben Streitgegenstand wie der Ursprungsbescheid betrifft, bzw wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 96 RdNr 4 ff mwN). Ergeht auf einen zeitlich nicht beschränkten Dauerverwaltungsakt ein Aufhebungsbescheid, durch den die streitgegenständlichen Leistungen entzogen werden, wird dieser Bescheid in (direkter) Anwendung von § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens(BSGE 77, 175, 176 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2 S 8 f).

13

So ist es hier. Der Beklagte hat im Bescheid vom 25.3.2009 Sozialhilfe zeitlich unbegrenzt bewilligt. Streitgegenstand des zunächst anhängigen Klageverfahrens gegen diesen Bescheid (S 21 SO 190/09) war dabei die Höhe dieser Leistungen ab 1.4.2009. Hiergegen haben sich die Kläger ohne zeitliche Begrenzung des Klagegegenstands gewandt. Auch in der Sache haben die Kläger ihr Klagebegehren nicht auf einzelne abtrennbare Regelungen des Bescheids begrenzt.

14

Durch Bescheide vom 3.3. und 10.3.2010 hat der Beklagte die Leistungen - erneut zeitlich unbegrenzt - der Höhe nach für die Zeit ab 1.4.2010 neu festgesetzt. Auch diese Bescheide sind - als Änderungsbescheide - nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des früheren Klageverfahrens geworden, ohne dass hierdurch der Streitgegenstand begrenzt worden wäre. Der hier streitgegenständliche Bescheid vom 29.7.2010 hat sodann (gestützt auf § 48 SGB X)den Bescheid vom 10.3.2010 aufgehoben. Für den Zeitraum ab 1.11.2010 ist er gemäß § 96 Abs 1 SGG vollständig an die Stelle des seinerseits nach § 96 Abs 1 SGG streitbefangenen Bescheids vom 10.3.2010 getreten. Da die Kläger den Streitgegenstand nicht begrenzt haben (s zuvor), kommt es nicht darauf an, welche Rechtsfolgen sich hieraus für das vorliegende Verfahren ergäben.

15

Die prozessuale Sperrwirkung des § 17 Abs 1 Satz 2 GVG endet zwar mit Abschluss des früheren Verfahrens; die Klagen bleiben aber dennoch unzulässig. Zwar steht ihrer Zulässigkeit nicht die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung entgegen (vgl zur Unzulässigkeit der Klage bei eingetretener Rechtskraft BSG, Beschluss vom 17.12.2015 - B 8 SO 14/14 R). Das SG hat nämlich - in Verkennung der Einbeziehung der Änderungsbescheide vom 3.3. und 10.3. sowie des Aufhebungsbescheids vom 29.7.2010 - mit seinem klageabweisenden Urteil nur über einen Teil des Streitgegenstands, nämlich über den im Einleitungssatz des Tatbestands bezeichneten Zeitraum vom 1.4.2009 bis 31.3.2010, entschieden. Einen Antrag auf Ergänzung des Urteils (vgl § 140 SGG) haben die Kläger nicht gestellt; es ist deshalb nicht entscheidungserheblich, dass ein solcher Antrag (aufgrund bewusster - wenn auch falscher - Entscheidung des SG) ohnehin unzulässig gewesen wäre (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 140 RdNr 2c mwN). Auch im Berufungsverfahren ist eine den Fehler des SG korrigierende gerichtliche Entscheidung betreffend den Zeitraum ab 1.11.2010 nicht ergangen. Zwar hätte der übergangene Anspruch Gegenstand einer Entscheidung im Berufungsverfahren werden können (vgl nur Keller, aaO, § 140 RdNr 2a mwN). Die Kläger haben jedoch ihre Berufungen gegen das die Klagen abweisende Urteil in der nichtöffentlichen Sitzung vom 20.2.2014 zurückgenommen, indem sie (ua) das "Verfahren L 20 SO 482/11 für erledigt erklärt" haben. Diese Erklärung kann nur als Berufungsrücknahme (§ 156 SGG) gewertet werden.

