Oberlandesgericht Frankfurt am Main Urteil, 22. Dez. 2020 - 8 U 142/18
Eingereicht durch
Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner
OLG Frankfurt am Main
Urteil vom 22.12.2020
Aktenzeichen: 8 U 142/18
1. Bei der Abgrenzung von Diagnose- und Befunderhebungsfehlern spielen die Plausibilität und die Eindeutigkeit einzelner Befunde sowie die Häuftigkeit und die Gefährlichkeit der in Betracht zu ziehenden Erkrankungen eine Rolle.
2. Wäre die Prognose einer Patientin bei fachgerechter Behandlung um 10-21 % besser gewesen, ist der haftungsbegründende Ursachenzusammenhang nicht äußerst unwahrscheinlich. Von einem äußerst unwahrscheinlichen Ereignis kann erst ab einer Quote von etwa 5 % und darunter gesprochen werden.
3. Wesentlich für die Bemessung des Schmerzensgeldes sind der Leidensweg der Patientin bis zu ihrem Tod und ihr Alter und ihre familiäre Situation. Die Genugtuungsfunktion, der Grad des Verschuldens des Schädigers und wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien geben dem Fall kein besonderes Gepräge.
4. Die erlittene Lebensbeeinträchtigung ist bei einer 70 Jahre alten Person typischerweise unterdurchschnittlich, da man in diesem Alter die zentralen erfüllenden Momente des Lebens wie etwa Jugend, Liebe, Hochzeit, Mutterschaft und beruflichen Erfolg noch erleben konnte.
5. §§ 842, 843 BGB betreffen Ansprüche der verletzten Person selbst. Für die Zeit ab dem Tod des Verletzten können Hinterbliebenen nur eigene Ansprüche aus § 844 Abs. 2 BGB wegen des Verlusts von Unterhaltsansprüchen zustehen.
Tenor
Auf die Berufung beider Parteien wird das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Gießen vom 8. November 2018 wie folgt abgeändert:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 53.091,62 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 18.6.2016 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehenden Berufungen sowohl des Klägers als auch des Beklagten werden zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten des Rechtsstreits in zweiter Instanz haben der Kläger zu 81 % und der Beklagte zu 19 % zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten des Nebenintervenienten hat der Kläger zu 81 % und im Übrigen der Nebenintervenient selbst zu tragen.
Das Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Beide Parteien können die Vollstreckung der jeweiligen Gegenseite durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund der Urteile gegen sie vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die jeweilige Gegenseite vor Beginn der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Parteien streiten um das Verkennen eines Weichteiltumors durch den Beklagten und dessen Folgen.
Der Kläger ist einer der Erben seiner 1941 geborenen und am XX.XX.2012 verstorbenen Ehefrau (im Folgenden auch "Patientin"). Seine Miterben haben ihn im Monat1 2016 bevollmächtigt, die gemeinsam ererbten Ansprüche im eigenen Namen prozessual geltend zu machen und Zahlung an sich zu fordern.
Die Patientin wurde im Herbst 2010 von ihrem Hausarzt wegen undefinierbarer Schmerzen im bereits geschwollenen rechten Oberschenkel in die orthopädische Fachpraxis des Beklagten überwiesen. Im Rahmen des ersten Untersuchungstermins fertigte der Beklagte eine Röntgenaufnahme, auf der er weder eine knöcherne Veränderung noch einen Hinweis auf eine Myositis erkannte. Er diagnostizierte eine Prellung des Oberschenkels und ging davon aus, dass es sich bei der Schwellung um ein abgekapseltes Hämatom handelte. Der Patientin wurde eine Kryotherapie empfohlen.
Bei ihrem zweiten Besuch am XX.10.2010 war der Zustand der Patientin unverändert. Der Beklagte ließ durch seinen Mitgesellschafter, den Nebenintervenienten, eine Ultraschalluntersuchung des Oberschenkels vornehmen und hielt die Schwellung anschließend weiter für ein ca. 25 × 3 cm messendes Hämatom. Er legte der Patientin einen Kompressionsverband an und verschrieb eine entzündungshemmende und durchblutungsfördernde Salbe.
Am XX.11.2010 beklagte die Patientin sich gegenüber dem Beklagten über eine Verschlechterung ihres Zustands und über stärkere Schmerzen. Der Beklagte bemerkte im Rahmen einer klinischen Untersuchung "festere Konturen" der Schwellung und verordnete Schmerzmittel.
Zwei Wochen später, am XX.11.2010, hatten sich die Beschwerden der Patientin trotz Einnahme der Schmerzmittel nicht gebessert. Der Beklagte stellte eine Zunahme der Schwellung fest und veranlasste eine MRT-Untersuchung.
Diese ergab am XX.11.2010 eine 14×6×11 cm messende solide tumoröse Raumforderung. Der Beklagte überwies seine Patientin daraufhin am Folgetag in ein Krankenhaus, in dem am XX.12.2010 durch weitere diagnostische Maßnahmen ein undifferenziertes, mäßig pleomorphes Sarkom festgestellt wurde. Der Tumor wurde am XX.12.2010 in Land1 reseziert. Dabei musste ein großer Teil der Oberschenkelmuskulatur mit entfernt werden. Im Frühjahr 2011 folgte eine adjuvante Bestrahlungstherapie.
Bereits im Februar 2011 wurde eine pulmonale Metastase gefunden, die im Juli operativ entfernt wurde. Trotzdem konnte der Krebs nicht mehr eingedämmt werden. Anfang 2012 musste ein Metastasenrezidiv in der Lunge und im Sommer auch im Gehirn zur Kenntnis genommen werden. Die Patientin verstarb am XX.XX.2012 an den Folgen ihrer Krebserkrankung.
Der Kläger hat dem Beklagten vorgeworfen, dass dieser spätestens mit dem Sonographiebefund vom XX.10.2010 eine bösartige Weichteilveränderung in Betracht hätte ziehen müssen. Dies hätte ihn bereits damals zu weiterer bildgebender Diagnostik, insbesondere einer MRT-Untersuchung veranlassen müssen. Bei entsprechend früher Erkennung des Tumors wären der Patientin nach der Darstellung des Klägers die erheblichen Beeinträchtigungen, Schmerzen und insbesondere der frühzeitige Tod erspart geblieben. Er hat zu diesen Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie zu den dadurch verursachten Haushaltsführungsschäden näher vorgetragen.
Der Beklagte hat seine Vorgehensweise als fehlerfrei verteidigt und behauptet, die Patientin habe ihm anlässlich ihres Erstkontakts erzählt, sie wäre einige Wochen zuvor umgeknickt. Es habe bis zum XX.11.2010 keine Veranlassung für ein MRT gegeben. Außerdem hätte auch eine einen Monat frühere Feststellung des Tumors an dem schicksalhaften Verlauf der Erkrankung einschließlich des Todes der Patientin nichts geändert.
Das Landgericht, auf dessen Urteil hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie der in erster Instanz gestellten Anträge verwiesen wird, hat der Klage nach Einholung eines orthopädischen und eines onkologischen Sachverständigengutachtens teilweise stattgegeben. Es hat sich der Beurteilung des Sachverhalts durch den Kläger angeschlossen und einen Befunderhebungsfehler des Beklagten bejaht. Der Beklagte hätte bereits am XX.10.2010 ein MRT veranlassen müssen, weil er nicht von einem Hämatom habe ausgehen dürfen, da diese Diagnose wenig naheliegend gewesen sei und auch nicht zu den Bildern der Sonographie gepasst habe. Da im Rahmen des zu fordernden MRT bereits am XX.10.2010 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Sarkom erkannt worden wäre, hätte es dem Beklagten oblegen, die fehlende Kausalität zwischen seinem Fehler und dem späteren Verlauf der Erkrankung zu beweisen. Dies sei ihm auf der Grundlage der Angaben der Sachverständigen aber nur teilweise gelungen. Da bei einer einen Monat früheren Erkennung der Erkrankung eine um 10-21 % höhere Chance bestanden hätte, dass sich in der Folgezeit keine Metastasen gebildet hätten und die Patientin ihre Krebserkrankung deshalb überlebt hätte, müsse der Beklagte sich diese Folgen zurechnen lassen. Insgesamt sei deshalb ein Schmerzensgeld von 30.000,- € gerechtfertigt. Zudem stünde dem Kläger für die Zeit bis zur hypothetischen Beendigung des 75. Lebensjahres der Patientin ein Haushaltsführungsschaden von insgesamt 20.349,- € zu.
Gegen das Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt.
Der Beklagte rügt unter Verweis auf ein mit der Berufungsbegründung vorgelegtes Privatsachverständigengutachten die Tatsachenfeststellungen des Landgerichts. Dieses sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Annahme eines abgekapselten Hämatoms durch den Beklagten im hier interessierenden Zeitraum unvertretbar gewesen sei. Die Feststellungen des gerichtlichen orthopädischen Sachverständigen seien von einer ex-post-Perspektive getragen. Es müsse beachtet werden, dass bis zum XX.11.2010 keine Größenzunahme der Schwellung vorgelegen habe und dass das hier in Rede stehende Weichteilsarkom äußerst selten und schwierig zu erkennen sei. Außerdem stehe gar nicht fest, dass es bei einer früheren MRT-Überweisung durch den Beklagten überhaupt zu einer früheren zutreffenden Diagnosestellung und Behandlung gekommen wäre. Schließlich sei die tatsächliche Behandlung durch die Patientin unangemessen verzögert worden. In rechtlicher Hinsicht sei die Einschätzung des Beklagten nicht als Befunderhebungsfehler, sondern lediglich als nicht haftungsbegründender Diagnoseirrtum zu werten. Das zuerkannte Schmerzensgeld sei übersetzt und der Haushaltsführungsschaden in unzulässiger Weise auf einer lücken- und fehlerhaften Tatsachengrundlage berechnet worden.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des am 8.11.2018 verkündeten Urteils des Landgerichts Gießen, 4 O 162/16, die Klage insgesamt abzuweisen;
hilfsweise das am 8.11.2018 verkündete Urteil des Landgerichts Gießen, 4 O 162/16, aufzuheben und den Rechtsstreit an das Landgericht Gießen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Sein Streithelfer schließt sich diesen Anträgen an.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Er verteidigt insoweit das angefochtene Urteil.
Mit seiner eigenen Berufung hat der Kläger zunächst ein um 20.000,- € höheres Schmerzensgeld begehrt und dies damit begründet, dass das Landgericht zu Unrecht die Entfernung eines Großteils der Oberschenkelmuskulatur der Patientin sowie die von ihr erlittenen Verbrennungen am Oberschenkel während der Bestrahlungstherapie bei der Berechnung des Schmerzensgelds außer Acht gelassen habe. Außerdem sei die Todesangst der Verstorbenen nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt worden. Die Patientin habe sich von Mann und Kindern verabschieden müssen und für den gesamten Rest ihres Lebens kein geordnetes Familienleben mehr führen können. Im Laufe des Verfahrens hat er seine Schmerzensgeldvorstellung wiederholt erhöht oder vermindert. Zur Begründung verweist er ergänzend insbesondere auf das nicht nur massiv fehlerhafte, sondern auch uneinsichtige, empathielose und beleidigende Verhalten seines Gegners, auf die familienbedingt eigentlich überdurchschnittliche Lebenserwartung der Patientin und auf deren noch einmal näher dargestellten Leidensweg mit unsäglichen Schmerzen, dauerhafter Krankenhausbehandlung und starker, von Hoffnungs- und Schlaflosigkeit geprägter psychischer Belastung. Zum Vergleich zieht er die Entscheidung des OLG Celle vom 10.8.2018 (Az. 1 U 71/17) heran.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des am 8.11.2018 verkündeten Urteils des Landgerichts Gießen, Az. 4 O 162/16, zu verurteilen, an den Kläger ein weiteres in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch weitere 230.000,- € zzgl. Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.6.2016 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sein Streithelfer schließt sich auch diesem Antrag an.
Der Senat hat weiter Beweis erhoben durch eine erneute Anhörung der beiden Sachverständigen. Hinsichtlich deren Ergebnis wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17.12.2019 verwiesen.
II.
Beide Berufungen sind in vollem Umfang zulässig. Insbesondere durfte der Kläger den Schmerzensgeldantrag nachträglich erhöhen, denn dabei handelte es sich um eine reine Erweiterung seines Klageantrags bei gleichbleibendem Klagegrund, die gem. § 264 Nr. 2 ZPO auch in der zweiten Instanz nicht an den Anforderungen des § 533 ZPO zu messen ist (BGH, Urteile vom 21. März 2018 - VIII ZR 68/17 -, BGHZ 218, 139-162 und vom 19. März 2004 - V ZR 104/03 -, BGHZ 158, 295-310). Die irrtümliche Bezeichnung der ersten Erhöhung als "Anschlussberufung" ist unerheblich.
1. Die Berufung des Beklagten bleibt mit Blick auf seine Haftung dem Grunde nach ohne Erfolg. Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger Schadensersatzansprüche gem. §§ 611, 280 Abs. 1, 249, 253 BGB zustehen, weil der Beklagte seine Pflichten aus dem mit der Patientin geschlossenen Behandlungsvertrag verletzt hat.
a) Der Kläger ist für sämtliche geltend gemachten Forderungen aktivlegitimiert. Soweit er nicht als unterhaltsberechtigter Ehepartner hinsichtlich von Teilen des geltend gemachten Haushaltsführungsschadens ohnehin Rechtsinhaber ist, ergibt sich seine Klagebefugnis aus § 2039 S. 1 BGB. Seine Miterben haben ihn überdies mit ihrer Erklärung von Monat1 2016 zur Beanspruchung einer Leistung an sich allein ermächtigt (vgl. BGH, Beschluss vom 19.4.2005 - VI ZB 47/03).
b) Das Landgericht hat dem Beklagten zu Recht einen Befunderhebungsfehler und nicht nur einen Diagnoseirrtum vorgeworfen. Das ergibt sich unisono aus sämtlichen eingeholten Gutachten einschließlich des mit der Berufung eingereichten Parteigutachtens des Beklagten.
Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen - therapeutischen oder diagnostischen - Maßnahmen ergreift (vgl. etwa BGH, Urteile vom 21.1.2014 - VI ZR 78/13 und vom 26.1.2016 - VI ZR 146/14). Ein Diagnoseirrtum setzt aber voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat - er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären - dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung (vgl. etwa BGH, Urteil vom 26.1.2016 - VI ZR 146/14; Senatsurteil vom 10.9.2019 - 8 U 43/17).
Diese Rechtsprechung betont eine der zentralen Pflichten ärztlichen Handelns: Eine Diagnose darf nur auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage gestellt werden. Erst wenn durch geeignete, gründliche Befunderhebungen eine verlässliche Basis für eine bestimmte Schlussfolgerung vorhanden ist, darf diese auch gezogen werden. Welche Befunde für eine Diagnose erhoben werden müssen, ist eine Frage des Einzelfalls. Dabei spielen die Plausibilität und die Eindeutigkeit oder Uneindeutigkeit einzelner Befunde ebenso eine Rolle wie die Häufigkeit und die Gefährlichkeit der in Betracht zu ziehenden Erkrankungen.
Im vorliegenden Fall hatte der Beklagte unzweifelhaft keine hinreichende Grundlage für seine Diagnose eines Hämatoms. Die Krankheitsgeschichte der Patientin legte dieses Phänomen auch dann nicht nahe, wenn man die streitige Tatsache, dass die Patientin von einem Umknicken zwei Monate zuvor berichtet hatte, zugrunde legt. Der orthopädische Sachverständige führt deutlich aus, dass ein solcher Zusammenhang sehr unwahrscheinlich war, da pathomorphologisch nicht nachvollziehbar sei, wie ein Distorsionstrauma am Sprunggelenk zu einem derart großen Hämatom am Oberschenkel führen könne. Diese Darstellung leuchtet auch aus Laiensicht unmittelbar ein. Sie wird im Kern auch von den übrigen in das Verfahren involvierten Sachverständigen geteilt. Der im Schlichtungsverfahren tätige Gutachter drückt sich zunächst zwar etwas vorsichtiger aus und hält es für nachvollziehbar, dass an ein Hämatom "gedacht" wurde, bezeichnet eine solche Folge einer Sprunggelenksverletzung später aber ebenfalls als "nicht unbedingt typisch" bzw. als "sehr ungewöhnlich". Diese Wortwahl wird von der Schlichtungskommission teilweise übernommen und die Folgerung des Beklagten unter Betonung auch des großen zeitlichen Abstands zwischen angeblichem Unfallereignis zur Befunderhebung als "äußerst unwahrscheinlich" und als "mehr als ungewöhnlich" eingestuft. Selbst der für den Beklagten tätige Privatgutachter bleibt in seiner Bewertung sehr vorsichtig. Er wendet sich lediglich ganz pauschal gegen die Einschätzung, dass ein Zusammenhang sehr unwahrscheinlich sei, beschreibt sodann den Mechanismus aufgrund dessen ein solcher Zusammenhang überhaupt möglich ist und schließt sich dann ebenso pauschal der vermeintlichen Ansicht des Schlichtungsgutachters an, dass die Verdachtsdiagnose abgekapseltes Hämatom "nachvollziehbar" sei. Selbst bei der für den Beklagten günstigsten Auslegung, steht daher fest, dass seine These bestenfalls als eine mögliche Diagnose in Betracht kam.
Die einzige weitere diagnostische Maßnahme außer einer hier unergiebigen klinischen Untersuchung und einer für die hier interessierenden Differenzialdiagnosen irrelevanten Röntgenuntersuchung, die der Beklagte durchgeführt hat bzw. in ihm zurechenbarer Weise durch den Nebenintervenienten hat durchführen lassen, ist die Sonografie vom XX.10.2010.
Diese Untersuchung aber war ebenfalls nicht geeignet, eine hinreichende Basis für die Annahme eines Hämatoms zu schaffen und einen Tumor auszuschließen. Der orthopädische Sachverständige hat erläutert, dass die Ergebnisse der Sonografie nicht zu der Diagnose des Beklagten passen und dass eine sichere Zuordnung der Schwellung allein mit Hilfe solcher Bilder nicht möglich war. Ähnlich sehen es die Schlichtungsgutachter. Selbst der Privatgutachter des Beklagten widerspricht nicht. Im Gegenteil, er verweist auf das oft uneindeutige klinische Erscheinungsbild von Weichteiltumoren und das Risiko von Fehlinterpretationen sogar im MRT. Damit ist klar, dass die vom Beklagten betriebene Diagnostik nicht geeignet war, die Erkrankung der Patientin zuverlässig einzuordnen. Der Beklagte ist vorschnell aufgrund unzureichender Untersuchungen zu einer Diagnose gelangt und hat dabei insbesondere die besonders gefährliche Differenzialdiagnose eines Weichteiltumors nicht ausgeschlossen. Das ist ein klarer Befunderhebungsfehler.
Dass die Sonografie vom Nebenintervenienten seinerzeit zudem mangelhaft interpretiert worden sein muss, entlastet den Beklagten nicht. Ein Befunderhebungsfehler wird nicht dadurch wieder zu einem bloßen Diagnoseirrtum, dass die unzureichenden Befunderhebungen auch noch fehlerhaft bewertet werden.
Der bereits im Schlichtungsverfahren erhobene Einwand des Beklagten, es könne nicht jede durch ein Unfallereignis erklärbare muskuläre Schwellung als tumorverdächtig anzusehen sein, beruht auf einer massiven Fehleinschätzung des konkreten Falles. Der Einwand wird bereits von der Kommission in überzeugender Weise bewertet: Es besteht ein entscheidender Unterschied darin, ob die zu beurteilende Schwellung durch ein Unfallereignis plausibel und konsistent erklärt werden kann oder ob, wie hier, eine solche Erklärung (eher) fernliegend ist.
c) Der Befunderhebungsfehler des Beklagten löst im vorliegenden Fall eine Beweislastumkehr für den Ursachenzusammenhang zwischen Fehler und primärem Gesundheitsschaden der Patientin aus.
Nach der Rechtsprechung des BGH kommt bei einem einfachen Befunderhebungsfehler eine solche Beweislastumkehr in Betracht, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen. Es ist nicht erforderlich, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache des Schadens ist. Eine Umkehr der Beweislast ist nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist. In einem derartigen Fall führt bereits das - nicht grob fehlerhafte - Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten hinsichtlich des Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird. Hingegen ist nicht Voraussetzung für die Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten, dass die Verkennung des Befundes und das Unterlassen der gebotenen Therapie völlig unverständlich sind (BGH, Urteile vom 7.6.2011 - VI ZR 87/10, vom 2.7.2013 - VI ZR 554/12 und vom 21.1.2014 - VI ZR 78/13 je m.w.N.).
Die hinreichende Wahrscheinlichkeit der Erkennung des Sarkoms bereits am XX.10.2010 hat der onkologische Sachverständige bejaht. Das ist auch unmittelbar einleuchtend, da der Beklagte schließlich zuvor selbst bereits ein großes "Hämatom" gesehen hatte. Die grobe Fehlerhaftigkeit einer Nichtreaktion auf einen mutmaßlich hoch malignen Tumor und die generelle Fehlereignung sind evident und vom Sachverständigen zudem bestätigt.
Es hätte deshalb dem Beklagten oblegen, zu beweisen, dass im Streitfall jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich war bzw. dass kein Kausalzusammenhang zwischen seinem Fehler und dem Primärschaden der Patientin bestand.
d) Aufgrund der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme ist aber davon auszugehen, dass ein haftungsbegründender Zusammenhang zwischen dem Befunderhebungsfehler des Beklagten und dem Primärschaden der Patientin zumindest möglich ist.
Der Primärschaden eines Patienten liegt in der durch den Behandlungsfehler herbeigeführten gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Ausprägung (BGH, Beschluss vom 14.1.2014 - VI ZR 340/13, Urteil vom 2.7.2013 - VI ZR 554/12). Zu dieser gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Ausprägung gehört u.U. auch ein dadurch etwa geschaffenes oder erhöhtes Risiko Folgeschäden zu erleiden (BGH, Urteil vom 2.7.2013 - VI ZR 554/12, dort Epilepsie mit tödlichen Folgen).
Auf den Streitfall bezogen bedeutet dies, dass der Primärschaden der Patientin im unbehandelten Fortwachsen des Tumors unter Einschluss des für solche Tumore typischen Risikos zu metastasieren besteht (s. auch BGH, Urteil vom 22.5.2012 - VI ZR 157/11).
Entscheidend für die Beweislastumkehr zulasten des Beklagten ist vor diesem Hintergrund, dass die statistische Prognose der Patientin nach Aussage des onkologischen Sachverständigen bei einer um einen Monat früheren Diagnose um 10-21 % besser gewesen wäre. Eine solche Quote macht den haftungsbegründenden Ursachenzusammenhang nicht äußerst unwahrscheinlich. Von einem äußerst unwahrscheinlichen Ereignis kann erst ab einer Quote von etwa 5 % und darunter gesprochen werden (vgl. etwa Martis/Winkart, Arzthaftungsrecht, 5. Aufl., G 255 mit vielen Beispielen aus der obergerichtlichen Rechtsprechung). Eine zuverlässige auf den konkreten Fall bezogene Wachstumsberechnung ist, wie der onkologische Sachverständige gegenüber dem Senat ausgeführt hat, nicht möglich. Die verbleibende Unsicherheit hinsichtlich des hypothetischen Verlaufs der Ereignisse geht zu Lasten des Beklagten. Dass bereits im Oktober 2010 Metastasen vorlagen, konnte der Beklagte ebenfalls nicht beweisen.
Soweit er behauptet, dass sich die Behandlung der Patientin im Falle einer rechtzeitigen Überweisung an einen Radiologen ebenso lang hingezogen hätte, handelt es sich um den Einwand eines rechtmäßigen Alternativverhaltens. Für den entsprechenden Kausalverlauf wäre daher der Beklagte beweispflichtig (st. Rspr., vgl. nur BGH Urteile vom 23.3.2016 - VI ZR 467/14, vom 22.5.2012 - VI ZR 157/11 und vom 5.4.2005 - VI ZR 216/03). Sein Vortrag dazu ist ungenügend. Außerdem hat der orthopädische Sachverständige dem Senat nachvollziehbar erläutert, dass Patienten bei Tumorverdacht bevorzugt untersucht würden und regelmäßig binnen weniger Tage einen MRT-Termin erhielten.
Das gleiche Ergebnis gilt für die Behauptung des Beklagten, die Patientin habe ihre Operation schuldhaft verzögert (zur Beweislastverteilung bei einer behaupteten Behandlungsverweigerung durch den Patienten vgl. etwa BGH, Urteil vom 3.2.1987 - VI Z R 56/86 = BGHZ 99,391; OLG Oldenburg, Urteil vom 23.7.2006 - 5 U 28/08; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7.A., B Rn. 220 m.w.N.).
f) Der Beklagte haftet dem Kläger deshalb für die durch sein Fehlverhalten entstandenen Schäden.
2. Im Vordergrund steht dabei zuvorderst der im konkreten Fall seiner Höhe wegen besonders umstrittene Anspruch auf Schmerzensgeld gem. § 253 Abs. 2 BGB. Nach Ansicht des Senats ist das Schmerzensgeld unter Berücksichtigung der maßgeblichen Gesamtumstände des Einzelfalls gegenüber der Zumessung durch das Landgericht um weitere 20.000,- € auf insgesamt 50.000,- € zu erhöhen.
a) Das Schmerzensgeld hat nach ständiger Rechtsprechung rechtlich eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, für diejenige Lebenshemmung, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion).
Der unbestimmte Rechtsbegriff der "billigen Entschädigung" ist nach dem Wortlaut, systematisch, historisch und teleologisch dahin auszulegen, dass bei der Bemessung der "billigen Entschädigung" durch den Richter alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden dürfen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie die einzelnen Umstände bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu gewichten sind.
Dabei stehen die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung ganz im Vordergrund. Bei den unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit zu berücksichtigenden Umständen hat die Rücksicht auf Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen stets das ausschlaggebende Moment zu bilden; der von dem Schädiger zu verantwortende immaterielle Schaden, die Lebensbeeinträchtigung, hat im Verhältnis zu den anderen zu berücksichtigenden Umständen stets Priorität. Daneben können aber auch alle anderen Umstände berücksichtigt werden, die dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, wie der Grad des Verschuldens des Schädigers, im Einzelfall aber auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten oder diejenigen des Schädigers. Ein allgemein geltendes Rangverhältnis aller anderen zu berücksichtigenden Umstände lässt sich nicht aufstellen, weil diese Umstände ihr Maß und Gewicht für die Höhe der billigen Entschädigung erst durch ihr Zusammenwirken im Einzelfall erhalten (st. Rspr. vgl. insb. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 - VGS 1/16 -, BGHZ 212, 48-70 und vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55 -, BGHZ 18, 149).
Die Tatsache, dass ein Geschädigter seine Verletzungen nur kurze Zeit überlebt, ist selbst dann schmerzensgeldmindernd zu berücksichtigen, wenn der Tod gerade durch das Schadensereignis verursacht worden ist (BGH, Urteil vom 12. Mai 1998 - VI ZR 182/97 -, BGHZ 138, 388-394).
b) Nach diesen Maßstäben sind für die Bemessung des Schmerzensgeldes im Streitfall genau die beiden auch vom Landgericht hervorgehobenen Aspekte maßgeblich. Zu berücksichtigen sind einerseits der Leidensweg der Patientin bis zu ihrem Tod, aus dem sich insbesondere die Heftigkeit und Dauer ihrer Schmerzen ablesen lassen, und andererseits ihr Alter und ihre familiäre Situation, die Rückschlüsse auf die erlittene Lebensbeeinträchtigung zulassen. Die Genugtuungsfunktion spielt vorliegend hingegen keine gewichtige Rolle. Auch der Grad des Verschuldens des Schädigers und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien sind von untergeordneter Bedeutung.
Das Landgericht geht zu Recht davon aus, dass der Tumor im Februar 2011 in der Lunge und später im Hirn zu metastasieren begonnen hat und die Patientin deshalb im August 2012 nach vielen krebsbedingten Krankenhausaufenthalten, Operationen und (Chemo)Therapien und monatelanger Todesangst kurz nach ihrem 71. Geburtstag an den Folgen dieses Umstands verstorben ist.
Schwerpunkt der Schmerzensgeldbewertung ist deshalb sowohl hinsichtlich der körperlichen als auch der psychischen Lebensbeeinträchtigungen der Zeitraum ab Bekanntwerden der ersten Lungenmetastase im Februar 2011 und des Metastasenrezidivs im Januar 2012. Ab diesem Zeitpunkt trat das dem Beklagten nicht zurechenbare Grundleiden mit den damit verbundenen Beschwerden und Einschränkungen immer weiter in den Hintergrund. Die Patientin sah ihre Chancen auf eine Genesung zunehmend schwinden und musste sich stattdessen immer konkreter auf ihren bevorstehenden Tod einstellen. Ihre Therapie konzentrierte sich nun auf die dem Beklagten zuzurechnende Metastasenbildung. Hierzu zählten namentlich eine bekanntermaßen sehr belastende Chemotherapie zwischen Juni 2011 und März 2012 und mehrere operative Eingriffe in der Lunge. Das abermalige Auftreten von Metastasen in Lunge und Hirn im Jahre 2012 leitete die finale Phase im Leben der Patientin ein. Die Darstellung dieses letzten Lebensabschnitts in Anlage B 9 mit schrecklichen Schmerzen, Verzweiflung und Todesangst ist unmittelbar nahvollziehbar. Sie entspricht den allgemein bekannten furchtbaren Erlebnissen von Menschen mit einer Krebserkrankung im Endstadium.
Alle anderen Aspekte des Falles sind für die Schmerzensgeldzumessung von deutlich geringerer Bedeutung. So stand, nachdem Ende November 2010 endlich die korrekte Diagnose gestellt werden konnte, zunächst die Bekämpfung des Grundleidens im Vordergrund. Die mit der Resektion des Tumors verbunden Schmerzen und Beeinträchtigungen können dem Beklagten aber nur sehr eingeschränkt zugerechnet werden. Er hat, anders als der Kläger meint, allenfalls eine, nicht näherungsweise bestimmbare Verschlechterung zu vertreten. Der Senat geht mit dem Landgericht vor dem Hintergrund der Angaben des onkologischen Sachverständigen in Gutachten und erster Anhörung (Bl. 201 und 285 d.A.) nicht von einer messbaren Vergrößerung der Leiden der Patientin aus. So wäre lt. Sachverständigem insbesondere die der OP nachfolgende Strahlentherapie auch bei fachgerechter Behandlung durch den Beklagten indiziert gewesen. Außerdem erscheinen die insoweit beklagten Verbrennungen im Verhältnis zu den späteren Krebsschmerzen fast vernachlässigbar. Ähnlich verhält es sich für eine etwaige vom Beklagten verursachte Verschlechterung der Mobilität der Patientin. Zwar könnte eine durch das Tumorwachstum zwischen dem XX.10. und dem XX.11.2010 notwendig gewordene umfassendere Entnahme von Muskelgewebe aus dem Oberschenkel die spätere Mobilität der Patientin theoretisch zusätzlich beeinträchtigt haben. Eine messbare Abgrenzung ist aber auch an dieser Stelle nicht möglich. Hinzu kommt, dass sich eine unterstellte längerfristig geringere Mobilität im konkreten Fall wegen des tragischen Verlaufs der Erkrankung kaum eigenständig ausgewirkt hat.
Mangels Auswirkungen unbeachtlich sind auch die von der Klägerseite ins Feld geführten wirtschaftlichen Aspekte des Falles. Das allgemeine Zinsniveau ist angesichts eines kurzen und zeitlich abgeschlossenen Beurteilungszeitraums ersichtlich gänzlich unerheblich. Auch liegt kein Fall vor, der nach der Rechtsprechung ausnahmsweise eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien erforderlich macht. Dafür müssten die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Einzelfall ein besonderes Gepräge geben (BGH, Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16 -, BGHZ 212, 48-70). Das ist nicht allein deshalb (zugunsten des Klägers) der Fall, weil der Beklagte, wie die große Mehrzahl der Ärzte, haftpflichtversichert ist.
Keine entscheidende Bedeutung haben des Weiteren die Schwere des Behandlungsfehlers und die im Prozess zu Tage getretene Selbstgerechtigkeit und fehlende Empathie des Beklagten. Die dahinterstehende Genugtuungsfunktion tritt bei fahrlässigem ärztlichen Handeln in aller Regel gänzlich hinter die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes zurück (Senatsurteil vom 31. Januar 2017 - 8 U 155/16; OLG Köln, Beschluss vom 8. Dezember 2014 - 5 U 122/14; OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. August 2003 - 8 U 190/01). Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte seine Patientin seinerzeit bewusst schädigen wollte, sind nicht ersichtlich. Ein mögliches gefühlloses und unangemessenes Verhalten des Beklagten gegenüber seiner Patientin ist im Zuge einer Gesamtbetrachtung aus Sicht des Senats auch dann unbedeutend, wenn man den insoweit teilweise streitigen Klägervortrag zu angeblichen herabwürdigenden Bemerkungen als zutreffend unterstellt. Das prozessuale Verhalten des Beklagten ist darüber hinaus auch deshalb unbeachtlich, weil, wie der Kläger selbst erkennt, bei der Verletzten das Empfinden einer Genugtuung über dessen Sanktionierung niemals möglich war (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 1992 - VI ZR 201/91 -, BGHZ 120, 1-9).
Grundlage der Schmerzensgeldzumessung ist daher, dass sich eine 70 Jahre alte verheiratete Frau mit zwei erwachsenen Söhnen und zwei Enkelkindern im Teenageralter im Februar 2011 wegen auftretender Lungenmetastasen zunehmend Sorgen um ihr Leben machen und diversen körperlich und psychisch belastenden medizinischen Eingriffen, insbesondere einer Chemotherapie, unterziehen musste. Ab Anfang 2012 wurde ihr Kampf ums Überleben dann zunehmend verzweifelt. Die verbleibenden ca. acht Monate waren nur noch leidensgeprägt und mit entsetzlichen Schmerzen verbunden.
c) Für einen solchen Leidensweg hält der Senat ein Schmerzensgeld i.H.v. 50.000,- € für angemessen. Die Leidensdauer der Patientin von ca. 1 ½ Jahren war im Vergleich zu anderen Fällen, in denen Menschen mitunter Jahrzehnte mit ihren Beschwerden leben müssen, einigermaßen gering. Und auch die erlittene Lebensbeeinträchtigung ist bei einer 70 Jahre alten Person typischerweise unterdurchschnittlich, da man in diesem Alter die zentralen erfüllenden Momente des Lebens wie etwa Jugend, Liebe, Hochzeit, Mutterschaft und beruflichen Erfolg - anders als eine im Kindesalter Geschädigte - noch erleben konnte. Genau das trifft auch auf die Ehefrau des Klägers zu. Zwar hätte sie ohne den Fehler des Beklagten womöglich noch eine ganze Reihe von Jahren leben können. Ihr Leben wurde aber erst zu einem Zeitpunkt beeinträchtigt, zu dem sie persönlich allein schon wegen ihrer Grunderkrankung erhebliche Einschränkungen im Sport- und Freizeitbereich hätte hinnehmen müssen und zu dem sich statistisch alsbald weitere altersbedingte gesundheitliche Probleme hinzugesellt hätten. Die Ehefrau des Klägers konnte zudem auch ohne erkennbare besondere Sorgen aus dem Leben scheiden. Sie musste keine schutzbedürftigen Angehörigen zurücklassen. Mann und Kinder waren selbständig und wirtschaftlich versorgt (vgl. etwa OLG Celle, Urteil vom 16. Mai 2007 - 14 U 166/06). Andererseits erscheint angesichts der Leidensdauer und -umstände und dem Verlust an Lebenszeit gerade auch unter Berücksichtigung der in vergleichbaren Fällen von anderen Gerichten zugesprochenen Beträge eine Erhöhung des Schmerzensgeldes um 20.000,- € geboten.
Bereits das Landgericht hat in seinem Urteil mehrere solcher Entscheidungen (mit durchweg längeren Leidenszeiten als vorliegend) herangezogen, auf die ausnahmslos verwiesen werden kann. Auch der Senat hatte ergänzend bereits auf das Urteil des OLG Oldenburg vom 23.7.2006 (Az. 5 U 28/08) hingewiesen, dem ebenfalls ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag (Dort wurden ebenfalls 50.000,- € Schmerzensgeld zugesprochen.). Die Zahl ähnlicher Entscheidungen ließe sich fast ad infinitum verlängern.
So billigte z.B. das OLG Köln einem 70 Jahre alten Patienten 40.000,- € zu, der infolge der festgestellten Behandlungsfehler bis zu seinem Tod eine fünfmonatige Leidenszeit mit erheblichen Schmerzen bei ununterbrochener stationärer Behandlung erdulden musste. Höhere Schmerzensgelder, vor allem solche in einer Größenordnung von 100.000 €, wurden in der Entscheidung ausdrücklich längeren Leidenszeiten oder schweren und schwersten Dauerschäden vorbehalten (OLG Köln Urteil vom 21. September 2011 - I-5 U 8/11).
Das OLG Hamm hat am 24.2.1999 (Az. 3 U 73/98) einer nach zweijähriger Krankheit an einem verkannten Magentumor verstorbenen 34jährigen Mutter dreier minderjähriger Kinder 50.000,- € Schmerzensgeld zugesprochen.
Landgericht und Oberlandesgericht Braunschweig haben ein Schmerzensgeld von 70.000,- € bei einer 47 Jahre alten Frau und einer Überlebenszeit von 4 Jahren für ausreichend gehalten, die sich über mehrere Jahre wiederholt Chemotherapien mit einem sich immer weiter verschlimmernden Krankheitsbild unterziehen musste (LG Braunschweig, Urteil vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 bzw. nachfolgend OLG Braunschweig, Urteil vom 28. Februar 2019 - 9 U 129/15).
Dass in Fällen jüngerer Betroffener und bei längeren Leidensdauern zum Teil höhere Schmerzensgeldbeträge ausgeurteilt werden (so etwa in den vom Kläger zitierten Urteilen des OLG Köln vom 6.8.2014 (5 U 137/13) und des OLG Hamm vom 27.10.2015 (26 U 63/15)) ist schon deshalb unerheblich, weil derartige Fälle nicht mit dem Hiesigen vergleichbar sind, da, wie ausgeführt, die wesentlichen Bemessungsfaktoren abweichen. Lediglich ergänzend ist deshalb darauf hinzuweisen, dass auch diese Entscheidungen deutlich unterhalb der klägerischen Mindestforderung von insg. 260.000,- € liegen. Soweit der Kläger sich für derartige Beträge noch auf die Entscheidung des OLG Celle vom 5. Juni 2018 (1 U 71/17) berufen will, ist offensichtlich, dass bei dieser Entscheidung besondere Umstände eine zentrale Rolle gespielt haben, die dem Leiden des dortigen Opfers ein besonderes Gepräge gegeben haben. Auch insoweit fehlt deshalb die erforderliche Vergleichbarkeit.
3. Die Berechnung des Haushaltsführungsschadens im angefochtenen Urteil bedarf ihrerseits der Korrektur.
a) Dies gilt allerdings noch nicht für die Zeit bis zum Tod der Patientin im August 2012. Insoweit begegnet die Schadensberechnung des Landgerichts keinen Bedenken. Auch die Einwände der Berufung betreffen diesen Zeitraum nicht, nachdem kein Streit über den Zuschnitt des Haushalts des Klägers mehr besteht. Der dem Kläger als Erbe seiner Frau zustehende Haushaltsführungsschaden für 8 2/3 Monate von Anfang Dezember 2011 bis zum Tod der Patientin am XX.XX.2012 beträgt daher 3.091,62 €.
Das Landgericht hat aber übersehen, dass die von ihm gewählte Berechnungsmethode für die Zeit nach dem Tod der Patientin nicht mehr verwendet werden kann. §§ 842, 843 BGB betreffen Ansprüche der verletzten Person selbst, die deshalb notwendig mit deren Ableben enden. Für die Zeit ab dem XX.XX.2012 (einen Tag nach dem Tod - die Red.) können dem Kläger nur eigene Ansprüche aus § 844 Abs. 2 BGB wegen des Verlusts von Unterhaltsansprüchen zustehen, die nach anderen Kriterien zu berechnen sind.
b) Nach § 844 Abs. 2 BGB hat eine unterhaltsberechtigte Person bei der Tötung eines gesetzlich zum Unterhalt Verpflichteten Anspruch auf Ersatz des Schadens, der ihr durch Entzug des Unterhaltsrechts entsteht. Zu den Unterhaltspflichten von Ehegatten gehört auch die gemeinsame Führung des Familienhaushalts (§ 1360 S. 1 und 2 BGB).
Der Ersatz ist grundsätzlich durch Entrichtung einer Geldrente zu leisten. Dabei hat nach §§ 823 Abs. 1, 844 Abs. 2 BGB der Schädiger dem Geschädigten bei Vorliegen der vom Berufungsgericht festgestellten weiteren Voraussetzungen insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts nach dem Gesetz verpflichtet gewesen wäre (BGH, Urteile vom 5. Juni 2012 - VI ZR 122/11 und vom 25.4.2006 - VI ZR 114/05 je m.w.N.).
Der Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflicht bestimmt sich nicht nach § 844 Abs. 2 BGB, sondern nach den unterhaltsrechtlichen Vorschriften. Den nach diesen Normen geschuldeten Unterhalt setzt § 844 Abs. 2 BGB voraus. Für die Höhe eines Anspruchs aus § 844 Abs. 2 BGB kommt es allein auf den gesetzlich geschuldeten und nicht auf den Unterhalt an, den die Getötete möglicherweise tatsächlich gewährt hätte. Eine über die gesetzlich geschuldete Unterhaltspflicht hinausgehende ("überobligationsmäßig") tatsächlich erbrachte Unterhaltsleistung ist im Rahmen des § 844 Abs. 2 BGB nicht zu ersetzen (BGH, Urteile vom 25.4.2006 - VI ZR 114/05 und vom 6. Oktober 1992 - VI ZR 305/91 je m.w.N.).
Daher können Ehegatten weder allein durch ihr tatsächliches Verhalten noch durch Vereinbarung den für § 844 Abs. 2 BGB maßgeblichen Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflichten erweitern. Andererseits hängt aber das Maß des nach §§ 1360, 1360 a BGB geschuldeten Familienunterhalts wesentlich von den Lebensumständen und -verhältnissen der Ehegatten ab, nicht nur allein von ihrer wirtschaftlichen und finanziellen, sondern auch von ihrer sozialen und persönlichen Lage, die sie entscheidend durch ihre eigene Lebensgestaltung prägen. Das Gesetz überlässt die Regelung der Haushaltsführung und damit auch die Verteilung der Haushaltsarbeiten dem gegenseitigen Einvernehmen der Ehegatten. Kraft Gesetzes geschuldet ist daher die Haushaltstätigkeit grundsätzlich so, wie es dem Einvernehmen der Ehegatten entspricht. Demgemäß hängt der Umfang des Schadensersatzanspruchs nach § 844 Abs. 2 BGB in diesen Fällen davon ab, in welcher Weise die Ehegatten die Haushaltsführung einvernehmlich geregelt hatten und wieweit sie ohne den tödlichen Unfall voraussichtlich auch künftig an dieser Regelung festgehalten hätten. Eine solche Einvernehmensregelung ist allerdings - jedenfalls haftungsrechtlich - nicht mehr anzuerkennen, wenn sie - bei Berücksichtigung des den Ehegatten eingeräumten weiten Gestaltungsspielraums - nicht mehr mit dem Grundsatz der Angemessenheit (s. § 1360 S. 1 BGB) in Einklang gebracht werden kann (BGH Urteile vom 29. März 1988 - VI ZR 87/87 und vom 6. Oktober 1992 - VI ZR 305/91; OLG Celle, Urteil vom 9. August 2017 - 14 U 27/17: unangemessen).
Der überlebende Ehegatte hat sich bei der Schadensberechnung im Wege des Vorteilsausgleichs den Wegfall seiner eigenen Unterhaltspflichten anrechnen zu lassen (st. Rspr. vgl. etwa BGH, Urteil vom 16. September 1986 - VI ZR 128/85 m.w.N.; OLG Koblenz, Urteil vom 8. April 2019 - 12 U 565/18; OLG Frankfurt, Urteil vom 4. Dezember 2018 - 16 U 3/18; OLG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. Juli 2018 - 4 U 16/17; OLG München, Urteil vom 31. Oktober 2014 - 10 U 2755/12).
c) Die Anwendung dieser Grundsätze führt im vorliegenden Fall dazu, dass dem Kläger kein Schadensersatzanspruch zusteht, weil die wirtschaftlichen Vorteile, die ihm durch den Wegfall seiner Barunterhaltsverpflichtung gegenüber seiner verstorbenen Ehefrau und der nunmehr ihm zustehenden Witwerrente zukommen, die wirtschaftlichen Nachteile, die ihm durch den Verlust des ihm von seiner Frau gewährten Naturalunterhalts zugefügt wurden, überschreiten.
Die Berechnung der Unterhaltsschäden erfolgt nicht in der vom Kläger geforderten Weise, sondern auf der Grundlage einer vom Bundesgerichtshof schon vor Jahrzehnten entwickelten Formel (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteile vom 5. Juni 2012 - VI ZR 122/11 und vom 11. Oktober 1983 - VI ZR 251/81; OLG Koblenz, Urteil vom 8. April 2019 - 12 U 565/18; OLG Frankfurt, Urteil vom 4. Dezember 2018 - 16 U 3/18; OLG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. Juli 2018 - 4 U 16/17; OLG München, Urteil vom 31. Oktober 2014 - 10 U 2755/12; Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 13. Aufl., Rn. 412) unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgetragenen Angaben wie folgt:
Berechnung des Barunterhaltsschadens bzw. -vorteils:
-Mutmaßliches Nettoeinkommen der Getöteten: 804,84 €
-Abzüglich ihres Fixkostenanteils von 37,29 % von 617,92 € 230,42 €
-Zu verteilendes Einkommen 574,42 €
-Anteil des Klägers (50%) 287,21 €
-Zzgl. Fixkostenanteil 230,15 €
-Entgangener Barunterhalt 517,36 €
-Nettoeinkommen des Klägers 1.353,67 €
-Abzüglich seines Fixkostenanteils von 62,71 % von 617,92 € 387,50 €
-Zu verteilendes Einkommen 966,17 €
-Anteil der Getöteten (50%) 483,09 €
-Ersparter Barunterhalt 483,09 €
-Zzgl. Witwerrente 473,84 €
-Auszugleichender Vorteil 956,93 €
Als Fixkosten hat der Kläger lediglich seine monatliche Warmmiete zzgl. des Stromabschlagsbetrags vorgetragen. Die Betriebs- und die Heizkostenvorauszahlung sind in der Warmmiete bereits enthalten, wie der beigefügte Mietvertrag belegt.
Der Kläger hat durch den Tod seiner Frau einen saldierten Barunterhaltsvorteil i.H.v. 439,57 € im Monat, der mit den ihm entstehenden Naturalunterhaltsnachteilen zu verrechnen ist.
Dieser Betrag überschreitet den vom Kläger geltend gemachten monatlichen Haushaltsführungsschaden bereits auf der Basis von dessen Berechnung zu Lebzeiten seiner Ehefrau auf der Grundlage der behaupteten praktisch alleinigen Führung des Zweipersonenhaushalts durch diese, so dass es auf den Umfang der von diesem Betrag vorzuzunehmenden Kürzungen nicht ankommt.
Der Kläger kann sich aus mehreren Gründen nicht darauf berufen, zusätzliche Kosten für Gastronomiebesuche i.H.v. 240,- € im Monat aufwenden zu müssen. Eine solche Sonderposition ist in dem von der Rechtsprechung entwickelten Berechnungsschema bereits nicht vorgesehen. Eine solche Einbeziehung wäre auch nicht angemessen, weil es dem Kläger zumutbar ist, das Zubereiten einfacher warmer Speisen zu erlernen. Außerdem ist der angegebene Betrag von immerhin 8,- € täglich, wie die Beklagtenseite zu Recht moniert, völlig aus der Luft gegriffen und durch nichts belegt. Des Weiteren müsste sich der Haushaltsführungsschaden im Gegenzug weiter verringern, weil die früher von der Ehefrau für das Kochen aufgewandten Zeiten wegfielen. Auch hierzu fehlt jeglicher Vortrag.
d) Für die Zeit nach dem Tod seiner Frau kann der Kläger deshalb keinen Haushaltsführungsschaden mehr beanspruchen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 101 Abs. 1 ZPO die Entscheidung über die vollläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Es besteht kein Anlass die Prozesskosten anders als nach Grad des Obsiegens und Unterliegens zu verteilen, nachdem der Kläger bewusst eine völlig unrealistische, vielfach überhöhte Schmerzensgeldmindestforderung geltend gemacht hat.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Urteilsbesprechung zu Oberlandesgericht Frankfurt am Main Urteil, 22. Dez. 2020 - 8 U 142/18
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Oberlandesgericht Frankfurt am Main Urteil, 22. Dez. 2020 - 8 U 142/18 zitiert oder wird zitiert von 19 Urteil(en).
Die Verpflichtung zum Schadensersatz wegen einer gegen die Person gerichteten unerlaubten Handlung erstreckt sich auf die Nachteile, welche die Handlung für den Erwerb oder das Fortkommen des Verletzten herbeiführt.
(1) Wird infolge einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit die Erwerbsfähigkeit des Verletzten aufgehoben oder gemindert oder tritt eine Vermehrung seiner Bedürfnisse ein, so ist dem Verletzten durch Entrichtung einer Geldrente Schadensersatz zu leisten.
(2) Auf die Rente finden die Vorschriften des § 760 Anwendung. Ob, in welcher Art und für welchen Betrag der Ersatzpflichtige Sicherheit zu leisten hat, bestimmt sich nach den Umständen.
(3) Statt der Rente kann der Verletzte eine Abfindung in Kapital verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.
(4) Der Anspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein anderer dem Verletzten Unterhalt zu gewähren hat.
(1) Im Falle der Tötung hat der Ersatzpflichtige die Kosten der Beerdigung demjenigen zu ersetzen, welchem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu tragen.
(2) Stand der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnis, vermöge dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf den Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten durch Entrichtung einer Geldrente insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde; die Vorschriften des § 843 Abs. 2 bis 4 finden entsprechende Anwendung. Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung gezeugt, aber noch nicht geboren war.
(3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.
Als eine Änderung der Klage ist es nicht anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes
- 1.
die tatsächlichen oder rechtlichen Anführungen ergänzt oder berichtigt werden; - 2.
der Klageantrag in der Hauptsache oder in Bezug auf Nebenforderungen erweitert oder beschränkt wird; - 3.
statt des ursprünglich geforderten Gegenstandes wegen einer später eingetretenen Veränderung ein anderer Gegenstand oder das Interesse gefordert wird.
Klageänderung, Aufrechnungserklärung und Widerklage sind nur zulässig, wenn
- 1.
der Gegner einwilligt oder das Gericht dies für sachdienlich hält und - 2.
diese auf Tatsachen gestützt werden können, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 zugrunde zu legen hat.
BUNDESGERICHTSHOF
in das Bruttomieten und damit auch Ansprüche auf Nebenkostenvorauszahlungen eingestellt sind, bringt er beim Fehlen weiterer Erklärungen zum Ausdruck, dass er diese Ansprüche (und nicht Nachforderungen aus erteilten Nebenkostenabrechnungen) zum Gegenstand seiner Klage macht. Das Gericht darf die Bestimmtheit des Klagebegehrens nicht deswegen in Frage stellen, weil der Vermieter nach Eintritt der Abrechnungsreife (§ 556 Abs. 3 BGB) keine Vorauszahlungen mehr verlangen darf. Dies ist ausschließlich eine Frage der Begründetheit der Klage.
4) Berücksichtigt der Vermieter in dem der Klage zugrunde gelegten Mietkonto zugunsten des Mieters Zahlungen und Gutschriften, ohne diese konkret einer bestimmten Forderung oder einem bestimmten Forderungsteil (Nettomiete oder Nebenkostenvorauszahlung ) zuzuordnen, stellt dies die Bestimmtheit des Klageantrags nicht ohne Weiteres in Frage. Vielmehr kommt hier im Rahmen der gebotenen Auslegung des Klagebegehrens auch ohne ausdrückliche Verrechnungs- oder Aufrechnungserklärung ein Rückgriff auf die gesetzliche Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB in Betracht.
ZPO §§ 263, 264 Nr. 2; § 531 Abs. 2, § 533
1) Der Vermieter ist allerdings nicht gehindert, in den Tatsacheninstanzen eine hiervon abweichende Erklärung über die Zuordnung erbrachter Zahlungen und erteilter Gutschriften abzugeben. Macht er hiervon erst nach Klageerhebung Gebrauch, handelt es sich hierbei entweder um eine Klageänderung nach § 263 ZPO (die im Berufungsverfahren ergänzend an § 533 ZPO zu messen ist) oder, wenn sich an dem zugrundeliegenden Lebenssachverhalt nichts ändert, um eine nach § 264 Nr. 2 ZPO jederzeit zulässige Klageänderung.
2) Erfolgt eine solche Erklärung erstmals in der Berufungsinstanz, ist sie unabhängig von den Vorgaben des § 531 Abs. 2 ZPO zu berücksichtigen, weil sie kein Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Sinne dieser Vorschrift darstellt, sondern zum Angriff selbst gehört (im Anschluss an BGH, Urteil vom 9. Januar 2013 - VIII ZR 94/12, aaO Rn. 9 mwN). BGB § 366 Abs. 2
1) Bei unzureichenden Zahlungen auf Nettomieten aus verschiedenen Zeiträumen ist § 366 Abs. 2 BGB direkt und nicht nur analog heranzuziehen, weil § 366 BGB das Schuldverhältnis im engeren Sinne, also die einzelne Forderung, meint und daher auch bei einer Mehrheit von Forderungen aus demselben Schuldverhältnis (im weiteren Sinne) direkt anwendbar ist (Fortführung von BGH, Urteile vom 5. April 1965 - VIII ZR 10/64, NJW 1965, 1373 unter II 1 c; vom 20. Juni 1984 - VIII ZR 337/82, BGHZ 91, 375, 379; vom 9. Oktober 2014 - IX ZR 69/14, NJW 2015, 162 Rn. 22). Handelt es sich nicht um Zahlungen des Mieters, sondern um Gutschriften des Vermieters, kommt eine entsprechende Anwendung von § 366 Abs. 2 BGB in Betracht.
2) Eine analoge Anwendung des § 366 Abs. 2 BGB ist auch insoweit geboten, als erfolgte Zahlungen des Schuldners oder erteilte Gutschriften nicht ausreichen, um die jeweilige monatliche Bruttomiete zu tilgen, weil sich es hierbei zwar um eine einheitliche Forderung aus verschiedenen Bestandteilen (Nettomiete zuzüglich Nebenkostenvorauszahlung ) handelt (im Anschluss an BGH, Urteile vom 6. April 2005 - XII ZR 225/03, BGHZ 163, 1, 7; vom 20. Juli 2005 - VIII ZR 347/04, NJW 2005, 2773 unter II 1 a; vom 13. April 2011 - VIII ZR 223/10, NJW 2011, 1806 Rn. 11), die Forderung auf Nebenkostenvoraus-
zahlung aber weitgehende rechtliche Eigenständigkeiten aufweist, die es rechtfertigen, bei unzureichenden Zahlungen des Mieters die Vorschrift des § 366 BGB analog heranzuziehen (Fortentwicklung von BGH, Urteile vom 11. Mai 2006 - VII ZR 261/04, BGHZ 167, 337 Rn. 16 ff., 22 mwN; vom 13. Juli 1973 - V ZR 186/71, NJW 1973, 1689 unter II 2; vom 6. November 1990 - XI ZR 262/89, NJW-RR 1991, 169 unter I 2 b; jeweils mwN).
3) Sind in das dem Klagebegehren zugrundliegende Mietkonto Bruttomieten aus mehreren Zeiträumen eingestellt, sind die oben unter 1) und 2) dargestellten Verrechnungsgrundsätze wie folgt anzuwenden und zu kombinieren:
a) Die Vorschrift des § 366 Abs. 2 BGB ist (analog) zur Festlegung heranzuziehen, auf welchen Bestandteil der jeweiligen Bruttomiete (Nettomiete oder geschuldete Nebenkostenvorauszahlung ) die Zahlungen oder Gutschriften zu verrechnen sind. Dabei ist das Kriterium der "geringeren Sicherheit" maßgebend. Dies führt dazu, dass für die Tilgung der jeweiligen Bruttomiete unzureichende Zahlungen oder Gutschriften zunächst auf die die darin enthaltene Forderung auf Erbringung von Nebenkostenvorauszahlungen anzurechnen sind, weil diese nach Eintritt der Abrechnungsreife oder erfolgter Abrechnung grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden kann und daher weniger sicher ist als die Nettomietforderung.
b) Werden Bruttomietrückstände aus mehreren Jahren oder mehreren Monaten geltend gemacht, sind die Kriterien des § 366 Abs. 2 BGB ein weiteres Mal heranzuziehen. Dabei ist stets eine Anrechnung auf die ältesten Rückstände vorzunehmen. Dies ergibt sich bei Mieten, die aus verschiedenen Jahreszeiträumen stammen, daraus, dass die älteren Rückstände zuerst verjähren (vgl. § 199 Abs. 1 BGB) und daher dem Kläger die geringeren Sicherheiten bieten (im Anschluss an BGH, Urteile vom 5. April 1965 - VIII ZR 10/64, aaO; vom 20. Juni 1984 - VIII ZR 337/82, aaO; vom 19. November 2008 - XII ZR 123/07, BGHZ 179, 1 Rn. 9; vom 9. Oktober 2014 - IX ZR 69/14, aaO). Bezüglich der Mietrückstände , die im selben Jahr angefallen sind und bei denen nach § 199 Abs. 1 BGB regelmäßig zum gleichen Zeitpunkt die Verjährung eintritt, folgt dies aus der Heranziehung des Kriteriums "ältere Schuld".
c) Die Frage, wie diese beiden Verrechnungsweisen für die im Rahmen der Zulässigkeit der Klage erforderliche Bestimmung, welche Beträge der Kläger bei Bruttomietrückständen aus mehreren Monaten oder Jahren geltend macht, miteinander zu kombinieren sind, hängt davon ab, ob der Kläger die Gutschriften oder Zahlungen einzelnen Zeiträumen zugeordnet hat (etwa: Miete Januar 2017) oder nicht. aa) Erfolgt eine Zuordnung zu einem bestimmten Zeitraum, hat der Kläger die Zahlung beziehungsweise Gutschrift auf die für diesen Zeitraum geschuldete Nebenkostenvorauszahlung und anschließend auf die für diesen Monat geschuldete Nettokaltmiete verrechnet. Übersteigt eine für eine bestimmten Zeitraum erbrachte Zahlung oder Gutschrift die für diesen Zeitraum geschuldete Bruttomiete, ist der überschießende Betrag - bis er aufgebraucht ist - gemäß § 366 Abs. 2 BGB analog - in absteigendem Alter - auf die ältesten Nebenkostenvorauszahlungsforderungen und anschließend - wiederum beginnend mit der ältesten Schuld - auf die Nettomieten anzurechnen. bb) Nimmt der Kläger bezüglich erbrachter Zahlungen oder Gutschriften keine Zuordnung zu einem bestimmten Zeitraum vor, sondern zieht diese lediglich vom Gesamtsaldo ab, sind diese in Anwendung der Kriterien des § 366 Abs. 2 BGB zunächst in absteigendem Alter auf die Nebenkostenvorauszahlungsforderungen (etwa Januar 2017; Februar
2017) und anschließend - wiederum beginnend mit der ältesten Forderung - auf die Nettomietrückstände (etwa Januar 2017; Februar 2017) zu verrechnen.
BGH, Urteil vom 21. März 2018 - VIII ZR 68/17 - LG Frankfurt am Main AG Frankfurt am Main
Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. März 2018 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Milger, die Richterinnen Dr. Hessel und Dr. Fetzer sowie die Richter Dr. Bünger und Kosziol
für Recht erkannt:
Tatbestand:
- 1
- Die Beklagte hatte zusammen mit Herrn A. T. im Zeitraum vom 1. August 2013 bis zum 8. April 2015 eine Wohnung der Klägerin in Frankfurt am Main angemietet. Die monatliche Bruttomiete belief sich auf 749,50 €. Darin waren Nebenkostenvorauszahlungen in Höhe von 146 € monatlich enthalten.
- 2
- Mit Schreiben vom 12. November 2014 erteilte die Klägerin gegenüber der Beklagten und dem weiteren Mieter die Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2013. Dieser Abrechnung legte sie die Sollvorauszahlungen und nicht die tatsächlich geleisteten Zahlungen zugrunde. In gleicher Weise verfuhr sie im Schreiben vom 4. November 2015, mit dem sie über die Betriebskosten für das Jahr 2014 abrechnete.
- 3
- Die Klägerin hat mit der vorliegenden Klage ausstehende Zahlungen aus dem Zeitraum von Oktober 2013 bis April 2015 in Höhe von 13.544,63 € nebst Rechtshängigkeitszinsen abzüglich einer am 17. November 2015 erfolgten Be- triebskostengutschrift in Höhe von 346,42 € geltend gemacht und bezüglich dieser Gutschrift die Feststellung begehrt, dass sich der Rechtsstreit insoweit erledigt hat. Sie stützt ihre Forderung auf die nachfolgend dargestellte "Mietrückstandsaufstellung" , die in Form einer Tabelle verschiedene Forderungsarten (Bruttomiete, Rückläufergebühren, Mahngebühr sowie Mahngebühr ext. RA-Gebühr), erbrachte Zahlungen/Gutschriften und offene Forderungen ausweist.
- 4
- Monat zu zahlen gezahlt Differenz Rückstand Miete Oktober 2013 749,50 € 749,50 € 749,50 € Rückläufergebühr 3,00 € 3,00 € 752,50 € Rückläufergebühr 3,00 € 3,00 € 755,50 € Miete November 2013 749,50 € 749,50 € 1.505,00 € Rückläufergebühr 3,00 € 3,00 € 1.508,00 € Mahngebühr 2,50 € 2,50 € 1.510,50 € Mahngebühr 2,50 € 2,50 € 1.513,00 € Miete Dezember 2013 749,50 € 749,50 € 2.262,50 € Mahngebühr ext. RA-Gebühr 261,30 € 261,30 € 2.523,80 € Mahngebühr ext. RA-Gebühr 20,00 € 20,00 € 2.543,80 € Mahngebühr ext. RA-Gebühr 53,45 € 53,45 € 2.597,25 € Miete Januar 2014 749,50 € 749,50 € 3.346,75 € Miete Februar 2014 749,50 € 749,50 € 4.096,25 € Miete März 2014 749,50 € 749,50 € 4.845,75 € Miete April 2014 749,50 € 749,50 € 5.595,25 € Miete Mai 2014 749,50 € 749,50 € 6.344,75 € Miete Juni 2014 749,50 € 749,50 € 7.094,25 € Miete Juli 2014 749,50 € 749,50 € 7.843,75 € Miete August 2014 749,50 € 749,50 € 8.593,25 € Miete September 2014 749,50 € 749,50 € 9.342,75 € Miete Oktober 2014 749,50 € 749,50 € 10.092,25 € Miete November 2014 749,50 € 749,50 € 10.841,75 € Gutschrift Betriebskosten 99,98 € - 99,98 € 10.741,77 € Miete Dezember 2014 749,50 € 749,50 € 11.491,27 € Miete Januar 2015 749,50 € 749,50 € 12.240,77 € Miete Februar 2015 749,50 € 400,00 € 349,50 € 12.590,27 € Miete März 2015 749,50 € 749,50 € 13.339,77 € Miete April 2015 749,50 € 749,50 € 14.089,27 € Gutschrift Miete April 2015 549,64 € - 549,64 € 13.539,63 € Mahngebühr 2,50 € 2,50 € 13.542,13 € Mahngebühr 2,50 € 2,50 € 13.544,63 € Gutschrift Betriebskosten 346,42 € - 346,42 € 13.198,21 €
- 5
- Bei den zwei Gutschriften "Betriebskosten" handelt es sich um die zugunsten der Beklagten in den Betriebskostenabrechnungen vom 12. November 2014 und vom 4. November 2015 ausgewiesenen Guthabensalden. Weitere Angaben zur Verrechnung der erteilten Gutschriften und der geleisteten Zahlung hat die Klägerin nicht gemacht, sich aber in der Berufungsinstanz darauf berufen, dass mangels Vortrags der Parteien die gesetzliche Verrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB greife.
- 6
- Das Amtsgericht hat die Auffassung vertreten, die Klägerin habe eine unzulässige "Saldoklage" erhoben, bei der der Streitgegenstand nicht entsprechend den Erfordernissen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO hinreichend bestimmt sei. Auf die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Landgericht die ausgesprochene Klageabweisung als unzulässig bestätigt. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter, macht allerdings für die in den Jahren 2013 bis 2015 nicht erbrachten Nebenkostenvorauszahlungen in Höhe von insgesamt 1.820,53 €Nachforde- rungen nicht mehr geltend.
Entscheidungsgründe:
- 7
- Die Revision hat Erfolg.
I.
- 8
- Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:
- 9
- Die von der Klägerin erhobene "Saldoklage" sei unzulässig, weil sie den Streitgegenstand nicht - wie nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gefordert - hinreichend bestimmt habe. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung seien im Falle der Erhebung von mehreren Ansprüchen grundsätzlich die für jeden Anspruch geforderten Teilbeträge anzugeben. Daher müsse sich aus dem Klagevorbringen ergeben, welche in den Klagezeitraum fallenden Ansprüche dem geltend gemachten Betrag zugrunde lägen.
- 10
- Soweit der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 9. Januar 2013 (VIII ZR 94/12) eine "Saldoklage" unter den dort gegebenen Voraussetzungen für zulässig erachtet habe, seien die insoweit aufgestellten Grundsätze auf den Streitfall nicht anwendbar. Dort sei allein darüber zu befinden gewesen, ob den Vermietern für den streitigen Zeitraum eine monatliche Nutzungsentschädigung in der von ihnen bezifferten Höhe und damit der von ihnen angegebene Gesamtbetrag zugestanden habe, und ob die Mieter hiervon einen Betrag in Höhe der Klageforderung schuldig geblieben seien. Aus dieser Entscheidung könne nicht der Schluss gezogen werden, dass es genüge, sämtliche Forderungen und Zahlungen in ein laufendes Mietkonto einzustellen und hieraus nur den jeweiligen Saldo geltend zu machen, ohne vorzutragen, welche Zahlungen auf welche Ausstände verrechnet worden seien. Denn in einem solchen Fall handele es sich - anders als in der vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fallgestaltung - nicht um gleichartige Forderungen und damit auch nicht um einen einheitlichen Gesamtanspruch. Solche Fallgestaltungen seien nach der überwiegenden Auffassung in der Instanzrechtsprechung und im Schrifttum als unzulässige "Saldoklagen" zu behandeln.
- 11
- Im Streitfall folge die Unzulässigkeit der Klage daraus, dass die Klägerin unterschiedliche Forderungen (Nettomiete, Nebenkostenvorauszahlungen, Rückläufergebühr, Mahngebühr ext. RA-Gebühr, Mahngebühr) in das Mietkonto eingestellt habe, ohne darzulegen, in welcher Höhe die jeweiligen Forderungsarten dem geltend gemachten Saldobetrag im Einzelnen zugrunde lägen. Es sei nicht erkennbar, worauf die Gutschrift "Betriebskosten" in Höhe von 99,98 € aus der Betriebskostenabrechnung vom 12. November 2014, die im Februar 2015 erfolgte Zahlung von 400 €, die Gutschrift "Miete April 2015" in Höhe von 549,64 € und die nach Zustellung des Mahnbescheids erfolgte Gutschrift"Be- triebskosten" in Höhe von 346,42 € verrechnet worden seien. Möglich sei sowohl eine Verrechnung auf die rückständigen Nettomieten als auch auf die Vorauszahlungsforderungen, die bezüglich der Jahre 2013 und 2014 jedoch gemäß § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB mit den erfolgten Abrechnungen, spätestens aber mit dem Ablauf des 31. Dezember 2014 beziehungsweise des 31. Dezember 2015 weggefallen seien. Da diese Forderungen ausweislich des Mietkontos aber nie ausgebucht und durch Nachforderungen aus den Betriebskostenabrechnungen ersetzt worden seien, müsse hierüber entschieden werden. Dazu müsse das Gericht Kenntnis davon haben, ob die Klägerin die in den Jahren 2014 und 2015 erfolgten Gutschriften und die Zahlung aus dem Jahr 2015 auf die Vorauszahlungsforderungen, auf die Nettomiete oder auf die eingestellten Gebühren verrechnet habe.
- 12
- Die Klägerin habe aber die von ihr vorgenommenen Verrechnungen nicht im Einzelnen offengelegt. Sie könne sich nicht darauf beschränken, das Gericht auf die gesetzliche Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB zu verweisen. Vielmehr sei erforderlich, dass sie darlege, sich an die gesetzliche Regelung gehalten zu haben, und dass sie damit bestimme, welche Forderungen sie in welcher Höhe einklage. Hierzu reichten ihre pauschalen und keinen Aussagehalt aufweisenden Angaben nicht aus, die sich auf den Vortrag beschränkten, das Betriebskostenguthaben von 346,42 €sei mit den restlichen streitigen For- derungen beziehungsweise die erteilten Gutschriften und die erfolgte Zahlung seien mit den ältesten Mietrückständen verrechnet worden. Das Gericht müsse und könne auch nicht eruieren, welche Beträge die Klägerin als die ältesten Mietrückstände ansehe.
II.
- 13
- Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Revision macht zu Recht geltend, dass die Klage nicht mangels Bestimmtheit des Klagebegehrens (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) hätte als unzulässig abgewiesen werden dürfen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts handelt es sich bei der erhobenen Zahlungsklage nicht um eine "unzulässige Saldoklage".
- 14
- 1. Im Ausgangspunkt zutreffend nimmt das Berufungsgericht allerdings an, dass in den Fällen, in denen in einer Klage mehrere Ansprüche erhoben werden, im Hinblick auf das Bestimmtheitserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO grundsätzlich die für jeden Anspruch geforderten Teilbeträge anzugeben sind. Dies gilt insbesondere bei einer Teilleistungsklage, aber auch dann, wenn die Klage den gesamten Anspruch des Klägers umfasst (vgl. Senatsurteil vom 9. Januar 2013 - VIII ZR 94/12, NJW 2013, 1367 Rn. 13).
- 15
- a) Gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss die Klageschrift die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs enthalten. Damit wird der Streitgegenstand abgegrenzt und zugleich die Grundlage für eine etwa erforderlich werdende Zwangsvollstreckung geschaffen. Daran gemessen ist ein Klageantrag grundsätzlich hinreichend bestimmt, wenn er den erhobenen Anspruch konkret bezeichnet, dadurch den Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis (§ 308 ZPO) absteckt, Inhalt und Umfang der materiellen Rechtskraft der begehrten Entscheidung (§ 322 ZPO) erkennen lässt, das Risiko eines Unterliegens des Klägers nicht durch vermeidbare Ungenauigkeit auf den Beklagten abwälzt und schließlich eine Zwangsvollstreckung aus dem Urteil ohne eine Fortsetzung des Streits im Vollstreckungsverfahren erwarten lässt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 14. Dezember 1998 - II ZR 330/97, NJW 1999, 954 unter I 2 a mwN; vom 14. Dezember 2006 - I ZR 34/04, NJWRR 2007, 1530 Rn. 23; vom 9. Januar 2013 - VIII ZR 94/12, aaO Rn. 12; vom 2. Dezember 2015 - IV ZR 28/15, NJW 2016, 708 Rn. 8; jeweils mwN).
- 16
- b) Gemessen an diesen Grundsätzen kann auf eine konkrete Bezifferung der im Falle einer Klagehäufung nach Abzug geleisteter Zahlungen geforderten Einzelbeträge dann verzichtet werden, wenn diese Angaben zur Abgrenzung des Streitgegenstands nicht erforderlich sind, also weder für den Entscheidungsumfang des Gerichts (§ 308 ZPO) noch für den Ausgang des Rechtsstreits und auch nicht zur Ermittlung der Rechtskraft einer späteren gerichtlichen Entscheidung oder für eine Zwangsvollstreckung von Bedeutung sind (Senatsurteil vom 9. Januar 2013 - VIII ZR 94/12, aaO Rn. 14 f.). So liegen die Dinge, wenn ein einheitlicher Gesamtanspruch geltend gemacht wird, von dem nach dem Klägervortrag unter Berücksichtigung geleisteter Zahlungen noch ein Betrag in Höhe der Klageforderung offen ist (Senatsurteil vom 9. Januar 2013 - VIII ZR 94/12, aaO [für den Fall einer Nutzungsentschädigung nach § 546a BGB]). Hier erübrigt sich im Hinblick auf § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO eine Aufschlüsselung des geltend gemachten Gesamtbetrags dahin, welche Zahlung auf welche Einzelforderung angerechnet wird. Denn es macht für die Bestimmung des Streitgegenstands letztlich keinen Unterschied, ob der Kläger hierbei die monatlich geschuldeten Beträge im Einzelnen auflistet und die erbrachten Zahlungen konkreten Monaten zuordnet oder ob er die im streitigen Zeitraum entstandenen Forderungen addiert und hiervon die Gesamtzahlungen in Abzug bringt.
- 17
- c) Noch frei von Rechtsfehlern hat das Berufungsgericht angenommen, dass im Streitfall ein solch einheitlicher Gesamtanspruch nicht geltend gemacht wird. Die Klägerin nimmt die Beklagte zwar auf Zahlung ihrer gesamten Außenstände aus dem Mietverhältnis in Anspruch. Es handelt sich dabei aber nicht um einen "einheitlichen" Gesamtanspruch, denn die Klageforderung setzt sich nicht ausschließlich aus gleichförmigen, periodisch wiederkehrenden Einzelforderungen zusammen, sondern die Klägerin verlangt neben der Nettomiete auch Nebenkostenvorauszahlungen und Gebühren für Lastschriftrückläufer und Mahnungen sowie außergerichtliche Rechtsanwaltskosten.
- 18
- 2. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht jedoch die im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der Klage an die Aufschlüsselung des geltend gemachten Gesamtbetrags zu stellenden Anforderungen überspannt.
- 19
- Zwar trifft es zu, dass es zur Vereinfachung und Beschleunigung des Rechtsstreits wünschenswert wäre und auch im Interesse der klagenden Partei läge, durch eine nähere Aufgliederung des Klagebegehrens klare Verhältnisse zu schaffen. Das Berufungsgericht hat aber verkannt, dass beim Fehlen einer solchen Aufschlüsselung eine Auslegung des Klageantrags geboten ist und die Klägerin bei verständiger und objektiver Betrachtung ihres Vorbringens keine unzulässige Saldoklage erhoben hat. Vielmehr hat sie die in der "Mietrückstandsaufstellung" nach Betrag und - soweit erforderlich - nach Monat ausgewiesenen Einzelforderungen nicht nur bezüglich ihres Inhalts, sondern auch ihrer Höhe nach ausreichend bestimmt. Das Berufungsgericht hat verkannt, dass an die für eine Zulässigkeit der Klage maßgebliche Bestimmtheit einer Klageforderung nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO andere Anforderungen zu stellen sind als bei der Begründetheit einer Klage.
- 20
- a) Das Berufungsgericht sieht die Bestimmtheit der Klage nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO dadurch in Frage gestellt, dass unklar sei, ob die erteilten Gutschriften und die erbrachte Zahlung mit den rückständigen Nettomieten oder (auch) mit den von der Klägerin daneben geltend gemachten Forderungen auf die vertraglich vereinbarten monatlichen Nebenkostenvorauszahlungen verrechnet worden seien. Dabei führt es unter anderem an, die letztgenannten Forderungen seien gemäß § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB mit der Erteilung der Betriebskostenabrechnungen , spätestens aber mit Ablauf der gesetzlichen Abrechnungsfrist entfallen und nicht durch Nachforderungen ersetzt worden. Hierbei vermengt das Berufungsgericht - einer Entscheidung des Amtsgerichts Hanau vom 28. Oktober 2015 (37 C 44/15, juris) folgend - die erst für die Be- gründetheit einer Klage maßgebliche Frage der schlüssigen und substantiierten Darlegung der anspruchsbegründenden Tatsachen (vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom 25. Oktober 2011 - VIII ZR 125/11, NJW 2012, 382 Rn. 14; vom 12. März 2013 - VIII ZR 179/12, juris Rn. 10; jeweils mwN) mit den für die Ordnungsgemäßheit einer Klageerhebung gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erforderlichen Angaben zur Individualisierung des Streitgegenstands.
- 21
- aa) Zur Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben in § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO kommt es nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht darauf an, ob der maßgebliche Sachverhalt bereits vollständig beschrieben oder ob der Klageanspruch schlüssig und substantiiert dargelegt worden ist. Vielmehr ist es - entsprechend dem Zweck der Klageerhebung, dem Schuldner den Willen des Gläubigers zur Durchsetzung seiner Forderungen zu verdeutlichen - im Allgemeinen ausreichend, wenn der Anspruch als solcher identifizierbar ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 18. Juli 2000 - X ZR 62/98, NJW 2000, 3492 unter II 1 c; vom 11. Februar 2004 - VIII ZR 127/03, NJW-RR 2005, 216 unter II; vom 16. November 2016 - VIII ZR 297/15, NJW-RR 2017, 380 Rn. 12; Beschluss vom 24. März 2011 - I ZR 108/09, BGHZ 189, 56 Rn. 9; jeweils mwN). Es genügt also, dass das Klagebegehren - unterhalb der Stufe der Substantiierung - individualisiert und damit der Streitgegenstand bestimmt ist (BGH, Urteil vom 17. Oktober 2000 - XI ZR 312/99, NJW 2001, 305 unter II 2 c cc (2) mwN [zur Individualisierung eines Mahnbescheids]).
- 22
- Mit diesen Grundsätzen setzt sich eine in der Instanzrechtsprechung und im Schrifttum verbreitete Auffassung in Widerspruch, die die Zulässigkeit einer Klage verneint, wenn der Kläger Ansprüche auf Zahlung der vertraglich geschuldeten Nebenkostenvorauszahlungen in die Mietrückstandsaufstellung einbezieht , auf die er nach erfolgter Betriebskostenabrechnung beziehungsweise nach Eintritt der Abrechnungsreife aus materiell-rechtlicher Sicht grundsätzlich keinen Anspruch mehr hat, und nicht erklärt, den Klageantrag nun auf den Nachzahlungsbetrag stützen zu wollen (vgl. LG Frankfurt am Main, GE 2017, 1413; LG Kempten, ZMR 2017, 400, 401; WuM 2016, 444; LG Dortmund, Beschluss vom 18. Mai 2015 - 1 S 47/15, juris Rn. 3; Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht , 13. Aufl., § 543 BGB Rn. 141; wohl auch Zehelein, NZM 2013, 638, 640, der darin zugleich ein Zulässigkeits- und ein Schlüssigkeitsproblem sieht).
- 23
- Dabei wird verkannt, dass ein Kläger, der den Inhalt eines Mietkontos vorträgt, in das Ansprüche auf Nebenkostenvorauszahlungen eingestellt sind, beim Fehlen weiterer Erklärungen zum Ausdruck bringt, dass er diese Ansprüche (und nicht Nachforderungen aus erteilten Abrechnungen) zum Gegenstand seiner Klage macht. Dass er sein Klagebegehren nicht umstellt, berührt allein die Schlüssigkeit (so zutreffend AG Frankfurt am Main, Urteil vom 24. Januar 2014 - 33 C 3112/13, juris Rn. 2; vgl. ferner KG, GE 2002, 796), nicht aber die Bestimmtheit der Klage. Ändert ein Kläger trotz eines - grundsätzlich erforderlichen - Hinweises des Gerichts (§ 139 ZPO) seine Klage insoweit nicht ab (§§ 263, 264 ZPO), verrechnet er also erbrachte Zahlungen mit nicht mehr bestehenden Forderungen, dann ist die Klage nicht als unzulässig, sondern wegen Unschlüssigkeit der geltend gemachten Forderungen (ganz oder teilweise) als unbegründet abzuweisen.
- 24
- bb) Vor diesem Hintergrund hätte das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Bestimmtheit des Klagebegehrens (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) nicht die allein unter materiell-rechtlichen Gesichtspunkten maßgebliche Frage einbeziehen dürfen, ob die Klägerin zur Geltendmachung von rückständigen Nebenkostenvorauszahlungen noch berechtigt war. Für die Bestimmtheit der Klage ist bei diesem ersten Prüfungsschritt insoweit allein entscheidend, ob die Klägerin hinreichend klargestellt hat, dass sie nicht erbrachte Nebenkostenvorauszahlungen nicht durch Nebenkostennachforderungen ersetzt hat.
- 25
- Dies ist nach den diesbezüglich verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts, die im Revisionsverfahren nicht angegriffen worden sind, ausweislich des der Klage zugrundeliegenden Mietkontos, in dem die Vorauszahlungsforderungen nicht ausgebucht und durch Nachforderungen aus den Betriebskostenabrechnungen ersetzt worden sind, der Fall. Dem hat das Berufungsgericht - anders als in seinem späteren Urteil vom 16. Mai 2017 (11 S 220/16, aaO) - zwar insoweit Rechnung getragen, als es zutreffend die Abgabe einer Erklärung, ob nun Nachforderungen aus den erteilten Betriebskostenabrechnungen geltend gemacht werden, nicht für notwendig erachtet hat. Gleichwohl hat es im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung Ausführungen zum materiellrechtlichen Bestehen der Vorauszahlungsansprüche gemacht und sich infolgedessen bei der Anwendung des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO - wie seine weiteren Ausführungen zur Anwendung des § 366 Abs. 2 BGB zeigen - an den Maßstäben für die Schlüssigkeit des Klägervorbringens orientiert ("Dann kann das Gericht prüfen, ob den Anforderungen des § 366 Abs. 2 BGB tatsächlich nachgekommen wurde").
- 26
- b) Die ausschlaggebenden Bedenken des Berufungsgerichts gegen die Bestimmtheit der Klage bestehen allerdings darin, dass es Angaben der Klägerin dazu vermisst, in welcher Höhe die erteilten Gutschriften und die erfolgte Zahlung auf die rückständigen Nettomieten, auf die geltend gemachten Forderungen auf Nebenkostenvorauszahlung oder auf die sonstigen in das Mietkonto eingestellten Ansprüche anzurechnen sind. Auch insoweit hat es zu strenge Anforderungen an die Bestimmtheit des Klagebegehrens gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gestellt.
- 27
- Das Berufungsgericht hat hierbei übersehen, dass eine Zuordnung der Klagegründe (hier: in das Mietkonto eingestellte Einzelforderungen nebst Gutschriften und Zahlungen) zu dem gestellten Klageantrag durch sachgerechte Auslegung des Klägervorbringens zu erfolgen hat. Dabei hat es weiter verkannt, dass zur Bestimmung des Streitgegenstands bei einer Klagehäufung auch ohne ausdrückliche Verrechnungs- oder Aufrechnungserklärung des Klägers bezüglich von ihm angeführter Zahlungen oder Gutschriften ein Rückgriff auf die gesetzliche Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB (ggfs. in entsprechender Anwendung) in Betracht kommt. Ob das Berufungsgericht diese Maßstäbe beachtet hat, unterliegt in der Revisionsinstanz der uneingeschränkten Überprüfung (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2016 - II ZR 305/14, WM 2016, 1599 Rn. 13). Denn es geht um die Auslegung einer Prozesserklärung, die das Revisionsgericht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ohne Einschränkungen nachprüfen und in freier Würdigung selbst auslegen darf (BGH, Urteile vom 18. Juni 1996 - VI ZR 325/95, NJW-RR 1996, 1210 unter II 2; vom 2. Juli 2004 - V ZR 290/03, FamRZ 2004, 1712 unter II 1; vom 21. Juni 2016 - II ZR 305/14, aaO; Senatsbeschluss vom 30. Mai 2017 - VIII ZB 15/17, juris Rn. 13 mwN).
- 28
- aa) Zwar ist in der Instanzrechtsprechung und in der Literatur die vom Berufungsgericht ebenfalls vertretene Ansicht vorherrschend, dass bei der Geltendmachung eines Gesamtbetrages aus mehreren Forderungsarten vom Kläger im Einzelnen ausdrücklich vorzutragen ist, auf welche Einzelforderungen erfolgte Zahlungen oder erteilte Gutschriften zu verrechnen sind beziehungsweise verrechnet oder aufgerechnet wurden (OLG Brandenburg, WuM 2006, 579; LG Frankfurt am Main, aaO; LG Kempten, aaO; WuM 2016, 444; LG Darmstadt, Beschluss vom 28. März 2013 - 24 S 54/12, juris Rn. 9; AG Gießen, WuM 2016, 304; AG Hanau, WuM 2015, 742; AG Dortmund, GE 2015, 1103; Schmidt-Futterer/Blank, aaO; Bub/Treier/Fischer, Handbuch der Geschäfts- und Wohnraummiete, 4. Aufl. 2014, IX 61; Langenberg/Zehelein, Betriebskostenund Heizkostenrecht, 8. Aufl., J Rn. 88; BeckOK BGB/Zehelein, 44. Aufl. Stand 1. November 2017, § 535 Rn. 557; Saenger, ZPO, 7. Aufl., § 253 Rn. 16a; Zehelein, aaO, S. 640 f.; aA BeckOK ZPO/Bacher, Stand: 1. Dezember 2017, § 253 Rn. 55.2; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 14. Aufl., § 253 Rn. 27).
- 29
- Diese Auffassung überspannt aber die an die Bestimmtheit einer sich aus mehreren Ansprüchen zusammensetzenden Zahlungsklage zu stellenden Anforderungen. Zwar darf der Kläger die Auswahl, über welche selbständigen Ansprüche bis zur Höhe der eingeklagten Forderung entschieden werden soll, nicht dem Gericht überlassen (BGH, Urteil vom 22. Mai 1984 - VI ZR 228/82, NJW 1984, 2346 unter II 1 a aa; Beschluss vom 24. März 2011 - I ZR 108/09, aaO Rn. 9 f.). Sind aber - wie im Streitfall - die zu beanspruchenden Einzelforderungen nach Inhalt und Höhe konkret bezeichnet, ist es in der Regel im Hinblick darauf, dass das Gesetz eine subsidiäre Verrechnungsreihenfolge bei nicht ausreichenden Teilleistungen des Schuldners auf eine Forderungsmehrheit vorsieht (§ 366 Abs. 2 BGB), unschädlich, wenn der Kläger sich nicht ausdrücklich oder nicht vollständig über die Anrechnung erfolgter Zahlungen oder erteilter Gutschriften erklärt (vgl. auch Senatsurteil vom 14. Juli 2010 - VIII ZR 229/09, NJW-RR 2010, 1455 Rn. 16 [zur Individualisierung einer Forderung in einem Mahnbescheid]; Musielak/Voit/Foerste, aaO).
- 30
- bb) Wie bereits unter II 2 a aa ausgeführt, ist es für die Bestimmtheit einer Klage im Allgemeinen ausreichend, wenn der geltend gemachte Anspruch als solcher identifizierbar ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 18. Juli 2000 - X ZR 62/98, aaO; vom 11. Februar 2004 - VIII ZR 127/03, aaO; vom 16. November 2016 - VIII ZR 297/15, aaO; jeweils mwN). Wann diese Anforderungen erfüllt sind, kann nicht allgemein und abstrakt beantwortet werden; vielmehr hängen Art und Umfang der erforderlichen Angaben von den Besonderheiten des anzuwendenden materiellen Rechts und den Umständen des Einzelfalls ab (BGH, Urteile vom 28. November 2002 - I ZR 168/00, BGHZ 153, 69, 75 mwN; vom 14. Dezember 2006 - I ZR 34/04, aaO; vom 10. Juli 2015 - V ZR 206/14, BGHZ 206, 211 Rn. 9 mwN [jeweils zu § 253 ZPO]; sowie BGH, Urteile vom 23. Januar 2008 - VIII ZR 46/07, NJW 2008, 1220 Rn. 13 mwN; vom 23. September 2008 - XI ZR 253/07, NJW-RR 2009, 544 Rn. 18 mwN; vom 21. Oktober 2008 - XI ZR 466/07, NJW 2009, 56 Rn. 18 mwN [jeweils zu § 690 ZPO]). Die Anforderungen an die Bestimmtheit eines Klageantrags sind danach in Abwägung des zu schützenden Interesses des Beklagten, sich gegen die Klage erschöpfend verteidigen zu können, sowie seines Interesses an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich der Entscheidungswirkungen mit dem ebenfalls schutzwürdigen Interesse des Klägers an einem wirksamen Rechtsschutz festzulegen (BGH, Urteile vom 28. November 2002 - I ZR 168/00, aaO S. 75 f. mwN; vom 14. Dezember 2006 - I ZR 34/04, aaO mwN; vom 10. Juli 2015 - V ZR 206/14, aaO).
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- cc) Ob gemessen daran im konkreten Fall die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Klage erfüllt sind, beurteilt sich nicht allein nach der Fassung des Klageantrags. Inhalt und die Reichweite des Klagebegehrens werden nicht allein durch den Wortlaut des gestellten Klageantrags bestimmt; vielmehr ist dieser unter Berücksichtigung der Klagebegründung auszulegen (BGH, Urteile vom 21. Februar 2012 - X ZR 111/09, NJW-RR 2012, 872 Rn. 23; vom 21. Juni 2016 - II ZR 305/14, aaO Rn. 12; jeweils mwN). Dabei ist im Zweifel das als gewollt anzusehen, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage der erklärenden Partei entspricht (BGH, Urteile vom 18. Juni 1996 - VI ZR 325/95, aaO; vom 2. Juli 2004 - V ZR 290/03, aaO unter II 1 a; vom 2. Dezember 2015 - IV ZR 28/15, aaO Rn. 10; vom 21. Juni 2016 - II ZR 305/14, aaO; Beschlüsse vom 18. Dezember2014 - IX ZB 50/13, NJW-RR 2015, 301 Rn. 10; vom 27. Januar 2015 - II ZR 191/13, juris Rn. 10; vom 20. Januar 2016 - I ZB 102/14, WM 2016, 1190 Rn. 15; vom 30. Mai 2017 - VIII ZB 15/17, aaO Rn. 14; jeweils mwN).
- 32
- Dies ergibt sich bereits daraus, dass das Prozessrecht das materielle Recht verwirklichen und nicht dessen Durchsetzung vermeidbar hindern soll (BGH, Urteile vom 1. Dezember 1997 - II ZR 312/96, NJW-RR 1998, 1005 unter II 1; vom 2. Juli 2004 - V ZR 290/03, aaO; vom 2. Dezember 2015 - IV ZR 28/15, aaO). Zudem dient ein solches Verfahrensverständnis der Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Ansprüche der klagenden Partei auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; BGH, Urteil vom 21. Juni 2016 - II ZR 305/14, aaO; Beschluss vom 27. Januar 2015 - II ZR 191/13, aaO).
- 33
- dd) Die beschriebenen Auslegungsgrundsätze sind auch dann heranzuziehen , wenn zwar die vom Kläger zu beanspruchenden Forderungen nach Inhalt und Höhe bestimmt sind, die hierauf erbrachten Zahlungen und Gutschriften aber vom Kläger nur der Höhe nach angegeben und nicht ausdrücklich mit bestimmten Einzelforderungen verrechnet worden sind. Die von manchen Stimmen in der Instanzrechtsprechung und im Schrifttum geäußerten Bedenken gegen die Bestimmtheit der Klage ergeben sich in diesen Fällen letztlich daraus , dass eine klare Zuordnung geleisteter Zahlungen und erteilter Gutschriften vermisst wird. Eine solche Zuordnung kann aber auch stillschweigend erfolgen, etwa durch Angabe einer bestimmten Reihenfolge und/oder durch Rückgriff auf die Anrechnungsbestimmungen der § 366 Abs. 2, § 367 Abs. 1 BGB (vgl. BGH, Urteile vom 18. November 1993 - IX ZR 244/92, BGHZ 124, 164, 167 f.; vom 23. November 2000 - IX ZR 155/00, NJW-RR 2001, 1335 unter II 2 c; vom 7. November 2001 - VIII ZR 263/00, BGHZ 149, 120, 124 [zur Bestimmtheit einer Prozessaufrechnung]; vom 14. Juli 2010 - VIII ZR 229/09, aaO [zur Individualisierung eines Mahnbescheids]; Musielak/Voit/Foerste, aaO; Junglas, ZMR 2008, 673, 675 f.; derselbe, ZMR 2014, 89, 92 ff.; vgl. auch OLG Brandenburg, ZMR 2010, 753, 754; LAG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 3. Juli 1997 - 8 Sa 624/96, juris Rn. 17).
- 34
- (1) Ein solches Vorgehen entspricht regelmäßig der wohlverstandenen Interessenlage des Klägers (vgl. Junglas, ZMR 2008, aaO S. 675; 2014, aaO S. 92) und ist auch im Hinblick auf die Belange des Beklagten angemessen. Denn hierdurch ist gewährleistet, dass sämtlichen Prozessbeteiligten der Inhalt und der Umfang der geltend gemachten Forderungen hinreichend klar sind. Der Beklagte wird ausreichend in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob und in welchem Umfang er sich gegen die geltend gemachten Forderungen zur Wehr setzen will. Dabei wird das Risiko eines Unterliegens nicht von dem Kläger auf den Beklagten abgewälzt, denn durch die vorgenommene Zuordnung der geleisteten Zahlungen oder erteilten Gutschriften wird dem Kläger nicht die Gefahr abgenommen , dass seine Forderungen als unbegründet abgewiesen werden und damit - anders als bei einer Klageabweisung als unzulässig - wegen entgegenstehender Rechtskraft grundsätzlich nicht mehr eingeklagt werden können. Dass sein Vortrag bei gebotener Auslegung als hinreichend bestimmt im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO anzusehen ist, bedeutet noch nicht, dass die geltend gemachten Forderungen auch schlüssig sind. Im Rahmen der Schlüssigkeitsprüfung kommt es vielmehr darauf an, ob die Forderungen, auf die Verrechnungen vorzunehmen oder vorgenommen worden sind, tatsächlich auch bestehen beziehungsweise bestanden haben.
- 35
- Die zur Entscheidung berufenen Gerichte laufen auch nicht Gefahr, ihre Entscheidungsbefugnis nach § 308 Abs. 1 ZPO zu überschreiten beziehungsweise eine nicht der Rechtskraft fähige und nicht vollstreckbare Entscheidung zu treffen. In der Heranziehung der Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB, gegebenenfalls in Verbindung mit § 396 Abs. 1 Satz 2 BGB, liegt auch kein Verstoß gegen die Dispositionsmaxime (so zutreffend Junglas, ZMR 2008, aaO). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bestimmt damit nicht das Gericht selbst, sondern die im Rahmen der Auslegung von Prozesserklärungen bei einer Verrechnung/Aufrechnung bestehender Forderungen mit Zah- lungen oder Gutschriften im Zweifel zu beachtende gesetzliche Rangfolge des § 366 Abs. 2 BGB den Umfang des Klagebegehrens (unzutreffend auch AG Köln, WuM 2008, 676, 678).
- 36
- (2) Dass die Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB nach ihrem Wortlaut nur bei Forderungen aus mehreren Schuldverhältnissen gilt, hindert ihre Anwendung im Falle der Verrechnung von Zahlungen oder Gutschriften auf Nettomieten und Nebenkostenvorauszahlungen nicht.
- 37
- (a) Bei unzureichenden Zahlungen auf Mieten aus verschiedenen Zeiträumen hat der Bundesgerichtshof die Bestimmung des § 366 Abs. 2 BGB entsprechend herangezogen, weil die Mieten aus einem Schuldverhältnis geschuldet seien (BGH, Urteile vom 5. April 1965 - VIII ZR 10/64, JZ 1965, 628 unter II 1 c; vom 20. Juni 1984 - VIII ZR 337/82, BGHZ 91, 375, 379; vom 9. Oktober 2014 - IX ZR 69/14, NJW 2015, 162 Rn. 22). Dabei wird allerdings übersehen, dass § 366 BGB das Schuldverhältnis im engeren Sinne, also die einzelne Forderung , meint und daher auch bei einer Mehrheit von Forderungen aus demselben Schuldverhältnis (im weiteren Sinne) direkt anwendbar ist (vgl. BAGE 143, 1 Rn. 12; Palandt/Grüneberg, BGB, 77. Aufl., § 366 Rn. 2; Staudinger/ Olzen, BGB, Neubearb.2016, § 366 Rn. 14; MünchKommBGB/Fetzer, 7. Aufl., § 366 BGB Rn. 2; Erman/Buck-Heeb, BGB, 15. Aufl., § 366 Rn. 1; jurisPK-BGB/Kerwer, Stand: 30. Dezember 2016, § 366 Rn. 4; BeckOKBGB /Dennhardt, aaO § 366 Rn. 1; BeckOGK/Looschelders, BGB, Stand: 1. November 2017, § 366 Rn. 21). Einer Analogie bedarf es daher nicht, wenn die erbrachten Leistungen zur Tilgung von Nettomietrückständen aus mehreren Zeiträumen nicht ausreichen (vgl. Palandt/Grüneberg, aaO; MünchKommBGB /Fetzer, aaO; jurisPK/Kerwer, aaO; BeckOGK/Looschelders, aaO).
- 38
- (b) Eine analoge Anwendung des § 366 Abs. 2 BGB ist deshalb nur insoweit geboten, als erfolgte Zahlungen des Schuldners nicht ausreichen, um die jeweilige monatliche Bruttomiete zu tilgen, weil es sich hierbei um eine einheitliche Forderung handelt, die sich aus verschiedenen Bestandteilen (Nettomiete zuzüglich Nebenkostenvorauszahlung) zusammensetzt. Denn der Bundesgerichtshof hat im Zusammenhang mit der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für eine Minderung der Mietsache (§ 536 BGB) mehrfach ausgesprochen , dass der Vermieter eine einheitliche Leistung (Raumüberlassung; Nebenleistungen ) erbringt, wofür der Mieter ebenfalls eine einheitliche Gegenleistung (Miete und Betriebskosten) zahlt (BGH, Urteile vom 6. April 2005 - XII ZR 225/03, BGHZ 163, 1, 7; vom 20. Juli 2005 - VIII ZR 347/04, NJW 2005,2773 unter II 1 a; vom 13. April 2011 - VIII ZR 223/10, NJW 2011, 1806 Rn. 11).