16

Dadurch ist zwar die Rechtshängigkeit der Klagen gegen die Bescheide, über die das SG unter Verkennung des § 96 SGG nicht entschieden hat, folglich auch die Rechtshängigkeit der Klagen gegen den hier streitgegenständlichen Bescheid vom 29.7.2010, entfallen (vgl nur Keller, aaO, § 140 RdNr 3; BGH, Urteil vom 16.2.2005 - VIII ZR 133/04 - NJW-RR 2005, 790, 791) und dieser in Bestandskraft erwachsen (§ 77 SGG); die zwischenzeitlich unzulässig erhobenen gesonderten Klagen gegen diesen Bescheid können gleichwohl nicht zulässig mit dem Ziel der Beseitigung der Bestandskraft weitergeführt werden (vgl Keller, aaO, § 140 RdNr 3), ohne dass ein neues Verwaltungsverfahren zur Überprüfung des bestandskräftigen Bescheids durchgeführt ist (vgl zu diesem Rechtsgedanken auch: BSGE 21, 13 ff = SozR Nr 5 zu § 156 SGG; BSG SozR 4-1500 § 92 Nr 2; BVerwGE 40, 25, 32; BFHE 159, 4, 9 f; 189, 252, 255).

17

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 187/13
Verkündet am:
6. Februar 2014
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 615 Satz 2; SGB XI §§ 85, 86, 87; HeimG § 5 Abs. 7 a.F.; WTG NRW § 5
Abs. 2

a) Zur Auslegung einer heimvertraglichen Regelung, in der hinsichtlich der von dem
Heimträger zu berechnenden Leistungsentgelte auf Regelungen verwiesen wird,
die zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungs- und
Kostenträgern in der Pflegesatzkommission vereinbart sind.

b) Eine heimvertragliche Regelung, in der die Reduzierung des Heimentgelts bei
Heimbewohnern mit Sondenernährung auf rund ein Drittel des Verpflegungsanteils
des Heimentgelts festgelegt wird, ist angemessen im Sinne von § 87 Satz 2
SGB XI, § 5 Abs. 7 HeimG a.F. und § 5 Abs. 2 WTG NRW (Fortführung von
BGH, Urteile vom 22. Januar 2004 - III ZR 68/03, BGHZ 157, 309; vom 4. November
2004 - III ZR 371/03, NJW 2005, 824 und vom 13. Dezember 2007 - III
ZR 172/07, NJW 2008, 653).
BGH, Urteil vom 6. Februar 2014 - III ZR 187/13 - OLG Köln
LG Köln
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 6. Februar 2014 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter
Dr. Herrmann, Hucke, Tombrink und Dr. Remmert

für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 30. April 2013 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsrechtszugs hat der Kläger zu tragen.
Von Rechts wegen

Tatbestand


1
Die Parteien streiten über die Erstattung von Heimkosten für den Zeitraum von März 2007 bis Dezember 2008.
2
Die während des Berufungsverfahrens verstorbene frühere Klägerin wurde von ihrem Ehemann, dem jetzigen Kläger, und den gemeinsamen Söhnen beerbt. Sie lebte aufgrund eines Heimvertrags vom 29. August/19. September 2006 bis zu ihrem Tod in vollstationärer Pflege in einem von der Beklagten betriebenen Heim in B. G. . In § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags ist hinsichtlich der von der Beklagten zu berechnenden leistungsgerechten Entgelte bestimmt, dass sich diese grundsätzlich nach den Regelungen richten, die zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungs- und Kostenträgern in der Pflegesatzkommission jeweils vereinbart sind.
3
Die frühere Klägerin wurde während der gesamten Zeit ihres Heimaufenthalts über eine PEG-Sonde (Magensonde) unter Einschluss der Flüssigkeitsversorgung ernährt. Die Sachkosten für die darüber zugeführte Nahrung übernahm die Krankenkasse, die auch die dafür erforderlichen Hilfsmittel zur Verfügung stellte. Die Beklagte brachte wegen der Sondenernährung der früheren Klägerin von den vereinbarten Heimkosten einen Anteil von 14,5 % des Gesamtentgelts für Unterkunft und Verpflegung in Abzug. Der Verpflegungsanteil an diesem Gesamtentgelt betrug 43,5 %.
4
Die frühere Klägerin und der Kläger haben die Auffassung vertreten, sie hätten einen Anspruch auf Erstattung des gesamten Verpflegungsanteils. Die Regelungen, auf die sich die Beklagte zur Begründung eines Abzugs von lediglich einem Drittel der Verpflegungskosten berufe, seien unwirksam, so dass sich ein Rückzahlungsanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung ergebe. Der Kläger hat behauptet, die Beklagte habe keine Verpflegungsleistungen erbracht , da er die Bestellung, Verwaltung und Verabreichung der Sondennahrung größtenteils selbst übernommen habe.
5
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die in den Vergütungsvereinbarungen zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungsund Kostenträgern geregelte Erstattung von 14,5 % des Unterkunfts- und Verpflegungsanteils der Heimkosten für mittels Magensonde ernährte Heimbewohner sei in den Heimvertrag einbezogen worden und wirksam. In Bezug auf den Verpflegungsanteil der Heimkosten bestehe kein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung. Weitere Einsparungen als die reinen Le- bensmittelkosten träten bei Bewohnern, die über Magensonden ernährt würden, nicht ein. Personal-, Energie- und Raumkosten fielen unverändert an und würden nicht vollständig von den Krankenkassen übernommen oder über das Pflegeentgelt abgegolten.
6
Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, an die frühere Klägerin einen Betrag von 5.612,82 € nebst Zinsen zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Zurückweisung der Berufung der Beklagten.