- 39
- (aa) Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist aber § 366 BGB für das Verhältnis von rechtlich verselbständigten Forderungsteilen aus einem Schuldverhältnis entsprechend anzuwenden, also etwa in den Fällen der Teilabtretung (vgl. etwa BGH, Urteil vom 11. Mai 2006 - VII ZR 261/04, BGHZ 167, 337 Rn. 16 ff., 22 mwN), der Erhebung einer Teilklage (vgl. etwa BGH, Urteile vom 13. Juli 1973 - V ZR 186/71, NJW 1973, 1689 unter B 2; vom 6. November 1990 - XI ZR 262/89, NJW-RR 1991, 169 unter I 2 b; jeweils mwN) oder der Sicherung nur eines Teils der Forderung durch ein Grundpfandrecht (BGH, Urteil vom 13. Juli 1973 - V ZR 186/71, aaO). Diese Grundsätze gelten auch bei Teilzahlungen, die zur Deckung einer monatlichen Bruttomiete, die sich aus der Nettomiete und der vertraglich vereinbarten Nebenkostenvorzahlung zusammensetzt, nicht ausreichen.
- 40
- (bb) Zwar meinen einige Stimmen in der Literatur im Hinblick darauf, dass Nettomiete und Nebenkostenvorauszahlung unselbständige Einzelpositionen einer einheitlichen Forderung sind, dass § 366 BGB weder direkt noch ana- log anwendbar sei (Schmidt-Futterer/Blank, aaO, § 543 BGB Rn. 86a; Bieber, NZM 2006, 683, 686; jurisPK-BGB/Kerwer, aaO Rn. 6; BeckOGK/ Looschelders, aaO Rn. 33). Die Gegenmeinung hält demgegenüber § 366 Abs. 2 BGB für direkt (OLG Rostock, OLG-Report 2001, 440, 441; OLG Düsseldorf , GE 2006, 255, 257; OLG Brandenburg, aaO; LG Berlin, GE 2002, 1336), zumindest aber für entsprechend anwendbar (LG Hamburg, Urteil vom 12. August 2010 - 307 S 30/10, juris Rn. 13 f.; Schmidt-Futterer/Eisenschmid, aaO, § 536 BGB Rn. 387; Staudinger/Olzen, aaO Rn. 15; MünchKommBGB/ Häublein, 7. Aufl., § 535 Rn. 157; Sternel, Mietrecht aktuell, 4. Aufl., III Rn. 102; Derleder, NZM 2011, 654, 655; Thoms, ZMR 2012, 7, 8). Der Senat hat zu dieser Problematik bislang noch nicht Stellung bezogen. Er konnte in seiner Entscheidung vom 13. April 2011 (VIII ZR 223/10, aaO Rn. 11, 13) die vom damaligen Berufungsgericht aufgeworfene Frage, ob ein monatlicher Minderungsbetrag in entsprechender Anwendung des § 366 Abs. 2 BGB anteilig auf die Nettomiete und die monatliche Betriebskostenvorauszahlung anzurechnen sei, offen lassen, weil es im dortigen Fall in Ansehung der im Rahmen einer Minderung anzustellenden Gesamtbetrachtung letztlich rechnerisch keinen Unterschied machte, ob der Minderungsbetrag nur auf die Nettomiete oder auf das Gesamtentgelt verrechnet wurde.
- 41
- (cc) Im Streitfall besteht dagegen Anlass, die Frage der Anwendbarkeit des § 366 Abs. 2 BGB auf Teilzahlungen bei Nettomiete und geschuldeter Nebenkostenvorauszahlung zu entscheiden. Bei richtiger Betrachtung weisen die Nettomiete und die vertraglich vereinbarte Nebenkostenvorauszahlung, die das Gesamtentgelt des Mieters für die Leistungen des Vermieters bilden, weitgehende rechtliche Eigenständigkeiten auf, die es rechtfertigen, bei unzureichenden Zahlungen des Mieters auf die Bruttomiete die Vorschrift des § 366 BGB analog heranzuziehen (LG Hamburg, aaO Rn. 13; Staudinger/Olzen, aaO; vgl. ferner Zehelein, aaO S. 640). Über die Betriebskosten ist - soweit keine Pau- schale vereinbart ist - jährlich abzurechnen (§ 556 BGB); Vorauszahlungen auf die Betriebskosten stellen damit keine endgültige Tilgung dieser Kosten dar (vgl. etwa LG Hamburg, aaO mwN). Die Erhöhung der Nettomiete folgt anderen Regeln (§§ 558 ff. BGB) als die Anpassung einer Betriebskostenvorauszahlung (§ 560 BGB). Die daraus resultierende rechtliche Verselbständigung der beiden Mietbestandteile rechtfertigt eine entsprechende Anwendung des § 366 Abs. 1 und 2 BGB. Denn die Interessenlage ist hier mit sonstigen anerkannten Fällen verselbständigter Forderungsteile vergleichbar.
- 42
- Auch liegt eine planwidrige Regelungslücke vor (aA SchmidtFutterer /Blank, aaO, der aber andererseits § 366 BGB bei unzureichenden Zahlungen auf Miete und Betriebskostennachzahlungen direkt anwenden will [§ 543 BGB Rn. 117]). Denn der Gesetzgeber war bestrebt, nicht nur bei mehreren Hauptforderungen (§ 366 BGB), sondern sogar bei mehreren Nebenforderungen (§ 367 BGB) ein einseitiges Bestimmungsrecht des Gläubigers auszuschließen (vgl. Motive II, S. 86 ff.). Diese gesetzgeberische Zielsetzung würde aber unterlaufen, wenn die bei der Schaffung der §§ 366, 367 BGB ersichtlich nicht bedachten Fälle, dass sich Teile einer einheitlichen Hauptforderung rechtlich verselbständigt haben, von einer entsprechenden Anwendung des § 366 Abs. 1 und 2 BGB ausgenommen wären mit der Folge, dass nun doch dem Gläubiger die Entscheidungsbefugnis darüber zufiele, auf welchen Teil die erbrachte Teilleistung angerechnet wird (so aber Schmidt-Futterer/Blank, aaO, § 543 BGB Rn. 86a).
- 43
- (3) Die beschriebene Anwendbarkeit des § 366 BGB einerseits auf Mietrückstände aus verschiedenen Zeiträumen und andererseits auf die Einzelbestandteile offener Bruttomietrückstände hat zur Konsequenz, dass bei Fehlen einer Tilgungsbestimmung des Mieters Zahlungen, die zur Deckung der Ge- samtforderungen nicht ausreichen, unter Heranziehung der abgestuften Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB zu verrechnen sind.
- 44
- (a) Da dem Vermieter - abgesehen vom Fall einer Aufrechnung (§ 396 Abs. 1 Satz 1 BGB) - materiell kein Bestimmungsrecht bezüglich einer Anrechnung unzureichender Zahlungen des Mieters auf die geltend gemachten Außenstände zusteht, sondern sich die Verrechnung bei einer fehlenden Tilgungsbestimmung des Mieters direkt aus dem Gesetz (§ 366 Abs. 2 BGB) ergibt, dessen Anwendung dem Gericht von Amts wegen obliegt (vgl. auch OLG Brandenburg, NZM 2007, 685), kann von ihm - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - auch hinsichtlich der Bestimmtheit des Klagebegehrens nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO nicht verlangt werden, dass er die aus seiner Sicht nach § 366 Abs. 2 BGB maßgebliche Verrechnungsreihenfolge im Einzelnen darlegt. Andererseits ist er aber nicht gehindert, zur Festlegung seines Klagebegehrens entsprechenden Vortrag zu halten. Dies wäre - wie bereits ausgeführt - auch wünschenswert.
- 45
- Erfolgen solche Darlegungen, sind diese aber - sofern nicht eine Aufrechnungserklärung nach § 396 Abs. 1 Satz 1 BGB vorliegt - im Rahmen der Schlüssigkeitsprüfung ohne Bedeutung, wenn sie in Widerspruch zu § 366 Abs. 2 BGB stehen, da allein das vom Gericht auszulegende Gesetz (§ 366 Abs. 2 BGB) die Rangfolge der Verrechnung vorgibt (vgl. hierzu Senatsurteil vom 9. Januar 2013 - VIII ZR 94/12, aaO Rn. 16, sowie Junglas, ZMR 2014, 89, 93 f.). Solcher in Widerspruch zu § 366 Abs. 2 BGB erfolgender Vortrag ist also nur für die Bestimmtheit des Klagebegehrens maßgebend.
- 46
- Die dargestellten Grundsätze gelten entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung auch dann, wenn es nicht um Zahlungen des Mieters geht, sondern der Vermieter Gutschriften (etwa wegen Guthaben aus Nebenkosten- abrechnungen oder wegen unstreitiger Mietminderungen) erteilt und gegen diese Forderungen des Mieters mit Mietforderungen aufrechnet, ohne zu bestimmen , welche Forderungen gegeneinander aufgerechnet werden sollen. § 396 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 BGB verweist nämlich für diese Fälle auf § 366 Abs. 2 BGB. Rechnet der Vermieter nicht (auch nicht stillschweigend) auf, sondern stellt er solche Gutschriften seinen Forderungen lediglich gegenüber, ohne eine Zuordnung zu bestimmten Forderungen vorzunehmen, ist darin - entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung - regelmäßig ein konkludenter Verweis auf die in § 366 Abs. 2 BGB beschriebene Anrechnungsreihenfolge zu sehen. Da es sich hierbei aber nicht um eine Leistung des Schuldners handelt, ist die Vorschrift des § 366 Abs. 2 BGB hier allerdings nicht direkt anwendbar, sondern entsprechend heranzuziehen.
- 47
- (b) Die danach im Allgemeinen beim Fehlen einer Zuordnung von Zahlungen oder Gutschriften gebotene (direkte oder analoge) Anwendung der Verrechnungskriterien des § 366 Abs. 2 BGB zur Bestimmung des Inhalts und der Reichweite des Klagebegehrens ist, wenn Bruttomietrückstände geltend gemacht werden, in zweifacher Hinsicht vorzunehmen.
- 48
- (aa) Die Vorschrift des § 366 Abs. 2 BGB ist (analog) zur Festlegung heranzuziehen, auf welchen Bestandteil der jeweiligen Bruttomiete (Nettomiete oder geschuldete Nebenkostenvorauszahlung) die Zahlungen oder Gutschriften zu verrechnen sind. Dabei ist nicht das Auffangkriterium "anteilige Verrechnung" , sondern das Kriterium der "geringeren Sicherheit" maßgebend. Dies führt dazu, dass für die Tilgung der jeweiligen Bruttomiete unzureichende Zahlungen oder Gutschriften zunächst auf die darin enthaltene Forderung auf Erbringung von Nebenkostenvorauszahlungen anzurechnen sind, weil diese nach Eintritt der Abrechnungsreife oder erfolgter Abrechnung grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden kann und daher weniger sicher ist als die Netto- mietforderung (vgl. etwa OLG Rostock, aaO; OLG Düsseldorf, aaO; OLG Brandenburg , aaO; OLG Köln, ZMR 2010, 850, 852; LG Berlin, aaO; LG Hamburg, aaO Rn. 15; MünchKommBGB/Häublein, aaO; BeckOGK/Looschelders, aaO, § 366 Rn. 32; Sternel, aaO Rn. III 105; Schmid, NZM 2001, 705; Zehelein, aaO; aA Derleder, aaO S. 655 f.; Thoms, aaO [anteilige Tilgung]; Schmidt-Futterer/ Eisenschmid, aaO, § 536 BGB Rn. 388 [Nettomiete als lästigere Forderung]).
- 49
- (bb) Wird nicht nur eine offenstehende Bruttomiete, sondern werden Bruttomietrückstände aus verschiedenen Jahren oder mehreren Monaten geltend gemacht, sind die Kriterien des § 366 Abs. 2 BGB ein weiteres Mal heranzuziehen. Dabei ist stets eine Anrechnung auf die ältesten Rückstände vorzunehmen. Dies ergibt sich bei Mieten, die aus verschiedenen Jahreszeiträumen stammen, daraus, dass die älteren Rückstände zuerst verjähren (vgl. § 199 Abs. 1 BGB) und daher dem Kläger die geringeren Sicherheiten bieten (BGH, Urteile vom 5. April 1965 - VIII ZR 10/64, aaO; vom 19. November 2008 - XII ZR 123/07, BGHZ 179, 1 Rn. 19; vom 9. Oktober 2014 - IX ZR 69/14, aaO; Junglas, ZMR 2014, 89, 93). Bezüglich der Mietrückstände, die im selben Jahr angefallen sind und bei denen nach § 199 Abs. 1 BGB regelmäßig zum gleichen Zeitpunkt die Verjährung eintritt, folgt dies aus der Heranziehung des Kriteriums "ältere Schuld" (Junglas, aaO).
- 50
- (cc) Wie diese beiden Verrechnungsweisen für die im Rahmen der Zulässigkeit der Klage erforderliche Bestimmung, welche Beträge der Kläger bei Bruttomietrückständen aus mehreren Monaten oder Jahren geltend macht, miteinander zu kombinieren sind, hängt davon ab, ob der Kläger die Gutschriften oder Zahlungen einzelnen Zeiträumen zugeordnet hat (etwa: Miete Januar 2017) oder nicht.
- 51
- Erfolgt eine Zuordnung zu einem bestimmten Zeitraum, ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Kläger die Zahlung beziehungsweise Gutschrift auf die für diesen Zeitraum geschuldete Nebenkostenvorauszahlung und anschließend auf die für diesen Monat geschuldete Nettokaltmiete verrechnet. Übersteigt eine für einen bestimmten Zeitraum erbrachte Zahlung oder Gutschrift die für diesen Zeitraum geschuldete Bruttomiete ist der überschießende Betrag - bis er aufgebraucht ist - gemäß § 366 Abs. 2 BGB analog - in absteigendem Alter - auf die ältesten Nebenkostenvorauszahlungsforderungen und anschließend - wiederum beginnend mit der ältesten Schuld - auf die Nettomieten anzurechnen.
- 52
- Nimmt der Kläger bezüglich erbrachter Zahlungen oder Gutschriften keine Zuordnung zu einem bestimmten Zeitraum vor, sondern zieht diese lediglich vom Gesamtsaldo ab, sind diese in Anwendung der Kriterien des § 366 Abs. 2 BGB zunächst im absteigenden Alter auf die Nebenkostenvorauszahlungsforderungen (etwa Januar 2017; Februar 2017) und anschließend - wiederum beginnend mit der ältesten Forderung - auf die Nettomietrückstände (etwa Januar 2017; Februar 2017) zu verrechnen.
- 53
- c) Ausgehend von den beschriebenen Grundsätzen hat die Klägerinbei der gebotenen sachgerechten Auslegung ihres Klagebegehrens durch die von ihr vorgetragene "Mietrückstandsaufstellung" und die darin enthaltenen Angaben den Inhalt und die Reichweite ihres Begehrens hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die von ihr beanspruchten Forderungen sind im Einzelnen nach Zeitraum, Höhe und Forderungsart bezeichnet, wobei die Klägerin noch in erster Instanz klargestellt hat, dass der monatlich verlangte Betrag von 749,50 € die Nettomiete von 603,50 € und eine zu leistende Nebenkostenvor- auszahlung von 146 € umfasst. Die von den Vorinstanzen vermisste Zuordnung der erteilten Gutschriften und der erbrachten Zahlung ist - was diese nicht in den Blick genommen haben - mit der Klageschrift unter stillschweigender Bezugnahme auf die Verrechnungsgrundsätze des § 366 Abs. 2 BGB erfolgt. In der Berufungsinstanz hat sich die Klägerin sogar ausdrücklich auf die von dieser gesetzlichen Regelung vorgesehene Anrechnungsreihenfolge berufen.
- 54
- aa) Dass die Klägerin in erster Instanz bezüglich der Verrechnung der von ihr in der Forderungsaufstellung berücksichtigten drei Gutschriften und der erfolgten Einmalzahlung der Mieter keine ausdrückliche Anrechnung auf ihre aufgelisteten Forderungen vorgenommen hat, berechtigte das Amtsgericht nicht, die Klage als unzulässige Saldoklage zu behandeln. Da - wie eingangs bereits dargelegt - bei Prozesserklärungen im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht, ist letztlich maßgebend, ob sich aus der Aufstellung der Klägerin und ergänzender Heranziehung der Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB eine Zuordnung der Gutschriften und der Zahlung auf die Außenstände vornehmen lässt. Dies ist - wie nachfolgend näher darzustellen sein wird - der Fall.
- 55
- Soweit die Revisionserwiderung eine Heranziehung des § 366 Abs. 2 BGB mit der Begründung verneinen will, das Berufungsgericht habe die Erklärungen der Parteien, insbesondere der Beklagten dahingehend ausgelegt, dass die Klägerin habe frei darüber entscheiden können, wie die Zahlungen der Beklagten zu verrechnen gewesen seien, sind solche Feststellungen dem Berufungsurteil nicht zu entnehmen. Vielmehr hat das Berufungsgericht mehrfach ausgeführt, dass sich die von der Klägerin vorgenommene Verrechnung in materiell -rechtlicher Hinsicht an § 366 Abs. 2 BGB zu orientieren habe; es hat aber für die Zulässigkeit der Klage verlangt, dass die Klägerin im Einzelnen die anhand der gesetzlichen Kriterien vorzunehmende Anrechnungsreihenfolge beschreibt. Damit überspannt es jedoch - wie oben unter II b dd (3) (a) im Einzel- nen ausgeführt - die Anforderungen an die Bestimmtheit des Klagebegehrens (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
- 56
- (1) Die sich aus der Betriebskostenabrechnung vom 12. November 2014 für das Jahr 2013 ergebende Gutschrift in Höhe von 99,98 € war zur Bestimmung des Umfangs des Klagebegehrens (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) nach der oben unter II 2 b dd (3) (b) im Einzelnen beschriebenen Vorgehensweise gemäß § 366 Abs. 2 BGB analog auf die älteste Nebenkostenvorauszahlungsforderung anzurechnen. Die Klägerin hat in ihrer tabellarischen Aufstellung keine hiervon abweichende Zuordnung vorgenommen. Daher war die Gutschrift auf die für den Monat Oktober 2013 geltend gemachte Nebenkostenvorauszahlung zu verrechnen, so dass die Klägerin für diesen Monat die Nettomiete von 603,50 € und restliche Nebenkostenvorauszahlungen von 46,02 € (146 € abzü- glich 99,98 €) geltend gemacht hat.
- 57
- (2) Bezüglich der von den Mietern erbrachten Zahlung in Höhe von 400 € war ein Rückgriff auf die Verrechnungsgrundsätze des § 366 Abs. 2 BGB nur ergänzend erforderlich. Denn die Klägerin hat diese Zahlung unter der Rubrik "gezahlt" der offenstehenden Bruttomiete für Februar 2015 gegenübergestellt. Dass trotz dieser expliziten Angabe eine Zuordnung zur Miete Februar 2015 nicht beabsichtigt war, war ihrem erstinstanzlichen Vorbringen nicht zu entnehmen. Der damit aus der Aufstellung zu entnehmenden Zuordnung zu einem bestimmten Monat gebührte der Vorrang vor der gesetzlichen Anrechnungsbestimmung. Die Stufenfolge des § 366 Abs. 2 BGB war aber insoweit heranzuziehen , als die Klägerin keine Aussage darüber getroffen hat, auf welche der Bestandteile der Bruttomiete (Nettomiete oder Nebenkostenvorauszahlung) zunächst eine Anrechnung erfolgen sollte. Daher war die Zahlung von 400 € unter analoger Heranziehung der genannten Vorschrift in Höhe von 146 € auf die Vorauszahlungsforderung für den Monat Februar 2015 und in Höhe von weite- ren 254 € auf die für diesen Monat geschuldete Nettomiete anzurechnen. Dies bedeutete, dass die Klägerin für diesen Monat nur eine restliche Nettomiete von 349,50 € geltend gemacht hat.
- 58
- (3) Bei der "Gutschrift Miete April 2015" bedurfte es nicht einmal einer ergänzenden (analogen) Anwendung des § 366 Abs. 2 BGB. Denn die Klägerin hat mit dieser Bezeichnung hinreichend deutlich gemacht, dass sie von der in der vorherigen Zeile aufgeführten vollen Bruttomiete für den Monat April 2015 den infolge der vorzeitigen Beendigung des Mietverhältnisses zum 8. April 2015 letztlich nicht geschuldeten Anteil der Bruttomiete in Höhe von 549,64 € (für 22 Tage) den Mietern gutgeschrieben hat, so dass sie bezüglich April 2015 nur noch anteilig für acht Tage eine Nettomiete von 160,93 € und eine Nebenkos- tenvorauszahlung von 38,93 € (zusammen 199,86 €) verlangt hat.
- 59
- (4) Die aus der Betriebskostenabrechnung vom 4. November 2015 für das Jahr 2014 resultierende Gutschrift von 346,42 € war mangels Zuordnung der Klägerin anhand der Rangfolge des § 366 Abs. 2 BGB auf die verbliebenen Nebenkostenvorauszahlungsforderungen, dabei beginnend mit den ältesten Ansprüchen, zu verrechnen. Da nach der Anrechnung der ersten Gutschrift in Höhe von 99,98 € für den Monat Oktober 2013 noch eine restliche Nebenkostenvorauszahlung von 46,02 € verblieb, hatte zuerst eine Anrechnung auf diese Restforderung zu erfolgen. Danach war eine Verrechnung auf die Nebenkostenvorauszahlungen für den Monat November 2013 und anschließend für den Monat Dezember 2013 in Höhe von jeweils 146 € vorzunehmen. Der verbleibende Rest der Gutschrift von 8,40 €war auf die Nebenkostenvorauszahlung für den Monat Januar 2014 anzurechnen.
- 60
- (5) Die Klägerin hat demzufolge in erster Instanz für die Monate Oktober bis Dezember 2013 nur die Nettomiete, für den Monat Januar 2014 die Netto- miete und 137,60 € an Nebenkostenvorauszahlung, für den Monat Februar 2015 349,50 € restliche Nettomiete sowie fürden Monat April 2015 einen Be- trag von 160,93 € als Nettomiete und eine Nebenkostenvorauszahlung von 38,93 € verlangt. Für die übrigen Monate hat sie- wie sich aus der eingereich- ten Aufstellung ergibt - die volle Bruttomiete geltend und daneben die dort aufgeführten sonstigen Forderungen (Gebühren verschiedener Art) zum Gegenstand ihrer Klage gemacht. Damit war das Klagebegehren bereits in erster Instanz hinreichend bestimmt im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
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- bb) Durch eine im Berufungsverfahren bezüglich der Verrechnung der Zahlung von 400 €in zweiter Instanz abgegebene abweichende Erklärung hat die Klägerin allerdings die diesbezüglich und hinsichtlich der nachfolgenden Gutschrift in Höhe von 346,42 €in erster Instanz vorgenommene Anrechnung und damit auch den Streitgegenstand verändert. Auch bei Berücksichtigung des in zweiter Instanz geänderten Klägervortrags hätte eine Klageabweisung als unzulässig aber nicht erfolgen dürfen.
- 62
- (1) Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat bezüglich der Zahlung von 400 € im Berufungsverfahren erklärt, hier greife- wie auch bei den Gut- schriften über 99,98 € und 346,42 €- die von Amts wegen zu beachtende gesetzliche Verrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB; die Klägerin habe deutlich gemacht, dass die Zahlung und die beiden Gutschriften mit den ältesten bestehenden Mietrückständen zu verrechnen gewesen seien. Eine Zuord- nung der Zahlung von 400 € zur Mietefür Februar 2015 sei nicht möglich, weil nicht ansatzweise klar gewesen sei, ob diese Leistung von den Mietern für Februar 2015 oder für einen anderen Monat bestimmt gewesen sei.
- 63
- (2) Mit dieser Erklärung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin zu verstehen gegeben, dass die Klägerin bei der Zahlung und den genannten zwei Gutschriften ausschließlich eine Verrechnung nach den Grundsätzen des § 366 Abs. 2 BGB vornehmen will. Soweit er darauf verweist, dass eine Verrechnung mit den "ältesten bestehenden Mietforderungen" zu erfolgen habe, hat er damit bei verständiger Würdigung in verkürzter Form zum Ausdruck gebracht, dass für die Anrechnung die oben unter II 2 b dd (3) (b) beschriebenen, von der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung geprägten Grundsätzen maßgeblich seien. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war die Klägerin , wie bereits an früherer Stelle ausgeführt, nicht gehalten, die sich hieraus ergebende Zuordnung der Zahlung und der Gutschriften im Einzelnen konkret darzulegen.
- 64
- (3) Eine solche (Teil-)Umstellung ihres Klagebegehrens (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 7. November 2001 - VIII ZR 263/00, aaO) war der Klägerin auch noch im Berufungsverfahren möglich. Es handelte sich hierbei um eine nach § 264 Nr. 2 ZPO zulässige Klageänderung, die im Berufungsverfahren nicht an den Anforderungen des § 533 ZPO zu messen ist (grundlegend BGH, Urteil vom 19. März 2004 - V ZR 104/03, BGHZ 158, 295, 305 f.). An dem zugrundeliegenden Lebenssachverhalt hat sich durch die in der Berufungsinstanz abgegebene Erklärung nichts geändert (vgl. auch LG Frankfurt/Oder, GE 2013, 813, das für den dortigen Sachverhalt § 264 Nr. 1 ZPO anwendet). Es werden nach wie vor Bruttomieten für den Zeitraum von Oktober 2013 bis April 2015 geltend gemacht. Lediglich der Höhe nach ergeben sich bezüglich einzelner Mietbestandteile Berechnungsunterschiede (vgl. auch Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl., § 264 Rn. 2, 3a).
- 65
- Ausgehend von der in zweiter Instanz ausdrücklich erfolgten Bezugnahme auf § 366 Abs. 2 BGB war die erste Gutschrift in Höhe von 99,98 € - wie auch bereits in erster Instanz - auf die Nebenkostenvorauszahlung für den Monat Oktober 2013 zu verrechnen. Veränderungen ergaben sich aber hinsichtlich der Verrechnung der Zahlung von 400 €, die nicht mehr - wie in erster Instanz - auf die Nebenkostenvorauszahlung für Februar 2015 und ergänzend auf die Nettomiete für diesen Monat anzurechnen war, sondern in ausschließlicher Anwendung der Grundsätze des § 366 Abs. 2 BGB zunächst auf den noch offenen Rest der Nebenkostenvorauszahlung für Oktober 2013 (46,02 €), sodann auf die Nebenkostenvorauszahlungen für die Monate November und Dezember 2013 (jeweils 146 €) und schließlich in Höhe von 61,98 € auf die Nebenkosten- vorauszahlung Januar 2014. Die geänderte Zuordnung der Zahlung hatte auch Auswirkungen auf die ebenfalls nach den Grundsätzen des § 366 Abs. 2 BGB vorzunehmende Anrechnung der Gutschrift von 346,42 €. Diesewar in der Be- rufungsinstanz zunächst auf die noch verbliebene Forderung auf Nebenkostenvorauszahlung für den Monat Januar 2014 (84,02 €), sodann auf die Nebenkos- tenvorauszahlung für den Monat Februar 2014 (146 €) und schließlich in Höhe der restlichen 116,40 € auf die Nebenkostenvorauszahlung für März 2014 zu verrechnen. Bezüglich der Zuordnung der "Gutschrift Miete April 2015" hat die Klägerin im Berufungsverfahren keine abweichende Erklärung abgegeben, so dass die in erster Instanz maßgebliche Zuordnung weiter maßgeblich war.
- 66
- (4) Die Klägerin hat damit in zweiter Instanz bezüglich der Monate Oktober 2013 bis einschließlich Februar 2014 nur die Nettomieten, für den Monat März 2014 die Nettomiete zuzüglich 29,60 € an restlichen Nebenkostenvorauszahlungen und für die Monate April 2014 bis März 2015 die volle Bruttomiete sowie für den Monat April 2015 - wie schon in erster Instanz - 160,93 € als Nettomiete nebst einer Nebenkostenvorauszahlung von 38,93 € verlangt.
- 67
- (5) Die teilweise Umstellung der Zuordnung der erfolgten Zahlung und der erteilten Gutschrift über 346,42 € war auch nicht aus sonstigen Gründen im Berufungsverfahren unbeachtlich. Denn die darin liegende nähere Aufgliederung der Klageforderung stellt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts- hofs kein Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO dar, sondern gehört zum Angriff selbst (vgl. Senatsurteil vom 9. Januar 2013 - VIII ZR 94/12, aaO Rn. 9 mwN; aA LG Frankfurt am Main, aaO).
- 68
- cc) In der Revisionsinstanz hat die Klägerin die beiden aus den Betriebs- kostenabrechnungen resultierenden Gutschriften und die Zahlung von 400 € ebenfalls auf die Nebenkostenvorauszahlungen aus den Jahren 2013 und 2014 verrechnet. Dass sie dabei eine leicht geänderte Anrechnung vorgenommen hat (die Zahlung von 400 € und die Gutschrift von 346,42 € hat sie ausschließlich auf die Nebenkostenvorauszahlungen für das Jahr 2014 verrechnet), ist unschädlich. Denn sie hat die Berechnung allein zu dem Zweck angestellt, sämtliche Nebenkostenvorauszahlungsforderungen aus den Jahren 2013 und 2014 sowie für das Rumpfjahr 2015 vom Revisionsverfahren auszunehmen. Sie hat Revision ausdrücklich nur insoweit eingelegt, als die Klage hinsichtlich der Nettomieten von Oktober 2013 bis einschließlich April 2015 (18 x 603,50 € für Oktober 2013 bis März 2015 zuzüglich 160,93 € füracht Tage im April 2015) und der daneben geltend gemachten Rückläufergebühren (3 x 3 €), insgesamt also wegen einer Hauptforderung von 11.032,93 €, sowie bezüglich der als Ne- benforderungen geltend gemachten Mahngebühren und außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von insgesamt 344,75 € und der daneben begehrten Teilerledigungserklärung wegen des Gutschriftbetrags von 346,42 € abgewiesen worden ist. Auf den Umstand, dass nach ständiger Rechtsprechung eine reine Klarstellung eines bereits zuvor hinreichend bestimmten Klagebegehrens noch in der Revisionsinstanz nachgeholt werden kann (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 1953 - III ZR 66/52, BGHZ 11, 192, 195 f.; vom 7. November 2001 - VIII ZR 263/00, aaO), kommt es angesichts der vorstehenden Ausführungen nicht an.
III.
- 69
- Nach alledem kann das Urteil des Berufungsgerichts in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang keinen Bestand haben; es ist daher insoweit aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif, da das Berufungsgericht keine Feststellungen zur Begründetheit der geltend gemachten Forderungen getroffen hat. Sie ist deshalb im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dr. Milger Dr. Hessel Dr. Fetzer Dr. Bünger Kosziol
AG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 11.02.2016 - 33 C 3928/15 (94) -
LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 14.02.2017 - 2-11 S 61/16 -
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Mit Vertrag vom 14. Juni 1990 gestattete die Gemeinde G. G. dem Kläger die Nutzung eines in ihrem Besitz befindlichen Hotelgrundstücks, das im Jahr 1950 in Volkseigentum übergeführt und der Gemeinde im Jahr 1989 von dem damaligen Rechtsträger, dem Amt für nationale Sicherheit, überlassen worden war. Mit notariellem Vertrag vom 24. September 1990 verkaufte die Gemeinde das Grundstück an den Kläger. Zu dessen Eintragung in das Grundbuch kam es in der Folgezeit nicht.
Bis zum Jahr 1994 ließen der Kläger und die von ihm gegründete „S. und K. GmbH“ Renovierungsarbeiten an dem Hotelgrundstück durchführen, die nach Art und Umfang zwischen den Parteien streitig sind.
Seit 1992 verlangte die Beklagte unter Hinweis auf ihren Eigentumserwerb nach Art. 21, 22 des Einigungsvertrags die Herausgabe des Grundstücks. Dem kam der Kläger im Februar 1995 im Hinblick auf ein von der Beklagten erwirktes Räumungsurteil nach.
Wegen der von dem Kläger mit 338.600 DM bezifferten renovierungsbedingten Aufwendungen erließ das Amtsgericht Potsdam am 11. März 1996 einen Vollstreckungsbescheid gegen die Beklagte. Diese legte hiergegen am 19. März 1996 Einspruch ein. Im Juni 1997 trat die „S. und K. GmbH“ sämtliche Ansprüche gegen die Beklagte an den Kläger ab.
Erstinstanzlich hat der damalige Prozeßbevollmächtigte des Klägers vorgetragen , der Kläger habe am 30. März 1997 sämtliche Forderungen aus der Klage an ihn abgetreten. Gleichwohl hat das Landgericht über die von dem Kläger behaupteten Renovierungsarbeiten, die hierdurch bedingte Wertsteigerung des Grundstücks und – wegen einer von der Beklagten erklärten Hilfsaufrechnung – über die Höhe des monatlichen Nutzungsentgelts Beweis erhoben durch Vernehmung von Zeugen und Einholung von Sachverständigengutachten. Mit Schreiben vom 19. Juni 2001 hat die Sparkasse Mittleres Erzgebirge eine mit „Abtretungserklärung“ überschriebene schriftliche Vereinbarung zwischen dem Kläger und dem Prozeßbevollmächtigten vom 30. März 1997 mit der Bitte um rechtliche Prüfung zu den Gerichtsakten gereicht. Hiervon sind die Prozeßbeteiligten nicht unterrichtet worden. Ausweislich der Sitzungsnieder-
schrift vom 5. April 2002 hat das Landgericht „mit Rücksicht auf die Zitatstelle in Thomas/Putzo, § 265 Rdn. 13, die verlesen wurde, auf eine etwaige Notwendigkeit der Umstellung des Klageantrages mit Rücksicht auf die Abtretung der Ansprüche des Klägers an Rechtsanwalt H. hingewiesen. Daraufhin hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers erklärt, das Gericht möge über diese Frage entscheiden. Das Landgericht hat sodann den Vollstreckungsbescheid aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil der Kläger wegen der erfolgten Abtretung nicht mehr aktivlegitimiert sei.
Mit seiner Berufung hat der Kläger beantragt, unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils den Vollstreckungsbescheid aufrechtzuerhalten, hilfsweise mit der Maßgabe, daß Zahlung an Rechtsanwalt H. zu leisten ist. Zur Begründung hat er unter anderem ausgeführt, die Abtretungserklärung vom 30. März 1997 beziehe sich nicht auf die streitgegenständliche Forderung, sondern auf die Summe, welche die Beklagte nach einer etwaigen Verurteilung an den Kläger zahlen werde. Hierüber habe bei Abschluß der Vereinbarung Einvernehmen zwischen den Beteiligten bestanden. Das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich die von dem Senat zugelassene Revision des Klägers, mit der er die im Berufungsverfahren gestellten Anträge weiterverfolgt. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht meint, der Kläger sei wegen der von dem Landgericht festgestellten Abtretung nicht mehr Inhaber eines eventuellen Verwendungsersatzanspruchs gegen die Beklagte. Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der von dem Landgericht getroffenen Feststellungen, die eine erneute Feststellung gebieten könnten, bestünden nicht. Die erstmals in der Berufungsinstanz aufgestellten Behauptungen des Klägers zu dem Inhalt der am 30. März 1997 geschlossenen Abtretungsvereinbarung seien nicht zu berücksichtigen. Der in der Berufungsinstanz hilfsweise gestellte Antrag auf Zahlung an den Abtretungsempfänger sei unzulässig, weil das Landgericht keine Feststellungen zu den Voraussetzungen des geltend gemachten Verwendungsersatzanspruchs getroffen habe.
Das hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht in allen Punkten stand.
II.
Zu Recht hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, daß die Klage mit dem Hauptantrag unbegründet ist (1.). Soweit es die Zulässigkeit des Hilfsantrags verneint hat, kann ihm dagegen nicht gefolgt werden (2.).
1. Mit seinem Hauptantrag macht der Kläger einen eigenen Verwendungsersatzanspruch gegen die Beklagte geltend. Insoweit kann dahinstehen, ob und inwieweit die Voraussetzungen der §§ 994, 996 BGB erfüllt sind; der
Anspruch scheitert nämlich bereits an der fehlenden Sachlegitimation des Klägers. Das Landgericht hat in seinem Urteil festgestellt, daß der Kläger den Klageanspruch nach Eintritt der Rechtshängigkeit an seinen erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten abgetreten hat (a). An diese Feststellung war das Berufungsgericht nach der gemäß § 26 Nr. 5 EGZPO anwendbaren Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO in der Fassung des Zivilprozeßreformgesetzes vom 27. Juli 2001 gebunden, weil keine Anhaltspunkte für Zweifel an ihrer Richtigkeit oder Vollständigkeit bestanden (b). Auf der Grundlage dieser gemäß § 559 Abs. 2 ZPO auch in der Revisionsinstanz verbindlichen Feststellung ist es dem Kläger verwehrt, Leistung an sich selbst zu verlangen (c).
a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die von dem Eingangsgericht festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen.
aa) Die damit angeordnete Bindungswirkung der erstinstanzlichen Feststellungen (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs des ZPO-RG, BT-Drs. 14/4722, S. 100) erstreckt sich auch auf sogenannte Rechtstatsachen. Den tatsächlichen Umständen (§ 138 Abs. 1 ZPO) stehen nämlich Tatsachen in ihrer juristischen Einkleidung gleich, wenn dies durch einen einfachen Rechtsbegriff geschieht, der jedem Teilnehmer des Rechtsverkehrs geläufig ist (Senat , BGHZ 135, 92, 95; Senat, Urt. v. 2. Juni 1995, V ZR 304/93, WM 1995, 1589, 1590; Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 138 Rdn. 2). Hierher gehört der den Abschluß eines Abtretungsvertrags gemäß § 398 BGB umschreibende Begriff der Abtretung jedenfalls dann, wenn er, wie hier, von einem Rechtsanwalt verwendet wird (Senat, Urt. v. 2. Februar 1990, V ZR 245/88, BGHR ZPO § 288 Abs. 1 Rechtsbegriff 3).
bb) Festgestellt sind nicht nur solche Tatsachen, hinsichtlich derer das erstinstanzliche Gericht aufgrund einer freien Beweiswürdigung gemäß § 286 Abs. 1 ZPO die Entscheidung getroffen hat, daß sie wahr oder nicht wahr sind. Eine derartige Beschränkung des tatsächlichen Prüfungsumfangs des Berufungsgerichts wäre nicht sachgerecht, weil das erstinstanzliche Urteil regelmäßig auch auf nicht beweisbedürftigen, insbesondere unstreitigen Tatsachen beruht. Das Berufungsgericht hat seiner Verhandlung und Entscheidung deshalb auch solche Tatsachen zugrunde zu legen, die auch das erstinstanzliche Gericht seiner Entscheidung ohne Prüfung der Wahrheit zugrunde gelegt hat, sei es, weil sie offenkundig oder gerichtsbekannt (§ 291 ZPO), ausdrücklich zugestanden (§ 288 ZPO) oder – wie die von dem Kläger behauptete Abtretung - unstreitig (§ 138 Abs. 3 ZPO) waren, oder weil sie sich aus gesetzlichen Vermutungen oder Beweis- und Auslegungsregeln ergeben haben (MünchKomm -ZPO/Rimmelspacher, 2. Aufl., Aktualisierungsband, § 529 Rdn. 5). Dies entspricht dem allgemeinen Verständnis des in § 559 Abs. 2 ZPO verwendeten Begriffs der von dem Revisionsgericht zugrunde zu legenden Feststellungen (vgl. MünchKomm-ZPO/Wenzel, aaO, § 559 Rdn. 8; Musielak/Ball, aaO, § 559 Rdn. 20; Zöller/Gummer, aaO, § 559 Rdn. 11; für § 561 Abs. 2 ZPO a.F.: Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 561 Rdn. 31), die wegen der in § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vorgesehenen Bezugnahme in dem Berufungsurteil auch die von dem erstinstanzlichen Gericht fehlerfrei getroffenen Tatsachenfeststellungen umfassen.
b) Konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der von dem Landgericht festgestellten Abtretung des Klageanspruchs, die gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO erneute Feststellungen des Berufungsgerichts zu diesem Punkt
erforderlich gemacht hätten, lagen entgegen der Auffassung der Revision nicht vor. aa) Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem erstinstanzlichen Gericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind (BT-Drs. 14/4722, S. 100; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1901; Stackmann, NJW 2003, 169, 171). Dies gilt insbesondere dann, wenn es Beweise fehlerhaft erhoben oder gewürdigt (Senat, Urt. v. 12. März 2004, V ZR 257/03, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, Umdruck S. 6) oder wenn es Tatsachenvortrag der Parteien übergangen oder von den Parteien nicht vorgetragene Tatsachen verwertet hat (Musielak/Ball, aaO, § 529 Rdn. 5). Einen derartigen Verfahrensfehler stellt es nicht dar, daß das Landgericht den Inhalt der schriftlichen Abtretungserklärung vom 30. März 1997 unberücksichtigt gelassen und seine Entscheidung allein auf die mit Schriftsatz des Klägers vom 21. Januar 1998 behauptete Abtretung gestützt hat. Da die von der Sparkasse Mittleres Erzgebirge zu den Gerichtsakten gereichte Vertragsurkunde erstinstanzlich von keiner der Parteien in Bezug genommen worden war, handelte es sich nicht um Parteivortrag, den das Landgericht seiner Entscheidung hätte zugrunde legen dürfen. Hieraus folgt zugleich, daß die mit der Berufung erhobene Rüge, das erstinstanzliche Urteil beruhe auf der von den Parteien nicht vorgetragenen Abtretungserklärung, sachlich unzutreffend ist. Sie wird von der Revision auch nicht aufrecht erhalten.
bb) Zweifelhaft können die Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts auch durch neue Angriffs- und Verteidigungsmittel werden, soweit sie in der Berufungsinstanz gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 531 Abs. 2 ZPO zu berücksichtigen sind, weil ihre Geltendmachung in erster Instanz we-
gen eines von dem Gericht zu vertretenden Umstands (§ 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO) oder sonst ohne Verschulden der Partei (§ 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO) unterblieben ist (BT-Drs. 14/4722, S. 101; Musielak/Ball, aaO, § 529 Rdn. 19; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1901; Schnauder, JuS 2002, 162; Crückeberg, MDR 2003, 10). Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf den von dem Kläger erstmals in der Berufungsinstanz vorgetragenen Inhalt der schriftlichen Abtretungserklärung vom 30. März 1997 ebensowenig erfüllt wie im Hinblick auf die von ihm im Widerspruch zu seinem erstinstanzlichen Vorbringen aufgestellte Behauptung, eine Abtretung der Klageforderung hätten die Beteiligten nicht gewollt.
(1) § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO gestattet neues, d. h. in erster Instanz noch nicht geltend gemachtes (Grunsky, NJW 2002, 800; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1903) Vorbringen zu tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten , die von dem Standpunkt des Berufungsgerichts aus betrachtet entscheidungserheblich sind, von dem Eingangsgericht jedoch erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten wurden (BT-Drs. 14/4722, S. 101; MünchKomm -ZPO/Rimmelspacher, aaO, § 531 Rdn. 20; Musielak/Ball, aaO, § 531 Rdn. 17) und aus einem von diesem mit zu verantwortenden Grund in erster Instanz nicht geltend gemacht worden ist (BGH, Urt. v. 19. Februar 2004, III ZR 147/03, Umdruck S. 8). Dieser Fall liegt hier nicht vor, weil das Berufungsgericht seine Entscheidung über den ursprünglichen (Haupt-)Antrag ebenso wie das Landgericht auf die von dem Kläger in erster Instanz behauptete Abtretung der Klageforderung gestützt hat. Neues Vorbringen zu diesem bereits dem erstinstanzlichen Urteil zugrunde liegenden Gesichtspunkt war dem Kläger daher verwehrt.
(2) § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO betrifft insbesondere den Fall, daß nach § 139 ZPO gebotene Hinweise des Eingangsgerichts unterblieben sind, die zu entsprechendem Vorbringen in erster Instanz Anlaß gegeben hätten (BT-Drs. 14/4722, S. 101; MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher, aaO, § 531 Rdn. 23; Musielak/Ball, aaO, § 531 Rdn. 18). Entgegen der Auffassung der Revision hat das Landgericht die ihm obliegende Hinweispflicht jedoch nicht verletzt. Zwar konnte der Kläger aus dem Umstand, daß das Landgericht trotz der bereits vorgetragenen Abtretung Beweis zu den Voraussetzungen des geltend gemachten Verwendungsersatzanspruchs erhoben hat, schließen, daß es auf diesen Gesichtspunkt für die gerichtliche Entscheidung nicht ankommen werde. Er hatte daher zunächst keinen konkreten Anlaß, zu der Frage der Abtretung weiter vorzutragen oder sein Vorbringen in dem Sinn richtig zu stellen , daß tatsächlich keine Abtretung vereinbart worden sei. Dies änderte sich jedoch, nachdem das Landgericht auf die Bedeutung der Abtretung für die Fassung des Klageantrags hingewiesen hatte. Im Hinblick auf die in der mündlichen Verhandlung verlesene Kommentarstelle mußte dem anwaltlich vertretenen Kläger bewußt gewesen sein, daß seine auf Zahlung an sich selbst gerichtete Klage wegen der von ihm vorgetragenen Abtretung des Klageanspruchs keinen Erfolg haben konnte, wenn das Landgericht mit der ganz überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur eine Umstellung des Klageantrags auf Zahlung an den Abtretungsempfänger für erforderlich hielt. Selbst wenn der Kläger, wie von der Revision behauptet, davon ausgegangen sein sollte, das Landgericht habe in dieser Frage noch keine abschließende Position eingenommen, hätte er jedenfalls mit der Möglichkeit einer Klageabweisung rechnen müssen. Damit wäre es aus Sicht des Klägers nicht nur geboten gewesen , den Klageantrag – wie in der Berufungsinstanz geschehen – zumindest hilfsweise auf Zahlung an den Abtretungsempfänger umzustellen. Darüber
hinaus hätte auch Anlaß bestanden, im Rahmen des ursprünglichen Klageantrags zu der Frage der Abtretung ergänzend Stellung zu nehmen. Daß dies dem Kläger in erster Instanz, sei es auch nach Einräumung einer von ihm zu beantragenden Schriftsatzfrist (vgl. BGH, Urt. v. 25. Juni 2002, X ZR 83/00, NJW 2002, 3317, 3320), nicht möglich gewesen wäre, wird von der Revision nicht geltend gemacht und ist auch sonst nicht ersichtlich. Von sich aus mußte das Landgericht jedenfalls nicht auf einen weiteren Sachvortrag des Klägers hinwirken, da dessen Prozeßbevollmächtigter ausdrücklich um eine gerichtliche Entscheidung gebeten hatte und keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme bestanden, sein Vortrag zu der erfolgten Abtretung könne ergänzungs- oder korrekturbedürftig sein.
(3) Hat der Kläger damit diejenigen tatsächlichen Umstände, die nach seiner Auffassung der Annahme einer Abtretung der Klageforderung entgegenstehen , in erster Instanz nicht vorgebracht, obwohl ihm diese Umstände und deren Bedeutung für den Ausgang des Rechtsstreits bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, beruht die unterlassene Geltendmachung auf Nachlässigkeit; das schließt eine Berücksichtigung dieser Umstände in der Berufungsinstanz gemäß § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO aus (vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 101; Musielak /Ball, aaO, § 531 Rdn. 19; Hannich/Meyer-Seitz, ZPO-Reform 2002, § 531 Rdn. 18 f.; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1904). Das Berufungsgericht mußte deshalb der unter Beweis gestellten Behauptung des Klägers, er und sein erstinstanzlicher Prozeßbevollmächtigter hätten keine Abtretung der Klageforderung vereinbaren wollen, ebensowenig nachgehen wie der Frage, ob die schriftliche Abtretungsvereinbarung vom 30. März 1997 nur die von dem Kläger aufgrund eines obsiegenden Urteils erlangten Geldmittel erfaßt.
c) Auf der Grundlage der von dem Landgericht fehlerfrei festgestellten Abtretung hat das Berufungsgericht einen in der Person des Klägers bestehenden Verwendungsersatzanspruch zu Recht verneint. Zwar hat die nach Eintritt der Rechtshängigkeit erfolgte Abtretung des Klageanspruchs keinen Einfluß auf dessen prozessuale Geltendmachung (§ 265 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Der Rechtsvorgänger behält daher weiter seine Prozeßführungsbefugnis und darf den Rechtsstreit als Partei im eigenen Namen weiterführen (Prozeßstandschaft ). Aufgrund der veränderten materiellen Rechtslage muß der Kläger jedoch grundsätzlich Leistung an seinen Rechtsnachfolger verlangen. Weigert er sich, wie hier, so muß die Klage wegen fehlender Aktivlegitimation abgewiesen werden. Diese Grundsätze, die der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGHZ 26, 31, 37; BGH, Urt. v. 28. September 1982, VI ZR 221/80, WM 1982, 1313; Urt. v. 12. März 1986, VIII ZR 64/85, NJW 1986, 3206, 3207; Urt. v. 20. November 1996, XII ZR 70/95, NJW 1997, 735, 736) und der überwiegenden Auffassung in der Literatur (MünchKomm-ZPO/Lüke, 2. Aufl., § 265 Rdn. 83; Zöller/Greger, aaO, § 265 Rdn. 6a; Musielak/Foerste, aaO, § 265 Rdn. 10; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 62. Aufl., § 265 Rdn. 17; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 25. Aufl., § 265 Rdn. 13; a.A. die sogenannte Irrelevanztheorie: Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl., § 102 IV 2, S. 585; Jauernig, Zivilprozeßrecht, 28. Aufl., § 87 III 3, S. 354) entsprechen , stellt auch die Revision nicht in Frage.