Entscheidungsgründe


7
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.

I.


8
Nach Auffassung des Berufungsgerichts haben die Rechtsnachfolger der früheren Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung des (restlichen) Verpflegungsanteils der Heimkosten. Es sei zwischen den Parteien unstreitig, dass die zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungs- und Kostenträgern vereinbarten Entgelte nach dem Heimvertrag zwischen der früheren Klägerin und der Beklagten unmittelbar gelten würden. Die im Heimvertrag für den Fall der Ernährung eines Heimbewohners mittels Magensonde vorgesehene Pauschalierung des Betrages für ersparte Aufwendungen auf ein Drittel des Verpflegungskostenanteils sei nicht gemäß § 138 Abs. 1 oder Abs. 2, § 307 Abs. 1 BGB, § 87 Satz 1 SGB XI, § 5 Abs. 2 HeimG NRW in Verbindung mit § 134 BGB oder unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt unwirksam. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Verpflegungsentgelt bei Sondenernährung eines Heimbewohners ergebe sich kein vollständiger Wegfall des Anspruchs des Heimträgers für Verpflegungsleistungen.
9
Die Reduzierung um ein Drittel der Verpflegungskosten stelle eine die wechselseitigen Belange, insbesondere auch die Interessen der Heimbewohner , angemessen berücksichtigende und deshalb wirksame Vergütungsvereinbarung dar. Nach dem seitens des Klägers nicht konkret bestrittenen Vorbringen der Beklagten beschränke sich die Ersparnis des Pflegeheims durch die ausschließliche Nahrungsversorgung von Bewohnern mittels Magensonde im Wesentlichen auf die reinen Lebensmittelkosten, weil insbesondere für die Vorhaltung und Entsorgung der von den Krankenkassen finanzierten Sondennahrung nahezu dieselben Personal-, Energie- und Raumkosten anfielen wie für die Verpflegung von Bewohnern, die ihre Nahrung oral zu sich nähmen. Der Ansatz, als Ersparnis lediglich die reinen Lebensmittelkosten zugrunde zu legen , sei daher zutreffend. Bei einer gemäß § 287 ZPO möglichen Schätzung erscheine der hierfür berücksichtigte Betrag angemessen.
10
Die vom Kläger geltend gemachten Besonderheiten im Fall der früheren Klägerin führten nicht zu einer abweichenden Betrachtungsweise. Es sei ein legitimes Anliegen von Heimträgern, eine Pauschalisierung der Entgelte und damit auch der ersparten Aufwendungen vorzunehmen, bei der es nicht darauf ankomme, ob und in welchem Umfang die vom Pflegeheim bereitgestellten Leistungen von den jeweiligen Bewohnern tatsächlich in Anspruch genommen würden. Dies gelte auch für die Maßnahmen, die der Kläger zur Sicherstellung der Nahrungsversorgung der früheren Klägerin über die Magensonde vorge- nommen habe. Diese Tätigkeiten seien nach dem Heimvertrag vornehmlich in den Aufgaben- und Verantwortungsbereich der Beklagten gefallen, die deshalb hierfür personelle und sachliche Ressourcen habe vorhalten müssen. Derart umfangreiche Heimleistungen von Angehörigen seien nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben der Heimleiterin der Beklagten die Ausnahme, so dass sie nicht bei der Personalbedarfsplanung berücksichtigt werden könnten und deshalb nicht zu höheren ersparten Aufwendungen führten.

II.

11
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.
12
Das Berufungsgericht hat zu Recht und mit weitgehend zutreffender Begründung einen Erstattungsanspruch der Rechtsnachfolger der früheren Klägerin gegen die Beklagte aus §§ 812 ff BGB in Verbindung mit §§ 1922, 2039 BGB verneint. Es ist zu Recht davon ausgegangen, dass in dem zwischen der früheren Klägerin und der Beklagten geschlossenen Heimvertrag vom 29. August /19. September 2006 die Erstattung der wegen der Sondenernährung der früheren Klägerin ersparten Aufwendungen wirksam auf ein Drittel des Verpflegungsanteils der Heimkosten beschränkt worden ist.
13
1. Die Beschränkung der Erstattung ergibt sich aus § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags. Danach richten sich die Entgelte grundsätzlich nach den Regelungen , die zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungsund Kostenträgern in der Pflegesatzkommission jeweils vereinbart sind. Diese Formulierung ist vorliegend als Bezugnahme auf den Beschluss des Grundsatzausschusses für stationäre Pflege in Nordrhein-Westfalen (Grundsatzausschuss ) vom 23. August 2004 betreffend Entgelte für Unterkunft und Verpfle- gung für Heimbewohner mit Sondenernährung auszulegen, der nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Erstattung von rund einem Drittel der Verpflegungskosten für Heimbewohner mit Magensonde festgelegt hat.
14
a) Das Elfte Buch Sozialgesetzbuch sieht verschiedene Verträge vor, in denen Regelungen betreffend die Kosten für Unterkunft und Verpflegung eines in einem Heim versorgten Pflegebedürftigen getroffen werden können. Es sind dies insbesondere Rahmenverträge nach § 75 SGB XI, Vereinbarungen der als Pflegesatzparteien betroffenen Leistungsträger (§ 85 Abs. 2 SGB XI) mit dem Träger des Pflegeheims nach § 87 SGB XI, Vereinbarungen der Pflegesatzkommissionen gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI und Rahmenvereinbarungen der Pflegesatzkommission oder der Vertragsparteien nach § 85 Abs. 2 SGB XI nach § 86 Abs. 3 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI.
15
Die Bestimmung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags bezieht sich ihrem Wortlaut nach auf Vereinbarungen nach § 86 Abs. 1, 3 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI zwischen den dort genannten Vertragsparteien "in der Pflegesatzkommission". Sie bezieht sich dagegen ihrem Wortlaut nach nicht auf die von der Beklagten vorgelegten Vereinbarungen zwischen den als Pflegesatzparteien betroffenen Leistungsträgern (§ 85 Abs. 2 SGB XI) mit der Beklagten als Trägerin des Pflegeheims nach § 87 SGB XI. Denn weder sind Vertragspartner dieser Vereinbarungen die in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags genannten Heimträgerverbände noch handelt es sich um Vereinbarungen "in der Pflegesatzkommission".
16
Regelungen einer Pflegesatzkommission in Nordrhein-Westfalen nach § 86 Abs. 1, 3 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI sind für den streitgegenständlichen Zeitraum von den Parteien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich (vgl. demgegenüber für Bayern den in dem Urteil des OLG Bamberg vom 17. Februar 2006 - 6 U 22/05, juris Rn. 19 zitierten Beschluss der Landespflegesatzkommission Bayern vom 9. März 2004, nach dem im Fall der Sondenernährung ein Minderungsanspruch in Höhe des einrichtungsindividuellen Rohverpflegungssatzes gerechtfertigt ist). Die Formulierung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags ist jedoch als Verweis auf den vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 auszulegen.
17