Auch war der Kläger nicht etwa deshalb zur Einziehung der abgetretenen Forderung im eigenen Namen befugt, weil ihm der Abtretungsempfänger eine Einziehungsermächtigung erteilt hätte (vgl. BGHZ 26, 31, 37; BGH, Urt. v. 28. September 1982, aaO). Eine entsprechende Behauptung hat der Kläger in
erster Instanz nicht aufgestellt. Sie läßt sich auch seinem Vorbringen in der Berufungsinstanz, soweit es überhaupt zu berücksichtigen ist, nicht entnehmen. Wäre die Klageforderung, wie nunmehr von dem Kläger vorgetragen, nicht abgetreten worden, hätte keinerlei Anlaß zu der Erteilung einer Einziehungsermächtigung bestanden.
2. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht jedoch angenommen, der erstmals in zweiter Instanz gestellte Hilfsantrag, mit dem der Kläger einen Verwendungsersatzanspruch seines erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten geltend macht, sei unzulässig, weil er entgegen § 533 Nr. 2 ZPO nicht auf Tatsachen gestützt werden könne, die der Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen waren. Eine mit der Berufung vorgenommene Umstellung des Klageantrags auf Leistung an den Abtretungsempfänger stellt nämlich unabhängig davon, ob sie unbedingt erfolgt oder, wie hier, von dem Mißerfolg des auf Leistung an den Kläger selbst gerichteten Hauptantrags abhängig ist, keine § 533 ZPO unterfallende Klageänderung dar.
a) § 533 ZPO knüpft in seinem Einleitungssatz an den allgemeinen Begriff der Klageänderung im Sinne von § 263 ZPO an (Zöller/Gummer/Heßler, aaO, § 533 Rdn. 3). Danach ist eine objektive Klageänderung gegeben, wenn sich der Streitgegenstand verändert, insbesondere, wenn bei gleich bleibendem oder geändertem Klagegrund ein anderer Klageantrag gestellt wird (Zöller /Greger, aaO, § 263 Rdn. 2; Thomas/Putzo/Reichold, aaO, § 263 Rdn. 1 f.). Wie eine Klageänderung zu behandeln ist der Fall einer nachträglichen (Eventual -)Klagenhäufung, auf den § 263 ZPO entsprechend anwendbar ist (BGH, Urt. v. 29. April 1981, VIII ZR 157/80, WM 1981, 423, 427; Urt. v. 10. Januar 1985, III ZR 93/83, NJW 1985, 1841, 1842; Urt. v. 26. Mai 1986, II ZR 237/85,
NJW-RR 1987, 58; MünchKomm-ZPO/Lüke, aaO, § 263 Rdn. 21; Zöller /Greger, aaO, § 263 Rdn. 2; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, aaO, § 263 Rdn. 4) und der deshalb auch von § 533 ZPO erfaßt wird (MünchKommZPO /Rimmelspacher, aaO, § 533 Rdn. 10; Musielak/Ball, aaO, § 533 Rdn. 6).
b) Handelt es sich allerdings um eine Antragsänderung, die, wie die Umstellung des Klageantrags auf Leistung an den Abtretungsempfänger, den Bestimmungen des § 264 Nr. 2 oder 3 ZPO unterfällt (für eine Anwendung von § 264 Nr. 2 ZPO: BGH, Urt. v. 3. Juni 1987, IVb ZR 68/86, FamRZ 1987, 926, 928; Urt. v. 21. Dezember 1989, VII ZR 84/89, NJW-RR 1990, 505; Musielak /Foerste, aaO, § 265 Rdn. 10; Zöller/Greger, aaO, § 264 Rdn. 3b; für eine Anwendung von § 264 Nr. 3 ZPO: Stein/Jonas/Schumann, aaO, § 265 Rdn. 42; MünchKomm-ZPO/Lüke, aaO, § 265 Rdn. 87; Rosenberg/Schwab/Gottwald, aaO, § 101 I 3), ist sie kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung nicht als eine Klageänderung anzusehen. Auf eine solche Modifizierung des Klageantrags finden daher diejenigen Vorschriften, die die Zulässigkeit einer Klageänderung regeln, keine Anwendung (MünchKomm-ZPO/Lüke, aaO, § 264 Rdn. 4). Dies gilt nicht nur für § 263 ZPO (Stein/Jonas/Schumann, aaO, § 264 Rdn. 1; MünchKomm-ZPO/Lüke, aaO, § 264 Rdn. 4), sondern auch für § 533 ZPO (a.A. Zöller/Gummer/Heßler, aaO, § 533 Rdn. 3, die jedenfalls § 533 Nr. 2 ZPO anwenden wollen), weil § 264 ZPO gemäß § 525 Satz 1 ZPO auch auf das Berufungsverfahren anzuwenden ist.
c) Die unbeschränkte Zulässigkeit einer Modifizierung des Klageantrags gem. § 264 Nr. 2 oder 3 ZPO auch in der Berufungsinstanz entspricht dem Zweck der Vorschrift, der die prozeßökonomische und endgültige Erledigung des Streitstoffs zwischen den Parteien fördern soll (MünchKomm-ZPO/Lüke,
aaO, § 264 Rdn. 1). Kann das Berufungsgericht auf der Grundlage des bereits in erster Instanz angefallenen Prozeßstoffs eine abschließende Entscheidung über den modifizierten Klageantrag treffen, widerspräche es den Grundsätzen der Prozeßwirtschaftlichkeit, würde man die Parteien, gestützt auf § 533 ZPO, auf einen neuen Rechtsstreit verweisen, in dem das erstinstanzliche Verfahren wiederholt werden müßte und das Berufungsgericht erneut mit der Sache befaßt werden könnte. Nach früherem Recht (§ 523 ZPO a. F. in Verbindung mit § 264 ZPO) war eine derart unökonomische Verfahrensgestaltung ausgeschlossen , weil § 264 ZPO in der Berufungsinstanz Anwendung fand (BGHZ 85, 140, 143; BGH, Urt. v. 21. Dezember 1989, VII ZR 84/89, NJW-RR 1990, 505; MünchKomm-ZPO/Lüke, aaO, § 264 Rdn. 5) und in den von der Vorschrift geregelten Fällen eine Antragsänderung unabhängig von dem Vorliegen weiterer Voraussetzungen ermöglichte. Für das reformierte Berufungsverfahren etwas anderes anzunehmen, hätte im Vergleich zu dem früheren Recht eine verstärkte Belastung der Gerichte und eine verzögerte Erledigung der Streitsachen zur Folge. Damit würde das Ziel der Zivilprozeßreform, die Effizienz innerhalb der Ziviljustiz zu steigern (BT-Drs. 14/4722, S. 1), offensichtlich verfehlt.
d) § 533 ZPO steht einer Anwendung des § 264 ZPO auf das Berufungsverfahren nicht entgegen (§ 525 Satz 1 Halbs. 2 ZPO).
aa) Mit den in § 533 Nr. 1 ZPO bestimmten Merkmalen der Einwilligung des Gegners oder der Sachdienlichkeit wollte der Gesetzgeber die bereits nach bisherigem Recht (§ 523 ZPO a. F. in Verbindung mit § 263 ZPO) geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen einer zweitinstanzlichen Klageänderung übernehmen (BT-Drs. 14/4722, S. 102). Auf das Vorliegen dieser Vorausset-
zungen kam es jedoch auch bislang nicht an, wenn es sich um eine Antragsänderung gemäß § 264 Nr. 2 oder 3 ZPO handelte (§ 523 ZPO a. F. in Verbindung mit § 264 ZPO). Daß der Gesetzgeber hieran etwas ändern wollte, läßt sich der Gesetzesbegründung nicht entnehmen. Die Annahme, derartige Modifizierungen des Klageantrags sollten nach neuem Recht nur noch unter den in § 533 Nr. 1 ZPO geregelten Voraussetzungen zulässig sein, ist auch deshalb fernliegend, weil diese Antragsänderungen in aller Regel als sachdienlich anzusehen sind (vgl. MünchKomm-ZPO/Lüke, aaO, § 264 Rdn. 2), § 533 Nr. 1 ZPO insoweit also ohnehin keine zulässigkeitsbeschränkende Wirkung haben könnte.
bb) Sinn und Zweck des § 533 Nr. 2 ZPO gebieten es ebenfalls nicht, Antragsänderungen gemäß § 264 Nr. 2 und 3 ZPO in der Berufungsinstanz als Klageänderungen anzusehen.
(1) § 533 Nr. 2 ZPO bringt die geänderte Funktion des Berufungsverfahrens zum Ausdruck, die keine vollständige zweite Tatsacheninstanz mehr eröffnet , sondern in erster Linie der Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung dient (BT-Drs. 14/4722, S. 64, 102). Für diesen Berufungszweck ist es unerheblich, ob das erstinstanzliche Gericht subjektiv fehlerhaft gehandelt und entschieden hat, was nicht der Fall ist, wenn seine Entscheidung gemessen an dem in erster Instanz gestellten Klageantrag - wie hier - zutreffend ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob das erstinstanzliche Urteil objektiv fehlerhaft ist, was nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts zu beurteilen ist (MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher, aaO, § 513 Rdn. 7; Rimmelspacher , NJW 2002, 1897). Damit kann sich die Korrekturbedürftigkeit des mit der Berufung angefochtenen Urteils auch aus einer im Berufungsverfahren
erfolgten Modifizierung des Klageantrags ergeben, wenn, wie im vorliegenden Fall, mit der Umstellung des Klageantrags einer Veränderung der materiellen Rechtslage Rechnung getragen wird, an deren sachgerechter Beurteilung das erstinstanzliche Gericht wegen des in erster Instanz gestellten Klageantrags gehindert war.
(2) Ausweislich der Gesetzesbegründung will § 533 Nr. 2 ZPO verhindern , daß im Wege der Klageänderung unzulässiger neuer Tatsachenstoff in das Berufungsverfahren eingeführt wird (BT-Drs. 14/4722, S. 102). In den Fällen des § 264 Nr. 2 und 3 ZPO ist das aber schon deswegen nicht zu befürchten , weil die Vorschrift insoweit voraussetzt, daß der - bereits in erster Instanz dargelegte - Klagegrund unverändert bleibt. Sollen zu dessen Ergänzung neue Tatsachen vorgetragen werden, ist dies nur in den durch § 531 Abs. 2 ZPO gezogenen Grenzen zulässig. Damit ist sichergestellt, daß der von dem Berufungsgericht zu beurteilende Prozeßstoff im wesentlichen mit demjenigen der ersten Instanz übereinstimmt.
(3) Schließlich soll durch die Regelung des § 533 Nr. 2 ZPO vermieden werden, daß das Berufungsgericht eine Klageänderung bei Vorliegen der in § 533 Nr. 1 ZPO bestimmten Voraussetzungen zwar zulassen müßte, an einer der materiellen Rechtslage entsprechenden Entscheidung über die geänderte Klage aber gehindert sein könnte, weil es gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seiner Verhandlung und Entscheidung nur die von dem erstinstanzlichen Gericht zu der ursprünglichen Klage festgestellten Tatsachen zugrunde legen darf (BTDrs. 14/4722, S. 102). Diese Gefahr, die den Gesetzgeber zu einer über die frühere Rechtslage hinausgehenden Beschränkung der Zulässigkeit zweitinstanzlicher Klageänderungen bewogen hat, besteht bei einer Antragsänderung
gemäß § 264 Nr. 2 und 3 ZPO nicht. Vielmehr kann das Berufungsgericht bei der Beurteilung des modifizierten Klageantrags auf den gesamten in erster Instanz angefallenen Prozeßstoff zurückgreifen.
(a) Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 12. März 2004 (V ZR 257/03) ausgeführt hat, gelangt mit einem zulässigen Rechtsmittel grundsätzlich der gesamte aus den Akten ersichtliche Prozeßstoff der ersten Instanz ohne weiteres in die Berufungsinstanz (Umdruck S. 14). Im Gegensatz zum Revisionsrecht (§ 559 Abs. 1 ZPO) enthalten die gesetzlichen Vorschriften über das Berufungsverfahren keine das berücksichtigungsfähige Parteivorbringen beschränkende Bestimmung. Eine Verengung des zweitinstanzlichen Prozeßstoffs auf das aus dem erstinstanzlichen Urteil ersichtliche Parteivorbringen ergibt sich auch nicht aus § 314 ZPO, weil dem Urteilstatbestand im Hinblick auf schriftsätzlich angekündigtes Parteivorbringen keine negative Beweiskraft zukommt (Umdruck S. 17 f. m.w.N.). Unabhängig hiervon kann der Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils den der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Prozeßstoff auch deshalb nicht begrenzen, weil das Berufungsverfahren nicht nur, wie das Revisionsverfahren, der Rechtsfehlerkontrolle, sondern gemäß § 513 Abs. 1 Alt. 2 ZPO auch der Kontrolle und Korrektur fehlerhafter Tatsachenfeststellungen dient (BT-Drucks. 14/4722, S. 64; Hannich /Meyer-Seitz, aaO, § 513 Rdn. 1, 7, 12 f.). Dies setzt voraus, daß das Berufungsgericht schriftsätzlich angekündigtes entscheidungserhebliches Parteivorbringen berücksichtigen darf, das von dem erstinstanzlichen Gericht für unerheblich erachtet oder übersehen worden ist und das deshalb im Urteilstatbestand keine Erwähnung gefunden hat (Barth, NJW 2002, 1702, 1703). Die in § 513 Abs. 1 Alt. 2 ZPO zum Ausdruck kommende Funktion der Berufung würde eine den berücksichtigungsfähigen Prozeßstoff begrenzende Wirkung des
erstinstanzlichen Urteils also selbst dann ausschließen, wenn man im übrigen mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (zuletzt BGH, Urt. v. 16. Mai 1990, IV ZR 64/89, NJW-RR 1990, 1269) und des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 13. April 1989, 1 B 21/89, juris) an der negativen Beweiskraft des Urteilstatbestands ohne Einschränkungen festhielte. Die Beantwortung dieser Rechtsfrage ist deshalb für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits im Ergebnis ohne Bedeutung, so daß es weder einer Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen (§ 132 GVG) noch an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (§ 2 RsprEinhG) bedarf (vgl. BGH, Beschl. v. 15. Februar 2000, XI ZR 10/98, NJW 2000, 1185 zu § 132 GVG; GmS-OGB, BGHZ 88, 353, 357 zu § 2 RsprEinhG).
(b) Bei der Entscheidung über den modifizierten Klageantrag ist das Berufungsgericht nicht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 1 ZPO an die von dem erstinstanzlichen Gericht zu dem ursprünglichen Klageantrag getroffenen Feststellungen gebunden. Kommt es aus der allein maßgeblichen Sicht des Berufungsgerichts (Hannich/Meyer-Seitz, aaO, § 529 Rdn. 35; Ball, ZGS 2002, 146, 149) für die Beurteilung des modifizierten Klageantrags auf Tatsachen an, die in dem erstinstanzlichen Urteil trotz entsprechenden Parteivortrags nicht festgestellt worden sind, dann bestehen Zweifel an der Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen, die das Berufungsgericht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO zu eigenen Feststellungen berechtigen und verpflichten.
III.
Nach alledem kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO), weil das Berufungsgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob und inwieweit die Voraussetzungen eines von dem Kläger an seinen erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten abgetretenen Verwendungsersatzanspruchs gemäß §§ 994, 996 BGB erfüllt sind und in welchem Umfang ein solcher Anspruch gegebenenfalls durch die von der Beklagten erklärte Hilfsaufrechnung erloschen ist. Durch die Zurückverweisung der Sache (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO) erhält das Berufungsgericht Gelegenheit, die erforderlichen Fest-
stellungen nachzuholen. Dabei kann es die Ergebnisse der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme verwerten, soweit nicht deren Wiederholung nach den von der Rechtsprechung zu §§ 398, 402 ZPO entwickelten Grundsätzen geboten ist (vgl. Senat, Urt. v. 12. März 2004, V ZR 257/03, Umdruck S. 10 m.w.N.).
Wenzel Tropf Lemke Gaier Schmidt-Räntsch
(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
(2) Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger nur unter der zusätzlichen Voraussetzung des § 286 verlangen.
(3) Schadensersatz statt der Leistung kann der Gläubiger nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 281, des § 282 oder des § 283 verlangen.
Gehört ein Anspruch zum Nachlass, so kann der Verpflichtete nur an alle Erben gemeinschaftlich leisten und jeder Miterbe nur die Leistung an alle Erben fordern. Jeder Miterbe kann verlangen, dass der Verpflichtete die zu leistende Sache für alle Erben hinterlegt oder, wenn sie sich nicht zur Hinterlegung eignet, an einen gerichtlich zu bestellenden Verwahrer abliefert.
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
Der Kläger macht gegen den Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Beschädigung eines Zaunes auf dem Grundstück einer Erbengemeinschaft geltend, welcher er angehört. Er hat dabei in erster Instanz auf Zahlung an sich selbst geklagt. Auf Seite 2 seines erstinstanzlichen Schriftsatzes vom 14. Januar 2003 hat er ausgeführt: "Eine Erbengemeinschaft ist eine BGB-Gesellschaft, also eine Personengesellschaft. Hier kann jeder Teilhaber einzeln für die gesamte Gesellschaftin Anspruch genommen werden. Umgekehrt ist dies auch so, daß jeder Teilhaber für die Gesellschaft handeln kann, besonders wenn es sich um dringende Angelegenheiten handelt. Das ist hier gegeben. Zudem bin ich als Teilhaber durch die Schädigungen mit betroffen, da auch mein Vermögensanteil beschädigt wird. Ich bin deshalb sehr wohl legitimiert, die Klage einzureichen". Das Amtsgericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 21. Januar 2003 darauf hingewiesen, daß er Leistung an alle Miterben oder Hinterlegung verlangen müsse. Als der Kläger daraufhin seinen Antrag nicht entsprechend umgestellt hat, hat das Amtsgericht die Klage abgewiesen. Gegen das klageabweisende Urteil des Amtsgerichts hat der Kläger Berufung eingelegt und in der Berufungsbegründungsschrift vom 17. April 2003 seinen Klageantrag auf Hinterlegung der Klagesumme zugunsten der Erbengemeinschaft umgestellt. Nach den Hinweisbeschlüssen des Berufungsgerichts vom 23. April 2003 und vom 19. Mai 2003, daß dies unzulässig sei, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 3. Juni 2003 angekündigt, nunmehr Antrag auf Zahlung an sich selbst und nur hilfsweise auf Hinterlegung zugunsten der Erbengemeinschaft stellen zu wollen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluß vom 4. Juni 2003 als unzulässig verworfen, weil der Kläger mit seiner Berufungsbegründung vom 17. April 2003 das Ersturteil hinsichtlich der dort ausgesprochenen Klageabweisung des von ihm persönlich geltend gemachten Anspruchs nicht angegriffen, sondern vielmehr unter Heranziehung desselben Sachverhaltes nunmehr Zahlung an die Erbengemeinschaft verlangt habe. Der Streitgegenstand der Leistungsklage sei die Frage, ob das Gericht die im Antrag bezeichnete Rechtsfolge aussprechen könne. Dadurch, daß der Kläger im Berufungsverfahren nicht mehr Zahlung an sich selbst, sondern an die Erbengemeinschaft verlangt habe, habe er die vom Gericht auszusprechende Rechts-
folge geändert und sein ursprüngliches Begehren auf Zahlung an sich selbst nicht mehr weiterverfolgt. Daher fehle es an einem rechtzeitigen Angriff gegen die Beschwer durch das Ersturteil. Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 3. Juni 2003 angekündigt habe, nunmehr Antrag auf Zahlung an sich selbst und nur hilfsweise auf Zahlung an die Erbengemeinschaft stellen zu wollen, sei die angekündigte Erweiterung des Berufungsantrages unzulässig. Zwar könne auch nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist die Erweiterung des Berufungsantrages erfolgen, dies gelte jedoch nur dann, wenn die Erweiterung des Berufungsantrages durch die Berufungsbegründung gedeckt sei. Im vorliegenden Fall beziehe sich die Berufungsbegründung gerade nicht darauf, daß der Beklagte nicht zur Zahlung an den Kläger persönlich verurteilt worden sei, sondern die Berufungsbegründung verfolge allein das Ziel, den Beklagten zur Zahlung an die Erbengemeinschaft verurteilen zu lassen. Der nunmehr angekündigte neue Antrag sei wegen Verfristung der Berufungsmöglichkeit nicht mehr zulässig. Gegen diese Beurteilung richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers, mit der er seinen Antrag auf eine sachliche Entscheidung durch das Berufungsgericht weiterverfolgt.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO) und auch im übrigen zulässig (§§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 575, 576 ZPO). Sie ist auch begründet, da das Berufungsgericht die Berufung des Klägers zu Unrecht als unzulässig verworfen hat.1. Die prozessualen Erklärungen der Parteien sind vom Revisionsgericht selbständig auszulegen (vgl. etwa BGH, Urteil vom 26. Juni 1991 - VIII ZR 231/90 - NJW 1991, 2630). Diese Auslegung ergibt im vorliegenden Fall, daß der Kläger bereits im ersten Rechtszug einen Anspruch der Erbengemeinschaft geltend gemacht hat, was sich insbesondere aus seinem Schriftsatz vom 14. Januar 2003 ergibt. Die vom Kläger darin geäußerte Rechtsauffassung ist zwar insoweit unrichtig, als er die Erbengemeinschaft als BGB-Gesellschaft bezeichnet. Entscheidend ist jedoch, daß er damit und mit dem Hinweis, "daß jeder Teilhaber für die Gesellschaft handeln kann" eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, ein Recht der Erbengemeinschaft im Prozeß geltend zu machen. Soweit der Kläger in seinen weiteren Ausführungen darauf hinweist, er sei zudem als Teilhaber durch die Schädigungen auch selbst betroffen, da auch sein Vermögensanteil beschädigt werde, so stellt dies lediglich eine laienhafte Begründung für die von ihm in Anspruch genommene Befugnis dar, das Recht der Erbengemeinschaft im eigenen Namen im Prozeß geltend zu machen, die sich jedoch bereits aus der gesetzlichen Bestimmung des § 2039 Satz 1 BGB ergibt. Ob der klagende Erbe Zahlung an sich selbst verlangen kann, ist hingegen eine Frage der materiell-rechtlichen Einziehungsbefugnis, die das Amtsgericht im vorliegenden Fall mangels Vorliegens einer entsprechenden Ermächtigung der Erbengemeinschaft verneinen durfte. 2. Soweit der Kläger seinen erstinstanzlichen Klageantrag auf Zahlung an sich selbst in seiner Berufungsbegründung umgestellt hat auf Zahlung an die Erbengemeinschaft, ist die Auffassung des Berufungsgerichts, es fehle wegen der damit verbundenen Klageänderung an einem rechtzeitigen Angriff auf die Beschwer durch das Ersturteil, von Rechtsirrtum beeinflußt. Da der Kläger nach wie vor einen Anspruch der Erbengemeinschaft geltend macht, ist der Übergang von dem ursprünglichen Antrag auf Zahlung an sich selbst, dem das Amtsgericht sachlich nicht entsprochen hat, zu einem Antrag auf Hinterlegung
zugunsten der Erbengemeinschaft keine Klageänderung, sondern lediglich eine nach § 264 Nr. 2 ZPO zulässige Beschränkung des ursprünglichen Klageantrages (vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 1989 - VII ZR 84/89 - NJW-RR 1990, 505 m.w.N.; zur Zulässigkeit nach neuem Recht, vgl. BGHZ 158, 295, 305 ff.). 3. Der Beschluß des Berufungsgerichts konnte nach alledem keinen Bestand haben. Auf die Rechtsbeschwerde war er aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, welches auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden hat.
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
BUNDESGERICHTSHOF
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2016 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Wellner und Stöhr und die Richterinnen von Pentz und Dr. Oehler
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Der Kläger macht, soweit im Revisionsverfahren von Interesse, gegen den Beklagten zu 2 (künftig: Beklagter), einen niedergelassenen Frauenarzt und Belegarzt, Ansprüche wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung im Zusammenhang mit seiner Geburt geltend. Er wirft dem Beklagten vor, in der Spätphase der Schwangerschaft der Mutter des Klägers ein HELLP-Syndrom nicht erkannt zu haben, was beim Kläger zu einer Sauerstoffunterversorgung und in der Folge zu schwersten Gesundheitsschäden geführt habe. Das Landgericht hat der Klage gegen den Beklagten überwiegend stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Antrag auf vollständige Abweisung der Klage weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
- 2
- Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage des Gutachtens des Gerichtssachverständigen und dessen Anhörung davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr wegen eines (einfachen) Befunderhebungsfehlers des Beklagten vorliegen. Der Beklagte hätte sich wegen der ihm bekannten Umstände (erhöhter Blutdruck, massives Nasenbluten und eine erhöhte Eiweißausscheidung im Urin der Mutter) nicht mit der Diagnose "leichte Blutdruckerhöhung" zufrieden geben dürfen. Vielmehr hätte er weitere Befunde erheben müssen, von denen das Blutbild mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich über 50 % Hinweise auf ein HELLP-Syndrom ergeben hätte. Danach wäre es grob fehlerhaft gewesen, die Schwangerschaft nicht sofort zu beenden. Nach dem Sachverständigengutachten wäre bei einer frühen Entbindung der Gesundheitsschaden des Klägers vermutlich verhindert worden. Dies reiche zur Bejahung der Kausalität aus, denn wahrscheinlich brauche der Eintritt eines solchen Erfolges nicht zu sein. Eine Umkehr der Beweislast sei nur ausgeschlossen , wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich sei. Auch wenn der Sachverständige in seinem Gutachten festgestellt habe, dass weitere Klarheit zur Kausalität des Befunderhebungsfehlers des Beklagten für die Gesundheitsschäden des Klägers möglicherweise durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens gewonnen werden könnte, sei die Einholung eines solchen Gutachtens nicht erforderlich. Denn eine Umkehr der Beweislast würde nur ausscheiden, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich sei. Dies werde aber vom Gerichtssachverständigen zum einen verneint , der lediglich nicht habe ausschließen können, dass der Hirnschaden möglicherweise auch postpartal verursacht worden sein könne, und zum anderen werde dies vom Beklagten auch nicht explizit behauptet. Dieser habe lediglich gerügt, dass der Anregung des Sachverständigen auf weitere Klärung, wann der Hirnschaden genau entstanden sei, nicht nachgegangen worden sei.
II.
- 3
- Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Revision rügt mit Recht, dass es das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft versäumt hat, die Kausalität des Behandlungsfehlers durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens zu klären.
- 4
- 1. Das Berufungsgericht ist im Ansatz der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats gefolgt, wonach auch ein einfacher Befunderhebungsfehler zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich dessen Kausalität für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen kann, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde und dieser Fehler generell geeignet ist, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (vgl. etwa Senatsurteile vom 2. Juli 2013 - VI ZR 554/12, VersR 2013, 1174 Rn. 11 mwN und vom 17. November 2015 - VI ZR 476/14, juris Rn. 17).
- 5
- 2. Das Berufungsgericht ist auch ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass nach den von ihm getroffenen Feststellungen die Voraussetzungen für eine solche Beweislastumkehr im Streitfall vorliegen. Es ist auf der Grundlage des Gutachtens des Gerichtssachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beklagte weitere Befunde hätte erheben müssen. Das danach zu fordernde Blutbild hätte mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich über 50 % Hinweise auf ein HELLP-Syndrom ergeben, wonach es grob fehlerhaft gewesen wäre, die Schwangerschaft nicht sofort zu beenden. Bei einer frühen Entbindung wäre der Gesundheitsschaden des Klägers vermutlich verhindert worden.
- 6
- 3. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht nicht eine "Sperrwirkung" des Diagnosefehlers für die Annahme eines Befunderhebungsfehlers verkannt. Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen - therapeutischen oder diagnostischen - Maßnahmen ergreift (vgl. Senatsurteile vom 21. Dezember 2010 - VI ZR 284/09, BGHZ 188, 28, 35 Rn. 13; vom 21. Januar 2014 - VI ZR 78/13, VersR 2014, 374 Rn. 19; vom 10. November 1987 - VI ZR 39/87, VersR 1988, 293, 294; vom 23. März 1993 - VI ZR 26/92, VersR 1993, 836, 838; vom 4. Oktober 1994 - VI ZR 205/93, VersR 1995, 46; vom 8. Juli 2003 - VI ZR 304/02, VersR 2003, 1256, 1257 und vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 7). Ein Diagnoseirrtum setzt aber voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat - er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären - dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung (vgl. Senatsurteil vom 08. Juli 2003 - VI ZR 304/02, VersR 2003, 1256, 1257; vom 3. November 1998 - VI ZR 253/97, VersR 1999, 231, 232; vom 10. November 1987 - VI ZR 39/87, VersR 1988, 293, juris Rn. 14; Bischoff, Festschrift für Geiß, 2000, S. 345 ff.).
- 7
- So liegt der Fall hier. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts hätte sich der Beklagte wegen der ihm bekannten Umstände (erhöhter Blutdruck, massives Nasenbluten und eine erhöhte Eiweißausscheidung im Urin der Mutter) nicht mit der Diagnose "leichte Blutdruckerhöhung" zufrieden geben dürfen, sondern hätte dem aufgrund der konkreten Symptome naheliegenden Verdacht auf eine Gestose mit den üblichen, dem Standard entsprechenden Befunderhebungen nachgehen müssen.
- 8
- 4. Erfolgreich rügt jedoch die Revision, dass das Berufungsgericht trotz eines entsprechenden Beweisantrags des Beklagten die Kausalität des Behandlungsfehlers nicht durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens weiter aufgeklärt hat. Der Gerichtssachverständige hat zwar, worauf sich das Berufungsgericht stützt, wegen des vorliegenden HELLPSyndroms angenommen, dass eine frühere Entbindung den Gesundheitsschaden des Klägers vermutlich verhindert hätte. Er hat aber in seinem Gutachten auch geäußert, dass weitere Klarheit zur Kausalität möglicherweise durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens gewonnen werden könnte. Dabei stand als alternative Ursache der Hirnschädigung eine Infektion im Blick, die der Kläger während seines stationären Aufenthalts in der Kinderklinik erlitten hatte, welche antibiotisch behandelt werden musste und die eben- falls zu den Gesundheitsschäden des Klägers hätte führen können. Hierauf hat sich der Beklagte gestützt und in der Berufungsinstanz gerügt, dass der Anregung des Sachverständigen auf weitere Klärung, wann der Hirnschaden genau entstanden sei, nicht nachgegangen worden sei. Das Berufungsgericht ist zwar im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass es für die Beweislastumkehr wegen des festgestellten Befunderhebungsfehlers des Klägers grundsätzlich ausreicht, dass eine frühere Beendigung der Schwangerschaft generell geeignet gewesen wäre, den Gesundheitsschaden zu verhindern. Es hat aber verkannt , dass eine Beweislastumkehr einer Partei, der sie zum Nachteil gereicht, nicht die Möglichkeit nimmt, den Beweis des Gegenteils zu führen (vgl. etwa Senatsurteil vom 13. September 2011 - VI ZR 144/10, VersR 2011, 1400 Rn. 10). Deshalb durfte das Berufungsgericht den Beweisantrag des Beklagten auf Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens zu der Behauptung , dass die Schädigung des Klägers postpartal durch eine Infektion in der Kinderklinik aufgetreten sei, nicht übergehen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bedurfte es hierzu auch keiner "expliziten" Behauptung des Klägers, nachdem der Gerichtssachverständige diese Möglichkeit offengelassen und sogar selbst angeregt hatte, weitere Klarheit durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens zu gewinnen. Dies wird das Berufungsgericht in neuer Verhandlung nachzuholen haben.
von Pentz Oehler
Vorinstanzen:
LG Kempten, Entscheidung vom 04.04.2013 - 3 O 2832/04 -
OLG München, Entscheidung vom 13.02.2014 - 24 U 1801/13 -
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Die Klägerin begehrt materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld für von ihr behauptete Folgen einer ärztlichen Behandlung in einem Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, dessen Träger der Beklagte ist.
- 2
- Die am 3. November 1965 geborene Klägerin wurde am 31. Oktober 1998 in tief somnolentem Zustand durch den Notarzt in das Klinikum L.-D. eingewiesen. Nach Durchführung einer Computertomografie und einer Liquordiagnostik wurde sie mit der Diagnose eines psychogenen bzw. depressiven Stupors am 2. November 1998 in die Einrichtung des Beklagten verlegt. Aufgrund der Unterbringungsverfügung des Ordnungsamtes wegen Eigengefährdung, bestätigt durch gerichtlichen Beschluss, befand sich die Klägerin bis 11. Dezember 1998 - zuletzt freiwillig - dort in stationärer Behandlung. In der Folgezeit durchlief sie stationäre Behandlungen in verschiedenen anderen Einrichtungen. Bei einer Untersuchung im März 1999 wurde festgestellt, dass die Klägerin am 31. Oktober 1998 einen embolischen Thalamusinfarkt erlitten hatte. Sie leidet unter bleibenden Sprachbeeinträchtigungen und Schluckstörungen , die sie auf die unzureichende ärztliche Behandlung in der Einrichtung des Beklagten zurückführt. Die Einlieferungsdiagnose sei trotz dagegen sprechender Symptome von den verantwortlichen Ärzten nicht überprüft worden. Eine mögliche frühzeitigere Behandlung des Thalamusinfarkts sei deshalb unterblieben. Dadurch habe sie irreparable Schäden erlitten. Auch sei sie ohne Grund in der psychiatrischen Einrichtung untergebracht gewesen.
- 3
- Das Landgericht hat sachverständig beraten einen groben Befunderhebungsfehler bejaht und der Klage teilweise stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Anschlussberufung der Klägerin, mit der diese Haushaltsführungsund Erwerbsschäden geltend gemacht hat, hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin das im Berufungsverfahren erweiterte Klagebegehren in vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
- 4
- Das Berufungsgericht hat ausgeführt:
- 5
- Im Hinblick auf das im Streitfall anzuwendende alte Recht komme die Zahlung von Schmerzensgeld nur auf der Grundlage eines deliktischen Anspruchs in Betracht. Ein solcher sei aber zu verneinen, weil nicht erwiesen sei, dass die Sprach- und Schluckbeeinträchtigungen der Klägerin durch eine früher einsetzende Therapie bei rechtzeitiger Feststellung des Hirninfarkts verhindert worden wären. Ein schuldhafter Diagnosefehler könne den in der Einrichtung des Beklagten tätigen Ärzten nicht vorgeworfen werden. Der Beklagte hafte auch nicht wegen eines Befunderhebungsfehlers. Soweit die behandelnden Ärzte es unterlassen hätten, die Einlieferungsdiagnose eines psychogenen Stupors kritisch zu hinterfragen und eine neurologische Ursache in Betracht zu ziehen, könne nicht mit hinreichender Sicherheit gesagt werden, dass eine frühere Therapie zu einem besseren Ergebnis geführt hätte. Der Befunderhebungsfehler als solcher sei nicht als grober Fehler zu bewerten. Eine Beweiserleichterung greife für die Klägerin deshalb nicht ein. Die Voraussetzungen für Beweiserleichterungen für die weitere Ursächlichkeit der unterlassenen Befunderhebung seien nicht gegeben. Soweit der Sachverständige Prof. K. die Auffassung vertreten habe, dass bei Durchführung einer MRT-Untersuchung der Schlaganfall im Zeitraum kurz nach dem 6. November 1998 mit hinreichender Sicherheit festgestellt worden wäre, hätten beide Sachverständige die Auffassung vertreten, dass das Fehlen der sich daran anschließenden Sprachtherapie jedenfalls nicht völlig unverständlich sei, weil man nämlich gar nicht mit hinreichender Sicherheit sagen könne, dass eine frühzeitige Therapie der Klägerin wirklich geholfen hätte. Soweit es um die fehlende Schlucktherapie gehe, habe der Sachverständige Prof. K. einen schweren Fehler lediglich vor dem Hintergrund angenommen, dass damit die Gefahr des Verschluckens - insbesondere bei älteren hilfsbedürftigen oder bettlägerigen Patienten - mit der Gefahr einer Lungenentzündung gebannt werden solle. Diese Gefahr habe sich hier nicht realisiert. Beeinträchtigungen der Klägerin durch die Unterbringungsmaßnahme als solche seien nicht feststellbar. Die Mobilisationstherapien im Rahmen der psychiatrischen Behandlung seien mit denen im Rahmen einer neurologischen vergleichbar.
II.
- 6
- Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Revision bemängelt mit Recht, dass das Berufungsgericht die rechtlichen Grundsätze für eine mögliche Beweislastumkehr für den Kausalitätszusammenhang zu Gunsten der Klägerin verkannt hat.
- 7
- 1. Bei einem einfachen Befunderhebungsfehler - wie er vom Berufungsgericht bejaht worden ist - kommt eine Beweislastumkehr auch dann in Betracht , wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte , dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (vgl. Senatsurteile vom 13. Februar 1996 - VI ZR 402/94, BGHZ 132, 47, 51 f.; vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, 56; vom 6. Oktober 1998 - VI ZR 239/97, VersR 1999, 60, 61; vom 3. November 1998 - VI ZR 253/97, VersR 1999, 231, 232 und vom 23. März 2004 - VI ZR 428/02, VersR 2004, 790, 792).
- 8
- Hingegen ist nicht Voraussetzung für die Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten, dass die Verkennung des Befundes und das Unterlassen der gebotenen Therapie völlig unverständlich sind (vgl. zur Beweislastumkehr beim groben Befunderhebungsfehler, Senatsurteil vom 29. September 2009 - VI ZR 251/08, VersR 2010, 115 Rn. 8). Auch muss der Patient nicht den Nachweis dafür erbringen, dass eine frühzeitigere Therapie das Schadensbild positiv verändert hätte. Für die Begründung einer Haftung aus schweren Behandlungsfehlern reicht es grundsätzlich aus, dass der grobe Verstoß des Arztes generell geeignet ist, den konkreten Gesundheitsschaden hervorzurufen (vgl. Senatsurteil vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, aaO, S. 54 f.). Der Wegfall der Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten käme unter Umständen nur dann in Betracht , wenn ein ursächlicher Zusammenhang völlig unwahrscheinlich ist, was freilich zur Beweislast des Arztes steht (vgl. Senatsurteil vom 28. Juni 1988 - VI ZR 217/87, VersR 1989, 80, 81).
- 9
- 2. Feststellungen dazu, ob bei Durchführung einer MRT-Untersuchung im Zeitraum kurz nach dem 6. November 1998 der Schlaganfall bei der Klägerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erkannt werden musste und sich die Verkennung eines solchen Befundes oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft dargestellt hätte, hat das Berufungsgericht bislang aufgrund der fehlerhaften Beurteilung der Voraussetzungen der Beweislastumkehr bei einem einfachen Befunderhebungsfehler nicht in zureichender Weise getroffen. Die medizinischen Sachverständigen sind nicht dazu gehört worden, wie das Nichterkennen des Schlaganfalls bei Durchführung der gebotenen Untersuchungen bei der Klägerin bzw. im Falle des Erkennens des Schlaganfalls das Unterlassen der gebotenen Therapie medizinisch zu bewerten sei. Darauf weist die Revision mit Recht hin. Auch wenn die Beurteilung eines Behandlungsgeschehens als grob fehlerhaft eine juristische ist, die dem Tatrichter obliegt, muss diese doch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können; es ist dem Tatrichter nicht gestattet, ohne entsprechende Darlegungen oder gar entgegen den medizinischen Ausführungen des Sachverständigen das Behandlungsgeschehen nur aufgrund eigener Wertung zu beurteilen (vgl. etwa Senatsurteile vom 28. Mai 2002 - VI ZR 42/01, VersR 2002, 1026, 1027; vom 3. Juli 2001 - VI ZR 418/99, VersR 2001, 1116, 1117 und vom 19. Juni 2001 - VI ZR 286/00, VersR 2001, 1115, 1116 jeweils mwN).
- 10
- 3. Das angefochtene Urteil kann danach nicht aufrechterhalten werden. Es ist aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit über die Frage der Beweislastumkehr auf der Grundlage der nachzuho- lenden erforderlichen Feststellungen erneut entschieden werden kann. Käme nach der gebotenen Aufklärung des Sachverhalts der Klägerin aufgrund eines grob fehlerhaften Behandlungsgeschehens die Beweislastumkehr zugute, hätte der Beklagte darzulegen und zu beweisen, dass die von der Klägerin geklagten Beschwerden nicht auf der unterbliebenen Behandlung in seiner Einrichtung beruhten. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Umkehr der Beweislast wegen eines groben Behandlungsfehlers grundsätzlich nur den Beweis von dessen Ursächlichkeit für den haftungsbegründenden Primärschaden umfasst, nicht hingegen die haftungsausfüllende Kausalität (vgl. Senatsurteile vom 21. Oktober 1969 - VI ZR 82/68, VersR 1969, 1148, 1149; vom 9. Mai 1978 - VI ZR 81/77, VersR 1978, 764, 765; vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228 Rn. 17 und vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 13), begegnet hingegen keinen rechtlichen Bedenken. Galke Zoll Wellner Diederichsen Stöhr
LG Paderborn, Entscheidung vom 25.06.2008 - 4 O 4/06 -
OLG Hamm, Entscheidung vom 05.03.2010 - I-26 U 147/08 -
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Die Klägerinnen sind die Töchter und Erbinnen der am 17. Oktober 2003 verstorbenen Frau K. (im Folgenden: Erblasserin). Sie nehmen die Beklagten (behandelnde Ärztin und Krankenhausträger) wegen behaupteter Befunderhebungs -, Diagnose- und Dokumentationsfehler auf Zahlung von Schmerzensgeld und materiellem Schadensersatz in Anspruch.
- 2
- Bei der Erblasserin wurde bereits mehrere Jahre vor dem 3. Februar 2002 eine Migräne diagnostiziert. Sie befand sich deshalb u.a. in Behandlung beim ehemaligen Beklagten zu 3. Wegen bereits seit mehreren Tagen andau- ernder Kopfschmerzen suchte die Erblasserin am 3. Februar 2002 den ärztlichen Notdienst auf. Wie lange die Kopfschmerzen zu diesem Zeitpunkt bereits genau andauerten, ist zwischen den Parteien streitig. Der Notarzt ordnete die Einweisung ins Krankenhaus an. Der erhobene neurologische Untersuchungsbefund war unauffällig. Es wurde dokumentiert, dass keine Hinweise auf eine fokale zerebrale Störungssymptomatik bestünden, insbesondere keine Hinweise auf eine epileptische Aktivität. Angaben zur Art und Ausprägung der Kopfschmerzen wurden nicht festgehalten. Die Beklagte zu 1 entschloss sich zu einer Gabe Aspisol (ein Aspirinmittel) und einer Gabe MCP (gegen die Übelkeit). Was danach geschah, ist zwischen den Parteien streitig. Die Verweildauer der Erblasserin nach der Injektion wurde von der Beklagten zu 1 nicht dokumentiert.
- 3
- Am 4. Februar 2002 verschlechterte sich bei der Erblasserin das Krankheitsbild mit dem Auftreten einer symptomatischen Epilepsie (generalisierter Status epilepticus); es wurde eine Hirnvenenthrombose diagnostiziert. Die Erblasserin erlitt im Rahmen des Status epilepticus eine schwere hirndiffuse Schädigung und verstarb aufgrund der mit der Hirnvenenthrombose auftretenden Komplikationen.
- 4
- Die Klägerinnen haben geltend gemacht, bei der von der Beklagten zu 1 geschilderten Symptomatik seien bereits am 3. Februar 2002 weitere diagnostische Maßnahmen erforderlich gewesen, so dass die Hirnvenenthrombose bereits rund 20 Stunden früher hätte diagnostiziert und eine gezielte Therapie (z.B.) mit Heparin hätte eingeleitet werden können. In diesem Fall wären die schwerwiegenden Folgen bei der Erblasserin nicht eingetreten.
- 5
- Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerinnen zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Klägerinnen den Klageanspruch weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
- 6
- Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass die - unstreitig - unterlassene Dokumentation der Verlaufskontrolle betreffend die Wirkung der verabreichten Medikamente einen erheblichen Dokumentationsmangel darstelle. Den Beweis, dass eine solche Kontrolle doch erfolgt sei, könnten die Beklagten nicht führen. Infolge dessen liege ein gravierender Diagnosefehler vor mit der Folge der versäumten rechtzeitigen, in den Leitlinien der neurologischen Fachgesellschaft empfohlenen Therapie. Eine Verlaufskontrolle hätte im Streitfall bei Ausbleiben eines positiven Effektes der verabreichten Schmerzmittel Anlass zu weiteren diagnostischen Maßnahmen geboten, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätten. Soweit das Verkennen des gravierenden Befundes oder die Nichtreaktion auf ihn generell geeignet erscheine, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen, trete aber - wenn nicht ein Ursachenzusammenhang zwischen dem ärztlichen Fehler und dem Schaden äußerst unwahrscheinlich sei - grundsätzlich eine Beweislastumkehr ein. Ein Fall äußerster Unwahrscheinlichkeit lasse sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststellen. Allerdings erstrecke sich die Beweislastumkehr grundsätzlich nur auf den Beweis der Ursächlichkeit des Befunderhebungsfehlers für den haftungsbegründenden Primärschaden (= nicht rechtzeitige Erkennung der Thrombose) sowie auf Sekundärschäden als typische Folge der Primärverletzung. Auf die haftungsausfüllende Kausalität, d.h. den Kausalzusammenhang zwischen körperlicher oder gesundheitlicher Primärschädigung und weiteren Gesundheits- schäden, werde die Beweislastumkehr grundsätzlich nicht ausgedehnt. Insoweit bleibe es bei der Beweislast des Patienten.
- 7
- Im Streitfall stelle sich die Abgrenzung zwischen Primär- und Sekundärschaden als schwierig dar. Denn die Hirnvenenthrombose (als solche) und die Epilepsie stünden irgendwie in einem Kontext. Andererseits sei die Epilepsie keine unmittelbare Folge des Behandlungsfehlers. Der Gerichtssachverständige habe ausgeführt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der verzögerte Beginn der Antikoagulation zu einer belegten morphologischen Schädigung am Hirn geführt habe. Er habe mehrfach davon gesprochen, dass die Erblasserin nicht an den Folgen einer Hirngewebeschädigung gestorben sei, sondern an den Folgen der Epilepsie. Die eingetretenen Folgen seien am ehesten als Folgen der Verkrampfungen zu erklären und stünden damit nur in einem Kontext mit der Hirnvenenthrombose. Wenn sich aber insoweit schon kein typischer Zusammenhang zwischen Hirnvenenthrombose und Epilepsie feststellen lasse, müsse dies erst recht gelten für den Zusammenhang zwischen dem verspäteten Beginn der Gabe von Heparin und der Epilepsie. Im Hinblick auf diesen allenfalls losen Zusammenhang könne die Epilepsie auf dem vorgenannten Strahl (Primär-, notwendiger Sekundär- und sonstiger Sekundärschaden) allenfalls als sonstiger Sekundärschaden eingeordnet werden.
- 8
- Die Klägerinnen trügen demnach weiter die Beweislast dafür, dass die Schadensfolge von den Beklagten verursacht sei. Diesen Beweis könnten sie aber, aus dem vom Sachverständigen immer wieder betonten Grund, dass es keinerlei gesicherte Erkenntnis über den therapeutischen Wert der Gabe von Heparin gebe, auch nach dem geminderten Beweismaß von § 287 ZPO nicht führen.
II.
- 9
- Die zulässige Revision hat Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Klage nicht abgewiesen werden.
- 10
- 1. Das Berufungsgericht geht ersichtlich von einem einfachen Befunderhebungsfehler - und nicht von einem Diagnosefehler aus. Es prüft, ob deshalb den Klägerinnen eine Beweislastumkehr nach Maßgabe der vom erkennenden Senat entwickelten Grundsätze zugute kommt und die Feststellung rechtfertigt, dass die von der Beklagten zu 1 unterlassene Verlaufskontrolle für den Tod der Erblasserin kausal geworden ist. Die Verneinung des Kausalzusammenhangs erweist sich auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen als rechtsfehlerhaft.