aa) Der Grundsatzausschuss ist aufgrund § 22 des am 1. Oktober 1999 in Kraft getretenen Rahmenvertrags gemäß § 75 Abs. 1 SGB XI zur Kurzzeitpflege und vollstationären Pflege vom 10. Juni 1999 (Rahmenvertrag) gebildet worden. Nach § 22 Abs. 1 des Rahmenvertrags handelt es sich dabei um einen von den Parteien des Rahmenvertrags (Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, Bundesverband Privater Alten- und Pflegeheime und soziale Dienste e.V., Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe Landesgruppe NRW e.V., Verband der Kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen in NRW e.V., Landschaftsverbände Rheinland und WestfalenLippe , Städtetag Nordrhein-Westfalen, Landkreistag Nordrhein-Westfalen, Landesverbände der Pflegekassen in Nordrhein-Westfalen, Verband der privaten Krankenversicherung e.V.) gebildeten "Grundsatzausschuss im Sinne von § 86 Abs. 3 SGB XI", der unter anderem Verfahren der Ermittlung der Leistungsentgelte regeln soll. Zwar ist in § 86 Abs. 3 SGB XI nicht von einem Grundsatzausschuss , sondern von einer Pflegesatzkommission die Rede. Jedoch besteht sowohl eine Identität der Parteien des Rahmenvertrags und damit des Grund- satzausschusses mit den in § 86 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 SGB XI genannten Parteien der Pflegesatzkommission (Landesverbände der Pflegekassen, Verband der privaten Krankenversicherer e.V., überörtliche oder ein nach Landesrecht bestimmter Träger der Sozialhilfe, Vereinigungen der Pflegeheimträger ) als auch eine Identität des Aufgabenbereichs des Grundsatzausschusses mit dem Aufgabenbereich der Pflegesatzkommission gemäß § 86 Abs. 3 Satz 1 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 1, 3 SGB XI in Bezug auf die Regelung des Verfahrens der Ermittlung der Leistungsentgelte.
18
bb) Die Bestimmung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags nimmt Bezug auf die Regelungen von Leistungsentgelten "zwischen den Heimträgerverbänden und den öffentlichen Leistungs- und Kostenträgern". Damit besteht sowohl hinsichtlich der Parteien der im Heimvertrag in Bezug genommen Regelungen als auch hinsichtlich des in Bezug genommenen Regelungsgegenstands eine Deckungsgleichheit mit den Parteien und dem Regelungsauftrag des Grundsatzausschusses "im Sinne von § 86 Abs. 3 SGB XI" (vgl. § 22 Abs. 1 des Rahmenvertrags). Vor diesem Hintergrund und angesichts des Fehlens von Regelungen einer im Heimvertrag erwähnten Pflegesatzkommission ist die Formulierung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags auf die vom Grundsatzausschuss getroffenen Regelungen zum Verfahren der Leistungsentgeltermittlung zu beziehen und damit auch auf den vorgenannten Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 betreffend Entgelte für Unterkunft und Verpflegung für Heimbewohner mit Sondenernährung.
19
b) Der Einbeziehung des Beschlusses des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 in den Heimvertrag durch § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags steht nicht entgegen, dass nach § 4 Abs. 2 des Heimvertrags das Leistungsentgelt in den einzelnen Pflegestufen (insbesondere für pflegebedingten Aufwand, Unterkunft und Verpflegung) in Anlage 1 des Vertrags definiert ist und dort keine Angaben dazu enthalten sind, ob und in welchem Umfang bei sondenernährten Heimbewohnern die Kosten für Unterkunft und Verpflegung zu reduzieren sind. Vielmehr wird aus der Formulierung in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags , wonach sich die Entgelte "grundsätzlich" nach den in Bezug genommenen Regelungen richten, deutlich, dass letztere (nur) insoweit gelten sollen, als der Heimvertrag selbst keine abweichenden Bestimmungen hinsichtlich des Leistungsentgelts enthält. Eine solche (spezielle) ergänzende Regelung ist bezüglich der Anrechnung von ersparten Aufwendungen bei sondenernährten Heimbewohnern und der entsprechenden Reduzierung des Entgelts für Unterkunft und Verpflegung durch die Bezugnahme auf den Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags getroffen worden.
20
2. Die in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags in Verbindung mit dem Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 geregelte nur teilweise Erstattung des von der früheren Klägerin gezahlten Verpflegungsentgelts steht nicht im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteile vom 22. Januar 2004 - III ZR 68/03, BGHZ 157, 309; vom 4. November 2004 - III ZR 371/03, NJW 2005, 824 und vom 13. Dezember 2007 - III ZR 172/07, NJW 2008, 653). Aus der Anwendung der dort niedergelegten Grundsätze ergibt sich im vorliegenden Fall, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, nicht zwingend ein vollständiger Wegfall des Verpflegungsentgelts. Den Entscheidungen des Senats lagen jeweils Fallkonstellationen zugrunde , in denen - anders als hier - weder im Heimvertrag noch in den nach den Bestimmungen des Elften Buchs Sozialgesetzbuch geschlossenen Vereinbarungen Regelungen zur Reduzierung des Heimentgelts bei sondenernährten Heimbewohnern getroffen worden waren (Urteile vom 22. Januar 2004 aaO S.