- 11
- a) Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats erfolgt bei der Unterlassung der gebotenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität, wenn bereits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstellt (vgl. Senatsurteile vom 13. Januar 1998 - VI ZR 242/96, BGHZ 138, 1, 5 f.; vom 29. September 2009 - VI ZR 251/08, VersR 2010, 115 Rn. 8; vom 13. September 2011 - VI ZR 144/10, VersR 2011, 1400 Rn. 8). Zudem kann auch eine nicht grob fehlerhafte Unterlassung der Befunderhebung dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (vgl. Senatsurteile vom 13. Februar 1996 - VI ZR 402/94, BGHZ 132, 47, 52 ff.; vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, 56; vom 23. März 2004 - VI ZR 428/02, VersR 2004, 790, 792; vom 7. Juni 2011 - VI ZR 87/10, VersR 2011, 1148 Rn. 7; vom 13. September 2011 - VI ZR 144/10, aaO). Wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolgs nicht zu sein. Eine Umkehr der Beweislast ist nur ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. Senatsurteile vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, aaO, 56 f.; vom 7. Juni 2011 - VI ZR 87/10, aaO; vom 13. September 2011 - VI ZR 144/10, aaO). Nach diesen Grundsätzen kommt eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerinnen in Betracht. Denn für die rechtliche Prüfung ist entsprechend den im Berufungsurteil festgestellten und unterstellten tatsächlichen Umständen davon auszugehen , dass bei einer Verlaufskontrolle der verordneten Medikation deren Wirkungslosigkeit festgestellt worden wäre, die sodann gebotene weitere Befunderhebung zur Feststellung der Hirnvenenthrombose am 3. Februar 2002 - statt am 4. Februar 2002 - geführt hätte und die Ärzte der Beklagten zu 2 darauf sogleich mit der Gabe von Heparin hätten reagieren müssen.
- 12
- b) Allerdings finden die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die Beweislastumkehr für den Kausalitätsbeweis bei groben Behandlungsfehlern grundsätzlich nur Anwendung, soweit durch den Fehler des Arztes unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsverletzungen (Primärschäden) in Frage stehen. Für den Kausalitätsnachweis für Folgeschäden (Sekundärschäden), die erst durch die infolge des Behandlungsfehlers eingetretene Gesundheitsverletzung entstanden sein sollen, gelten sie nur dann, wenn der Sekundärschaden eine typische Folge des Primärschadens ist. Hinsichtlich der Haftung für Schäden, die durch eine (einfach oder grob fehlerhaft ) unterlassene oder verzögerte Befunderhebung entstanden sein könnten , gilt nichts anderes (Senatsurteile vom 21. Oktober 1969 - VI ZR 82/68, VersR 1969, 1148, 1149; vom 9. Mai 1978 - VI ZR 81/77, VersR 1978, 764, 765; vom 28. Juni 1988 - VI ZR 210/87, VersR 1989, 145; vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228, 230; vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 13).
- 13
- Das Berufungsgericht meint, nach Maßgabe dieser Rechtsprechung greife im Streitfall eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerinnen nicht ein. Das ist nicht richtig.
- 14
- Der vom Berufungsgericht angenommene Sachverhalt rechtfertigt nicht die Annahme, die von der Erblasserin erlittene Epilepsie sei Teil des Sekundärschadens , auf den sich die Beweislastumkehr nicht beziehe.
- 15
- aa) Die haftungsbegründende Kausalität betrifft die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die Rechtsgutsverletzung, also für den so genannten Primärschaden des Patienten im Sinne einer Belastung seiner gesundheitlichen Befindlichkeit. Dagegen betrifft die haftungsausfüllende Kausalität den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Rechtsgutsverletzung und weiteren Gesundheitsschäden (vgl. Senatsurteil vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 9; vom 22. Mai 2012 - VI ZR 157/11, VersR 2012, 905 Rn. 10).
- 16
- bb) Rechtsgutsverletzung (Primärschaden), auf die sich die haftungsbegründende Kausalität ausrichtet, ist - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - nicht die nicht rechtzeitige Erkennung einer bereits vorhandenen behandlungsbedürftigen Gesundheitsbeeinträchtigung, hier der Hirnvenenthrombose. Die geltend gemachte Körperverletzung (Primärschaden) ist vielmehr in der durch den Behandlungsfehler herbeigeführten gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Ausprägung zu sehen (vgl. Senatsurteile vom 12. Februar 2008, aaO, Rn. 10 und vom 21. Juli 1998 - VI ZR 15/98, VersR 1998, 1153 - juris Rn. 11). Das heißt im Streitfall ist Primärschaden die gesund- heitliche Befindlichkeit der Erblasserin, die dadurch entstanden ist, dass am 3. Februar 2002 die klinische Verlaufskontrolle und - in der Folge dieses Umstandes - weitere Untersuchungen und die Behandlung der dann entdeckten Hirnvenenthrombose bereits an diesem Tage unterblieben. Zu dieser gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Ausprägung gehörte auch ein dadurch etwa geschaffenes oder erhöhtes Risiko der Erblasserin, eine Epilepsie - und dies mit tödlichen Folgen - zu erleiden.
- 17
- 2. Das Berufungsgericht hat unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt Feststellungen nicht getroffen.
- 18
- Daher ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats erneut prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr aufgrund der getroffenen oder zusätzlich, evtl. aufgrund weiterer Beweiserhebung, zu treffender Feststellungen zu bejahen sind. Dabei werden auch die im Revisionsverfahren vorgetragenen Gesichts- punkte, insbesondere auch die Gegenrügen der Revisionserwiderung, zu erwägen sein. Galke Zoll Diederichsen Pauge von Pentz
LG Dessau-Roßlau, Entscheidung vom 27.07.2010 - 4 O 233/09 -
OLG Naumburg, Entscheidung vom 15.12.2011 - 1 U 75/10 -
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
- 1
- 1. Der Kläger war seit Anfang 2004 wegen Beschwerden der Lendenwirbelsäule arbeitsunfähig. Er wurde zunächst ambulant und im Jahr 2005 zweimal operativ behandelt. Wegen fortbestehender chronischer Beschwerden wurde ihm im Februar 2006 auf Vorschlag des Beklagten, eines Facharztes für Neurochirurgie , eine so genannte "Schmerzpumpe" implantiert, mit deren Hilfe das Schmerzmittel über einen Katheter direkt in den Wirbelkanal eingebracht wird.
- 2
- Der Kläger begehrt Ersatz materiellen und immateriellen Schadens. Das Landgericht hat der Klage nach Einholung eines Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr. V. durch Grund- und Teilurteil zunächst überwiegend stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht dieses Urteil aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Dieses hat nach weiterer Beweiserhebung durch Einholung schriftlicher und jeweils mündlich erläuterter Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. B. und Prof. Dr. Z. die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Sachverständigen Prof. Dr. B. und Prof. Dr. Z. ergänzend mündlich angehört. Mit dem angefochtenen Urteil hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Er möchte sein Begehren mit der Revision in vollem Umfang weiterverfolgen.
- 3
- 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht seine Auffassung begründet hat, ein Ursachenzusammenhang zwischen der von dem Kläger geltend gemachten fehlerhaften Verwendung des Kontrastmittels Ultravist 300 und der eingetretenen Querschnittlähmung sei nicht nachgewiesen, halten der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand und verletzen den Kläger in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.
- 4
- a) Ohne Erfolg wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde allerdings dagegen, dass das Berufungsgericht seiner Beweiswürdigung hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs das Beweismaß des § 286 ZPO zugrunde gelegt hat.
- 5
- aa) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass grundsätzlich der Patient den Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem geltend gemachten Gesundheitsschaden nachzuweisen hat. Dabei ist zwischen der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden. Erstere betrifft die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die Rechtsgutverletzung als solche, also für den Primärschaden des Patienten im Sinne einer Belastung seiner gesundheitlichen Befindlichkeit. Insoweit gilt das strenge Beweismaß des § 286 ZPO, das einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit verlangt. Die Feststellung der haftungsausfüllenden Kausalität und damit der Ursächlichkeit der Rechtsgutverletzung für alle weiteren (Folge-)Schäden richtet sich hingegen nach § 287 ZPO; hier kann zur Überzeugungsbildung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen (vgl. Senatsurteile vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 9 mwN; vom 22. Mai 2012 - VI ZR 157/11, VersR 2012, 905 Rn. 10 mwN; vom 2. Juli 2013 - VI ZR 554/12, VersR 2013, 1174 Rn. 15 und vom 5. November 2013 - VI ZR 527/12, juris Rn. 13; näher Senatsurteile vom 24. Juni 1986 - VI ZR 21/85, VersR 1986, 1121, 1122 f.; vom 4. November 2003 - VI ZR 28/03, VersR 2004, 118, 119 f.; siehe auch Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht , 6. Aufl., Rn. B 189 ff.; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 626 ff.).
- 6
- bb) Rechtsgutsverletzung (Primärschaden), auf die sich die haftungsbegründende Kausalität ausrichtet, ist - entgegen der Auffassung der Nichtzulassungsbeschwerde - nicht die bloße Einbringung des Kontrastmittels Ultravist 300 in den Katheter und der nachfolgende Austritt des Kontrastmittels in den Spinalraum. Die geltend gemachte Körperverletzung (Primärschaden) ist vielmehr in der durch den behaupteten Behandlungsfehler herbeigeführten gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Ausprägung zu sehen (vgl. Senatsurteile vom 12. Februar 2008, aaO, Rn. 10; vom 21. Juli 1998 - VI ZR 15/98, VersR 1998, 1153 - juris Rn. 11 und vom 2. Juli 2013 - VI ZR 554/12, aaO Rn. 16). Das heißt im Streitfall ist Primärschaden die nach Behauptung des Klägers durch die fehlerhafte Verwendung des Kontrastmittels Ultravist 300 eingetretene Querschnittlähmung.
- 7
- b) Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich jedoch mit Erfolg gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts.
- 8
- aa) Allerdings ist die Würdigung der Beweise grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr. vgl. z.B. Senatsurteile vom 1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96, VersR 1997, 362, 364, vom 8. Juli 2008 - VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126 Rn. 7 und vom 16. April 2013 - VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rn. 13; BGH, Urteil vom 5. Oktober 2004 - XI ZR 210/03, BGHZ 160, 308, 317 mwN).
- 9
- bb) Zutreffend macht die Nichtzulassungsbeschwerde geltend, dass das Berufungsgericht den Prozessstoff nicht vollständig hinsichtlich aller für die Überzeugungsbildung heranzuziehenden Aspekte gewürdigt hat. Insbesondere hat es nicht hinreichend berücksichtigt, dass die in erster Instanz zunächst beauftragte gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. V., gegen deren Sachkunde das Berufungsgericht keine durchgreifenden Bedenken gesehen hat, gewichtige Anhaltspunkte dargelegt hat, die dafür sprechen könnten, entgegen der Einschätzung des Gutachters Prof. Dr. B. eine Ursächlichkeit der Verwendung des Kontrastmittels Ultravist 300 für die eingetretene Querschnittlähmung doch näher in Betracht zu ziehen.
- 10
- Die Sachverständige Prof. Dr. V. hat bei ihrer Beurteilung nicht nur den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Kontrastmitteluntersuchung und dem ersten Auftreten der Dysästhesien als auffällig bewertet, sondern die vorliegende Brückensymptomatik als typisch für den Zusammenhang zwischen der Kontrastmittelgabe und der Lähmung bezeichnet. Dies ergebe sich daraus, dass der Kläger zunächst etwa vier Stunden beschwerdefrei gewesen und dann die Lähmung fortschreitend eingetreten sei. Wären die Lähmungserscheinungen hingegen erst drei oder mehrere Tage später aufgetreten, käme auch eine andere Ursache in Betracht. Insbesondere hat die Sachverständige hervorgehoben , dass der Liquorbefund vom 21. September 2006 keinen Hinweis auf eine bakterielle Entzündung gebe. Der festgestellte Laktatwert passe vielmehr zu der angenommenen Rückenreizung. Für einen bakteriologischen Befund würde sie zudem eine deutliche Erhöhung der Zellzahlen im Liquor erwarten, wie sie in dem - knapp vier Wochen später - in H. entnommenen Liquor festgestellt worden sei. Daran fehle es jedoch bei dem zeitnah zum Beginn der Lähmungserscheinungen in N. entnommenen Liquor.
- 11
- Diese für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs durchaus beachtenswerten Darlegungen der erstinstanzlich vor Erlass des ersten landgerichtlichen Urteils beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. V. hat das Berufungsgericht bei seiner Beweiswürdigung nicht hinreichend berücksichtigt. Es wägt sehr sorgfältig die in den entscheidenden Fragen voneinander abweichenden Beurteilungen der von ihm ausführlich persönlich angehörten Gutachter Prof. Dr. B. und Prof. Dr. Z. gegeneinander ab, ohne dabei jedoch auch die nicht zu vernachlässigende Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr. V. in den Blick zu nehmen, wie es eine umfassende Würdigung des Prozessstoffs verlangt hätte. Das Berufungsgericht hat wohl auch nicht hinreichend bedacht, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden ihr günstigen Umstände regelmäßig zumindest hilfsweise zu Eigen macht (vgl. Senatsurteil vom 8. Januar 1991 - VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468 mit Anm. Jaeger ; Senatsbeschlüsse vom 10. November 2009 - VI ZR 325/08, VersR 2010, 497 Rn. 5 und vom 4. Dezember 2012 - VI ZR 320/11, juris Rn. 4). Auch deshalb hätte es auf die von der Einschätzung des Gutachters Prof. Dr. B. abweichende , dem Kläger günstigere Beurteilung der Sachverständigen Prof. Dr. V. näher eingehen und deren Bewertung in die Gesamtbetrachtung des möglichen Geschehensablaufs einbeziehen müssen. Die Nichtberücksichtigung des für den Kläger günstigen Beweisergebnisses der ersten Begutachtung bedeutet für die Beweiswürdigung, dass erhebliches Vorbringen des Klägers im Ergebnis übergangen und damit dessen verfassungsrechtlich gewährleisteter Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden ist.
- 12
- 3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung der Darlegungen der Sachverständigen Prof. Dr. V. zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird bei erneuter Befassung Gelegenheit haben, auch das weitere wechselseitige Vorbringen der Parteien in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen. Galke Diederichsen Pauge von Pentz Offenloch
LG Verden, Entscheidung vom 26.10.2012 - 5 O 212/09 -
OLG Celle, Entscheidung vom 01.07.2013 - 1 U 91/12 -
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Die Klägerinnen sind die Töchter und Erbinnen der am 17. Oktober 2003 verstorbenen Frau K. (im Folgenden: Erblasserin). Sie nehmen die Beklagten (behandelnde Ärztin und Krankenhausträger) wegen behaupteter Befunderhebungs -, Diagnose- und Dokumentationsfehler auf Zahlung von Schmerzensgeld und materiellem Schadensersatz in Anspruch.
- 2
- Bei der Erblasserin wurde bereits mehrere Jahre vor dem 3. Februar 2002 eine Migräne diagnostiziert. Sie befand sich deshalb u.a. in Behandlung beim ehemaligen Beklagten zu 3. Wegen bereits seit mehreren Tagen andau- ernder Kopfschmerzen suchte die Erblasserin am 3. Februar 2002 den ärztlichen Notdienst auf. Wie lange die Kopfschmerzen zu diesem Zeitpunkt bereits genau andauerten, ist zwischen den Parteien streitig. Der Notarzt ordnete die Einweisung ins Krankenhaus an. Der erhobene neurologische Untersuchungsbefund war unauffällig. Es wurde dokumentiert, dass keine Hinweise auf eine fokale zerebrale Störungssymptomatik bestünden, insbesondere keine Hinweise auf eine epileptische Aktivität. Angaben zur Art und Ausprägung der Kopfschmerzen wurden nicht festgehalten. Die Beklagte zu 1 entschloss sich zu einer Gabe Aspisol (ein Aspirinmittel) und einer Gabe MCP (gegen die Übelkeit). Was danach geschah, ist zwischen den Parteien streitig. Die Verweildauer der Erblasserin nach der Injektion wurde von der Beklagten zu 1 nicht dokumentiert.
- 3
- Am 4. Februar 2002 verschlechterte sich bei der Erblasserin das Krankheitsbild mit dem Auftreten einer symptomatischen Epilepsie (generalisierter Status epilepticus); es wurde eine Hirnvenenthrombose diagnostiziert. Die Erblasserin erlitt im Rahmen des Status epilepticus eine schwere hirndiffuse Schädigung und verstarb aufgrund der mit der Hirnvenenthrombose auftretenden Komplikationen.
- 4
- Die Klägerinnen haben geltend gemacht, bei der von der Beklagten zu 1 geschilderten Symptomatik seien bereits am 3. Februar 2002 weitere diagnostische Maßnahmen erforderlich gewesen, so dass die Hirnvenenthrombose bereits rund 20 Stunden früher hätte diagnostiziert und eine gezielte Therapie (z.B.) mit Heparin hätte eingeleitet werden können. In diesem Fall wären die schwerwiegenden Folgen bei der Erblasserin nicht eingetreten.
- 5
- Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerinnen zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Klägerinnen den Klageanspruch weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
- 6
- Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass die - unstreitig - unterlassene Dokumentation der Verlaufskontrolle betreffend die Wirkung der verabreichten Medikamente einen erheblichen Dokumentationsmangel darstelle. Den Beweis, dass eine solche Kontrolle doch erfolgt sei, könnten die Beklagten nicht führen. Infolge dessen liege ein gravierender Diagnosefehler vor mit der Folge der versäumten rechtzeitigen, in den Leitlinien der neurologischen Fachgesellschaft empfohlenen Therapie. Eine Verlaufskontrolle hätte im Streitfall bei Ausbleiben eines positiven Effektes der verabreichten Schmerzmittel Anlass zu weiteren diagnostischen Maßnahmen geboten, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätten. Soweit das Verkennen des gravierenden Befundes oder die Nichtreaktion auf ihn generell geeignet erscheine, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen, trete aber - wenn nicht ein Ursachenzusammenhang zwischen dem ärztlichen Fehler und dem Schaden äußerst unwahrscheinlich sei - grundsätzlich eine Beweislastumkehr ein. Ein Fall äußerster Unwahrscheinlichkeit lasse sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststellen. Allerdings erstrecke sich die Beweislastumkehr grundsätzlich nur auf den Beweis der Ursächlichkeit des Befunderhebungsfehlers für den haftungsbegründenden Primärschaden (= nicht rechtzeitige Erkennung der Thrombose) sowie auf Sekundärschäden als typische Folge der Primärverletzung. Auf die haftungsausfüllende Kausalität, d.h. den Kausalzusammenhang zwischen körperlicher oder gesundheitlicher Primärschädigung und weiteren Gesundheits- schäden, werde die Beweislastumkehr grundsätzlich nicht ausgedehnt. Insoweit bleibe es bei der Beweislast des Patienten.
- 7
- Im Streitfall stelle sich die Abgrenzung zwischen Primär- und Sekundärschaden als schwierig dar. Denn die Hirnvenenthrombose (als solche) und die Epilepsie stünden irgendwie in einem Kontext. Andererseits sei die Epilepsie keine unmittelbare Folge des Behandlungsfehlers. Der Gerichtssachverständige habe ausgeführt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der verzögerte Beginn der Antikoagulation zu einer belegten morphologischen Schädigung am Hirn geführt habe. Er habe mehrfach davon gesprochen, dass die Erblasserin nicht an den Folgen einer Hirngewebeschädigung gestorben sei, sondern an den Folgen der Epilepsie. Die eingetretenen Folgen seien am ehesten als Folgen der Verkrampfungen zu erklären und stünden damit nur in einem Kontext mit der Hirnvenenthrombose. Wenn sich aber insoweit schon kein typischer Zusammenhang zwischen Hirnvenenthrombose und Epilepsie feststellen lasse, müsse dies erst recht gelten für den Zusammenhang zwischen dem verspäteten Beginn der Gabe von Heparin und der Epilepsie. Im Hinblick auf diesen allenfalls losen Zusammenhang könne die Epilepsie auf dem vorgenannten Strahl (Primär-, notwendiger Sekundär- und sonstiger Sekundärschaden) allenfalls als sonstiger Sekundärschaden eingeordnet werden.
- 8
- Die Klägerinnen trügen demnach weiter die Beweislast dafür, dass die Schadensfolge von den Beklagten verursacht sei. Diesen Beweis könnten sie aber, aus dem vom Sachverständigen immer wieder betonten Grund, dass es keinerlei gesicherte Erkenntnis über den therapeutischen Wert der Gabe von Heparin gebe, auch nach dem geminderten Beweismaß von § 287 ZPO nicht führen.
II.
- 9
- Die zulässige Revision hat Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Klage nicht abgewiesen werden.
- 10
- 1. Das Berufungsgericht geht ersichtlich von einem einfachen Befunderhebungsfehler - und nicht von einem Diagnosefehler aus. Es prüft, ob deshalb den Klägerinnen eine Beweislastumkehr nach Maßgabe der vom erkennenden Senat entwickelten Grundsätze zugute kommt und die Feststellung rechtfertigt, dass die von der Beklagten zu 1 unterlassene Verlaufskontrolle für den Tod der Erblasserin kausal geworden ist. Die Verneinung des Kausalzusammenhangs erweist sich auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen als rechtsfehlerhaft.
- 11
- a) Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats erfolgt bei der Unterlassung der gebotenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität, wenn bereits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstellt (vgl. Senatsurteile vom 13. Januar 1998 - VI ZR 242/96, BGHZ 138, 1, 5 f.; vom 29. September 2009 - VI ZR 251/08, VersR 2010, 115 Rn. 8; vom 13. September 2011 - VI ZR 144/10, VersR 2011, 1400 Rn. 8). Zudem kann auch eine nicht grob fehlerhafte Unterlassung der Befunderhebung dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (vgl. Senatsurteile vom 13. Februar 1996 - VI ZR 402/94, BGHZ 132, 47, 52 ff.; vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, 56; vom 23. März 2004 - VI ZR 428/02, VersR 2004, 790, 792; vom 7. Juni 2011 - VI ZR 87/10, VersR 2011, 1148 Rn. 7; vom 13. September 2011 - VI ZR 144/10, aaO). Wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolgs nicht zu sein. Eine Umkehr der Beweislast ist nur ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. Senatsurteile vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, aaO, 56 f.; vom 7. Juni 2011 - VI ZR 87/10, aaO; vom 13. September 2011 - VI ZR 144/10, aaO). Nach diesen Grundsätzen kommt eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerinnen in Betracht. Denn für die rechtliche Prüfung ist entsprechend den im Berufungsurteil festgestellten und unterstellten tatsächlichen Umständen davon auszugehen , dass bei einer Verlaufskontrolle der verordneten Medikation deren Wirkungslosigkeit festgestellt worden wäre, die sodann gebotene weitere Befunderhebung zur Feststellung der Hirnvenenthrombose am 3. Februar 2002 - statt am 4. Februar 2002 - geführt hätte und die Ärzte der Beklagten zu 2 darauf sogleich mit der Gabe von Heparin hätten reagieren müssen.
- 12
- b) Allerdings finden die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die Beweislastumkehr für den Kausalitätsbeweis bei groben Behandlungsfehlern grundsätzlich nur Anwendung, soweit durch den Fehler des Arztes unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsverletzungen (Primärschäden) in Frage stehen. Für den Kausalitätsnachweis für Folgeschäden (Sekundärschäden), die erst durch die infolge des Behandlungsfehlers eingetretene Gesundheitsverletzung entstanden sein sollen, gelten sie nur dann, wenn der Sekundärschaden eine typische Folge des Primärschadens ist. Hinsichtlich der Haftung für Schäden, die durch eine (einfach oder grob fehlerhaft ) unterlassene oder verzögerte Befunderhebung entstanden sein könnten , gilt nichts anderes (Senatsurteile vom 21. Oktober 1969 - VI ZR 82/68, VersR 1969, 1148, 1149; vom 9. Mai 1978 - VI ZR 81/77, VersR 1978, 764, 765; vom 28. Juni 1988 - VI ZR 210/87, VersR 1989, 145; vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228, 230; vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 13).
- 13
- Das Berufungsgericht meint, nach Maßgabe dieser Rechtsprechung greife im Streitfall eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerinnen nicht ein. Das ist nicht richtig.
- 14
- Der vom Berufungsgericht angenommene Sachverhalt rechtfertigt nicht die Annahme, die von der Erblasserin erlittene Epilepsie sei Teil des Sekundärschadens , auf den sich die Beweislastumkehr nicht beziehe.
- 15
- aa) Die haftungsbegründende Kausalität betrifft die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die Rechtsgutsverletzung, also für den so genannten Primärschaden des Patienten im Sinne einer Belastung seiner gesundheitlichen Befindlichkeit. Dagegen betrifft die haftungsausfüllende Kausalität den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Rechtsgutsverletzung und weiteren Gesundheitsschäden (vgl. Senatsurteil vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 9; vom 22. Mai 2012 - VI ZR 157/11, VersR 2012, 905 Rn. 10).
- 16
- bb) Rechtsgutsverletzung (Primärschaden), auf die sich die haftungsbegründende Kausalität ausrichtet, ist - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - nicht die nicht rechtzeitige Erkennung einer bereits vorhandenen behandlungsbedürftigen Gesundheitsbeeinträchtigung, hier der Hirnvenenthrombose. Die geltend gemachte Körperverletzung (Primärschaden) ist vielmehr in der durch den Behandlungsfehler herbeigeführten gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Ausprägung zu sehen (vgl. Senatsurteile vom 12. Februar 2008, aaO, Rn. 10 und vom 21. Juli 1998 - VI ZR 15/98, VersR 1998, 1153 - juris Rn. 11). Das heißt im Streitfall ist Primärschaden die gesund- heitliche Befindlichkeit der Erblasserin, die dadurch entstanden ist, dass am 3. Februar 2002 die klinische Verlaufskontrolle und - in der Folge dieses Umstandes - weitere Untersuchungen und die Behandlung der dann entdeckten Hirnvenenthrombose bereits an diesem Tage unterblieben. Zu dieser gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Ausprägung gehörte auch ein dadurch etwa geschaffenes oder erhöhtes Risiko der Erblasserin, eine Epilepsie - und dies mit tödlichen Folgen - zu erleiden.
- 17
- 2. Das Berufungsgericht hat unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt Feststellungen nicht getroffen.
- 18
- Daher ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats erneut prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr aufgrund der getroffenen oder zusätzlich, evtl. aufgrund weiterer Beweiserhebung, zu treffender Feststellungen zu bejahen sind. Dabei werden auch die im Revisionsverfahren vorgetragenen Gesichts- punkte, insbesondere auch die Gegenrügen der Revisionserwiderung, zu erwägen sein. Galke Zoll Diederichsen Pauge von Pentz
LG Dessau-Roßlau, Entscheidung vom 27.07.2010 - 4 O 233/09 -
OLG Naumburg, Entscheidung vom 15.12.2011 - 1 U 75/10 -
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Tatbestand:
- 1
- Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
- 2
- Am 15. Dezember 2004 wurden bei der Klägerin im Rahmen einer Koloskopie ein ca. 5 cm großer Tumor am Übergang zum Sigma sowie weiter pro- ximal ein kleiner gestielter Polyp festgestellt. Der Polyp wurde abgetragen. Von dem Tumor wurden Proben entnommen. Ausweislich des histopathologischen Befundberichts vom 17. Dezember 2004 wiesen die entnommenen Proben Anteile eines invasiven, mäßig differenzierten Adenokarzinoms auf. Am 17. Januar 2005 nahm der Beklagte zu 2 in dem von der Beklagten zu 1 betriebenen Klinikum bei der Klägerin eine Rektumresektion vor. Er entfernte die Basis des bei der Koloskopie abgetragenen Polypen, nicht hingegen den tiefer gelegenen Tumor. Nachdem im Rahmen einer Kontrollendoskopie vom 19. Oktober 2005 festgestellt worden war, dass der Tumor nicht entfernt worden war, unterzog sich die Klägerin am 28. Oktober 2005 einem erneuten Eingriff im Klinikum G., bei dem der vom Tumor betroffene Darmabschnitt entfernt und ein künstlicher Darmausgang gelegt wurde. In der Folge stellte sich eine Wundheilungsstörung im Bereich der Bauchdecke sowie eine Anastomoseinsuffizienz im Bereich der Darmnaht ein. Der weitere Heilungsverlauf war äußerst komplikationsbehaftet.
- 3
- Mit der Klage hat die Klägerin die Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 50.000 € sowie Ersatz materiellen Schadens in Höhe von 25.193,03 € verlangt. Das Landgericht hat der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000 € zuerkannt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil teilweise abgeändert und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 € sowie materiellen Schadensersatz in Höhe von 14.369,52 € zu zahlen. Es hat darüber hinaus festgestellt , dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus und in Zusammenhang mit ihrer Behandlung im Krankenhaus der Beklagten zu 1 noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind oder übergehen werden. Die weitergehende Berufung hat es zurückgewiesen. Mit der vom Oberlandesge- richt zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Zurückweisung der Berufung weiter. Die Klägerin erstrebt mit ihrer Anschlussrevision eine Verurteilung der Beklagten zur Zahlung weiterer 3.231,83 €.
Entscheidungsgründe:
I.
- 4
- Das Berufungsgericht, dessen Urteil in VersR 2011, 1012 veröffentlicht ist, hat aufgrund der Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen, dass die Beklagten den Operationsauftrag grob fehlerhaft nicht ausgeführt hätten. Es sei schlichtweg unverständlich, dass sich der Beklagte zu 2 vor Durchführung der Operation nicht vergewissert habe, welche Darmteile zu entfernen seien. Wenn der Beklagte zu 2 nicht nur die Basis des Polypen, sondern auch den Tumor entfernt hätte, wäre der zweite Eingriff nicht erforderlich geworden. Der zweite Eingriff stelle den Primärschaden dar. Die eingetretene Nahtinsuffizienz und die sich daraus ergebenden Komplikationen seien kausal auf die Nachoperation zurückzuführen und deshalb als Sekundärschäden zu bewerten. Entgegen der Auffassung des Landgerichts sei der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler, der Nachoperation und den infolge der Nachoperation eingetretenen Komplikationen nicht zu verneinen. Zwar habe sich bei dem zweiten Eingriff ein operationsimmanentes Risiko verwirklicht, das durch den vorangegangenen fehlerhaft durchgeführten Eingriff nicht erhöht worden sei. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe die Erstoperation kein erhöhtes Nahtinsuffizienzrisiko bei der Nachoperation bewirkt. Dieser Umstand führe aber nicht zu einer Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs. Denn die im Streitfall eingetretenen Schäden fielen nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm. Die Beklagten hätten durch die Verlet- zung ihrer Verpflichtung, den bei der Klägerin festgestellten Tumor zu entfernen , die Notwendigkeit einer Nachoperation herbeigeführt und die Klägerin damit dem Risiko des Eintritts operationsimmanenter Risiken durch eine zweite Operation ausgesetzt. Es sei völlig offen, ob sich die Risiken auch bei der ersten Operation verwirklicht hätten. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass die Nachoperation in derselben Körperregion mit gleicher Schnittführung - auch wenn sie das Risiko einer Nahtinsuffizienz nicht erhöht habe - nach den Ausführungen des Sachverständigen grundsätzlich risikobehafteter als ein Ersteingriff gewesen sei. Das Ergebnis sei nicht unbillig, da die Beklagten die Gefahr der Risikoverwirklichung herbeigeführt hätten und ihnen der Nachweis offenstehe, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Diesen Nachweis hätten sie allerdings nicht erbracht. Die Klägerin könne daher ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 40.000 € beanspruchen.
- 5
- Darüber hinaus sei ihr ein Haushaltsführungsschaden in Höhe von 13.207,02 € zuzusprechen. Zur Bemessung des Schadens könne auf die Berechnungstabellen von Schulz-Borck, 6. Aufl., zurückgegriffen werden. Sie böten eine ausreichende Grundlage, um den Arbeitsaufwand für die Haushaltsführung nach § 287 ZPO zu schätzen. Für den Haushalt der Klägerin sei Anspruchsstufe 3 (43 Wochenstunden) anzusetzen. Allerdings sei hinsichtlich des Umfangs der Gartenarbeiten ein Zuschlag von 0,3 Stunden pro Quadratmeter, d.h. von 1,15 Wochenstunden zu machen. Gemäß Tabelle 8 liege der Anteil der Klägerin an der Haushaltsführung bei 62,3 %, so dass von einem Arbeitsaufwand von 27,4 Wochenstunden für die volle Haushaltsführung und 18,4 Wochenstunden für die reduzierte Haushaltsführung auszugehen sei. Die Zeiten für die reduzierte Haushaltsführung ergäben sich aus den von der Klägerin angegebenen und durch Vorlage der Auszüge aus den Krankenakten belegten stationären Aufenthalten in den Kliniken. Von dem danach errechneten Haushaltsführungsschaden sei der hypothetische Haushaltsführungsschaden abzu- ziehen, der bei einer ordnungsgemäßen ersten Operation entstanden wäre. Der Senat gehe in ständiger Rechtsprechung von einem Stundensatz in Höhe von 8,50 € aus.
II.
- 6
- Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision, nicht hingegen denen der Anschlussrevision stand.
- 7
- 1. Die zulässige Revision der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Klägerin von den Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung Ersatz der ihr infolge der Nachoperation entstandenen materiellen und immateriellen Schäden verlangen kann (§ 280 Abs. 1, §§ 278, 823 Abs. 1, §§ 831, 253 Abs. 2 BGB).
- 8
- a) Die Revision wendet sich nicht gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts , den Beklagten sei ein (grober) Behandlungsfehler vorzuwerfen, weil der bei der Beklagten zu 1 beschäftigte Beklagte zu 2 im Rahmen der von ihm durchgeführten Rektumresektion den vom Tumor betroffenen Darmabschnitt der Klägerin nicht mit entfernt hat. Die Revision stellt auch die Annahme des Berufungsgerichts nicht in Frage, dass sich die Klägerin aufgrund dieses Behandlungsfehlers einem zusätzlichen Eingriff unterziehen musste, der ihr bei korrektem medizinischem Vorgehen erspart geblieben wäre. Diese Erwägungen des Berufungsgerichts lassen Rechtsfehler nicht erkennen.
- 9
- b) Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts , die Einstandspflicht der Beklagten beschränke sich nicht auf die unmittelbar mit dem Zweiteingriff verbundenen gesundheitlichen Belastungen der Klägerin, sondern umfasse auch die im Zusammenhang mit diesem Eingriff aufgetretenen Komplikationen (Nahtinsuffizienz, Fistelbildung, misslungene Stomarückverlagerung). Die Revision macht in diesem Zusammenhang ohne Erfolg geltend, es fehle an dem erforderlichen Kausal- und am Zurechnungszusammenhang , weil die Erstoperation mangels Erhöhung des Risikos einer Nahtinsuffizienz keinen primären Schaden hervorgerufen habe; die im Streitfall eingetretenen Komplikationen hätten schon bei der ersten Operation eintreten können.
- 10
- aa) Bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs ist zwischen der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden. Die haftungsbegründende Kausalität betrifft den Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und der Rechtsgutsverletzung, d.h. dem ersten Verletzungserfolg im Sinne einer Belastung der gesundheitlichen Befindlichkeit des Patienten (Primärschaden). Hingegen bezieht sich die haftungsausfüllende Kausalität auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Rechtsgutsverletzung und weiteren Gesundheitsschäden des Patienten (vgl. Senatsurteile vom 24. Juni 1986 - VI ZR 21/85, VersR 1986, 1121, 1122 f.; vom 21. Juli 1998 - VI ZR 15/98, VersR 1998, 1153, 1154; vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228, 230; vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 10, 13).
- 11
- bb) Das Berufungsgericht hat den haftungsbegründenden Primärschaden zu Recht in den unmittelbar mit dem Zweiteingriff verbundenen gesundheitlichen Belastungen der Klägerin (Bauchschnitt, Darmresektion mit der Notwendigkeit des Legens weiterer Anastomosen) gesehen und die in der Folgezeit eingetretenen Komplikationen (Nahtinsuffizienz, Fistelbildung, misslungene Stomarückverlagerung) der haftungsausfüllenden Kausalität zugeordnet. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wären diese Folgeschäden in ihrer konkreten Ausprägung ohne den zweiten Eingriff nicht eingetreten. Seine Beur- teilung, die Folgeschäden seien adäquat kausal auf die Primärschädigung zurückzuführen , begegnet keinen Bedenken.
- 12
- cc) Der Umstand, dass bei korrektem medizinischen Vorgehen, d.h. bei Entfernung des vom Tumor betroffenen Darmabschnitts der Klägerin bereits im Rahmen des ersten Eingriffs, möglicherweise ebenfalls eine Nahtinsuffizienz mit vergleichbaren Folgen aufgetreten wäre, stellt die haftungsausfüllende Kausalität nicht in Frage. Ob und welche Risiken sich im Falle der Vornahme nur eines Eingriffs realisiert hätten, betrifft nicht die Kausalität der tatsächlich durchgeführten Behandlung für den eingetretenen Schaden, sondern einen hypothetischen Kausalverlauf bei rechtmäßigem Alternativverhalten, für den der Beklagte beweispflichtig ist (vgl. Senatsurteile vom 15. März 2005 - VI ZR 313/03, VersR 2005, 836, 837; vom 9. Dezember 2008 - VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 11 mwN). Steht - wie hier - fest, dass ein Arzt dem Patienten durch fehlerhaftes und rechtswidriges Handeln einen Schaden zugefügt hat, so muss der Arzt beweisen, dass der Patient den gleichen Schaden auch bei rechtmäßigem und fehlerfreiem ärztlichem Handeln erlitten hätte (vgl. Senat, Urteil vom 5. April 2005 - VI ZR 216/03, VersR 2005, 942 mwN; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., Rn. B 230, C 151 mwN). Dass das Berufungsgericht diesen den Beklagten obliegenden Nachweis als nicht geführt angesehen hat, weil es völlig offen ist, ob sich die Risiken auch bei Entfernung des Tumors im Rahmen der ersten Operation verwirklicht hätten, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
- 13
- dd) Entgegen der Auffassung der Revision ist der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang zwischen der vom Beklagten zu 2 verursachten Rechtsgutsverletzung und den von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsschäden auch nicht aufgrund des Schutzzwecks der haftungsbegründenden Norm zu verneinen.
- 14
- (1) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist es anerkannt, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt wird. Eine Haftung besteht nur für diejenigen äquivalenten und adäquaten Schadensfolgen, die aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen oder die verletzte Vertragspflicht übernommen wurde (vgl. BGH, Urteile vom 11. Juni 2010 - V ZR 85/09, NJW 2010, 2873 Rn. 24; vom 11. Januar 2005 - X ZR 163/02, NJW 2005, 1420 f.; Palandt/ Grüneberg, BGB, 71. Aufl., vor § 249 Rn. 29 f. mwN). Der geltend gemachte Schaden muss in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen; ein "äußerlicher", gleichsam "zufälliger" Zusammenhang genügt nicht. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten (vgl. Senatsurteile vom 20. September 1988 - VI ZR 37/88, VersR 1988, 1273, 1274; vom 6. Mai 2003 - VI ZR 259/02, VersR 2003, 1128, 1130; BGH, Urteil vom 14. März 1985 - IX ZR 26/84, NJW 1986, 1329, 1332, jeweils mwN).
- 15
- (2) Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn nach einem Behandlungsfehler durch den erstbehandelnden Arzt Folgeschäden aus einer Behandlung durch einen nachbehandelnden Arzt zu beurteilen sind. In solchen Fällen kann es an dem erforderlichen inneren Zusammenhang fehlen, wenn das Schadensrisiko der Erstbehandlung im Zeitpunkt der Weiterbehandlung schon gänzlich abgeklungen war, sich der Behandlungsfehler des Erstbehandelnden auf den weiteren Krankheitsverlauf also nicht mehr ausgewirkt hat (vgl. Senatsurteile vom 28. Januar 1986 - VI ZR 83/85, VersR 1986, 601, 602; vom 20. September 1988 - VI ZR 37/88, aaO; Frahm/Nixdorf/Walter, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Rn. 73). Gleiches gilt, wenn es um die Behandlung einer Krankheit geht, die mit dem Anlass für die Erstbehandlung in keiner Beziehung steht, oder wenn der die Zweitschädigung herbeiführende Arzt in außergewöhnlich hohem Maße die an ein gewissenhaftes ärztliches Verhalten zu stellenden Anforderungen außer Acht gelassen und derart gegen alle ärztlichen Regeln und Erfahrungen versto- ßen hat, dass der eingetretene Schaden seinem Handeln haftungsrechtlichwertend allein zugeordnet werden muss (Senatsurteile vom 20. September 1988 - VI ZR 37/88, aaO; vom 6. Mai 2003 - VI ZR 259/02, aaO).
- 16
- (3) Nach diesen Grundsätzen kommt eine Begrenzung der Einstandspflicht der Beklagten aufgrund des Schutzzwecks der Norm nicht in Betracht. Die im Streitfall eingetretenen Schäden fallen nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm. Die die Beklagten treffende Verpflichtung zu einer den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechenden Versorgung der Klägerin diente u.a. dem Zweck, sie vor einem an sich nicht erforderlichen Zweiteingriff und den damit einhergehenden Folgen zu bewahren. Die von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsschäden stehen auch in einem inneren Zusammenhang mit der durch die Beklagten geschaffenen Gefahrenlage. Der den Beklagten vorzuwerfende Behandlungsfehler hat den weiteren Krankheitsverlauf entscheidend geprägt, zumal den nachbehandelnden Ärzten nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kein Behandlungsfehler vorzuwerfen ist. Durch den Behandlungsfehler des Beklagten zu 2 ist die Nachoperation der Klägerin veranlasst worden. Die Klägerin musste sich nur deshalb einer zweiten Darmoperation unterziehen, weil dieser im Rahmen der von ihm vorgenommenen Darmresektion den von dem Tumor betroffenen Darmabschnitt (grob) fehlerhaft nicht mit entfernt hatte. Die eingetretenen Folgeschäden beruhen auf diesem zusätzlichen Eingriff, der der Klägerin bei korrektem medizinischem Vorgehen erspart geblieben wäre.
- 17
- 2. Die Anschlussrevision der Klägerin ist zulässig.
- 18
- a) Es kann offenbleiben, ob das Berufungsgericht die Zulassung der Revision trotz der insoweit uneingeschränkten Fassung des Urteilstenors nur zugunsten der Beklagten ausgesprochen oder - wie die Revision meint - auf den Grund des Anspruchs beschränkt hat (vgl. zum Grundurteil über die haftungsausfüllende Kausalität: BGH, Urteil vom 26. September 1996 - VII ZR 142/95, NJW-RR 1997, 188). Denn gemäß § 554 Abs. 2 Satz 1 ZPO in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887) setzt die Statthaftigkeit der Anschließung abweichend von dem bis dahin geltenden Recht nicht mehr voraus, dass auch für den Anschlussrevisionskläger die Revision zugelassen worden ist. Daher kann eine Anschlussrevision bei beschränkter Zulassung der Revision auch dann wirksam eingelegt werden, wenn die Anschlussrevision nicht den Streitstoff betrifft, auf den sich die Zulassung bezieht (vgl. BGH, Urteile vom 24. Juni 2003 - KZR 32/02, NJW 2003, 2525; vom 26. Juli 2004 - VIII ZR 281/03, NJW 2004, 3174, 3176; vom 22. November 2007 - I ZR 74/05, BGHZ 174, 244 Rn. 39).
- 19
- b) Auch nach neuem Recht erfordert die Statthaftigkeit der Anschließung allerdings, dass zwischen dem Streitgegenstand der Anschlussrevision und dem der Revision ein rechtlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang besteht (BGH, Urteil vom 22. November 2007 - I ZR 74/05, aaO Rn. 40). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt. Revision und Anschlussrevision betreffen jedenfalls zum Teil denselben Anspruch, nämlich die Forderung der Klägerin auf Ersatz des ihr entstandenen Haushaltsführungsschadens, der ihr infolge der im Zusammenhang mit dem Zweiteingriff aufgetretenen Komplikationen (Nahtinsuffizienz , Fistelbildung, misslungene Stomarückverlagerung) entstanden ist.
- 20
- 3. Die Anschlussrevision hat auch in der Sache Erfolg. Sie wendet sich mit Erfolg gegen die Schätzung des der Klägerin schadensbedingt entstandenen Haushaltsführungsschadens.
- 21
- a) Die Anschlussrevision beanstandet allerdings nicht, dass sich das Berufungsgericht bei der Bemessung des der Klägerin entstandenen Haushalts- führungsschadens an dem Tabellenwerk von Schulz-Borck (Schadenersatz bei Ausfall von Hausfrauen und Müttern im Haushalt, 6. Aufl.) orientiert hat. Die Anschlussrevision nimmt auch hin, dass das Berufungsgericht den objektiv erforderlichen Zeitaufwand für die Aufrechterhaltung der Haushaltsführung nach dem bisherigen Standard auf dieser Grundlage auf 1.553,76 Stunden geschätzt hat. Die diesbezüglichen Erwägungen des Berufungsgerichts lassen Rechtsfehler nicht erkennen (vgl. zur Berücksichtigung anerkannter Tabellenwerke bei der Schätzung: Senatsurteil vom 3. Februar 2009 - VI ZR 183/08, VersR 2009, 515).
- 22
- b) Die Anschlussrevision beanstandet aber mit Erfolg, dass das Berufungsgericht bei der Berechnung des Haushaltsführungsschadens die Vergütung einer fiktiven Ersatzkraft mit 8,50 € pro Stunde bemessen hat.
- 23
- aa) Zwar ist die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs in erster Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Sie ist revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat (vgl. Senatsurteile vom 3. Februar 2009 - VI ZR 183/08, VersR 2009, 515 Rn. 5; vom 12. Juli 2011 - VI ZR 214/10, AfP 2011, 362 Rn. 15; vom 27. März 2012 - VI ZR 40/10, juris Rn. 6). Zur Ermöglichung der Überprüfung muss der Tatrichter aber die tatsächlichen Grundlagen der Schätzung und ihrer Auswertung darlegen (BGH, Urteile vom 30. April 1952 - III ZR 198/51, BGHZ 6, 62, 63; vom 26. März 2003 - XII ZR 167/01, NJW-RR 2003, 873, 874; Musielak/Foerste, ZPO, 9. Aufl., § 287 Rn. 10).
- 24
- bb) Hieran fehlt es vorliegend. Das Berufungsgericht hat die Höhe der Vergütung einer fiktiven Ersatzkraft pauschal auf 8,50 € pro Stunde geschätzt.
Stöhr von Pentz
Vorinstanzen:
LG München I, Entscheidung vom 22.03.2010 - 9 O 11012/09 -
OLG München, Entscheidung vom 21.04.2011 - 1 U 2363/10 -
BUNDESGERICHTSHOF
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2016 durch die Richter Wellner und Offenloch und die Richterinnen Dr. Oehler, Dr. Roloff und Müller
für Recht erkannt:
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges , an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Die Kläger nehmen die Beklagte aus ererbtem Recht ihrer Tochter J. im Wege der offenen Teilklage auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 € sowie auf Schadensersatz, Feststellung und Ersatz vorgerichtlicher Kosten in Anspruch.
- 2
- Bei der am 3. April 2001 geborenen und am 24. Mai 2013 während des Rechtsstreits verstorbenen J. wurde noch im Jahr ihrer Geburt ein gutartiger Hirntumor festgestellt. Dieser wurde in der Neurochirurgischen Klinik der Beklagten operiert, konnte aber nicht vollständig entfernt werden. Postoperativ verblieb eine Hemiparese rechts. Nachdem sich J. zunächst gut entwickelt hatte , stellte sich am 19. September 2002 heraus, dass die zystischen Tumoranteile stark zugenommen hatten. Die Kläger holten Rat bei den Direktoren der Neurochirurgischen Kliniken der Universitäten Würzburg und Heidelberg ein. Beide hielten die weitreichende Entfernung des Tumors nicht für einen gangbaren Weg. Sie rieten, lediglich eine eventuelle Fensterung (Drainierung) der Zyste beim Voroperateur in Mainz durchführen zu lassen.
- 3
- Am 21. November 2002 kam es im Klinikum der Beklagten zu einer zweiten Operation durch den zwischenzeitlich verstorbenen Operateur. Der Operateur setzte sich über die von den Klägern erklärte Einwilligung, die nur die Fensterung der Zyste betraf, hinweg und beabsichtigte, den Tumor soweit wie möglich oder gar vollständig zu entfernen. Ein Operationsbericht existiert nicht. Der Tumor wurde vollständig entfernt. J. erlitt durch die Operation schwere Nervenund Gefäßverletzungen und litt bis zu ihrem Tod unter einer schweren Tetraplegie mit fast vollständiger Lähmung, Fehlstellungen der Hand- und Fußgelenke und einer Schluckstörung. Sie war blind und konnte nicht sprechen.
- 4
- Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil des Landgerichts dahin geändert, dass die Beklagte unter Aufrechterhaltung der Verurteilung zu Schadensersatz und Feststellung und unter Abweisung der Klage im Übrigen zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 50.000 € und entsprechend geringerer vorge- richtlicher Kosten verurteilt wurde. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Ansprüche weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
- 5
- Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - soweit hier noch erheblich - ausgeführt, das Fehlen der elterlichen Einwilligung habe die Tumorresektion rechtswidrig gemacht, sei aber noch nicht ohne weiteres haftungsbegründend. Einstandspflichtig habe die Beklagte nur werden können, wenn der Eingriff für die geltend gemachten Schäden kausal geworden sei. Mit dieser Frage habe sich das Landgericht nicht befasst. Sie müsse nach der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme differenziert beantwortet werden. Die Sachverständige habe mitgeteilt, die tiefgreifende apallische Schädigung habe auf der Tumorresektion beruht. Das begründe aber keine umfassende Verantwortlichkeit der Beklagten. Deren Inanspruchnahme sei nur insoweit möglich, als die Schädigung über die Beeinträchtigungen hinausreiche, die ohne die Resektion vorgelegen hätten. Diese Beeinträchtigungen beschränkten sich nicht auf die bereits präoperativ vorhandene Hemiparese, sondern erstreckten sich auch auf die Folgen, die eingetreten wären, wenn der Tumor nicht abgetragen worden wäre.
- 6
- Insoweit lasse sich freilich keine Gewissheit erlangen. Nach den Darlegungen der Sachverständigen seien nur Spekulationen möglich. Die dabei vorhandenen Unsicherheiten wirkten sich zu Lasten der beweispflichtigen Kläger aus. Deren Annahme, die Beweislast liege bei der Beklagten, weil der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens im Raum stehe, treffe nicht zu. Es obliege den Klägern darzutun und zu beweisen, dass die Resektion condicio sine qua non für die geltend gemachten Schäden gewesen sei. Von daher sei der tatsächlichen, von Erblindung und Lähmung gekennzeichneten Schädigung eine Entwicklung gegenüberzustellen, wie sie die Sachverständige für den un- günstigsten, nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließenden Fall beschrieben habe. Insofern müsse man davon ausgehen, dass es lediglich zu einer Verzögerung im Schadensverlauf gekommen wäre. Der Tumor wäre weiter gewachsen und hätte bereits nach wenigen Jahren die schwerwiegenden und letztlich letalen Folgen hervorgerufen, die Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits seien.
- 7
- Die Unsicherheit in der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs würde sich nur dann nicht auswirken, wenn es zu einem groben operativen Fehler gekommen wäre. Davon könne nicht ausgegangen werden.
- 8
- Die beschränkte Zurechenbarkeit der postoperativen Schädigung ziehe der immateriellen Einstandspflicht der Beklagten deutliche Grenzen. Der nach Zeit und Umfang begrenzte Schaden, den die Beklagte unter differenzhypothetischen Gesichtspunkten zu ersetzen habe, rechtfertige lediglich ein Schmer- zensgeld in Höhe von 50.000 €.
II.
- 9
- Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
- 10
- 1. Unbegründet ist allerdings die gegen die Erwägungen des Berufungsgerichts zum Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers gerichtete Verfahrensrüge der Revision. Von einer näheren Begründung hierzu wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
- 11
- 2. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann ein über die zuer- kannten 50.000 € hinausgehender Schmerzensgeldanspruch nicht verneint werden, § 823 Abs. 1, § 253 Abs. 2 BGB.
- 12
- a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Entfernung des Tumors rechtswidrig, nämlich ohne die erforderliche Einwilligung der Kläger erfolgt. Das Berufungsgericht hat ferner festgestellt, dass die postoperativ feststellbare apallische Schädigung der Tochter der Kläger kausal auf der Tumorresektion beruhte.
- 13
- b) Unter diesen Umständen durfte das Berufungsgericht die Kläger nicht für verpflichtet halten, zudem darzulegen und zu beweisen, dass die geltend gemachten Schäden - die Operation hinweggedacht - nicht ohnehin aufgrund der Grunderkrankung ihrer Tochter eingetreten wären.
- 14
- aa) Hat eine rechtswidrig ausgeführte Operation zu einer Gesundheitsbeschädigung des Patienten geführt, so ist es Sache des beklagten Arztes zu beweisen, dass der Patient ohne den rechtswidrig ausgeführten Eingriff dieselben Beschwerden haben würde, weil sich das Grundleiden in mindestens ähnlicher Weise ausgewirkt haben würde (Senat, Urteile vom 13. Januar 1987 - VI ZR 82/86, VersR 1987, 667, 668; vom 5. April 2005 - VI ZR 216/03, VersR 2005, 942; vgl. auch Senat, Urteile vom 7. Oktober 1980 - VI ZR 176/79, BGHZ 78, 209, 214; vom 6. Dezember 1988 - VI ZR 132/88, BGHZ 106, 153, 156). Dies entspricht dem allgemeinen Grundsatz, wonach der Schädiger zu beweisen hat, dass sich ein hypothetischer Kausalverlauf bzw. eine Reserveursache ebenso ausgewirkt haben würde, wie der tatsächliche Geschehensablauf (Senat , Urteil vom 5. April 2005, aaO).
- 15
- bb) Das hat das Berufungsgericht verkannt. Rechtsfehlerhaft hat es den Klägern den Beweis dafür auferlegt, dass eine Fensterung der Zyste nicht zu denselben Beeinträchtigungen geführt hätte, wie die tatsächlich durchgeführte rechtswidrige Operation. Richtigerweise trägt insoweit die Beklagte die Darlegungs - und Beweislast.
- 16
- c) Auf die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe es zu Unrecht abgelehnt, den Klägern im Hinblick auf das Fehlen des Operationsberichts Beweiserleichterungen zuzubilligen, kommt es wegen der die Beklagte treffenden Beweislast nicht mehr an.
III.
- 17
- Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben, sondern ist aufzuheben und mangels Entscheidungsreife zur neuen Verhandlung und Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes und der geltend gemachten Nebenansprüche an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Wellner Offenloch Oehler Roloff Müller
LG Mainz, Entscheidung vom 04.06.2013 - 2 O 8/11 -
OLG Koblenz, Entscheidung vom 22.10.2014 - 5 U 806/13 -
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Tatbestand:
- 1
- Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
- 2
- Am 15. Dezember 2004 wurden bei der Klägerin im Rahmen einer Koloskopie ein ca. 5 cm großer Tumor am Übergang zum Sigma sowie weiter pro- ximal ein kleiner gestielter Polyp festgestellt. Der Polyp wurde abgetragen. Von dem Tumor wurden Proben entnommen. Ausweislich des histopathologischen Befundberichts vom 17. Dezember 2004 wiesen die entnommenen Proben Anteile eines invasiven, mäßig differenzierten Adenokarzinoms auf. Am 17. Januar 2005 nahm der Beklagte zu 2 in dem von der Beklagten zu 1 betriebenen Klinikum bei der Klägerin eine Rektumresektion vor. Er entfernte die Basis des bei der Koloskopie abgetragenen Polypen, nicht hingegen den tiefer gelegenen Tumor. Nachdem im Rahmen einer Kontrollendoskopie vom 19. Oktober 2005 festgestellt worden war, dass der Tumor nicht entfernt worden war, unterzog sich die Klägerin am 28. Oktober 2005 einem erneuten Eingriff im Klinikum G., bei dem der vom Tumor betroffene Darmabschnitt entfernt und ein künstlicher Darmausgang gelegt wurde. In der Folge stellte sich eine Wundheilungsstörung im Bereich der Bauchdecke sowie eine Anastomoseinsuffizienz im Bereich der Darmnaht ein. Der weitere Heilungsverlauf war äußerst komplikationsbehaftet.
- 3
- Mit der Klage hat die Klägerin die Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 50.000 € sowie Ersatz materiellen Schadens in Höhe von 25.193,03 € verlangt. Das Landgericht hat der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000 € zuerkannt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil teilweise abgeändert und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 € sowie materiellen Schadensersatz in Höhe von 14.369,52 € zu zahlen. Es hat darüber hinaus festgestellt , dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus und in Zusammenhang mit ihrer Behandlung im Krankenhaus der Beklagten zu 1 noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind oder übergehen werden. Die weitergehende Berufung hat es zurückgewiesen. Mit der vom Oberlandesge- richt zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Zurückweisung der Berufung weiter. Die Klägerin erstrebt mit ihrer Anschlussrevision eine Verurteilung der Beklagten zur Zahlung weiterer 3.231,83 €.
Entscheidungsgründe:
I.
- 4
- Das Berufungsgericht, dessen Urteil in VersR 2011, 1012 veröffentlicht ist, hat aufgrund der Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen, dass die Beklagten den Operationsauftrag grob fehlerhaft nicht ausgeführt hätten. Es sei schlichtweg unverständlich, dass sich der Beklagte zu 2 vor Durchführung der Operation nicht vergewissert habe, welche Darmteile zu entfernen seien. Wenn der Beklagte zu 2 nicht nur die Basis des Polypen, sondern auch den Tumor entfernt hätte, wäre der zweite Eingriff nicht erforderlich geworden. Der zweite Eingriff stelle den Primärschaden dar. Die eingetretene Nahtinsuffizienz und die sich daraus ergebenden Komplikationen seien kausal auf die Nachoperation zurückzuführen und deshalb als Sekundärschäden zu bewerten. Entgegen der Auffassung des Landgerichts sei der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler, der Nachoperation und den infolge der Nachoperation eingetretenen Komplikationen nicht zu verneinen. Zwar habe sich bei dem zweiten Eingriff ein operationsimmanentes Risiko verwirklicht, das durch den vorangegangenen fehlerhaft durchgeführten Eingriff nicht erhöht worden sei. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe die Erstoperation kein erhöhtes Nahtinsuffizienzrisiko bei der Nachoperation bewirkt. Dieser Umstand führe aber nicht zu einer Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs. Denn die im Streitfall eingetretenen Schäden fielen nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm. Die Beklagten hätten durch die Verlet- zung ihrer Verpflichtung, den bei der Klägerin festgestellten Tumor zu entfernen , die Notwendigkeit einer Nachoperation herbeigeführt und die Klägerin damit dem Risiko des Eintritts operationsimmanenter Risiken durch eine zweite Operation ausgesetzt. Es sei völlig offen, ob sich die Risiken auch bei der ersten Operation verwirklicht hätten. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass die Nachoperation in derselben Körperregion mit gleicher Schnittführung - auch wenn sie das Risiko einer Nahtinsuffizienz nicht erhöht habe - nach den Ausführungen des Sachverständigen grundsätzlich risikobehafteter als ein Ersteingriff gewesen sei. Das Ergebnis sei nicht unbillig, da die Beklagten die Gefahr der Risikoverwirklichung herbeigeführt hätten und ihnen der Nachweis offenstehe, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Diesen Nachweis hätten sie allerdings nicht erbracht. Die Klägerin könne daher ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 40.000 € beanspruchen.
- 5
- Darüber hinaus sei ihr ein Haushaltsführungsschaden in Höhe von 13.207,02 € zuzusprechen. Zur Bemessung des Schadens könne auf die Berechnungstabellen von Schulz-Borck, 6. Aufl., zurückgegriffen werden. Sie böten eine ausreichende Grundlage, um den Arbeitsaufwand für die Haushaltsführung nach § 287 ZPO zu schätzen. Für den Haushalt der Klägerin sei Anspruchsstufe 3 (43 Wochenstunden) anzusetzen. Allerdings sei hinsichtlich des Umfangs der Gartenarbeiten ein Zuschlag von 0,3 Stunden pro Quadratmeter, d.h. von 1,15 Wochenstunden zu machen. Gemäß Tabelle 8 liege der Anteil der Klägerin an der Haushaltsführung bei 62,3 %, so dass von einem Arbeitsaufwand von 27,4 Wochenstunden für die volle Haushaltsführung und 18,4 Wochenstunden für die reduzierte Haushaltsführung auszugehen sei. Die Zeiten für die reduzierte Haushaltsführung ergäben sich aus den von der Klägerin angegebenen und durch Vorlage der Auszüge aus den Krankenakten belegten stationären Aufenthalten in den Kliniken. Von dem danach errechneten Haushaltsführungsschaden sei der hypothetische Haushaltsführungsschaden abzu- ziehen, der bei einer ordnungsgemäßen ersten Operation entstanden wäre. Der Senat gehe in ständiger Rechtsprechung von einem Stundensatz in Höhe von 8,50 € aus.
II.
- 6
- Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision, nicht hingegen denen der Anschlussrevision stand.
- 7
- 1. Die zulässige Revision der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Klägerin von den Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung Ersatz der ihr infolge der Nachoperation entstandenen materiellen und immateriellen Schäden verlangen kann (§ 280 Abs. 1, §§ 278, 823 Abs. 1, §§ 831, 253 Abs. 2 BGB).
- 8
- a) Die Revision wendet sich nicht gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts , den Beklagten sei ein (grober) Behandlungsfehler vorzuwerfen, weil der bei der Beklagten zu 1 beschäftigte Beklagte zu 2 im Rahmen der von ihm durchgeführten Rektumresektion den vom Tumor betroffenen Darmabschnitt der Klägerin nicht mit entfernt hat. Die Revision stellt auch die Annahme des Berufungsgerichts nicht in Frage, dass sich die Klägerin aufgrund dieses Behandlungsfehlers einem zusätzlichen Eingriff unterziehen musste, der ihr bei korrektem medizinischem Vorgehen erspart geblieben wäre. Diese Erwägungen des Berufungsgerichts lassen Rechtsfehler nicht erkennen.
- 9
- b) Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts , die Einstandspflicht der Beklagten beschränke sich nicht auf die unmittelbar mit dem Zweiteingriff verbundenen gesundheitlichen Belastungen der Klägerin, sondern umfasse auch die im Zusammenhang mit diesem Eingriff aufgetretenen Komplikationen (Nahtinsuffizienz, Fistelbildung, misslungene Stomarückverlagerung). Die Revision macht in diesem Zusammenhang ohne Erfolg geltend, es fehle an dem erforderlichen Kausal- und am Zurechnungszusammenhang , weil die Erstoperation mangels Erhöhung des Risikos einer Nahtinsuffizienz keinen primären Schaden hervorgerufen habe; die im Streitfall eingetretenen Komplikationen hätten schon bei der ersten Operation eintreten können.
- 10
- aa) Bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs ist zwischen der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden. Die haftungsbegründende Kausalität betrifft den Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und der Rechtsgutsverletzung, d.h. dem ersten Verletzungserfolg im Sinne einer Belastung der gesundheitlichen Befindlichkeit des Patienten (Primärschaden). Hingegen bezieht sich die haftungsausfüllende Kausalität auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Rechtsgutsverletzung und weiteren Gesundheitsschäden des Patienten (vgl. Senatsurteile vom 24. Juni 1986 - VI ZR 21/85, VersR 1986, 1121, 1122 f.; vom 21. Juli 1998 - VI ZR 15/98, VersR 1998, 1153, 1154; vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228, 230; vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 10, 13).
- 11
- bb) Das Berufungsgericht hat den haftungsbegründenden Primärschaden zu Recht in den unmittelbar mit dem Zweiteingriff verbundenen gesundheitlichen Belastungen der Klägerin (Bauchschnitt, Darmresektion mit der Notwendigkeit des Legens weiterer Anastomosen) gesehen und die in der Folgezeit eingetretenen Komplikationen (Nahtinsuffizienz, Fistelbildung, misslungene Stomarückverlagerung) der haftungsausfüllenden Kausalität zugeordnet. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wären diese Folgeschäden in ihrer konkreten Ausprägung ohne den zweiten Eingriff nicht eingetreten. Seine Beur- teilung, die Folgeschäden seien adäquat kausal auf die Primärschädigung zurückzuführen , begegnet keinen Bedenken.
- 12
- cc) Der Umstand, dass bei korrektem medizinischen Vorgehen, d.h. bei Entfernung des vom Tumor betroffenen Darmabschnitts der Klägerin bereits im Rahmen des ersten Eingriffs, möglicherweise ebenfalls eine Nahtinsuffizienz mit vergleichbaren Folgen aufgetreten wäre, stellt die haftungsausfüllende Kausalität nicht in Frage. Ob und welche Risiken sich im Falle der Vornahme nur eines Eingriffs realisiert hätten, betrifft nicht die Kausalität der tatsächlich durchgeführten Behandlung für den eingetretenen Schaden, sondern einen hypothetischen Kausalverlauf bei rechtmäßigem Alternativverhalten, für den der Beklagte beweispflichtig ist (vgl. Senatsurteile vom 15. März 2005 - VI ZR 313/03, VersR 2005, 836, 837; vom 9. Dezember 2008 - VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 11 mwN). Steht - wie hier - fest, dass ein Arzt dem Patienten durch fehlerhaftes und rechtswidriges Handeln einen Schaden zugefügt hat, so muss der Arzt beweisen, dass der Patient den gleichen Schaden auch bei rechtmäßigem und fehlerfreiem ärztlichem Handeln erlitten hätte (vgl. Senat, Urteil vom 5. April 2005 - VI ZR 216/03, VersR 2005, 942 mwN; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., Rn. B 230, C 151 mwN). Dass das Berufungsgericht diesen den Beklagten obliegenden Nachweis als nicht geführt angesehen hat, weil es völlig offen ist, ob sich die Risiken auch bei Entfernung des Tumors im Rahmen der ersten Operation verwirklicht hätten, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
- 13
- dd) Entgegen der Auffassung der Revision ist der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang zwischen der vom Beklagten zu 2 verursachten Rechtsgutsverletzung und den von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsschäden auch nicht aufgrund des Schutzzwecks der haftungsbegründenden Norm zu verneinen.
- 14
- (1) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist es anerkannt, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt wird. Eine Haftung besteht nur für diejenigen äquivalenten und adäquaten Schadensfolgen, die aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen oder die verletzte Vertragspflicht übernommen wurde (vgl. BGH, Urteile vom 11. Juni 2010 - V ZR 85/09, NJW 2010, 2873 Rn. 24; vom 11. Januar 2005 - X ZR 163/02, NJW 2005, 1420 f.; Palandt/ Grüneberg, BGB, 71. Aufl., vor § 249 Rn. 29 f. mwN). Der geltend gemachte Schaden muss in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen; ein "äußerlicher", gleichsam "zufälliger" Zusammenhang genügt nicht. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten (vgl. Senatsurteile vom 20. September 1988 - VI ZR 37/88, VersR 1988, 1273, 1274; vom 6. Mai 2003 - VI ZR 259/02, VersR 2003, 1128, 1130; BGH, Urteil vom 14. März 1985 - IX ZR 26/84, NJW 1986, 1329, 1332, jeweils mwN).
- 15
- (2) Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn nach einem Behandlungsfehler durch den erstbehandelnden Arzt Folgeschäden aus einer Behandlung durch einen nachbehandelnden Arzt zu beurteilen sind. In solchen Fällen kann es an dem erforderlichen inneren Zusammenhang fehlen, wenn das Schadensrisiko der Erstbehandlung im Zeitpunkt der Weiterbehandlung schon gänzlich abgeklungen war, sich der Behandlungsfehler des Erstbehandelnden auf den weiteren Krankheitsverlauf also nicht mehr ausgewirkt hat (vgl. Senatsurteile vom 28. Januar 1986 - VI ZR 83/85, VersR 1986, 601, 602; vom 20. September 1988 - VI ZR 37/88, aaO; Frahm/Nixdorf/Walter, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Rn. 73). Gleiches gilt, wenn es um die Behandlung einer Krankheit geht, die mit dem Anlass für die Erstbehandlung in keiner Beziehung steht, oder wenn der die Zweitschädigung herbeiführende Arzt in außergewöhnlich hohem Maße die an ein gewissenhaftes ärztliches Verhalten zu stellenden Anforderungen außer Acht gelassen und derart gegen alle ärztlichen Regeln und Erfahrungen versto- ßen hat, dass der eingetretene Schaden seinem Handeln haftungsrechtlichwertend allein zugeordnet werden muss (Senatsurteile vom 20. September 1988 - VI ZR 37/88, aaO; vom 6. Mai 2003 - VI ZR 259/02, aaO).
- 16
- (3) Nach diesen Grundsätzen kommt eine Begrenzung der Einstandspflicht der Beklagten aufgrund des Schutzzwecks der Norm nicht in Betracht. Die im Streitfall eingetretenen Schäden fallen nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm. Die die Beklagten treffende Verpflichtung zu einer den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechenden Versorgung der Klägerin diente u.a. dem Zweck, sie vor einem an sich nicht erforderlichen Zweiteingriff und den damit einhergehenden Folgen zu bewahren. Die von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsschäden stehen auch in einem inneren Zusammenhang mit der durch die Beklagten geschaffenen Gefahrenlage. Der den Beklagten vorzuwerfende Behandlungsfehler hat den weiteren Krankheitsverlauf entscheidend geprägt, zumal den nachbehandelnden Ärzten nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kein Behandlungsfehler vorzuwerfen ist. Durch den Behandlungsfehler des Beklagten zu 2 ist die Nachoperation der Klägerin veranlasst worden. Die Klägerin musste sich nur deshalb einer zweiten Darmoperation unterziehen, weil dieser im Rahmen der von ihm vorgenommenen Darmresektion den von dem Tumor betroffenen Darmabschnitt (grob) fehlerhaft nicht mit entfernt hatte. Die eingetretenen Folgeschäden beruhen auf diesem zusätzlichen Eingriff, der der Klägerin bei korrektem medizinischem Vorgehen erspart geblieben wäre.
- 17
- 2. Die Anschlussrevision der Klägerin ist zulässig.
- 18
- a) Es kann offenbleiben, ob das Berufungsgericht die Zulassung der Revision trotz der insoweit uneingeschränkten Fassung des Urteilstenors nur zugunsten der Beklagten ausgesprochen oder - wie die Revision meint - auf den Grund des Anspruchs beschränkt hat (vgl. zum Grundurteil über die haftungsausfüllende Kausalität: BGH, Urteil vom 26. September 1996 - VII ZR 142/95, NJW-RR 1997, 188). Denn gemäß § 554 Abs. 2 Satz 1 ZPO in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887) setzt die Statthaftigkeit der Anschließung abweichend von dem bis dahin geltenden Recht nicht mehr voraus, dass auch für den Anschlussrevisionskläger die Revision zugelassen worden ist. Daher kann eine Anschlussrevision bei beschränkter Zulassung der Revision auch dann wirksam eingelegt werden, wenn die Anschlussrevision nicht den Streitstoff betrifft, auf den sich die Zulassung bezieht (vgl. BGH, Urteile vom 24. Juni 2003 - KZR 32/02, NJW 2003, 2525; vom 26. Juli 2004 - VIII ZR 281/03, NJW 2004, 3174, 3176; vom 22. November 2007 - I ZR 74/05, BGHZ 174, 244 Rn. 39).
- 19
- b) Auch nach neuem Recht erfordert die Statthaftigkeit der Anschließung allerdings, dass zwischen dem Streitgegenstand der Anschlussrevision und dem der Revision ein rechtlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang besteht (BGH, Urteil vom 22. November 2007 - I ZR 74/05, aaO Rn. 40). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt. Revision und Anschlussrevision betreffen jedenfalls zum Teil denselben Anspruch, nämlich die Forderung der Klägerin auf Ersatz des ihr entstandenen Haushaltsführungsschadens, der ihr infolge der im Zusammenhang mit dem Zweiteingriff aufgetretenen Komplikationen (Nahtinsuffizienz , Fistelbildung, misslungene Stomarückverlagerung) entstanden ist.
- 20
- 3. Die Anschlussrevision hat auch in der Sache Erfolg. Sie wendet sich mit Erfolg gegen die Schätzung des der Klägerin schadensbedingt entstandenen Haushaltsführungsschadens.
- 21
- a) Die Anschlussrevision beanstandet allerdings nicht, dass sich das Berufungsgericht bei der Bemessung des der Klägerin entstandenen Haushalts- führungsschadens an dem Tabellenwerk von Schulz-Borck (Schadenersatz bei Ausfall von Hausfrauen und Müttern im Haushalt, 6. Aufl.) orientiert hat. Die Anschlussrevision nimmt auch hin, dass das Berufungsgericht den objektiv erforderlichen Zeitaufwand für die Aufrechterhaltung der Haushaltsführung nach dem bisherigen Standard auf dieser Grundlage auf 1.553,76 Stunden geschätzt hat. Die diesbezüglichen Erwägungen des Berufungsgerichts lassen Rechtsfehler nicht erkennen (vgl. zur Berücksichtigung anerkannter Tabellenwerke bei der Schätzung: Senatsurteil vom 3. Februar 2009 - VI ZR 183/08, VersR 2009, 515).
- 22
- b) Die Anschlussrevision beanstandet aber mit Erfolg, dass das Berufungsgericht bei der Berechnung des Haushaltsführungsschadens die Vergütung einer fiktiven Ersatzkraft mit 8,50 € pro Stunde bemessen hat.
- 23
- aa) Zwar ist die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs in erster Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Sie ist revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat (vgl. Senatsurteile vom 3. Februar 2009 - VI ZR 183/08, VersR 2009, 515 Rn. 5; vom 12. Juli 2011 - VI ZR 214/10, AfP 2011, 362 Rn. 15; vom 27. März 2012 - VI ZR 40/10, juris Rn. 6). Zur Ermöglichung der Überprüfung muss der Tatrichter aber die tatsächlichen Grundlagen der Schätzung und ihrer Auswertung darlegen (BGH, Urteile vom 30. April 1952 - III ZR 198/51, BGHZ 6, 62, 63; vom 26. März 2003 - XII ZR 167/01, NJW-RR 2003, 873, 874; Musielak/Foerste, ZPO, 9. Aufl., § 287 Rn. 10).
- 24
- bb) Hieran fehlt es vorliegend. Das Berufungsgericht hat die Höhe der Vergütung einer fiktiven Ersatzkraft pauschal auf 8,50 € pro Stunde geschätzt.
Stöhr von Pentz
Vorinstanzen:
LG München I, Entscheidung vom 22.03.2010 - 9 O 11012/09 -
OLG München, Entscheidung vom 21.04.2011 - 1 U 2363/10 -
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Bei der Klägerin wurde im Jahre 1997 eine beiderseitige Vergrößerung der Schilddrüse mit einem Knoten im Isthmus-Bereich sowie zwei Knoten im rechten Bereich der Schilddrüse (sogenannte Knotenstruma III. Grades) festgestellt. Sie wurde zur operativen Behandlung in dem Kreiskrankenhaus, dessen Träger der Beklagte ist, aufgenommen. Am Tag vor der Operation wurde sie über den Verlauf einer teilweisen Entfernung der Schilddrüse sowie die daraus resultierenden Risiken aufgeklärt. Am Morgen des 29. Mai 1997 wurde dieSchilddrüse der Klägerin operativ unter Darstellung der Stimmbandnerven vollständig entfernt. In der Folge ergaben sich Komplikationen, die zu einer beidseitigen Stimmbandlähmung bei der Klägerin führten. Infolge dieser hat die Klägerin bereits im Ruhezustand Atembeschwerden, die sich bei körperlichen Aktivitäten verstärken. Sie kann nur noch flüsternd sprechen. Die Klägerin macht geltend, die Schilddrüsenoperation sei wegen unzureichender Aufklärung rechtswidrig erfolgt und zudem fehlerhaft durchgeführt worden. Sie begehrt deshalb von dem Beklagten Schmerzensgeld, Ersatz ihres materiellen Schadens und Feststellung der weiteren Ersatzpflicht des Beklagten. Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Das Berufungsgericht hat sie unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin auf die Berufung des Beklagten in vollem Umfang abgewiesen. Dagegen richtet sich die vom erkennenden Senat zugelassene Revision der Klägerin, mit der sie die im Berufungsverfahren gestellten Anträge weiter verfolgt.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht führt aus, ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten sei schon dem Grunde nach nicht gegeben; er scheitere jedenfalls daran, daß die Klägerin den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem pflichtwidrigen Verhalten der sie behandelnden Ärzte im Krankenhaus des Beklagten und der bei ihr eingetretenen beidseitigen Stimmbandlähmung nicht führen könne.Allerdings hätten die behandelnden Ärzte die Kläger in inhaltlich nicht ausreichend über den beabsichtigten operativen Eingriff und dessen Risiken aufgeklärt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, daß der der Klägerin im Rahmen der Eingriffs- und Risikoaufklärung gegebene pauschale Hinweis auf eine Operationserweiterung während der Operation hier nicht genügt habe. Präoperativ sei die Durchführung einer Teilresektion der Schilddrüse indiziert und an der Wahl dieser indizierten Behandlungsmaßnahme sei die Aufklärung zunächst auszurichten gewesen; insoweit sei die Aufklärung , was durch die von dem Beklagten vorgelegten Krankenunterlagen bewiesen sei, auch inhaltlich ausreichend erfolgt. Im vorliegenden Fall sei aber eine intraoperative Operationserweiterung hin zu einer Totalresektion des Schilddrüsengewebes auch aus präoperativer Sicht der behandelnden Ärzte ernsthaft in Betracht gekommen, weshalb die Klägerin in eine solche konkrete Option auch habe eingeweiht werden müssen. Zwar sei das Behandlungsrisiko, insbesondere dasjenige von Nachblutungen bzw. der Verletzung eines oder beider Stimmbandnerven , sowohl bei einer Teil- als auch bei einer Totalresektion des Schilddrüsengewebes jeweils als gering einzuschätzen. Doch seien die Risiken einer Totalresektion signifikant höher als bei einer Teilresektion. Eine dahin gehende Aufklärung der Klägerin hätten die behandelnden Ärzte schon nach dem Sachvorbringen des Beklagten nicht vorgenommen. Ob die die Klägerin behandelnden Ärzte die Indikati on für eine Totalresektion des Schilddrüsengewebes während der Operation verfrüht, d.h. auf unzureichender Entscheidungsgrundlage, getroffen hätten oder nicht, könne offen bleiben. Unter Zugrundelegung der Zeugenaussagen der beiden behandelnden Ärzte sei die Entscheidung zur totalen Ausräumung des Schi lddrüsengewebes aus fachärztlicher Sicht geboten gewesen. Unter Zugrundelegung des Operationsberichts hingegen hätten die behandelnden Ärzte die Indikation für eine To-
talresektion zumindest verfrüht gestellt. Selbst wenn man davon ausgehe, sei aber ein Arzthaftungsanspruch der Klägerin nicht begründet. Der Klägerin sei der Nachweis nicht gelungen, daß die bei ihr eingetretene beidseitige Stimmbandlähmung allein darauf zurückzuführen sei, daß die als Teilresektion begonnene Operation intraoperativ zu einer totalen Entfernung des Schilddrüsengewebes erweitert wurde. Wie bereits das erstinstanzliche Gericht auf der Grundlage sachverständiger Beratung zutreffend festgestellt habe, sei eine Teilentfernung des Schilddrüsengewebes der Klägerin, nämlich zumindest im rechten und im Isthmus-Bereich, sowohl aus chirurgischer als auch aus internistischer und nuklearmedizinischer Sicht absolut indiziert gewesen. In eine solche Operation habe die Klägerin wirksam eingewilligt. Mit dem gerichtlichen Sachverständigen sei davon auszugehen, daß die beidseitige Stimmbandlähmung der Klägerin dadurch entstanden sei, daß sich in der Nähe des Operationsgebietes eine Nachblutung eingestellt und entweder zur Herausbildung eines Hämatoms oder zur Einblutung in das Nervenhüllgewebe geführt habe. Hinsichtlich der Ursache der Nachblutung, einer kontinuierlich blutenden Vene unterhalb der bei der Erstoperation eröffneten Grenzlamelle , sei nach den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu beantworten , ob diese auch bei einer nur teilweisen Entfernung der Schilddrüse eingetreten wäre. Diese nicht überwindbare Unsicherheit bei der Aufklärung des tatsächlichen Behandlungsverlaufs gehe nach den zivilrechtlichen Grundsätzen der Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozeß zu Lasten der Klägerin, die aus der behaupteten Kausalität einen Schadensersatzanspruch herleiten wolle. Zwar habe der Sachverständige ausgeführt, daß die vorbeschriebene Nachblutung bei einer Teilresektion „nicht so wahrscheinlich" sei, wie bei dem umfangreicheren Eingriff in Gestalt einer Totalresektion. Eine weitere Festlegung habe
er jedoch als spekulativ abgelehnt. Beispielsweise könne eine Zugwirkung an der Schilddrüse sowohl bei einer Teilresektion als auch bei einer Totalresektion auftreten. Letztlich habe der Sachverständige den Eintritt der bilateralen Recurrensparese hier als ein schicksalhaftes, für beide Operationsmaßnahmen auch bei facharztgerechter Behandlung typisches Ereignis bewertet. Dieser Einschätzung folge der Senat. Die Klägerin trage die Beweislast für die Kausalität der wegen des festgestellten Aufklärungsmangels rechtswidrigen Operationserweiterung bzw. des als wahr unterstellten Behandlungsfehlers für die beidseitige Stimmbandlähmung. Das bedeute, daß die Klägerin im Prozess schon dann unterliege, wenn sie nicht beweisen könne, daß die Pflichtverletzung den Schaden verursacht habe bzw. daß der Schadenseintritt ohne die Pflichtverletzung zumindest sehr unwahrscheinlich gewesen wäre. Beweiserleichterungen kämen der Klägerin nicht zugute; auf einen groben Behandlungsfehler könne sie sich nicht berufen.
II.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. 1. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurde die Klägerin nicht ausreichend darüber aufgeklärt, daß während der Operation gegebenenfalls von der Teilresektion der Schilddrüse zu einer Totalresektion überzugehen war. Dies nimmt die Klägerin als ihr günstig hin. Die Bedenken, die die Revisionserwiderung insoweit vorbringt, sind unbegründet. Die Bejahung einer unzureichenden Aufklärung durch das Berufungsgericht beruht auf einer revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden tatrichterlichen Würdigung des Aufklärungs-bogens, des vom Beklagten dargestellten Inhalts des Aufklärungsgesprächs und der Ausführungen des Sachverständigen. 2. Revisionsrechtlich ist zudem davon auszugehen, daß die behandelnden Ärzte die Entscheidung für eine Totalresektion verfr üht getroffen haben. Denn das Berufungsgericht läßt ausdrücklich dahinstehen, ob insoweit ein Behandlungsfehler festgestellt werden kann oder nicht. 3. Unter diesen Umständen durfte das Berufungsgericht die Klägerin nicht hinsichtlich des Kausalzusammenhangs zwischen der rechtswidrig, weil ohne ausreichende Aufklärung, und zudem auch behandlungsfehlerhaft vorgenommenen Operation und dem erlittenen Gesundheitsschaden als beweisfällig behandeln.
a) Den Ausführungen des Berufungsgerichts könnte - was die Revision zu Recht geltend macht - nicht gefolgt werden, wenn es auf Seite 9 des angefochtenen Urteils hat zum Ausdruck bringen wollen, daß der Arzt nur haftet, wenn sein Fehler die alleinige Ursache für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Patienten ist. Nach allgemeinem Schadensrecht steht eine Mitursächlichkeit , und sei es auch nur im Sinne eines Auslösers neben erheblichen anderen Umständen, der Alleinursächlichkeit haftungsrechtlich in vollem Umfang gleich. Dies gilt auch für die Arzthaftung (vgl. nur Senatsurteil vom 27. Juni 2000 - VI ZR 201/99 - VersR 2000, 1282 f. m.w.N.). Etwas anderes kann allenfalls in dem - hier nicht vorliegenden - Fall der Teilkausalität gelten, wenn das ärztliche Versagen und ein weiterer, der Behandlungsseite nicht zuzurechnender Umstand abgrenzbar zu einem Schaden geführt haben (vgl. Senatsurteil vom 1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96 - VersR 1997, 362, 363 m.w.N.).
b) Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn das Berufungsgericht der Klägerin den Beweis dafür auferlegen will, daß die beabsichtigte rechtmäßige Teilre-
sektion nicht zu denselben Beeinträchtigungen geführt hätte wie die tatsächlich durchgeführte rechtswidrige Operation. Steht fest, daß der Arzt dem Patienten durch rechtswidriges und fehlerhaftes ärztliches Handeln einen Schaden zugefügt hat, so muß der Arzt beweisen, daß der Patient den gleichen Schaden auch bei einem rechtmäßigen und fehlerfreien ärztlichen Handeln erlitten hätte (vgl. Senatsurteile BGHZ 78, 209, 213 ff.; 106, 153, 156; vom 13. Dezember 1988 - VI ZR 22/88 - VersR 1989, 289 f.; vom 15. März 2005 - VI ZR 313/03 - zur Veröffentlichung bestimmt; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht , 4. Aufl., Rn. C 151 m.w.N.). Auch soweit es darum geht, ob es zu einem schadensursächlichen Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung des Patienten gekommen wäre, liegt die Beweislast bei der Behandlungsseite (vgl. Senatsurteile BGHZ 29, 176, 187; vom 15. Oktober 1968 - VI ZR 226/67 - VersR 1969, 43, 44; vom 14. April 1981 - VI ZR 39/80 - VersR 1981, 677, 678; vgl. auch die ständige Senatsrechtsprechung zur Beweislast der Behandlungsseite bei der Behauptung hypothetischer Einwilligung des Patienten, z.B. Senatsurteile BGHZ 29, 176, 187; vom 26. Juni 1990 - VI ZR 289/89 - VersR 1990, 1238, 1239 m.w.N.). Dies entspricht dem allgemeinen Grundsatz, wonach der Schädiger zu beweisen hat, daß sich ein hypothetischer Kausalverlauf bzw. eine Reserveursache ebenso ausgewirkt haben würde wie der tatsächliche Geschehensablauf (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 1992 - VIII ZR 170/91 - VersR 1993, 754, 755 f. m.w.N.; MünchKomm-BGB/Oetker, 4. Aufl., § 249 Rn. 218 m.w.N.). 4. Nach den Ausführungen des Berufungsgerichts lassen die gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen keine ausreichend siche ren Feststellungen dahingehend zu, daß der Gesundheitsschaden der Klägerin auch bei Durchführung einer Teilresektion entstanden wäre. Verbleibt es bei diesem Beweisergebnis , bleibt der Beklagte hinsichtlich der von ihm behaupteten Reserveursache beweisfällig. Dann wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob
und inwieweit die weiteren Voraussetzungen für die geltend gemachten Ansprüche vorliegen.
Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll
(1) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden.
(2) Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden.
BUNDESGERICHTSHOF
Die Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs haben am 16. September 2016 durch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Limperg, die Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Galke, Prof. Dr. Meier-Beck, Prof. Dr. Bergmann, die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Stresemann , den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Fischer, die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible, die Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Raum und Prof. Dr. Büscher, die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Milger, die Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Ellenberger und Dr. Eick, die Richter am Bundesgerichtshof Felsch, Prof. Dr. Gehrlein, Dr. Franke, Prof. Dr. Jäger und Dr. Schäfer, die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Schneider und die Richter am Bundesgerichtshof Seiters, Schilling, Dr. Berger, Prof. Dr. Krehl und Gericke
beschlossen:
Gründe:
A.
I.
- 1
- Der Große Senat für Zivilsachen hat durch Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55 (BGHZ 18, 149) entschieden, dass bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld nach § 847 BGB (aF, jetzt § 253 Abs. 2 BGB, so genanntes "Schmerzensgeld") alle Umstände des Falles berücksichtigt werden können, darunter auch die wirtschaftlichen Verhältnisse von Schädiger und Geschädigtem. Dem sind die Zivil- und die Strafsenate des Bundesgerichtshofs bisher gefolgt.
- 2
- Der 2. Strafsenat beabsichtigt, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Seiner Auffassung nach sind bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld (§ 253 Abs. 2 BGB) weder die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten noch die des Schädigers zu berücksichtigen. Der 2. Strafsenat hat bei dem Großen Senat für Zivilsachen und bei den anderen Strafsenaten des Bundesgerichtshofs angefragt, ob an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird. Der Große Senat für Zivilsachen und der 1., 4. und 5. Strafsenat haben dies bejaht. Der 3. Strafsenat hat mitgeteilt, er halte an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, dass die Bemessung des Schmerzensgeldes auch auf der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers beruhen dürfe. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten müssten hingegen unberücksichtigt bleiben; insoweit halte er an seiner entgegenstehenden Rechtsprechung nicht fest.
- 3
- Der 2. Strafsenat hat nach Abschluss des Anfrageverfahrens den Vereinigten Großen Senaten des Bundesgerichtshofs gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG die folgenden Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt: 1. Dürfen bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld (§ 253 Abs. 2 BGB) die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten berücksichtigt werden? 2. Wenn ja, nach welchem Maßstab können sie berücksichtigt werden?
II.
- 4
- Anlass der Vorlage des 2. Strafsenats sind zwei Revisionsverfahren, in denen das Landgericht den Geschädigten auf deren Adhäsionsanträge hin jeweils Schmerzensgeld zugesprochen hat. Hiergegen richten sich die nach Teilverwerfung noch anhängigen Revisionen der Angeklagten.
- 5
- Zu den beiden Revisionsverfahren im Einzelnen:
- 6
- 1. Das Verfahren 2 StR 137/14
- 7
- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es den Angeklagten verurteilt, an die Nebenklägerin S. S. 12.000 Euro sowie an die Nebenklägerinnen A. S. und M. je 5.000 Euro, jeweils nebst Zinsen, zu zahlen.
- 8
- a) Nach den Feststellungen des Landgerichts erzielte der alleinstehende und kinderlose 49jährige Angeklagte als Stapelladerfahrer zuletzt ein monatliches Einkommen von 1.200 Euro, wovon er 500 Euro an Mietkosten aufzubringen hatte. Er war schuldenfrei.
- 9
- Bei der Bemessung der Schmerzensgelder hat das Landgericht auf die Tatumstände und die Folgen der Taten für die Geschädigten abgestellt. Dagegen ist dem Urteil nicht erkennbar zu entnehmen, dass das Landgericht auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten und der Geschädigten berücksichtigt hat.
- 10
- b) Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf Verfahrensbeanstandungen und die näher ausgeführte Sachrüge gestützten Revision.
- 11
- 2. Das Verfahren 2 StR 337/14
- 12
- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen , wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, und wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es den Angeklagten verurteilt, an die Neben- und Adhäsionsklägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000 Euro nebst Zinsen zu zahlen, und festgestellt, dass der Angeklagte verpflichtet ist, "sämtliche zukünftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden aus den obigen Taten zu ersetzen, soweit diese nicht auf den Sozialversicherungsträger übergegangen sind."
- 13
- a) Nach den Feststellungen des Landgerichts war der 52jährige Angeklagte als Montierer angestellt und verdiente monatlich 860 Euro netto. Seit 2011 lebte er bei seiner damaligen Lebensgefährtin, mit der er ein 2006 geborenes gemeinsames Kind hat.
- 14
- Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes hat das Landgericht neben den Tatumständen und den Folgen der Taten für die Geschädigte ausdrücklich auch die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten und der Geschädigten berücksichtigt.
- 15
- b) Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Der Generalbundesanwalt hat auch in diesem Verfahren beantragt, die Zuerkennung des Schmerzensgeldanspruchs dem Grunde nach aufrechtzuerhalten und von einer weiteren Entscheidung über die Adhäsionsanträge abzusehen. Das Landgericht habe keine Feststellungen zu möglichen künftigen Schäden getroffen, weshalb das für den Feststellungsausspruch erforderliche Feststellungsinteresse nicht vorliege. Die darüber hinaus erfolgte Verurteilung des Angeklagten zur Zahlung eines Schmerzensgelds sei jedenfalls der Höhe nach nicht zureichend begründet. Die Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen von Schädiger und Geschädigter , die bei der Bemessung des Schmerzensgelds regelmäßig zu berücksichtigen seien, genügten nicht. Zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten verhielten sich die Feststellungen nur vage, insbesondere werde nicht mitgeteilt , ob der Beschwerdeführer Vermögen oder Schulden habe. Auch seine Wohn- und Lebenssituation nach Bekanntwerden der Taten gehe aus den Urteilsgründen nicht hervor. Angaben zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Geschädigten fehlten ganz. Im Übrigen sei das Rechtsmittel gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.
- 16
- 3. Der 2. Strafsenat hat in beiden Verfahren die Revisionen der Angeklagten entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwaltes als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO verworfen, soweit sie sich gegen den Schuldund den Strafausspruch gerichtet haben (Beschlüsse vom 8. Oktober 2014 - 2 StR 137/14 und 2 StR 337/14).
- 17
- Unter Zugrundlegung seiner oben dargelegten Auffassung beabsichtigt der 2. Strafsenat, die Adhäsionsentscheidung in dem Verfahren 2 StR 137/14 aufrechtzuerhalten, weil die Bemessung des Schmerzensgeldes unter Außerachtlassung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten - entgegen der bisherigen Rechtsprechung - nicht zu beanstanden sei.
- 18
- In dem Verfahren 2 StR 337/14 beabsichtigt der 2. Strafsenat, den Schmerzensgeldanspruch nur dem Grunde nach aufrechtzuerhalten und im Übrigen von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag abzusehen. Das Schmerzensgeld habe die Strafkammer - entgegen der bisherigen Rechtsprechung - schon deshalb rechtsfehlerhaft bemessen, weil sie die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten ausdrücklich berücksichtigt habe.
III.
- 19
- Der 2. Strafsenat hat die Vorlage an die Vereinigten Großen Senate im Wesentlichen wie folgt begründet:
- 20
- 1. Auf die Vermögenslage des Geschädigten komme es nicht an.
- 21
- Die Anknüpfung an die Vermögensverhältnisse sei mit dem sich aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden, jedem Menschen in gleichem Maße, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status zukommenden sozialen Wert- und Achtungsanspruch (vgl. BVerfGE 87, 209, 228) und dem jedem Menschen in gleichem Maße zustehenden Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG) nicht vereinbar (so auch OLG Schleswig, NJW-RR 1990, 470, 471; Staudinger /Schiemann, BGB, Neubearb. 2005, § 253 Rn. 43; Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld , 7. Aufl., Rn. 1375 ff.; Slizyk, Systematische Kommentierung des Schmerzensgeldrechts, 10. Aufl. [2014], Rn. 129; Vieweg/Lorz in jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 253 Rn. 75; vgl. auch Hacks/Wellner/Häcker, Schmerzensgeldbeträge 2014, 32. Aufl., S. 18).
- 22
- Dem könne nicht entgegengehalten werden, dass nicht die erlittene körperliche oder seelische Beeinträchtigung selbst, sondern nur der Ausgleich hierfür unterschiedlich bemessen werde (vgl. Schneider, ZAP 2004 [Beilage 2], S. 7; Jaeger/Luckey aaO Rn. 1377). Nach den dargestellten verfassungsrechtlichen Grundsätzen habe weder der Wohlhabende ein rechtlich anerkennenswertes größeres finanzielles Interesse an einem Ausgleich einer erlittenen Beeinträchtigung noch der Arme ein geringeres. Danach gehe es umgekehrt auch fehl, bei im Wesentlichen gleichen körperlichen oder seelischen Leiden die schlechte Vermögenslage des Armen als anspruchserhöhend oder den Reichtum des Wohlhabenden als anspruchsmindernd anzusetzen. Entsprechend könne dem wohlhabenden Geschädigten weder ein größeres noch eine geringeres Interesse an Genugtuung durch Zahlung eines Geldbetrages zuerkannt werden als dem armen Geschädigten. Denn die in § 253 Abs. 2 BGB genannten Rechte und Rechtsgüter stünden dem Betroffenen nicht nach Maßgabe seiner Vermögensverhältnisse zu, sondern unabhängig davon. Im Ergebnis sei dies die überwiegende Ansicht im Schrifttum (vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 75. Aufl., § 253 Rn. 16; Staudinger/Schiemann aaO; NK-BGB/Huber, 2. Aufl., § 253 Rn. 96; Münch-KommBGB/Oetker, 6. Aufl., § 253 Rn. 38; Spindler in Bamberger /Roth, BGB, § 253 Rn. 42; Vieweg/Lorz aaO; Jaeger/Luckey aaO Rn. 1375 ff., 1386; Pardey in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., S. 220 f.; Lorenz, Immaterieller Schaden und "billige Entschädigung in Geld", 1981, S. 126 f., 146 ff.; Pecher, AcP 171, 44, 69; aA etwa Soergel/Zeuner, BGB, 12. Aufl., § 847 Rn. 30; RGRK-BGB/Kreft, 12. Aufl., § 847 Rn. 43).
- 23
- 2. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers dürften nicht berücksichtigt werden.
- 24
- Der Schmerzensgeldanspruch sei vom Gesetzgeber gerade nicht als Strafe, sondern als Schadensersatzanspruch ausgestaltet worden (vgl. BGH, Urteil vom 29. September 1952 - III ZR 340/51, BGHZ 7, 223, 224 ff.; BGH, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GZ 1/55, BGHZ 18, 149, 151, 156; vgl. auch Staudinger /Schiemann, BGB, Neubearb. 2005, § 253 Rn. 28, 43; NK-BGB/Huber, 2. Aufl., § 253 Rn. 119; Müller, VersR 1993, 909 f.; Knöpfel, AcP 155, 139 ff.; Pecher AcP 171, 44, 70). Dies spreche dafür, dass die wirtschaftliche Lage des Schädigers entsprechend dem allgemeinen Prinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung (vgl. nur Palandt/Grüneberg, BGB, 75. Aufl., § 276 Rn. 28 mwN) bei der Bemessung der Entschädigung, auch und gerade im Rahmen der Ausgleichsfunktion, keine Rolle spielen dürfe (so auch Palandt/Grüneberg aaO § 253 Rn. 17).