317 ff; vom 4. November 2004 aaO S. 825 und vom 13. Dezember 2007 Rn. 5). Dementsprechend richtete sich die Anrechnung ersparter Aufwendungen ausschließlich nach § 615 Satz 2 BGB. In Anwendung dieser Vorschrift hat der Senat jeweils einen Anspruch des Heimträgers in voller Höhe des Verpflegungsentgelts verneint (Urteile vom 22. Januar 2004 aaO S. 320 ff; vom 4. November 2004 aaO S. 826 und vom 13. Dezember 2007 Rn. 6). Daraus folgt indes nicht, dass dem Heimträger in jedem Fall einer Sondenernährung und unabhängig sowohl von den heimvertraglichen Bestimmungen als auch von dem Parteivortrag zu den ersparten Aufwendungen im Sinne von § 615 Satz 2 BGB kein Anspruch auch nur auf einen Teil des Verpflegungsentgelts zusteht. Dies gilt - wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat - auch, soweit der Senat in seiner Entscheidung vom 4. November 2004 den dortigen Feststellungsantrag für begründet erachtet hat, dass der beklagte Heimträger nicht berechtigt sei, der Klägerin für die Zeit, in der sie mit Sondennahrung ernährt werde, ein Leistungsentgelt für die Verpflegung in Rechnung zu stellen.
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3. Die im Heimvertrag im Wege der Bezugnahme auf den Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 für ausschließlich sondenernährte Heimbewohner vorgesehene Reduzierung der zu zahlenden Heimkosten um rund ein Drittel der Verpflegungskosten ist, wie das Berufungsgericht ebenfalls zu Recht angenommen hat, nicht zu beanstanden. Sie verstößt weder gegen § 615 Satz 2 BGB noch ist sie unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 87 Satz 2 SGB XI, § 5 Abs. 7 des Heimgesetzes (HeimG) in der bis zum 30. September 2009 geltenden Fassung und § 5 Abs. 2 des Wohn- und Teilhabegesetzes Nordrhein-Westfalen (WTG NRW).
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a) Die Reduzierung des Verpflegungsanteils bei sondenernährten Heimbewohnern entspricht im Grundsatz der in § 615 Satz 2 BGB vorgesehenen Anrechnung ersparter Aufwendungen. Soweit die heimvertragliche Regelung nicht individuell auf die Ersparnis des jeweiligen Heimbewohners abstellt, sondern eine pauschalierte Reduzierung enthält, begegnet dies keinen Bedenken.
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aa) Nach der Rechtsprechung des Senats kann zwar jeder Bewohner erwarten, dass er die für seine Person notwendige Pflege erhält. Hiermit ist jedoch nicht verbunden, dass das Heim seine Leistungen insgesamt individuell abrechnen müsste und der einzelne Bewohner Anpassungen des verabredeten Entgelts je nach individueller Ausnutzung verlangen könnte (Senat, Urteil vom 4. November 2004 aaO S. 826). Vielmehr kann seitens des Heims eine in bestimmtem Maße pauschalierte Abrechnung der Leistungen erfolgen. Dementsprechend kann grundsätzlich auch die Reduzierung eines Entgelts wegen fehlender Inanspruchnahme einer Leistung des Heims durch den Bewohner in pauschalierter Weise erfolgen.
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Andererseits darf eine solche Pauschalierung nicht dazu führen, dass Bewohner, die mit Sondennahrung verpflegt werden müssen, zu einem Solidarausgleich für die Vergütung eines Leistungsbestandteils herangezogen werden, den sie auf Grund ihrer persönlichen Situation nicht in Anspruch nehmen können (Senat, Urteile vom 4. November 2004 aaO sowie vom 13. Dezember 2007 aaO Rn. 6). Das gilt insbesondere dann, wenn kalkulatorische Gründe nicht zu einer solchen Lösung zwingen. Eine so weitgehende Pauschalierung wird von den Regelungen des Elften Buchs Sozialgesetzbuch, die gleichfalls den Schutz des Heimbewohners im Auge haben, nicht gefordert (Senat, Urteile vom 4. November 2004 und vom 13. Dezember 2007, jeweils aaO). In diesem Zusammenhang hat der Senat darauf hingewiesen, dass der Situation der Sondener- nährung von Heimbewohnern dadurch Rechnung getragen werden kann, dass für jeden Bewohner durchschnittliche Lebensmittelkosten kalkuliert werden. Ein Heim sei ohne weiteres in der Lage, die nicht anfallenden Sachkosten als ersparte Aufwendungen an den Bewohner weiterzugeben (Senat, Urteil vom 4 November 2004 aaO).