- 25
- Zu einer anderen Betrachtung zwinge auch nicht die Genugtuungsfunktion der Entschädigung. Denn der Gedanke der Genugtuung könne, ungeachtet seiner im Schrifttum umstrittenen Funktion (vgl. statt aller Staudinger /Schiemann aaO Rn. 30 ff. mwN), innerhalb eines zivilrechtlichen Schadensersatzanspruches nicht bezwecken, dem Schädiger ein zu bemessendes Übel zuzufügen (mit der Folge, dass unbillige Härten zu vermeiden wären).
IV.
- 26
- Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen: Bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld (§ 253 Abs. 2 BGB) können die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers oder des Geschädigten zu berücksichtigen sein. Soweit sich keine Anhaltspunkte für Besonderheiten ergeben, bedarf es hierzu aber weder ausdrücklicher Feststellungen im Urteil, noch muss der Einfluss der wirtschaftlichen Verhältnisse auf die Bemessung ausdrücklich erörtert werden.
B.
I.
- 27
- Die Vorlage ist zulässig. Die von dem 2. Strafsenat aufgeworfenen Rechtsfragen waren gemäß § 132 Abs. 2 und 3 GVG den Vereinigten Großen Senaten vorzulegen, weil der 2. Strafsenat beabsichtigt, nicht nur von der Rechtsprechung anderer Strafsenate, sondern auch von der des Großen Senats für Zivilsachen sowie der des III. und des VI. Zivilsenats abzuweichen. Die vorgelegten Rechtsfragen waren nach der - grundsätzlich maßgeblichen (vgl. BGH, Großer Senat für Strafsachen, NJW 2015, 3800, 3801; BGHSt 42, 139, 144, jeweils mwN) - rechtlichen Wertung des vorlegenden Senats ergebnisrelevant und deshalb erheblich.
- 28
- Ob die Vorlage zudem wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 132 Abs. 4 GVG (vgl. Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl., § 132 GVG, Rn. 16; a.A. Franke in Löwe-Rosenberg, StPO, § 132 GVG, Rn. 41, dem nach aber der jeweilige Große Senat die Sache den Vereinigten Großen Senaten vorlegen kann) zulässig wäre, kann offen bleiben.
II.
- 29
- Die erste Vorlagefrage ist - der Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen vom 6. Juli 1955 (GSZ 1/55, BGHZ 18, 149) folgend - dahin zu beantworten , dass bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld nach § 253 Abs. 2 BGB (§ 847 BGB aF) alle Umstände des Falles berücksichtigt werden können. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten können dabei nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
- 30
- 1. Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden (§ 253 Abs. 2 BGB). Der unbestimmte Rechtsbegriff der "billigen Entschädigung" meint sowohl nach dem Wortlaut als auch nach systematischer, historischer und teleologischer Auslegung eine angemessene Entschädigung, bei deren Bemessung der Tatrichter alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigen darf.
- 31
- a) Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnen die Worte "billig" oder "Billigkeit" das Angemessene, Passende, Rechte (so schon Rümelin, Die Billigkeit im Recht, 1921, S. 2 f.). In der Rechtslehre hat das Wort Billigkeit indes einen spezifischen Sinngehalt. Auch der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs ging davon aus, dass der Ausdruck "billig" eine feste technische Bezeichnung sei (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 153 mwN).
- 32
- Billigkeit bezeichnet danach die Lösung für das Problem, dass allgemeine Gesetze, gerade weil sie eine allgemeine Regelung treffen, dem Einzelfall nicht ohne weiteres gerecht werden können. Funktion der Billigkeit ist die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen den abstrakt-generellen Regelun- gen des Gesetzes und den Besonderheiten des Einzelfalls, mithin die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit (Rümelin aaO S. 43 ff.; Frey in Festschrift Röhl, 2003, S. 334 f.; Calliess, Zeitschrift für Rechtssoziologie 26 (2005), 35, 42 ff.; Lochstampfer, Die Billigkeit im Schadensrecht aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht, 2005, S. 98; Rybarz, Billigkeitserwägungen im Kontext des Europäischen Privatrechts, 2011, S. 10 f.; Vetter in Festschrift Schapp, 2010, S. 473, 479 ff.).
- 33
- Billigkeit sperrt sich gegen jede Generalisierung (Calliess, aaO, 48). Die Vorstellung, bestimmte Umstände des Einzelfalls könnten von vornherein aus abstrakt-generellen Erwägungen heraus der Berücksichtigung durch den Tatrichter entzogen werden, steht daher in einem unauflösbaren Widerspruch zu der Funktion des Billigkeitsgedankens. Vor diesem Hintergrund ist eine billige Entschädigung nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut eine solche, bei der der Tatrichter im Grundsatz alle Umstände des Einzelfalls und damit auch die Verhältnisse der Beteiligten berücksichtigen darf (vgl. auch Knöpfel, AcP 155 (1956), 135, 140, 157). Davon zu unterscheiden sind die Fragen, welchen Umständen der Tatrichter welches Gewicht beimessen darf, inwieweit seine Entscheidung revisionsrechtlich überprüfbar und wie verfassungsrechtlichen Grundsätzen Geltung zu verschaffen ist (dazu unten unter c und d sowie 2.).
- 34
- b) Auch die systematische Auslegung führt zu dem Ergebnis, dass der Tatrichter alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigen darf. Dabei ist die Vorschrift des § 253 Abs. 2 BGB zum einen im Zusammenhang mit den Regelungen zu sehen, die auf dem Billigkeitsgedanken beruhen (dazu unter aa). Zum anderen ist sie in den Gesamtzusammenhang des Schadensrechts zu stellen (dazu unter bb).
- 35
- aa) Der Gedanke der Billigkeit durchzieht die gesamte Rechtsordnung (vgl. Rümelin aaO S. 34 und - nur beispielhaft - §§ 284, 1246 Abs. 1, § 1361a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, § 1381 BGB, §§ 91a, 1051 Abs. 3 ZPO, § 163 AO). Im Bürgerlichen Gesetzbuch wird an verschiedensten Stellen das Ausmaß einer Leistung nach billigem Ermessen bestimmt (z.B. §§ 315, 317, 660 Abs. 1, § 920 Abs. 2, § 971 Abs. 1 Satz 3, § 1576 Satz 1, § 1577 Abs. 2 Satz 2, § 1578b Abs. 1 und 2 BGB; s. auch - außerhalb des BGB - § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG). Der Funktion des Billigkeitsgedankens folgend will das Gesetz in diesen Fällen alle in Betracht kommenden Umstände des Falles und insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten berücksichtigt wissen (vgl. BGH, Großer Senat für Zivilsachen , Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 151 f.).
- 36
- Im Schadensrecht verwendet das Gesetz den Begriff der Billigkeit neben § 253 Abs. 2 BGB in der Vorschrift des § 829 BGB, in der zwischenzeitlich aufgehobenen Vorschrift des § 1300 BGB sowie seit der Einführung eines allgemeinen Anspruchs auf Schmerzensgeld durch das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674) unter anderem auch in § 8 Satz 2 ProdHaftG, § 13 Satz 2 UmweltHG, § 6 Satz 2 HaftpflichtG und § 11 Satz 2 StVG. § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG spricht dagegen von einer angemessenen Entschädigung.
- 37
- (1) Nach § 829 BGB hat - wer für einen von ihm verursachten Schaden auf Grund der §§ 827, 828 BGB nicht verantwortlich ist - gleichwohl, sofern der Schaden nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann, den Schaden insoweit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert.
- 38
- Die verschuldensunabhängige Haftung aus § 829 BGB bildet im deliktischen Haftungssystem des Bürgerlichen Gesetzbuchs eine Ausnahme. Ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB ist deshalb nicht schon dann zu ge- währen, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern (st. Rspr., vgl. nur BGH, VI. Zivilsenat, Urteil vom 11. Oktober 1994 - VI ZR 303/93, BGHZ 127, 186, 192 f. mwN). Im Gegensatz zu dem Anspruch auf eine billige Entschädigung gemäß § 253 Abs. 2 BGB hängt im Rahmen des § 829 BGB schon das "Ob" des Billigkeitsanspruchs entscheidend von den gesamten Umständen ab, unter denen ein wirtschaftliches Gefälle vom Schädiger zum Geschädigten an erster Stelle steht (BGH, VI. Zivilsenat , Urteil vom 18. Dezember 1979 - VI ZR 27/78, BGHZ 76, 279, 284).
- 39
- Dem Hinweis auf die Verhältnisse der Beteiligten in der Vorschrift des § 829 BGB kommt vor diesem Hintergrund - wie sich schon der Wendung "insbesondere" entnehmen lässt - die Bedeutung zu, die aufgrund des Billigkeitsgedankens ohnehin berücksichtigungsfähigen Verhältnisse der Beteiligten in dem von § 829 BGB geregelten besonderen Fall in den Vordergrund zu stellen. Daraus lässt sich entnehmen, dass (auch) im Rahmen der Bemessung der billigen Entschädigung des § 253 Abs. 2 BGB die Verhältnisse der Beteiligten berücksichtigt werden können, sie dort aber - anders als im Fall des § 829 BGB - nicht im Vordergrund stehen (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 152).
- 40
- (2) Die Entstehungsgeschichte der zwischenzeitlich aufgehobenen Regelung des § 1300 BGB, wonach eine zuvor unbescholtene Verlobte bei Rücktritt vom Verlöbnis durch den Verlobten auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden war, eine billige Entschädigung verlangen konnte, spricht ebenfalls für die Auslegung des § 253 Abs. 2 BGB im vorgenannten Sinne. Der Gesetzgeber wollte den Richter bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld gerade "nach keiner Richtung hin einenge(n)" (Hervorhebung im Original des im Folgenden zitierten Beschlusses). Dazu wird auf die Ausführungen des Großen Senats für Zivilsachen in seinem Beschluss vom 6. Juli 1955 (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 153 f.) Bezug genommen, denen auch aus heutiger Sicht nichts hinzuzufügen ist.
- 41
- Die zwischenzeitlich erfolgte Aufhebung der Vorschrift steht dem nicht entgegen. Die Aufhebung erfolgte durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Eheschließungsrechts vom 4. Mai 1998 (BGBl. 1998 I S. 833), weil die Regelung als rechtspolitisch überholt angesehen wurde. Die Gesetzesbegründung verweist aber darauf, dass Ersatzansprüche nach § 825 BGB - in dessen Rahmen auch der immaterielle Schaden gemäß § 253 Abs. 2 BGB zu ersetzen ist (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 75. Aufl., § 825 Rn. 7) - geltend gemacht werden können, soweit im Einzelfall ein Bedürfnis für den Ersatz verminderter Heiratsaussichten oder anderen immateriellen Schadens bestehe, sowie ein Rückgriff auf die allgemeinen Schadensersatzvorschriften der §§ 823 ff., § 253 Abs. 2 BGB möglich sei (BT-Drucks. 13/4898, S. 14 f.).
- 42
- (3) Schließlich sollte mit der Überführung des Schmerzensgeldanspruchs vom Deliktsrecht (§ 847 BGB aF) in das allgemeine Schadensrecht (§ 253 Abs. 2 BGB) und der Erweiterung seiner Anwendbarkeit auf die Vertrags- und Gefährdungshaftung durch das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674) keine Änderung der Auslegung des Begriffs der billigen Entschädigung verbunden sein (vgl. BTDrucks. 14/7752, S. 14 ff.; BT-Drucks. 14/8780, S. 21).
- 43
- Im Gegenteil verweist die Gesetzesbegründung ausdrücklich darauf, die Bestimmung eines angemessenen Schmerzensgeldes sei originäre Aufgabe der Gerichte, die hierbei die besonderen Umstände jedes Einzelfalls berücksichtigen müssten, was das Gesetz durch eine entsprechend flexible Formulie- rung sicherstellen müsse (BT-Drucks. 14/7752, S. 26). In jüngerer Zeit ist in der Gesetzesbegründung zu § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG ausgeführt, die Höhe der Entschädigung müsse angemessen sein, was der bewährten Regelung des Schmerzensgeldes in § 253 BGB entspreche. Damit bleibe dem Gericht der notwendige Beurteilungsspielraum erhalten, um die Besonderheiten jedes einzelnen Falles zu berücksichtigen (Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung , BT-Drucks. 16/1780, S. 38). Dem folgend legt das Bundesarbeitsgericht § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG dahin aus, dass bei der Entscheidung der Frage, welche Entschädigung angemessen ist, für die Gerichte ein Beurteilungsspielraum besteht, innerhalb dessen sie die Besonderheiten jedes einzelnen Falles zu berücksichtigen haben (BAG, NJW 2010, 2970 Rn. 39).
- 44
- bb) Der Anspruch auf eine billige Entschädigung für den Schaden, der nicht Vermögensschaden ist, ist systematisch auch in den Gesamtzusammenhang des Schadensrechts zu stellen.
- 45
- Das Schadensrecht geht von dem Grundsatz der Totalreparation aller von dem Geschädigten erlittenen Vermögensschäden aus (§§ 249 ff. BGB). Der Geschädigte erhält die ihm nach seinen Verhältnissen entstandenen Vermögensschäden ohne die Berücksichtigung weiterer Umstände des Einzelfalls - wie des Grads des Verschuldens oder der Verhältnisse des Schädigers - stets vollumfänglich ersetzt. Grundsätzlich kann allein ein Mitverschulden des Geschädigten die Ersatzpflicht mindern (§ 254 BGB). Eine etwaige durch die Ansprüche verursachte wirtschaftliche Not des Schädigers oder ein etwaiges erhebliches wirtschaftliches Gefälle zwischen (vermögendem) Geschädigtem und (vermögenslosem) Schädiger sind für die Entstehung des Anspruchs auch dann unerheblich, wenn die Haftung auf leichtester Fahrlässigkeit - beispielsweise auf einem so genannten Augenblicksversagen - beruht (vgl. BGH, Großer Se- nat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 158). Diese Umstände finden erst im Rahmen der Schuldnerschutzvorschriften des Zwangsvollstreckungsrechts und des Instituts der Restschuldbefreiung (§§ 286 ff. InsO) im Insolvenzrecht Berücksichtigung.
- 46
- Demgegenüber sieht das Gesetz bei dem Ausgleich der immateriellen Schäden, mithin solcher Einbußen, die sich wegen der Art der verletzten Rechtsgüter jeder vermögensrechtlichen Bewertung entziehen, gerade keine starre Regelung, sondern eine billige Entschädigung vor, ohne dem Tatrichter hinsichtlich der zu berücksichtigenden oder berücksichtigungsfähigen Umstände Vorgaben zu machen. Dem liegt auch der Gedanke zugrunde, dass bei der zusätzlich zu dem Ausgleich des Vermögensschadens zu leistenden billigen Entschädigung der Gedanke des Ausgleichs im Allgemeinen nicht dazu führen soll, den Schädiger in nachhaltige Not zu bringen (BGH, Großer Senat für Zivilsachen , Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 159 f.; VI. Zivilsenat , Urteil vom 16. Mai 1961 - VI ZR 112/60, VersR 1961, 727, 728; Pecher, AcP 171 (1971), 44, 69 f.; vgl. Knöpfel AcP 155 (1956), 135, 140 einerseits, 157 andererseits). Der Tatrichter soll bei der Bemessung der billigen Entschädigung vielmehr a l l e Umstände des Einzelfalls berücksichtigen dürfen.
- 47
- c) Dieses Auslegungsergebnis entspricht auch Sinn und Zweck des Schmerzensgeldes. Die eingehenden Erwägungen des Großen Senats für Zivilsachen in seinem Beschluss vom 6. Juli 1955 (GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 154 ff.) zu dieser Frage sind nach wie vor gültig. Auf sie wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
- 48
- aa) Das Schmerzensgeld hat nach ständiger Rechtsprechung sowohl des Bundesgerichtshofs als auch des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts , des Bundessozialgerichts und des Bundesarbeitsge- richts rechtlich eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, für diejenige Lebenshemmung , die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion , st. Rspr., grundlegend BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 154 ff.; BVerfG, NJW 2006, 1580 Rn. 18; BVerfG, NJW 2010, 433 Rn. 25; BGH, VI. Zivilsenat, Urteile vom 13. Oktober 1992 - VI ZR 201/91, BGHZ 120, 1, 4 f.; vom 29. November 1994 - VI ZR 93/94, BGHZ 128, 117, 120 f.; vom 16. Mai 1961 - VI ZR 112/60, VersR 1961, 727 f.; vom 16. Dezember 1975 - VI ZR 175/74, VersR 1976, 660, 661; vom 16. Februar 1993 - VI ZR 29/92, VersR 1993, 585; vom 16. Januar 1996 - VI ZR 109/95, VersR 1996, 382; III. Zivilsenat, Urteil vom 13. Januar 1964 - III ZR 48/63, VersR 1964, 389; BVerwG, NJW 1995, 3001, 3002; BAG, NJW 2010, 2970 Rn. 41; BSG, Urteil vom 22. August 2012 – B 14 AS 103/11 R, juris Rn. 20 mwN; vgl. auch Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearb. 2005, § 253 Rn. 28 ff.). Auch der 3. Strafsenat will an dieser herkömmlichen Auslegung des § 253 Abs. 2 BGB festhalten (Beschluss vom 5. März 2015 - 3 ARs 29/14, aaO Rn. 16).
- 49
- Dabei steht der Entschädigungs- oder Ausgleichsgedanke im Vordergrund. Im Hinblick auf diese Zweckbestimmung des Schmerzensgeldes bildet die Rücksicht auf Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen die wesentlichste Grundlage bei der Bemessung der billigen Entschädigung. Für bestimmte Gruppen von immateriellen Schäden hat aber auch die Genugtuungsfunktion, die aus der Regelung der Entschädigung für immaterielle Schäden nicht wegzudenken ist (zur Historie vgl. BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 155 ff.; Walter, Geschichte des Anspruchs auf Schmerzensgeld, 2004, S. 381 ff., 397), eine besondere Bedeutung. Sie bringt insbesondere bei vorsätzlichen Taten eine durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Ausdruck, die nach der Natur der Sache bei der Bestimmung der Leistung die Berücksichtigung aller Umstände des Falles gebietet (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157; VI. Zivilsenat, Urteil vom 16. Januar 1996 - VI ZR 109/95, VersR 1996, 382). Eine entsprechende Bedeutung kommt der Genugtuungsfunktion zu, wenn der Geschädigte ausnahmsweise so gut gestellt ist, dass bei ihm durch keinerlei Geldbeträge ein Ausgleich für einen immateriellen Schaden herbeigeführt werden kann (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157).
- 50
- bb) Daran hat sich durch die seit der Streichung von § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB aF durch das Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs und anderer Gesetze vom 14. März 1990 (BGBl. I S. 478) mögliche Übertragbarkeit und Vererblichkeit des Anspruchs (vgl. BGH, VI. Zivilsenat, Urteil vom 6. Dezember 1994 - VI ZR 80/94, VersR 1995, 353 f.) nichts geändert. Mit der Änderung sollte nicht der höchstpersönliche Charakter des Schmerzensgeldes beseitigt, sondern lediglich den als unwürdig empfundenen Zuständen begegnet werden, zu denen es nach alter Rechtslage gerade bei schwersten Verletzungen gekommen war, weil die Angehörigen sich auf ein "makabres Wettrennen mit der Zeit" (BT-Drucks. 11/5423, S. 1) einlassen mussten, um beispielsweise bei andauernder Bewusstlosigkeit des Verletzten die gesetzlichen Erfordernisse erfüllen zu können (BGH, VI. Zivilsenat, Urteil vom 6. Dezember 1994 - VI ZR 80/94, aaO, 354; OLG Karlsruhe, NZV 1999, 210, 211).
- 51
- cc) Die Anerkennung des Umstands, dass in Fällen, in denen der Verletzte wegen der Zerstörung seiner psychischen Funktionen weder einen Ausgleich noch Genugtuung empfinden kann, die Einbuße der Persönlichkeit infol- ge schwerer Hirnschädigung im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Wertentscheidung des Art. 1 Abs. 1 GG schon für sich einen auszugleichenden immateriellen Schaden darstellt, stellt die doppelte Funktion des Schmerzensgeldes nicht in Frage. In diesen Fällen steht die Zerstörung der Persönlichkeit - die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung (BGH, Großer Senat für Zivilsachen , Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157) - im Mittelpunkt und muss bei der Bemessung der Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB einer eigenständigen Bewertung zugeführt werden, wobei wie auch sonst die Schwere der Schuld des Täters und die Leistungsfähigkeit des Schädigers berücksichtigt werden können (BGH, VI. Zivilsenat, Urteil vom 13. Oktober 1992 - VI ZR 201/91, BGHZ 120, 1, 5 ff.; vom 16. Februar 1993 - VI ZR 29/92, VersR 1993, 585, 586).
- 52
- dd) Die Vereinigten Großen Senate können ihrer Entscheidung entsprechend dem vorzitierten Beschluss des Großen Senats für Zivilsachen die doppelte Funktion des Schmerzensgeldes und den Genugtuungsgedanken ohne weiteres zugrunde legen. Der 2. Strafsenat stellt dies in dem Vorlagebeschluss nicht infrage (s. auch Beschlüsse vom 8. Oktober 2014 - 2 StR 137/14 und 2 StR 32 StR 337/14, r+s 2015, 94 Rn. 34 f.).
- 53
- d) Der unbestimmte Rechtsbegriff der "billigen Entschädigung" ist im Ergebnis nach dem Wortlaut, systematisch, historisch und teleologisch dahin auszulegen , dass bei der Bemessung der "billigen Entschädigung" durch den Richter alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden dürfen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie die einzelnen Umstände bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu gewichten sind.
- 54
- aa) Dabei stehen die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung ganz im Vordergrund (vgl. BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157). Bei den unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit zu berücksichtigenden Umständen hat die Rücksicht auf Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen stets das ausschlaggebende Moment zu bilden; der von dem Schädiger zu verantwortende immaterielle Schaden, die Lebensbeeinträchtigung steht im Verhältnis zu den anderen zu berücksichtigenden Umständen immer an der Spitze (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149,
167).
- 55
- Daneben können aber auch alle anderen Umstände berücksichtigt werden , die dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, wie - was der 2. Strafsenat nicht in Zweifel zieht - der Grad des Verschuldens des Schädigers, im Einzelfall aber auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten oder diejenigen des Schädigers (BGH, Großer Senat für Zivilsachen , Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157 ff.). Ein allgemein geltendes Rangverhältnis aller anderen zu berücksichtigenden Umstände lässt sich nicht aufstellen, weil diese Umstände ihr Maß und Gewicht für die Höhe der billigen Entschädigung erst durch ihr Zusammenwirken im Einzelfall erhalten (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 167 f.; Diederichsen, VersR 2005, 433). Auch hierzu sind die Ausführungen des Großen Senats für Zivilsachen in seinem Beschluss vom 6. Juli 1955 (GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157 ff.) weiterhin maßgebend.
- 56
- bb) Vor diesem Hintergrund kann entgegen der Auffassung des 2. Strafsenats eine isolierte Betrachtung dahin, ob es bei der Bemessung des Schmerzensgeldes generell-abstrakt zum einen auf die Vermögenslage des Geschädigten (Beschluss vom 8. Oktober 2014, 2 StR 137/14 und 2 St2 StR 337/14, r+s 2015, 94 Rn. 23 ff.), zum anderen auf die Vermögenslage des Schädigers (aaO, Rn. 33 ff.) ankommen dürfe (ebenso teilweise die Literatur, vgl. Pecher, AcP 171 (1971), 44, 69 f.; Ekkenga/Kuntz in Soergel, BGB, 13. Aufl., § 253 Rn. 16), nicht Platz greifen. Denn es geht bei der Bemessung der billigen Entschädigung um eine Gesamtbetrachtung. Erst dadurch, dass der (Tat-)Richter im ersten Schritt alle Umstände des Falles in den Blick nimmt, dann die prägenden Umstände auswählt und gewichtet, dabei gegebenenfalls auch die (wirtschaftlichen) Verhältnisse der Parteien zueinander in Beziehung setzt (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 168), ergibt sich im Einzelfall, welche Entschädigung billig ist (vgl. auch Müller, VersR 1993, 909, 915 f.; MünchKommBGB/Oetker, 6. Aufl., § 253 Rn. 38; Vieweg/Lorz in jurisPK-BGB, Stand 1. Oktober 2014, § 253 Rn. 75).
- 57
- cc) Die Betrachtung, dass es - generell-abstrakt - nicht zulässig ist, die Vermögenslage des Schädigers oder des Geschädigten einzubeziehen, hätte zudem zur Folge, dass die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes unausgesprochen negiert würde (so auch 3. Strafsenat, Beschluss vom 5. März 2015 - 3 ARs 29/14, aaO). Wenn der Genugtuungsgedanke eine Bedeutung behalten soll, sind "Art und Ausmaß des vom Schädiger wiedergutzumachenden Unrechts" eben nicht in allen denkbaren Fällen abstrakt-generell von seinen Vermögensverhältnissen und insbesondere einem etwaigen wirtschaftlichen Gefälle zwischen den Parteien "gänzlich unabhängig" (2. Strafsenat, Beschluss vom 8. Oktober 2014 - 2 StR 137/14 und 2 St2 StR 337/14, aaO Rn. 35). Die Verletzung einer "armen" Partei durch einen vermögenden Schädiger kann etwa bei einem außergewöhnlichen "wirtschaftlichen Gefälle" ein bei der Gesamtbetrachtung des Einzelfalles mit zu berücksichtigender Umstand sein.
- 58
- 2. Auch eine verfassungskonforme Auslegung des § 253 Abs. 2 BGB gebietet es nicht - entgegen dem Wortlaut, der Systematik des Gesetzes und dem Sinn und Zweck der Norm -, dass der Tatrichter bestimmte Umstände des Einzelfalls wie die Vermögensverhältnisse der Parteien von vornherein nicht berücksichtigen darf.
- 59
- a) Zur Begründung der gegenteiligen Ansicht wird unter anderem angeführt , eine unterschiedliche Bewertung von körperlichen und seelischen Leiden danach, ob der Betroffene finanziell besser oder schlechter gestellt sei, lasse sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen. Eine solche Anknüpfung an die Vermögensverhältnisse sei mit dem sich aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden , jedem Menschen in gleichem Maße ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften , seine Leistungen und seinen sozialen Status zukommenden Wert- und Achtungsanspruch und jedem Menschen in gleichem Maße zustehenden Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG) nicht vereinbar (ähnlich Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearb. 2005, § 253 Rn. 43).
- 60
- b) Dem ist nicht zu folgen. Damit wird die billige Entschädigung des § 253 Abs. 2 BGB mit der „Bewertung“ körperlicher oder seelischer Leiden gleichgesetzt. Das greift indes zu kurz, weil die in § 253 Abs. 2 BGB genannten Rechtsgüter als solche sich jeder Bewertung entziehen. Diese sind unverletzlich und unveräußerlich; ihr Wert ist unermesslich und unersetzlich (Art. 1 Abs. 1 und 2, Art. 2 Abs. 2 GG; vgl. BVerfG, NJW 2004, 2371, 2372).
- 61
- Das Gesetz kann diese Rechtsgüter nicht bewerten, sondern lediglich regeln, welche Folgen ihre Verletzung hat. Dabei kommen beispielsweise strafrechtliche , sozial- und verwaltungsrechtliche sowie zivilrechtliche Folgen einer Rechtsgutsverletzung in Betracht. Diese unterliegen jeweils ihrer eigenen Systematik und haben ihre eigenen Voraussetzungen.
- 62
- c) Entsprechendes gilt hinsichtlich der schadensrechtlichen Folgen einer Verletzung der in § 253 Abs. 2 BGB genannten Rechtsgüter (vgl. auch BGH, 3. Strafsenat, Beschluss vom 5. März 2015 - 3 ARs 29/14, aaO Rn. 17). Es kommt darauf an, welche Folgen das Gesetz an die Rechtsverletzung knüpft, und ob diese Regelungen der Verfassung entsprechen.
- 63
- aa) Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "billigen Entschädigung" durch den Großen Senat für Zivilsachen und die ständige Rechtsprechung dahin, dass der Tatrichter bei ihrer Bemessung alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen darf, beruht nicht auf einer unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) oder dem Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG).
- 64
- Der soziale Wert und Achtungsanspruch eines Menschen, der es verbietet , ihn zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (vgl. BVerfG, NJW 2006, 1580 Rn. 12), sowie die Rechte auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit werden nicht dadurch beeinträchtigt oder verletzt, dass bei der Bemessung der Höhe eines zivilrechtlichen Anspruchs alle Umstände des Einzelfalls, darunter auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien, berücksichtigt werden d ü r f e n. Es obliegt vielmehr dem (Tat-)Richter, die Wertentscheidungen des Grundgesetzes bei der Bemessung der "billigen Entschädigung" , insbesondere bei der Auswahl und der im Verhältnis zueinander erfolgenden Gewichtung der fallprägenden Umstände im jeweiligen Einzelfall zu beachten. Bei besonderen Fallgestaltungen kann dem durch die Verfassung geschützten sozialen Achtungsanspruch gerade - auch - durch den Blick auf das Verhältnis der wirtschaftlichen Lage des Schädigers einerseits, des Geschädigten andererseits Genüge getan werden.
- 65
- bb) Die herkömmliche Auslegung des allgemeinen Rechtsbegriffs der billigen Entschädigung, wonach der Tatrichter alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen darf, stellt auch keine Verletzung des Gleichheitssatzes dar (Art. 3 Abs. 1 GG). Das Bundesverfassungsgericht hat zu § 847 BGB aF bereits entschieden , dass die Vorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist (BVerfG, NJW 2000, 2187 f.) und gerade wegen der Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs "billige Entschädigung" Differenzierungen zulässt, die eine dem Gleichheitssatz entsprechende Anwendung ermöglichen.
- 66
- (1) Art. 3 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten in wesentlicher Hinsicht anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Eine solche Grundrechtsverletzung liegt nicht nur dann vor, wenn der Gesetzgeber mehrere Personengruppen ohne hinreichenden sachlichen Grund verschieden behandelt, sondern ebenfalls dann, wenn die Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften zu einer derartigen, dem Gesetzgeber verwehrten Differenzierung gelangen. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass der Verfassungsgrundsatz lediglich die Gleichbehandlung der Bürger durch den nämlichen - zuständigen - Träger der öffentlichen Gewalt verlangt , nicht aber die Gleichbehandlung durch mehrere voneinander unabhängige Träger. Insbesondere verletzen abweichende Auslegungen derselben Norm durch verschiedene Gerichte das Gleichbehandlungsgebot nicht (BVerfG, NJW 2000, 2187 mwN).
- 67
- (2) Da die herkömmliche Auslegung des Rechtsbegriffs der billigen Entschädigung für alle Normadressaten gleichermaßen gilt, liegt darin schon keine Ungleichbehandlung. Eine solche könnte höchstens durch die Rechtsprechung eines Gerichts - auch des Revisionsgerichts bei der Überprüfung der tatrichter- lichen Festsetzung des Schmerzensgeldes auf Rechtsfehler (vgl. BGH, VI. Zivilsenat , Urteile vom 12. Mai 1998 - VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, 391; vom 19. September 1995 - VI ZR 226/94, VersR 1996, 380) - entstehen, wenn die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien im Hinblick auf andere von diesem Gericht getroffene Entscheidungen zu einer nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigten Ungleichbehandlung führte. Solche Rechtsprechung ist aber nicht ersichtlich.
- 68
- Die verschiedentlich in diesem Zusammenhang geäußerte Befürchtung, die herkömmliche Auslegung des § 253 Abs. 2 BGB könne zu einer "Taxierung des Schmerzensgeldes nach sozialen Klassen" führen (vgl. auch Harbauer, VersR 1969, 589, 590), wird der bisherigen umfangreichen, differenzierten und einer gleichmäßigen, gerechten und billigen Bemessung der Entschädigung Sorge tragenden Rechtsprechungspraxis der Tatrichter (vgl. nur Hacks/Wellner/ Häcker, Schmerzensgeldbeträge 2015, 33. Aufl., Nr. 1 - 3257), die die vom Verletzten erlittene Lebenshemmung ganz in den Vordergrund stellt, nicht gerecht.
- 69
- cc) Die von dem Tatrichter in Ausfüllung seiner originären Aufgabe vorgenommene Bemessung der Entschädigung im Einzelfall sowie deren revisionsrechtliche Kontrolle durch den Bundesgerichtshof (BGH, VI. Zivilsenat, Urteile vom 12. Mai 1998 - VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, 391; vom 19. September 1995 - VI ZR 226/94, VersR 1996, 380) unterliegt der verfassungsrechtlichen Überprüfung darauf, ob die Auslegung und Anwendung des § 253 Abs. 2 BGB auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte beruht (insbesondere Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) oder gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt (vgl. BVerfG, NJW 2000, 2187 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat - soweit ersichtlich - in keinem Fall die Auslegung und Anwendung des § 253 Abs. 2 BGB (oder des § 847 BGB aF) im Zu- sammenhang mit der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien beanstandet.
III.
- 70
- Bei der zweiten Vorlagefrage des 2. Strafsenats geht es um den Maßstab , nach dem die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten zu berücksichtigen sind. Dazu ist zunächst nochmals zu betonen, dass es bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, wie etwa die Vermögensverhältnisse des Schädigers oder des Geschädigten, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls geht. Diese hat der - rechtlicher Kontrolle unterliegende - Tatrichter zunächst sämtlich in den Blick zu nehmen, dann die fallprägenden Umstände zu bestimmen und diese im Verhältnis zueinander zu gewichten. Dabei ist in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen; hier liegt das Schwergewicht (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55 BGHZ 18, 149, juris Rn. 19).
IV.
- 71
- Für die Frage, ob es im Urteil Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Schädigers oder des Geschädigten bedarf und ob der Einfluss dieser Verhältnisse auf die Bemessung der billigen Entschädigung in den Urteilsgründen erörtert werden muss, ergibt sich danach:
- 72
- Im Rahmen der bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld wie dargestellt gebotenen Gesamtbetrachtung steht in der Regel die infolge der Schädigung erlittene Lebenshemmung im Vordergrund. Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der beiden Teile und Ausführungen zu deren Einfluss auf die Bemessung der billigen Entschädigung sind daher nur geboten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Einzelfall ein besonderes Gepräge geben und deshalb bei der Entscheidung ausnahmsweise berücksichtigt werden mussten. Limperg Galke Meier-Beck VRiBGH Prof. Dr. Bergmann hat an der Entscheidung mitgewirkt, ist aber an der Unterschriftsleistung infolge Krankheit verhindert. Limperg Stresemann Fischer Sost-Scheible Raum Büscher Milger Ellenberger Eick Felsch Gehrlein Franke Jäger Schäfer Schneider Seiters Schilling Berger Krehl Gericke
Das OLG Braunschweig hat mit Urteil vom 28.02.2019 - 9 U 129/15 – entschieden:
Amtliche Leitsätze:
1. Ist ein Arzt wegen eines Behandlungsfehlers zum Schadensersatz verpflichtet, ist es ihm zwar nicht grundsätzlich verwehrt, sich auf ein Mitverschulden des Patienten zu berufen. Bei der Bejahung mitverschuldensbegründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten ist allerdings Zurückhaltung geboten.
2. Im Allgemeinen obliegt es zwar dem Patienten, grundsätzlich einen Arzt aufzusuchen, wenn eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes dies nahelegt . Es hängt indes von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wann die Nicht-Konsultation eines Arztes diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.
3. Treten bei dem Patienten erneut Symptome auf, für die aufgrund der vorangegangenen, auf unzureichender Befunderhebung basierenden Diagnose des Arztes dem Patienten Erklärungen genannt wurden, die keine zeitnahe Wiedervorstellung nahelegen, so stellt es keinen ein Mitverschulden begründenden Sorgfaltsverstoß dar, wenn sich der Patient beim Wiederauftreten der Symptome nicht sofort wieder in Behandlung begibt. Vielmehr darf insoweit der Patient zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass keine ernsthafte Erkrankung vorliegt.
4. Ist einem Arzt durch schuldhaftes Unterlassen der gebotenen Befunderhebung nach dem Grundsatz des groben Behandlungsfehlers zuzurechnen, dass eine an Darmkrebs erkrankte 47-jährige Patientin nach 4 ½ Jahren Überlebenszeit mit zahlreichen belastenden Therapien und Operationen verstorben ist, indem ihr die Chance auf eine zeitgerechte, weniger invasive Behandlung von 4-5 Monaten mit vollständiger Genesung genommen wurde, so ist die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 70.000,00 € angemessen und keinesfalls überhöht.
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 - wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Dieses und das vorbezeichnete Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 - sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf die Wertstufe bis 125.000 € festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Klägerinnen machen als Erbinnen nach der verstorbenen, ehemaligen Klägerin M. F. gegen den Beklagten als behandelnden Arzt Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche wegen eines behaupteten Befunderhebungsfehlers im Zusammenhang mit einer Behandlung der Erblasserin ab dem 31.08.2007 geltend.
Die Erblasserin stellte sich nach Überweisung des Internisten Dr. S. am 31.08.2007 wegen zum Teil spritzender Blutungen aus dem Anus beim Beklagten vor, der Hämorrhoiden und eine Analfissur diagnostizierte und behandelte. Eine erneute Vorstellung erfolgte am 09.10.2007. Eine Darmspiegelung oder eine Mastdarmspiegelung wurden von dem Beklagten nicht veranlasst. Auf das Schreiben vom 11.10.2007 an den überweisenden Arzt Dr. S. , in dem der Beklagte mitteilte, dass bei Beschwerdefreiheit zunächst keine weiteren Sitzungen geplant seien und eine ergänzende hohe Koloskopie nicht zwingend erforderlich sei, wird Bezug genommen.
Vom 13.05.2008 bis zum 15.05.2008 befand sich die Erblasserin in stationärer Behandlung im Klinikum L.. Das Klinikum L. diagnostizierte Darmkrebs bei der Erblasserin, der bereits in die Leber metastasiert hatte. Im vorläufigen Entlassungsbrief vom 15.05.2008 heißt es zur Anamnese und zum Aufnahmegrund: „Die Patientin berichtet von seit ca. 6 Monaten bestehenden Diarrhoen mit hellroten Blutauflagerungen sowie ausgeprägtem Meteorismus. Darüber hinaus habe sie eine zunehmende Müdigkeit und Schlappheit seit ca. 6 Monaten bemerkt.“ Die Erblasserin musste sich in der Folgezeit zahlreichen Behandlungen unterziehen.
Die Erblasserin nahm wegen der unterbliebenen Darmspiegelung einen groben Behandlungsfehler des Beklagten an und behauptete, dass bei Durchführung der Darmspiegelung der Tumor früher erkannt und seine Vergrößerung sowie die Metastasenbildung verhindert worden wären. Nach erfolgloser außergerichtlicher Aufforderung hat sie im Dezember 2011 Klage erhoben. Am 13.12.2012 verstarb die Erblasserin an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Sie ist von den Klägerinnen beerbt worden, die den Rechtsstreit aufgenommen haben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands I. Instanz und der darin gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen.
Das Landgericht hat der Klage nahezu vollumfänglich stattgegeben und dies wie folgt begründet:
Der Beklagte hafte den Klägerinnen aus §§ 823 Abs. 1, 280 Abs. 1, 611, 249 ff., 1922 Abs. 1 BGB auf materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld. Ihm sei anlässlich der Behandlung vom 31.08.2007 ein Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers vorzuwerfen.
(...)
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. November 2015 - 4 O 3112/11 - aufzuheben und die Klage abzuweisen
Die Klägerinnen beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
(...)
II.
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.
A.
Nach dem Ergebnis der vom Senat ergänzten Beweisaufnahme steht den Klägerinnen als Erbinnen der verstorbenen M. F. aus übergegangenem Recht gegenüber dem Beklagten gemäß §§ 823 Abs. 1, 280 Abs. 1, 611, 249ff., 1922 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 70.000,00 € sowie materieller Schadensersatz für Verdienstausfall in Höhe von insgesamt 42.243,83 € zu.
Rechtsfehlerfrei - und mit der Berufung auch nicht angegriffen - hat das Landgericht einen Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers angenommen, indem es der Beklagte am 31.08.2007 unterlassen hat, bei der Erblasserin eine Rektoskopie durchzuführen, welche mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte und das Nichtreagieren auf diesen Befund ein grober Behandlungsfehler gewesen wäre . Ebenso zutreffend hat Landgericht festgestellt, dass aus diesem grob ärztlichen Fehler eine Beweislastumkehr folgt, die sich auf das Fortschreiten des Tumors, auf die Metastasierung und auf das Versterben der Erblasserin bezieht.
Auch nach der in der Berufungsinstanz durchgeführten ergänzenden Beweisaufnahme ist es dem Beklagten nicht gelungen, den ihm - aufgrund der Beweislastumkehr - obliegenden Beweis zu führen, dass die um 9 Monate verspätete Diagnose nicht oder auch nur teilweise nicht für den weiteren Krankheitsverlauf der Erblasserin ursächlich geworden ist. Der Beklagte hat nicht mit der gemäß § 286 ZPO erforderlichen Überzeugung nachgewiesen, dass bereits im August 2007 bei der Erblasserin ein Tumorstadium T3 oder T4 vorlag, sondern lediglich das Vorliegen eines Tumors im Stadium T2 bewiesen. Ebenso wenig hat der Beklagte den Nachweis erbracht, dass bei der Erblasserin bereits im August 2007 Metastasen bestanden oder bei der Erblasserin in jedem Fall Metastasen aufgetreten wären . Daraus resultierend hat der Beklagte nicht bewiesen, dass die notwendigen Behandlungen der Krebserkrankung, die Erwerbsunfähigkeit und das Versterben der Erblasserin nicht auf seine verspätete Diagnose zurückzuführen sind . Ein Mitverschulden der Erblasserin liegt nicht vor . Vor diesem Hintergrund ist das zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € nicht überhöht und materieller Schadensersatz wegen Verdienstausfall in Höhe von 42.243,83 € erstattungsfähig.
1. Aufgrund der ergänzenden Beweisaufnahme ist es dem Beklagten nicht gelungen nachzuweisen, dass im August 2007 bereits ein Tumor der Größe T3 oder gar T4 vorgelegen hat. Der Beklagte konnte lediglich den Beweis führen, dass kein Tumor der Größe T1 vorlag, sondern mindestens ein Tumorstadium T2 gegeben war.
Der Senat folgt bei seiner Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen PD Dr. S. B., dessen fachliche Qualifikation zur Überzeugung des Senates feststeht . Der Sachverständige hat unter Auswertung der vollständig beigezogenen Krankenunterlagen ein in jeder Hinsicht in sich schlüssiges, nachvollziehbares und mit wissenschaftlichen Belegen versehenes schriftliches Gutachten erstattet und dieses mündlich ergänzend erläutert. Seine Darlegungen und Ausführungen waren dabei klar, widerspruchsfrei und ohne Verstöße gegen die Denkansätze. Der Senat hat sich mit den Erläuterungen des Sachverständigen und mit den von ihm vertretenen Ergebnissen intensiv und kritisch auseinandergesetzt. Der Senat hat nach eigener sorgfältiger Prüfung keine Bedenken, sich diesen Ausführungen anzuschließen und hierauf seine juristische Betrachtung aufzubauen.
Es bestehen keine Zweifel an der fachlichen Qualifikation des Sachverständigen PD Dr. S. B. Die Begutachtung durch einen onkologischen Sachverständigen ist nicht veranlasst. PD Dr. S. B. ist Arzt und Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie. Bereits in I. Instanz hat er nachvollziehbar ausgeführt, dass Teil seiner gastroenterologischen Ausbildung auch eine spezielle Ausbildung für gastroenterologische Turmore sei, wozu auch die speziell auf diesen Bereich bezogene Onkologie gehöre. In der mündlichen Verhandlung am 24.01.2019 hat der Sachverständige ergänzend erläutert, dass und warum die zu beantwortenden Fragen im hiesigen Verfahren in sein Fachgebiet und seine Expertise fallen. Er habe sich im speziellen auch mit dem Bereich der Tumorbiologie beschäftigt, auch wenn dies nicht zur grundsätzlich vorgesehenen Ausbildung der Ärzte gehöre.
Soweit der Beklagte einwendet, der Sachverständige habe keine dem Fall entsprechenden Studien herangezogen, greift das nicht durch. Der Sachverständige hat insoweit, wenngleich auch ohne förmliche Aufnahme in das Protokoll, nachvollziehbar ausgeführt, dass es belastbare Studien zu den Fragestellungen und der Konstellation des vorliegenden Falles schon aus ethischen Gründen nicht gebe. Denn man könne einen an Krebs erkrankten Patienten nicht unbehandelt lassen. Um vorliegend das hypothetische Szenario zur Tumorentwicklung anhand der späteren Befunde zu klären, sei er auf die vorgenommene Literaturrecherche angewiesen, mit der er im Übrigen im Rahmen seiner Laufbahn auch ausreichend vertraut sei. An die Professoren Wedemann und Schumacher, die sich in dem Bereich der Tumorbiologie mit Grundlagenforschung befassen würden, habe er sich einzig deshalb gewandt, um etwaige aktuelle belastbare Erkenntnisse in Erfahrung zu bringen, die noch nicht veröffentlicht worden seien. Solche gebe es indes nicht.
Nachvollziehbar, schlüssig und widerspruchsfrei sind auch die Ausführungen des Sachverständigen zur hypothetischen Größe des Tumors im August 2007. Die Ermittlung bzw. Berechnung des lokalen Tumorstadiums im August 2007 sei durch die fehlenden Angaben zur makroskopischen Tumorgröße im Mai 2008 erschwert . Der Gutachter hat deshalb zunächst anhand der anatomisch bedingt in Betracht kommenden zwei Berechnungsvarianten das Tumorvolumen im Mai 2008 plausibel eingegrenzt , wonach dieses etwa zwischen 94,2 cm³ bis 125,7 cm³ betrug. Aufgrund der wissenschaftlichen und praktischen Literaturdaten hinsichtlich der Tumorverdopplungszeiten von Rektumkarzinomen könne am ehesten davon ausgegangen werden, dass sich der Tumor der Erblasserin in den neun Monaten vor Mai 2008 verdoppelt oder vervierfacht habe . Hieraus ergäbe sich im August 2007 im Falle der Verdopplung ein Tumor der Größe T2 bis T3, im Falle der Vervierfachung der Größe T1 bis T2. Lasse man die hypothetischen Tumorvolumenberechnungen unter Zuhilfenahme des Hohlzylindermodells beiseite und berücksichtige die für T4-Tumore genannten Volumen in den Literaturstellen, ergäben sich für August 2007 bei einer Tumorverdopplung ein Volumen von circa 92cm³ oder bei einer Tumorvervierfachung von circa 46cm³; diese Volumina entsprächen einem T2 bis T3 Stadium . Zusammenfassend hat der Sachverständige PD Dr. B. in seinem Ergänzungsgutachten erläutert, dass es sich hierbei lediglich um eine Annäherung an die Wirklichkeit handele, die sich auf das statistische Mittel von Studien beziehe und niemals die exakte Wirklichkeit eines Individuums beschreiben könne . Insgesamt habe vorliegend am ehesten ein T2- oder T3-Tumor vorgelegen, ein T4- oder T1-Tumor sei weniger wahrscheinlich.
Ergänzend hat der Sachverständige PD Dr. B. in der mündlichen Verhandlung am 24.01.2019 nachvollziehbar hervorgehoben, dass sich aus den Modellrechnungen eine große Streubreite ergebe und Unsicherheiten beständen. Die von ihm vorgenommene Gewichtung, wonach am ehesten ein T3-Tumor vorgelegen habe, liege daran, dass die Mehrheit der von ihm ausgewerteten Literaturquellen von einer Tumorverdopplungszeit von 9 bis 12 Monaten ausgingen und nur eine Minderheit von einer Tumorverdopplungzeit in 4,7 Monaten. Die letztgenannte Verdopplungszeit erlaube es, auf einen T2-Tumor zum genannten Zeitpunkt rückzuschließen . Einfacher sei in diesem Zusammenhang die Abgrenzung zum Tumorstadium T4, der eher unwahrscheinlich vorgelegen habe. Dies ergebe sich insbesondere auch daraus, dass eine relativ geringe Eindringtiefe des Tumors in das perirektale Fettgewebe von 4 mm beschrieben worden sei. Diese Eindringtiefe ließe darauf schließen, dass der Vorgang des Eindringens noch nicht so geraume Zeit her sein konnte . Die „Wahrscheinlichkeitsabgrenzung“ zwischen einem Tumor der Größe T2 und der Größe T3 knüpfe schlicht an die diesbezüglichen Publikationen an. Es lägen weniger Studien vor, die sich mit einer Tumorverdopplungszeit von 4,7 Monaten beschäftigten, währenddessen sich die Mehrheit der ausgewerteten Literaturquellen mit einer Tumorverdopplungszeit von 9 bis 12 Monaten befasse. Mangels anderer Anhaltspunkte ergebe sich daraus seine Gewichtung und höhere Wahrscheinlichkeit für einen T3-Tumor . Es sei aber aus den genannten Gründen nicht so, dass die Betrachtung einer Tumorverdopplungszeit von 4,7 Monaten eine rein theoretische sei. Insgesamt könne das Vorliegen eines T3-Tumors im August 2007 bei allen Unsicherheiten für am Wahrscheinlichsten erachtet werden, das Vorliegen eines T2-Tumors zum selben Zeitpunkt für vergleichsweise dazu weniger wahrscheinlich, aber auch nicht völlig unwahrscheinlich.