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bb) Diesen Grundsätzen trägt der in den Heimvertrag einbezogene Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 hinreichend Rechnung.
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Die darin vorgesehene Reduzierung des Heimentgelts um rund ein Drittel des Verpflegungsanteils entspricht nach den Feststellungen des Berufungsgerichts und der dem Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 zugrunde liegenden Empfehlung seines Arbeitskreises (Bl. 223 der Verfahrensakten ) den reinen Lebensmittelkosten beziehungsweise dem reinen Sachkostenaufwand bei Bewohnern mit normaler Ernährung. Die in Bezug auf die Höhe dieser Lebensmittelkosten seitens des Berufungsgerichts gemäß § 287 ZPO erfolgte Schätzung unterliegt einem weiten tatrichterlichen Entscheidungsspielraum und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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Die Beschränkung der Reduzierung auf die reinen Sachkosten führt nicht zu einem nach den vorstehenden Grundsätzen unzulässigen, den sondenernährten Heimbewohnern aufgezwungenen Solidarausgleich für die Vergütung von Leistungsbestandteilen, die sie auf Grund ihrer persönlichen Situation nicht in Anspruch nehmen können und die für jeden Bewohner getrennt kalkuliert werden können. Das Berufungsgericht hat insofern zutreffend auf den umfangreichen , von der Revision in Teilen wiedergegebenen Vortrag der Beklagten verwiesen. Darin wird unter Bezugnahme auf Anlage 1 zu § 7 des Rahmenver- trags detailliert und nachvollziehbar erläutert, dass sich die Ersparnis des Pflegeheims im Wesentlichen auf die reinen Lebensmittelkosten beschränkt, weil insbesondere für die Vorhaltung und Entsorgung der von den Krankenkassen finanzierten Sondennahrung nahezu dieselben Personal-, Energie- und Raumkosten anfallen wie für die Verpflegung von Bewohnern, die ihre Nahrung oral zu sich nehmen. Mit diesem Vortrag hat die Beklagte - entgegen der Auffassung der Revision - der sie hinsichtlich der von ihr ersparten Aufwendungen treffenden sekundären Darlegungslast genügt (vgl. zur Darlegungslast im Rahmen von § 324 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F.: BGH, Urteil vom 17. Februar 2004 - X ZR 108/02, NJW-RR 2004, 989, 990). Dem ist der - hinsichtlich der von der Beklagten ersparten Aufwendungen darlegungs- und beweispflichtige - Kläger, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, nicht konkret entgegengetreten.
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cc) Ist somit grundsätzlich davon auszugehen, dass die Beklagte jenseits der reinen Sachkosten bei der Sondenernährung von Heimbewohnern keine wesentlichen, kalkulatorisch trennbaren Aufwendungen erspart, so gilt vorliegend nicht deshalb etwas anderes, weil der Kläger - wie er behauptet - für seine Ehefrau die Sondennahrung bestellt, gelagert und die verbrauchten Verpackungen und Überleitsysteme entsorgt hat. Das Berufungsgericht hat insofern zutreffend auf die Rechtsprechung des Senats verwiesen, nach der das Heim seine Leistungen nicht insgesamt individuell abrechnen muss und der einzelne Bewohner Anpassungen des verabredeten Entgelts je nach individueller Ausnutzung nicht verlangen kann (Senat, Urteil vom 4. November 2004 aaO S. 826). Die vom Kläger übernommenen Tätigkeiten fallen grundsätzlich in den Aufgaben - und Verantwortungsbereich der Beklagten, die deshalb entsprechende personelle und sachliche Ressourcen vorzuhalten hat und letztere auch nicht angesichts einer - im Ausnahmefall erfolgenden - Übernahme dieser Tätigkeiten durch Angehörige eines Heimbewohners reduzieren kann.
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b) Aus den vorstehend (zu a bb) genannten Gründen ist die im Heimvertrag vorgesehene Reduzierung des Heimentgelts um rund ein Drittel des Verpflegungsentgelts - wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat - auch angemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 87 Satz 2 SGB XI, § 5 Abs. 7 HeimG a.F. und § 5 Abs. 2 WTG NRW.
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Zudem ist bei einer an dem Maßstab der Angemessenheit des Leistungsentgelts ausgerichteten Überprüfung des von der Beklagten berechneten Verpflegungsanteils zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die Ausgestaltung des Rechts der Leistungserbringung und Vergütung in den Bestimmungen des Elften Buchs Sozialgesetzbuch selbst Vorkehrungen zum Schutz der Heimbewohner getroffen hat (Senat, Urteil vom 22. Januar 2004 aaO S. 321). Er hat ein auf Vereinbarungen gründendes System geschaffen, in dem die Pflegekassen und übrigen Kostenträger als Sachwalter im Interesse der Heimbewohner angemessene Entgelte für Unterkunft und Verpflegung aushandeln (Senat, Urteile vom 8. November 2001 aaO S. 157; vom 22. Januar 2004 aaO S. 319 f und vom 3. Februar 2005 - III ZR 411/04, NJW-RR 2005, 777, 779 unter Hinweis auf den Entwurf eines Pflege-Versicherungsgesetzes, BT-Drucks. 12/5262 S. 147, 168). Bei der Beurteilung einer die Angemessenheit des Leistungsentgelts betreffenden Frage ist mithin zu beachten, ob sie in den vom Elften Buch Sozialgesetzbuch vorgesehenen Rahmenverträgen oder Vergütungsverträgen eine positive Regelung erfahren hat (vgl. Senat, Urteil vom 22. Januar 2004 aaO).
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Vorliegend handelt es sich bei dem im Heimvertrag in Bezug genommenen Beschluss des Grundsatzausschusses vom 23. August 2004 um die Entscheidung eines aufgrund eines Rahmenvertrags nach § 75 Abs. 1 SGB XI eingerichteten Gremiums, in dem die Pflegekassen und übrigen Kostenträger ebenso vertreten waren wie in einer Pflegesatzkommission gemäß § 86 Abs. 1, 3 SGB XI. Bei der Beschlussfassung nahmen sie eine vergleichbare Sachwalterstellung wahr wie bei einer Vereinbarung gemäß § 87 Satz 3 in Verbindung mit § 86 Abs. 3 Satz 1 SGB XI. Darüber hinaus stimmt der Inhalt des Beschlusses vom 23. August 2004 zur Reduzierung des Heimentgelts bei sondenernährten Bewohnern überein mit den entsprechenden Bestimmungen in § 2 Abs. 2 Satz 2 der von der Beklagten mit den Pflegekassen und Sozialhilfeträgern - als Sachwalter der Heimbewohner - geschlossenen Vereinbarungen gemäß §§ 85, 87 SGB XI vom 31. Januar 2007 und 30. Mai 2008. Eine Unangemessenheit von Regelungen dieser Art, bei deren Zustandekommen zum Schutz der Heimbewohner die Pflegekassen und Sozialhilfeträger mitgewirkt haben, wird allenfalls dann in Betracht kommen, wenn hierfür deutliche Anhaltspunkte bestehen. Dies ist indes - wie ausgeführt - vorliegend nicht der Fall.
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4. Da die von der Beklagten vorgenommene begrenzte Erstattung des Verpflegungsanteils bereits aus § 4 Abs. 1 Satz 2 des Heimvertrags begründet ist, kommt es auf die unmittelbare Geltung der vorgenannten Vereinbarungen vom 31. Januar 2007 und vom 30. Mai 2008 im Verhältnis zwischen der früheren Klägerin und der Beklagten gemäß § 85 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 2 SGB XI in Verbindung mit § 87 Satz 3 SGB XI nicht an. Dementsprechend bedarf die von der Revision angesprochene Frage, ob der in den vorgenannten Normen bestimmten unmittelbaren Verbindlichkeit der dort geregelten Vereinbarungen für die in dem Heim versorgten Pflegebedürftigen verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 22. Januar 2004 aaO S. 316 so- wie - zu § 75 Abs. 1 Satz 4 SGB XI - Senat, Urteil vom 8. November 2001 - III ZR 14/01, BGHZ 149, 146, 151 f, jeweils mwN), keiner Beantwortung.
Schlick Herrmann Hucke
Tombrink Remmert
Vorinstanzen:
LG Köln, Entscheidung vom 02.02.2012 - 24 O 60/11 -
OLG Köln, Entscheidung vom 30.04.2013 - 15 U 22/12 -

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.