Mit dem Sachverständigen ist davon auszugehen, dass es nahezu ausgeschlossen ist, dass im August 2007 nur ein Tumorstadium T1 vorgelegen hat . Insoweit gebe es dafür nur eine extrem geringe Restwahrscheinlichkeit, er - der Sachverständige PD Dr. B. - halte einen T1-Tumor für sehr unwahrscheinlich. Diese Aussage deckt sich mit seinen Erläuterungen in der öffentlichen Sitzung am 29.10.2015 vor dem Landgericht.
2. Dem Beklagten ist es aufgrund der ergänzenden Beweisaufnahme ebenfalls nicht zur Überzeugung des Senates gelungen, den Nachweis zu führen, dass bereits im August 2007 bei der Erblasserin Metastasen vorgelegen haben.
Bereits in seinem Ausgangsgutachten hat der Sachverständige zur Frage des Vorliegens von Fernmetastasen im August 2007 erläutert, dass man sich nur mithilfe von historischen Daten versuchen könne, sich dieser Frage anzunähern und jeder Anwortversuch letztlich spekulativ bleiben müsse . Das Wachstum von Metastasen sei, so der Sachverständige anschaulich in seinem Ergänzungsgutachten, ein hochkomplexer Prozess, der vielen individuellen Einflüssen unterliege: Tumorzellen müssten sich aus dem Primärtumor lösen, in den Blutkreislauf gelangen und sich dann z.B. in der Leber ansiedeln. Das anschließende Wachstum könne nach Wochen oder Monaten auftreten. Auch ein „Langzeitschlaf“ der Tumorzelle als Mikrokolonie sei möglich, wobei die Tumorzelle jederzeit aus ihrem Schlaf aufwachen könne.
Der Sachverständige PD Dr. B. hat hierzu ausführlich und belegt verschiedene, der Literatur zu entnehmende mögliche Verdopplungszeiten von Metastasen erläutert, wobei eine ganz erhebliche Schwankungsbreite bei einzelnen Patienten zwischen 10 - 411 Tagen und Mittelwerten der verschiedenen Studien zwischen 33 - 199 Tagen gegeben sei . Der Sachverständige hat davon ausgehend nachvollziehbar zum Zwecke der Rückberechnung anhand der Behandlungsunterlagen und Befunde der Erblasserin eine annähernde Größe des Volumens der größten Metastase im Mai 2008 ermittelt . Je nach der individuellen Verdopplungszeit könnten die im Mai 2008 diagnostizierten Metastasen seit August 2007 von 1 bis 26 Verdopplungszyklen durchlaufen haben . Bei Zugrundelegung der langsamsten Verdopplungszeit wären die Metastasen im August 2007 vorhanden und durch Bildgebung sichtbar gewesen, bei der schnellsten Verdopplungszeit seien sie wegen der geringen Größe durch Bildgebung nicht erkennbar. Auch könne das Wachstum der Metastasen durch die bei der Erblasserin am 17.04.2008 durchgeführten Hysterektomie stimuliert worden sein, was die Wahrscheinlichkeit der Präsenz von Metastasen schon im August 2007 verringern würde . Angesichts der skizzierten Unsicherheiten in der retrospektiven Abschätzung der Entwicklung von Metastasen erscheine es - vor dem Hintergrund der abgeschätzten Metastasengröße im Mai 2008 und der in der Literatur überwiegend angegebenen Fällen von Verdopplungszeiten - gerechtfertigt, die Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein von Metastasen im August 2007 mit 50 - 75% anzugeben.
In der öffentlichen Sitzung am 24.01.2019 hat der Sachverständige ergänzend erläutert, dass die genaue Anzahl der Lebermetastasen im Mai 2008 - wie auch unstreitig ist und von der Berufung nicht weiter angegriffen wird - nicht bekannt sei, sodass sich ein Rückschluss für den vorliegenden Fall nicht anstellen lasse . Aufgrund der regelmäßig vorkommenden großen Schwankungsbreite der Tumorverdopplungszeiten sowie der Unsicherheiten des aus dem CT-Befund vom 09.05.2008 grob abzuschätzenden Metastasenvolumens sei eine genaue Angabe eben nicht möglich. Das ist in der Gesamtbetrachtung in jeder Hinsicht überzeugend.
Der Sachverständige ist nachvollziehbar bei seiner Aussage geblieben, dass die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins von Metastasen am 31.08.2007 mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% bis 75% - genauer: von 50,1% bis 75% - gegeben sei. Das bedeute, es sei wahrscheinlicher, dass Metastasen vorgelegen hätten, als dass sie nicht vorgelegen hätten. Dies sei aber nur eine bloße Tendenzangabe. Es sei mithin keineswegs fernliegend, dass noch keine Metastasen vorgelegen hätten.
Des Weiteren hat der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten ausgeführt, dass die Beschwerden der Erblasserin „7xtäglich Diarrhoe und Meteorismus“ ausschließlich Auswirkungen des Primärtumors gewesen seien und keine Aussage hinsichtlich der Metastasierung zuließen. Die Beschwerden Müdigkeit und Schwäche seien ebenfalls nicht geeignet, um Aussagen zum Zeitpunkt der Metastasierung abzuleiten. Dies vor allem deshalb, weil diese Symptome auch auf die Schilddrüsenunterfunktion der Erblasserin oder die Hypermenorrhoen bei Uterus myomatosus zurückgeführt werden könnten . Dass die genannten Symptome insoweit keine eindeutige Zuordnung erlaubten, hat die Berufung überdies nicht infrage gestellt.
3. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist ebenfalls nicht zur Überzeugung des Senates bewiesen, dass auch bei Behandlung im August 2007 bei der Erblasserin Metastasen aufgetreten wären. Im Hinblick auf die nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen ist keinesfalls hinreichend sicher festzustellen , dass bei der Erblasserin wegen der Grunderkrankung in jedem Fall Metastasen aufgetreten wären.
Entgegen der Behauptung des Beklagten in seiner Berufungsbegründung hat der Sachverständige die Frage, ob die Fernmetastasierung auch bei frühzeitigerer Diagnose und Behandlung eingetreten wäre, konkret beantwortet. Der Sachverständige hat bereits in seinem Ausgangsgutachten verschiedene Studien und Arbeiten im Zusammenhang mit der generellen Entwicklung bzw. Entstehung von Metastasen erörtert : Das Auftreten von Metastasen sei stark vom Tumorstadium bei der Diagnose abhängig. Aus der französischen Studie „Leporrier“ ergebe sich, dass Metastasen im UICC-Stadium I bei 6,9% der Patienten, im UICC-Stadium II bei 17,6% der Patienten und im UICC-Stadium III bei 40,3% der Patienten auftraten . Eine Arbeit aus dem Tumorregister München gebe das Risiko der Fernmetastasierung für einen T1-Tumor mit 1,2%, für einen T2-Tumor mit 4,2%, für eine T3-Tumor mit 21,2% und für einen T4-Tumor mit 45,4% an.
Im Hinblick auf diese Risiko-Studien und - aufgrund der Beweislast - davon ausgehend, dass bei der Erblasserin im August 2007 ein Tumor der Größe T2 und keine Metastasen vorlagen, wäre bei rechtzeitiger Behandlung die Wahrscheinlichkeit für eine Metastasierung allein wegen der Grunderkrankung der Erblasserin im weiteren Verlauf gering gewesen.
4. Nach den Ergebnissen der ergänzenden Beweisaufnahme steht nicht zur Überzeugung des Senates fest , dass die bei der Erblasserin durchgeführten Behandlungen infolge der Krebserkrankung , die eingetretene Erwerbsunfähigkeit und das Versterben der Erblasserin nicht kausal auf die verzögerte Diagnose zurückzuführen sind.
a) Die Therapie nach einer Krebsdiagnose hängt nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen PD Dr. B. ganz wesentlich davon ab, ob Metastasen vorliegen. Bei Vorliegen von Metastasen würden die therapeutischen Bemühungen in erster Linie der Metastasierung gelten . Eine Resektion des Primärtumors erfolge nicht notwendigerweise. Bei Vorliegen der Metastasierung werde vorrangig angestrebt, die Metastasen entweder sofort oder nach einer Therapie bestehend aus klassischer Chemotherapie sowie gegen Wachstumsfaktoren gerichtete Antikörper zu resezieren . Könnten die Metastasen nicht reseziert werden, werde eine palliative Therapie mit dem Ziel der Tumormassenreduktion ohne Aussicht auf Heilung durchgeführt. Wenn keine Fernmetastasen vorlägen, hänge die Therapie im Wesentlichen von der Tumorgröße und dem Vorliegen von Lymphknotenmetastasen ab.
Im Hinblick auf die Beweislastverteilung und die Ergebnisse der durchgeführten Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass bei der Erblasserin im August 2007 ein Tumor der Größe T2 vorlag sowie keine Lymphknotenmetastasen und keine Fernmetastasen gegeben waren. Hieraus resultierend ergibt sich ein UICC-Stadium I. welches als gesicherte erforderliche/notwendige Therapie lediglich die operative Entfernung des Tumors zur Folge hat. Eine neoadjuvante Tumortherapie, eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung sind im UICC-Stadium I in der Regel nicht erforderlich. Der Sachverständige hat zudem die diesbezüglichen Widersprüche zwischen seinen schriftlichen Ausführungen und den mündlichen Erklärungen in der öffentlichen Sitzung vom 29.10.2015 vor dem Landgericht aufklären können. Der Sachverständige hat nachvollziehbar und glaubhaft in der mündlichen Verhandlung am 24.01.2019 erläutert, dass er offenbar durch das Landgericht falsch verstanden worden sei. Soweit dort auf Seite 7 des landgerichtlichen Protokolls in Zeile 5 und 6 des dritten Absatzes „die verschiedenen Stadien T1 bis T4“ und „Tumorstadium T2 bzw. 3“ aufgeführt sei, habe er die „verschiedenen Stadien I - IV“ angegeben und nicht „T1 bis T4“. Hiermit sei die Bezifferung nach UICC gemeint. In der Zeile 6 müsse es „Tumorstadium II bzw. III“ heißen, der Buchstabe „T“ sei fehlerhaft eingefügt worden. Diese Richtigstellung ist überzeugend. Sie ist anhand der in der Berufungsverhandlung erörterten UICCKlassifizierung nachzuvollziehen.
Bei der Erblasserin sind auch nicht lediglich Maßnahmen für eine Tumorresektion durchgeführt worden, sondern unstreitig folgende zahlreiche Therapien und medizinische Behandlungen; diese sind kausal auf die verspätete Diagnose des Beklagten zurückzuführen:
Unstreitig erfolgte aufgrund der Krebserkrankung der Erblasserin während der stationären Behandlung im Klinikum L. im Mai/Juni 2008 eine anteriore Rektumresektion und wegen des Metastasenverdachtes eine Leber-PE. In der Folgezeit schloss sich von Juni 2008 bis November 2008 eine palliativ intendierte, kombinierten Antikörper-Chemotherapie mit 11 Zyklen nach Portimplantation an. Bis April 2010 unterzog sich die Erblasserin einer weiteren Chemotherapien mit 20 Zyklen . Im Mai/Juni 2010 begann die Erblasserin eine dritte Chemotherapie mit 3 Zyklen . Nach der Einholung verschiedener Zweitmeinungen führte die Erblasserin im Juli/August 2010 eine SIRT-Therapie durch. Vom 8. bis 13.09.2010 befand sich die Erblasserin zur stationären Untersuchung im Klinikum Großhardern. Im Zeitraum 22. bis 27.09.2010 musste sich die Erblasserin im Klinikum Großhadern wegen Metastasierungen Eileiter, Eierstöcke und Blinddarm entfernen lassen. Im Jahr 2011 wurde eine weitere Chemotherapie durchgeführt. Im Juli und August 2012 erfolgten weitere Behandlung im Klinikum L. aufgrund der vorliegenden Metastasen sowie eine weitere Chemotherapie . Wegen der genauen Einzelheiten der Behandlung wird auf die bei der Akte befindlichen zahlreichen Behandlungsunterlagen und Arztbriefe Bezug genommen, insbesondere die Anlagen K27 bis K31.
Soweit die Berufung pauschal rügt, es hätte der Beiziehung „sämtlicher Behandlungsunterlagen“ bedurft, um „zu prüfen, welche der einzelnen Behandlungen der Grunderkrankung oder deren Fortschreiten infolge verzögerter Diagnose zuzuordnen“ sei, verfängt das nicht. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass und gegebenenfalls welche Behandlungsunterlagen noch hätten fehlen können und inwieweit sich daraus eine andere Beurteilung der Kausalität ergeben sollte.
b) Der Beklagten hat auch nicht den Nachweis geführt, dass die Erwerbsunfähigkeit der Erblasserin, die im April 2009 festgestellt wurde, nicht kausal auf die verzögerte Diagnose des Beklagten zurückzuführen ist. Dem Beklagten ist nicht der Beweis gelungen, dass die Erblasserin auch bei einer frühzeitigen Krebsdiagnose im August 2007 wegen der Grunderkrankung erwerbsunfähig geworden wäre.
Insoweit hat der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung am 24.01.2019, dass im Falle des Vorliegens eines Tumorstadiums I nach optimaler Behandlung in 7-20% der Fälle die Patientin erwerbsunfähig werden . Nach seiner klinischen Erfahrung und unter Zugrundelegung des Therapieszenarios „Situation 1a“ gemäß Seite 12 des Ergänzungsgutachtens wäre die Erblasserin im September 2007 operiert worden und die Arbeitsfähigkeit wäre spätestens nach drei Monaten - mithin im Dezember 2007/ Januar 2008 - wieder gegeben gewesen. Hierbei sei zu unterstellen, dass es während der Operation nicht zu Komplikationen gekommen wäre, insbesondere keine anschließende Inkontinenz vorgelegen hätte. Dies sei zwar eine abstrakte Betrachtung. Allerdings seien auch keine Anhaltspunkte gegeben, dass im konkreten Verlauf derartige Komplikationen aufgetreten seien.
c) Letztlich konnte der Beklagte zur Überzeugung des Senates auch nicht nachweisen, dass das Versterben der Erblasserin am 13.12.2012 nicht kausal auf die verzögerte Diagnose des Beklagten zurückzuführen ist. Dem Beklagten ist nicht der Beweis gelungen, dass die Erblasserin auch bei einer frühzeitigen Krebsdiagnose im August 2007 ebenfalls wegen der Erkrankung frühzeitig verstorben wäre.
Die Überlebenschance bei einer Krebserkrankung, so der Sachverständige, seien stadienabhängig. Von wesentlicher Bedeutung - wie auch allgemein bekannt ist - für die Lebenserwartung sei das Vorliegen von Metastasen, vordergründig Fernmetastasen. Die Überlebensraten würden nach Ablauf einer bestimmten Zeit nach Erstdiagnose ausgedrückt, wobei in 2-Jahres- und 5-Jahres-Überlebensraten differenziert werde. Insoweit kann auf die Tabelle im Ausgangsgutachten vom 15.02.2015 auf Seite 13 Bezug genommen werden. Bei einem Tumor im UICC-Stadium I liege die 2-Jahres-Überlebensrate bei 97,8% und die 5-Jahres-Überlebensrate bei 93,4%. Bei einem Tumor im UICC-Stadium IV, wie er bei der Erblasserin im Mai 2008 diagnostiziert und festgestellt wurde, sinke die 2-Jahres-Überlebensrate auf 35%, die 5-Jahres-Überlebensrate liege bei nur noch 11%.
Im Hinblick auf die Beweislastverteilung ist davon auszugehen, dass bei der Erblasserin im August 2007 ein Tumor im UICC-Stadium I vorlag. Mit diesem - zu unterstellenden - Tumorstadium hätte die Erblasserin sehr gute Überlebenschancen gehabt.
Auf die von der Berufung weiter aufgeworfene Frage, wie der weitere Verlauf gewesen wäre, wenn im August 2007 der Tumor als im T3/T4-Stadium befindlich diagnostiziert und behandelt worden wäre und ob insbesondere auch in diesem Fall wenig Aussicht auf eine komplette Heilung bestanden hätte, kommt es nicht an. Dass im August 2007 ein Tumor im Stadium T3/T4 und nicht T2 vorlag, ist nicht festzustelle.
5. Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht ein Mitverschulden der Erblasserin verneint. Für den Einwand des Mitverschuldens ist der Beklagte voll beweisbelastet. Allein aufgrund des Vermerks in dem vorläufigen Entlassungsbrief vom 15.05.2008 „Die Patientin berichtet von seit ca. 6 Monaten bestehenden Diarrhoen mit hellroten Blutauflagerungen sowie ausgeprägtem Meteorismus. Darüber hinaus habe sie eine zunehmende Müdigkeit und Schlappheit seit ca. 6 Monaten bemerkt.“ kann ein haftungsbegründendes Mitverschulden der Erblasserin nicht angenommen werden.
Grundsätzlich kann sich auch der Arzt gegenüber dem Patienten, der ihn wegen fehlerhafter Behandlung und Beratung in Anspruch nimmt, darauf berufen, dass dieser den Schaden durch sein eigenes schuldhaftes Verhalten mitverursacht hat. Ein solches Mitverschulden liegt vor, wenn der Patient diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt . Der Schaden wird durch das Mitverschulden nur berührt, wenn er vom Schutzbereich der den Geschädigten treffenden Obliegenheiten erfasst ist; das ist nur der Fall, wenn die in der Situation des Geschädigten konkret von ihm geforderte Mitwirkungspflicht gerade die Vermeidung des eingetretenen Schadens bezweckt . Grundsätzlich ist bei der Bejahung mitverschuldensbegründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten allerdings Zurückhaltung geboten ist . Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann der Erblasserin ein Mitverschulden nicht angelastet werden.
Als Ausgangspunkt der zu beantwortenden Frage kann zunächst nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Angaben in dem vorläufigen Entlassungsbericht vom 15.05.2008 des Klinikums L. lediglich die Zusammenfassung dessen sind, was die behandelnden Ärzte in ihren eigenen Worten aufgrund der Mitteilungen der Erblasserin bei Aufnahme am 13.05.2008 vermerkt haben. Eine stückweise Einschränkung erhält die Anamnese bereits durch das mehrfach verwendete Kürzel „ca.“, welches sich auf den Zeitraum und die Häufigkeit der Symptome bezieht. Darüber hinaus ist eine gewisse Ungenauigkeit der Wiedergabe der Angaben der Erblasserin durch die Ärzte ebenfalls nicht gänzlich ausschließbar. Letztlich konnte - wie bei jedem medizinischen Laien - die Vorstellung der Erblasserin bei der Angabe von „Durchfall“ divergieren zum ärztlichen Befund von bestehenden echten „Diarrhoen“.
Bei der Prüfung des Mitverschuldens kommt es nicht darauf an, ob es der Erblasserin möglich gewesen wäre, sich nach der letzten Vorstellung bei dem Beklagten früher in Behandlung zu geben und ob das unter Berücksichtigung des weiteren Verlaufs vernünftig gewesen wäre. Es kommt allein auf die damalige Perspektive der Erblasserin als Patientin an. Die vorliegende Konstellation stellt keinen Fall des Nichtbefolgens eines ärztlichen Rates/Anordnung bzw. der Missachtung von Therapie- oder Kontrollanweisungen eines Facharztes dar. Vielmehr hat die Erblasserin den Beklagten als Facharzt konsultiert, ist behandelt worden und hat eine abschließende Diagnose nach Beendigung der Behandlung erhalten. Im Allgemeinen obliegt es zwar dem Patienten, grundsätzlich einen Arzt aufzusuchen, wenn eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes dies nahelegt . Es hängt indes von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wann die Nicht-Konsultation eines Arztes diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Solche Umstände, die einen derartigen Sorgfaltsverstoß begründen, sind in der Gesamtschau vorliegend aber nicht gegeben. Dabei ist insbesondere zu Gunsten der Erblasserin zu berücksichtigen, dass sie zuvor bei dem Beklagten wegen ihrer rektalen Blutungen abschließend behandelt worden ist und hierfür die Diagnose „Verursachung durch Hämorrhoiden und Analfissur“ erhalten hat. Insoweit konnte und dürfte die Erblasserin zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass im Hinblick auf ihren Darm keine ernsthafte Erkrankung vorliegt.
Darüber hinaus sind bei der Prüfung eines Sorgfaltsverstoßes aber auch besonders die weiteren Erkrankungen der Erblasserin zu berücksichtigen. Diese weiteren Erkrankungen haben nicht ausschließbar die Verschlechterung geraume Zeit verschleiert. Einerseits litt die Erblasserin seit längerem unter einer ausgeprägten Unterfunktion der Schilddrüse, wie der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten ausgeführt hat . Die Erblasserin hatte sich etwa zum Jahreswechsel 2006/2007 wegen einer Schilddrüsenüberfunktion einer Radiojodtherapie unterzogen und nahm sodann deshalb 50ug L-Thyroxin. Die Schilddrüsenunterfunktion kann gemäß der Erläuterungen des Sachverständigen einerseits Müdigkeit und Schwäche hervorrufen. Darüber hinaus kann die Einnahme von L-Thyroxin nach den allgemein zugänglichen Quellen bereits nach dem Beipackzettel - wenn auch in nicht quantifizierbarer Anzahl - als Nebenwirkung zu Diarrhoen führen. Des Weiteren hat sich die Erblasserin wegen bestehender Hypermenorrhoen bei Uterus myomatosmus bei erniedrigten Hb-Wert von 10,3 g/dl am 17.04.2008 einer totalen laparaskopischen Hysterektomie in der Frauenklinik des Klinikums L. unterzogen. Auch diese Erkrankung kann die Müdigkeit und Schwäche der Erblasserin hervorgerufen haben, wie der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten überzeugend und unangegriffen ausgeführt hat . Da sowohl die Unterfunktion der Schilddrüse als auch die Hypermenorrhoen Müdigkeit und Schwäche hervorrufen können, die Einnahme von L-Thyroxin darüber hinaus laut Beipackzettel Diarrhoen verursachen kann, musste die Erblasserin nicht zwangsläufig bei Vorliegen dieser Symptome an eine weitere und schwerwiegende Erkrankung denken, die das Aufsuchen eines Arztes zur Abklärung im Frühjahr 2008 schlechterdings erforderte.
Im Hinblick auf diese Gesamtumstände und insbesondere die mangelnde medizinische Sachkunde der Erblasserin kann ein Sorgfaltsverstoß und eine Obliegenheitsverletzung der Erblasserin im Sinne des § 254 BGB nicht festgestellt werden.
6. Das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € ist unter Berücksichtigung des Ergebnisses der ergänzenden Beweisaufnahme des Senates angemessen, erforderlich und keinesfalls überhöht.
Bei frühzeitiger Diagnose der Krebserkrankung im August 2007 hätte sich die Erblasserin - ausgehend von der Beweislastverteilung und den Ergebnissen der Beweisaufnahme - lediglich einer Tumorresektion-Operation unterziehen müssen und wäre bei optimalem Verlauf spätestens im Dezember 2007/Januar 2008 wieder arbeitsfähig gewesen. Die Erblasserin hätte sich nicht den zahlreichen Behandlungen und Therapien über einen Zeitraum von 4,5 Jahren unterziehen müssen ), wobei insbesondere die mehrfachen Chemotherapien und die operative Entfernung der Eileiter, Eierstöcke sowie des Blinddarms hervorzuheben sind. Die 47-jährige Erblasserin hätte zudem eine aussichtsreiche Chance auf vollständige Heilung und vor allem eine sehr gute Überlebensprognose gehabt.
Stattdessen war die der Erblasserin aufgrund der Diagnoseverzögerung verbleibende Überlebenszeit von 4,5 Jahren geprägt von zahlreichen und schwerwiegenden Behandlung und Therapien mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen, einem sich weiter verschlimmerten Krankheitsbild und der Gewissheit, dass keine Chance auf Heilung besteht und sie versterben wird.
Das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € ist - insbesondere im Hinblick auf die Ergebnisse der ergänzenden Beweisaufnahme - erforderlich, um die durch die Verschlimmerung der Krebserkrankung hervorgerufenen Folgen und Belastungen auszugleichen. Insoweit kann auch auf die vor dem Landgericht zitierten Entscheidungen in der Schmerzensgeldtabelle von Hacks/Wellner/Häcker Bezug genommen werden sowie ergänzend auf die folgenden Entscheidungen verwiesen werden: fd. Nummer 37.683 , lfd. Nummer 34.1282 und lfd. Nummer 37.2419.
7. Letztlich steht den Klägerinnen aufgrund der Ergebnisse der Beweisaufnahme materieller Schadensersatz wegen des Verdienstausfalls der Erblasserin in Höhe von 42.243,83 € zu. Dem Beklagten ist nicht der Beweis gelungen, dass die Erblasserin auch bei einer frühzeitigen Krebsdiagnose im August 2007 in jedem Fall erwerbsunfähig geworden wäre. Bei frühzeitiger Diagnose der Krebserkrankung im August 2007 wäre die Erblasserin - ausgehend von den Ergebnissen der Beweisaufnahme - in Bezug auf die Krebserkrankung spätestens im Dezember 2007/Januar 2008 wieder arbeitsfähig gewesen.
Das Landgericht hat einen Verdienstausfallschaden für die Zeit ab 01.03.2009 bis zum Tod der Erblasserin im Dezember 2012 in Höhe von insgesamt 42.243,83 € zugesprochen, namentlich für den Monat März 2009 in Höhe 380,33 € , für den Zeitraum April 2009 bis Dezember 2011 in Höhe von 30.718,05 € und für das Jahr 2012 in Höhe von 11.145,84 € . Die diesbezüglichen Beträge sind unstreitig. Die Berechnungen nachvollziehbar und korrekt.
B.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen des i.S.v. § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO. Hierbei entfallen auf den mit der Berufung angegriffenen Schmerzensgeldanspruch 70.000,00 € und auf den Verdienstausfallschaden 42.243,86 €.
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das am 2.10.2013 verkündete Urteil des Landgerichts Aachen – 11 O 480/11 – wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das am 2.10.2013 verkündete Urteil des Landgerichts Aachen – 11 O 480/11 – teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 158.270,80 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins aus 103.123,63 € seit dem 24.9.2011, aus weiteren 3335,38 € seit dem 27.3.2013 und aus weiteren 51.811,79 € seit dem 13.3.2014 zu zahlen.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.440,69 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins seit dem 24.9.2011 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen weiteren materiellen und allen noch nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden zu ersetzen, der dem Kläger aus der ärztlichen Falschberatung vom 11.5.2009 und vom 15.5.2009 entstanden ist oder noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz werden dem Beklagten auferlegt. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden zu 28% dem Kläger, zu 72% dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
1I.
2Der am 28.xx.1952 geborene Kläger befand sich seit mehreren Jahren in der ärztlichen Betreuung durch den Beklagten, einen niedergelassenen Internisten und Allgemeinmediziner. Er suchte am 11.5.2009 und am 15.5.2009 die Praxisräume des Beklagten auf, um eine allgemeine Gesundheitsüberprüfung durchführen zu lassen, die – wie in erster Instanz unstreitig geworden ist – auch eine Krebsvorsorge umfasste. Hierzu nahm der Beklagte einen Hämokult- und einen Bluttest vor, eine Sonographie von Nieren und Prostata und eine EKG-Untersuchung. Im Rahmen der familiären Anamnese notierte der Beklagte in seiner Behandlungskarte, dass die Mutter des Klägers an Darmkrebs erkrankt gewesen sei. Der Kläger teilte ferner mit, dass die Mutter daran verstorben sei. Ob im Hinblick auf ein Darmkrebsrisiko über weiterführende Untersuchungsmöglichkeiten (insbesondere über eine Koloskopie) gesprochen wurde, ist zwischen den Parteien streitig. Der Hämokulttest blieb ebenso wie die weiteren Untersuchungen ohne relevanten Befund.
3Am 17.11.2010 unterzog sich der Kläger auf eigene Initiative einer Koloskopie im Universitätsklinikum B. Dabei wurde ein sechs Zentimeter großes Adenokarzinom im Bereich des rektosigmoidalen Übergangs diagnostiziert und im Rahmen eines stationären Aufenthaltes vom 29.11.2010 bis zum 7.12.2010 entfernt. Fünf Lymphknoten waren befallen. Bis zum 10.6.2011 folgten acht Zyklen Chemotherapie. Gleichwohl bildeten sich Metastasen in der Lunge, was einen weiteren stationären Aufenthalt vom 20.7. bis zum 28.7.2011 und eine Unterlappen-Teilresektion sowie eine weitere Lungenoperation mit Krankenhausaufenthalt vom 10.11.2011 bis 13.11.2011 nach sich zog. Wegen Metastasen in der Leber wurde eine Teilresektion der Leber und die Entfernung der Galle im Rahmen eines weiteren stationären Aufenthaltes vom 7.2.2012 bis zum 18.2.2012 erforderlich. Wegen der Einzelheiten der mit den Eingriffen verbundenen Komplikationen und – auch dauerhaften – Folgen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und auf die eingereichten Krankenunterlagen Bezug genommen.
4Der Kläger hat behauptet, der Beklagte habe ihn über die nach den Krebsvorsorgerichtlinien empfohlene und für ihn wegen familiärer Vorbelastung sogar dringend angeratene Vorsorgekoloskopie nicht aufgeklärt, worin ein grober Fehler zu sehen sei. Einem entsprechenden Rat wäre er ohne weiteres gefolgt, zumal nicht nur seine Mutter sondern auch – unstreitig – seine Ehefrau an Krebs verstorben seien. Dies werde auch dadurch bestätigt, dass er im Folgejahr sich auf eigenes Betreiben einer solchen Maßnahme unterzogen habe vor dem Hintergrund bloßer abklärungsbedürftiger Blähungen. Eine Koloskopie hätte dazu geführt, dass der Krebs sich noch in einem wesentlich früheren Stadium befunden hätte, vermutlich sich sogar nur Polypen als Vorstufe zu einem Karzinom gezeigt hätten, die ohne weiteres hätten abgetragen werden können, so dass weitere Operationen nicht erforderlich gewesen wären, erst recht aber der Krebs die Darmwand noch nicht durchwachsen gehabt hätte und Metastasen sicher hätten vermieden werden können.
5Der Kläger hat beantragt,
6den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, das aber einen Betrag von 100.000 € nicht unterschreiten sollte, zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 24.09.2011;
7den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger Behandlungskosten in Höhe von 6540,01 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank aus einem Betrag in Höhe von 3123,63 € seit dem 24.09.2011 sowie aus einem Betrag in Höhe von 3416,38 € seit dem 27.03.2013 zu zahlen;
8den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2440,69 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 24.09.2011 zu zahlen;
9festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der dem Kläger aus der ärztlichen Falschberatung vom 11.05.2009 und vom 15.05.2009 entstanden ist oder noch entsteht, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.
10Der Beklagte hat beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Er hat behauptet, den Kläger im Rahmen der Behandlung vom 15.5.2009 über die Möglichkeit einer Darmspiegelung aufgeklärt zu haben. Dies sei gewesen, während er den Kläger auf der Liege sonographisch untersucht habe. Er habe diese Maßnahme als sinnvoll bezeichnet, allerdings keine Überweisung ausgestellt und – entgegen sonstiger Gepflogenheiten – den Rat auch nicht dokumentiert. Wie der Kläger auf den Rat reagiert habe, könne er nicht mehr erinnern. Er habe den Eindruck gehabt, der Kläger werde es sich überlegen. Er hat allerdings die Auffassung vertreten, ein Rat zur Durchführung einer Koloskopie sei nicht notwendig gewesen. Ein erteilter Rat sei auch nicht dokumentationspflichtig. Der Kläger sei ohnehin voraufgeklärt gewesen, weil er von sich aus später eine Koloskopie habe durchführen lassen.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des streitigen Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze und auf das angefochtene Urteil verwiesen.
14Die Kammer hat nach Einholung eines Gutachtens und Anhörung der Parteien den Beklagten zur Zahlung von 100.000.- € Schmerzensgeld und von Behandlungskosten verurteilt und den Feststellungsanträgen entsprochen. Es sei grob fehlerhaft gewesen, den Kläger nicht darauf hinzuweisen, dass in seinem Fall die Koloskopie angezeigt gewesen sei, wobei sich die Kammer auf die mündliche Erläuterung des Sachverständigen Prof. Dr. I stützt, der – anders als im schriftlichen Gutachten – einen groben Fehler bejaht hat. Dass der Beklagte den Kläger auf diese Möglichkeit hingewiesen habe, hat die Kammer für nicht erwiesen erachtet, weil es nicht dokumentiert, wohl aber dokumentationspflichtig gewesen sei. Damit gingen alle Kausalitätszweifel zu Lasten des Beklagten.
15Hiergegen wendet sich der Beklagte im Rahmen der Berufung mit dem unverändert verfolgten Ziel der Klageabweisung. Eine Koloskopie sei beim Kläger nicht indiziert gewesen, könne also nicht Gegenstand von Hinweispflichten sein. Eine Koloskopie könne schwerwiegende Verletzungen verursachen, weshalb sie zurückhaltend anzuwenden sei. Tatsächlich würden nach neuesten Erhebungen rund 95 % aller Ärzte sie nicht machen. Der Kläger sei ferner nicht hinweisbedürftig gewesen. Er habe selbst eine Koloskopie anderthalb Jahre später vornehmen lassen, sei also über diese Möglichkeit unterrichtet gewesen, was nur durch den Beklagten erfolgt sein könne. Die Kammer habe die umfangreiche und tadellose Befunderhebung durch den Beklagten nicht gewürdigt. Danach habe sich der Kläger als rundum gesund herausgestellt. Für weitergehende invasive Diagnostik habe es keine Veranlassung gegeben. Allenfalls hätte ganz allgemein und abstrakt auf die Möglichkeiten einer solchen weiteren Diagnostik hingewiesen werden können, verbunden mit dem Hinweis, sie besser zu lassen. Die Vorbelastung der Mutter habe mit dem Kläger nichts zu tun. Die Mutter sei über 80 Jahre alt gewesen, als sie an Darmkrebs gestorben sei, der Kläger sei zum Zeitpunkt der streitigen Behandlung erst 56 Jahre alt gewesen.
16Keinesfalls könne der Fehler als grob eingestuft werden. Auch hier müsse auf die ansonsten klinische Unauffälligkeit des Klägers abgestellt werden, was ein karzinogenes Geschehen als fernliegend habe erscheinen lassen. In jedem Fall habe der Kläger den Vollbeweis zu führen, dass er bei ordnungsgemäßer Aufklärung eine Koloskopie auch habe durchführen lassen. Selbst wenn man unterstelle, dass er sich „aufklärungsrichtig“ verhalten hätte, so sei hier richtig gewesen, eine Koloskopie zu unterlassen. Es sei angesichts des kurzen Zeitraums von Mai 2009 bis November 2010 äußerst unwahrscheinlich, dass der Kläger völlig gesund geworden wäre, wenn er eine Koloskopie bereits im Mai 2009 vorgenommen hätte. Jedenfalls die Erstoperation und eine weitere umfassende Therapie wären notwendig geworden, was sich auch auf das Schmerzensgeld auswirken müsse.
17Der erteilte Hinweis habe nicht dokumentiert werden müssen. Die Voraussetzungen, die die Rechtsprechung hierfür aufgestellt habe, lägen ersichtlich nicht vor: der Kläger habe keine dringend notwendige Maßnahme verweigert und ein Nachbehandler habe keine Konsequenzen zu ziehen, wenn ein allgemeiner Rat nicht erteilt worden sei, den ein Patient jedem Informationsblatt entnehmen könne.
18Der Kläger begehrt im Wege der Anschlussberufung ein um 150.000.- € höheres Schmerzensgeld. Auch wenn die zuerkannten 100.000.- € seiner Mindestvorstellung entsprochen hätten, seien angesichts der gesundheitlichen Entwicklungen bereits während der ersten Instanz tatsächlich jedenfalls 200.000.- € angemessen gewesen. Es habe weitere gravierende Verschlechterungen seit Erlass des landgerichtlichen Urteils gegeben (Wegen dieser wird auf die Anschlussberufungsschrift des Klägers Bezug genommen), so dass ein weiteres Schmerzensgeld von 50.000.- € angemessen sei, was im Wege der Klageerhöhung geltend gemacht werde. Hinzu kämen weitere 1811,79 € Behandlungskosten (Eigenanteile).
19Wegen aller weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
20II.
21Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Die Anschlussberufung des Klägers, mit der er im Rahmen einer als sachdienlich anzusehenden Klageerweiterung (§ 533 ZPO) weiteren materiellen Schaden geltend macht und ein höheres Schmerzensgeld begehrt, ist ebenfalls zulässig. Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg, die Anschlussberufung hat teilweise Erfolg. Zu Recht und mit zutreffender Begründung, die der Senat sich durchweg zu eigen macht, hat die Kammer den Beklagten wegen einer fehlerhaften Behandlung des Klägers zu Schadensersatz und Schmerzensgeld verurteilt bzw. die diesbezügliche Verpflichtung festgestellt. Auf die Anschlussberufung war eine Anhebung des Schmerzensgeldes um 50.000.- € und eine Verurteilung zu weitergehendem Schadensersatz veranlasst.
22Im Einzelnen gilt folgendes:
231.
24Zu Recht hat die Kammer das Vorliegen eines – sogar groben – Behandlungsfehlers durch den Beklagten festgestellt.
25a)
26Ein unterbliebener Hinweis auf eine für den Patienten indizierte Behandlung oder – wie hier – auf eine notwendige diagnostische Abklärung stellt sich als Behandlungsfehler in Form verletzter Sicherheitsaufklärung dar. Es gehört zu den Behandlungspflichten eines Arztes, einem Patienten die notwendigen therapeutischen Sicherheitshinweise zu erteilen. Dazu zählen die zur Sicherstellung eines Behandlungserfolgs notwendigen Schutz- und Warnhinweise, aber auch die Hinweise, die zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdung dienen (std. Rechtsprechung, etwa BGHZ 107, 222; BGHZ 126, 386 ff.). Im Falle einer vom Patienten gewünschten Vorsorgeuntersuchung gehört es zu den ärztlichen Pflichten, auf solche Maßnahmen hinzuweisen, die der Arzt selbst nicht durchführen kann oder will, die aber zur Sicherstellung des Erfolges der Vorsorgeuntersuchung vom ärztlichen Standard aus als empfehlenswert oder gar als notwendig angesehen werden.
27b)
28Im Fall des Klägers entsprach es fachärztlichem Standard, auf die Möglichkeit der Koloskopie zur Abklärung eines Darmkrebsrisikos im Rahmen einer therapeutischen (=Sicherheits-)Aufklärung hinzuweisen. Es ist in zweiter Instanz nicht mehr streitig, dass die Untersuchungen durch den Beklagten jedenfalls auch gezielt der Krebsvorsorge dienen sollten. Dies hat der Beklagte im Rahmen seiner Anhörung vor der Kammer ausdrücklich eingeräumt und es entspricht auch zumindest indirekt den Angaben seiner Dokumentation, die entweder Untersuchungen beinhalten, welche automatisch der Krebsvorsorge dienen (Abtasten der Prostata), oder die Einholung von Informationen zu Krebserkrankungen von Familienmitgliedern (Darmkrebs der Mutter). Dass jedenfalls dann, wenn eine Krebsvorsorge ausdrücklich zumindest auch Gegenstand des Behandlungsvertrages ist (ob dies anders zu beurteilen ist, wenn „nur“ ein allgemeiner Gesundheitscheck durchgeführt werden soll, lässt der Senat offen), die Frage einer Koloskopie mit einem Patienten wie dem Kläger zu erörtern ist, unabhängig davon, ob der Beklagte sie selbst hätte durchführen können oder nicht, folgt aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. I in einer auch den Senat uneingeschränkt überzeugenden Weise. Der Sachverständige verfügt als Chefarzt einer Klinik für allgemeine innere Medizin eines Krankenhauses, das als Lehrkrankenhauses der Universität E dient, ohne Zweifel über die notwendige Sachkunde auch zur Beurteilung der Maßstäbe, die für einen niedergelassenen Arzt gelten, zumal nicht anzunehmen ist, dass in Fragen einer solchen therapeutischen Aufklärung zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern unterschiedlicher Versorgungsstufen verschiedene Sorgfaltsmaßstäbe existieren. Er hat sein Gutachten unter Berücksichtigung aller relevanten Anknüpfungstatsachen erstellt, insbesondere die den Kläger betreffenden Krankenunterlagen sorgfältig und erschöpfend ausgewertet, und er hat seine Ergebnisse in sehr differenzierter und ausführlicher Weise überzeugend begründet. Denn er hat ausgeführt, dass nach der zum Behandlungszeitpunkt existierenden Leitlinien für kolorektale Karzinome, einer S3-Leitlinie, das heißt einer solchen, die ein besonders hohes Maß an wissenschaftlicher Absicherung aufweist, unter den Untersuchungsverfahren zur Darmkrebsvorsorge die komplette Koloskopie aufgrund der höchsten Sensitivität und Spezifität für das Auffinden eines kolorektalen Karzinoms und von Adenomen als das Standardverfahren (Goldstandard) empfohlen werde (S. 5/6 des Gutachtens, Bl.213 f d.A.). Für Risikogruppen, zu denen der Kläger aufgrund der Erkrankung seiner Mutter mit einem 2-3-fach erhöhten Risiko zähle, werde eine frühzeitige Vorsorgekoloskopie empfohlen und zwar spätestens im Alter von 50 Jahren. Eine Beratung über die Screeningmethoden sei danach unerlässlich.
29Ohne Erfolg wendet der Kläger hiergegen im Rahmen der Berufung ein, dies stimme nicht mit der Praxis der niedergelassenen Ärzte überein, wonach „nach neuesten Erhebungen“ 95% der Ärzte im Hinblick auf die damit verbundenen Risiken diese Untersuchung nicht vornähmen. Woher der Beklagte diese Erkenntnis nimmt, wird nicht deutlich. Eine derart ungenaue (und im übrigen auch wenig glaubhafte) pauschale Aussage kann nicht sinnvoller Gegenstand eines Vorhalts an den Sachverständigen sein, der unter Hinweis auf eine S3-Leitlinie zu einem diametral anderen Ergebnis kommt. Dass der Inhalt der Leitlinie falsch wiedergegeben wurde, behauptet der Beklagte selbst nicht. Ebenso wenig kann er darlegen, dass der Inhalt der Leitlinie den zum Behandlungszeitpunkt maßgeblichen Standard nicht abbilde, sondern fachlich etwa veraltet und obsolet sei. Seine Behauptung gipfelt letztlich darin, dass 95% aller Ärzte den medizinischen Standard nicht beachten würden, was für die rechtliche Bewertung ohne Bedeutung ist. Im übrigen lässt dieser Einwand nicht erkennen, dass der Beklagte wirklich die Frage der therapeutischen Aufklärung im Blick hat (und nicht nur die Frage, ob ein Arzt sich die Durchführung der Koloskopie selbst zutraut), und dass er dies auch auf den hier ganz wesentlichen Gesichtspunkt bezieht, dass ein Patient einer besonderen Risikogruppe angehört.
30Ohne Erfolg greift der Beklagte ferner die Annahme des Sachverständigen an, der Kläger gehöre wegen familiärer Vorbelastung einer Risikogruppe an, dies mit der Erwägung, die Mutter des Klägers sei bei ihrer Erkrankung bereits über 80 Jahre alt gewesen. Für die Frage familiärer Vorbelastung ist nicht das Alter maßgebend, in dem jemand erkrankt, sondern die genetische Veranlagung. Einen Beleg für die Behauptung, diese Veranlagung sei nicht anzunehmen, wenn ein naher Angehöriger seinerseits erst in höherem Alter an Krebs erkranke, bietet der Beklagte nicht. Er stellt seine Behauptung damit neben die des Sachverständigen, was keinen Anlass gibt, das Gutachten des Sachverständigen in Zweifel zu ziehen.
31c)
32Inhalt dieser Verpflichtung wäre es nicht nur gewesen, den Patienten abstrakt auf die Möglichkeit einer Koloskopie zum frühzeitigen Erkennen eines Darmkrebses hinzuweisen, denn eine solche Information, die den meisten Patienten ohnehin bekannt sein dürfte, entspricht dem Bedürfnis des Patienten nicht. Erforderlich ist vielmehr eine auf den Patienten und seine konkrete Situation bezogene Erläuterung der Chancen und der Risiken, falls die Maßnahme unterbleibt. Dass eine Sicherheitsaufklärung aber so klar und eindeutig sein muss, dass der Patient ein objektives und zutreffendes Bild erhält, was ihm droht, wenn er dem Hinweis nicht folgt, hat der Senat wiederholt entschieden (OLG Köln, Urteil vom 22.9.2010, 5 U 211/08, VersR 2011, 760 ff; Urteil vom 6.6.2012, 5 U 28/10, VersR 2013, 237 ff.). Dies gilt auch für reine Vorsorgemaßnahmen. Insofern war der Kläger jedenfalls darauf hinzuweisen, dass er einer Risikogruppe angehört, für die ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko bestand, und er war darauf hinzuweisen, dass für ihn nach den geltenden Leitlinien schon seit seinem fünfzigsten Lebensjahr, also schon seit mindestens sechs Jahren, eine Koloskopie empfohlen wurde.
33Eine derart verstandene therapeutische Aufklärung hat der Beklagte schon nach seinem eigenen Vorbringen nicht geleistet. Er hat im Rahmen seiner persönlichen Anhörung nur angegeben, den Kläger im Zusammenhang mit der sonographischen Untersuchung darauf angesprochen zu haben, dass dadurch Darmerkrankungen nicht erkennbar seien und dass deshalb eine Koloskopie sinnvoll sei, er habe aber weder eine Überweisung ausgestellt noch einen Arzt empfohlen. Zwischen einem derartigen allgemeinen Hinweis und einer den Leitlinien entsprechenden deutlichen Empfehlung im Hinblick auf das bei dem Kläger erhöhte Risiko bestehen aber wesentliche Unterschiede.
34d)
35Allerdings geht der Senat ebenso wie die Kammer davon aus, dass nicht einmal ein solch allgemein gehaltener Hinweis festgestellt werden kann und dass dies zu Lasten des Beklagten geht. Die Dokumentation des Beklagten enthält keinerlei Hinweis darauf, dass eine Koloskopie Gegenstand der Erörterungen zwischen Arzt und Patient gewesen ist. Damit ist – wie es allgemeiner Auffassung entspricht - zu unterstellen, dass die nicht dokumentierte Maßnahme auch nicht stattgefunden hat. Eine Dokumentationspflicht als Grundvoraussetzung für die tatsächliche Vermutung des Unterbleibens der Maßnahme hat die Kammer auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen zu Recht angenommen. Der Sachverständige hat im Rahmen der mündlichen Erörterungen vor der Kammer, wo diese Frage intensiv thematisiert wurde, ausgeführt, dass sowohl die Empfehlung zur Koloskopie als auch deren Ablehnung durch den Patienten aus medizinischer Sicht dokumentationspflichtig sei. Es sei für einen Nachbehandler wichtig, damit er gegebenenfalls wisse, ob er das Thema noch einmal ansprechen müsse. Eine Koloskopie, die negativ ausfalle, müsse erst nach zehn Jahren wiederholt werden, ein negativer Hämokulttest demgegenüber jedes Jahr. Diese Ausführungen überzeugen auch den Senat und sie tragen auch aus rechtlicher Sicht die Annahme einer Dokumentationspflicht. Dokumentation darf nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung nur medizinisch motiviert sein, sie dient nicht juristischen Zwecken (BGH NJW 1999, 3408 m.w.N.) Zwingend zu dokumentieren ist, wenn ein Patient einen auf eine Sicherheitsaufklärung erfolgten Rat des Arztes ablehnt (BGH NJW 1987, 1482; BGH MDR 1997, 940; Martis-Winkardt, Arzthaftungsrecht 4. Aufl. Rn 239 ff. m.z.w.N.), was nach der umstrittenen Behauptung des Beklagten aber nicht der Fall gewesen sein soll (allerdings erscheint diese Darstellung als nicht widerspruchsfrei, wenn andererseits der Beklagte vorträgt, er könne sich an die Reaktion des Klägers auf seinen Hinweis nicht mehr erinnern). Zu dokumentieren ist ferner alles, was ein Arzt selbst für die weitere Behandlung und für einen etwaigen Nachbehandler (etwa Urlaubsvertreter) wissen muss. Das können durchaus auch Sicherheitshinweise sein (etwa OLG Karlsruhe, OLGR 2007, 258). Insofern ist die Auskunft des Sachverständigen plausibel und insgesamt überzeugend. Wenn der Hinweis auf die Koloskopie als standardmäßige Empfehlung zu gelten hat, so dass der Sachverständige letztlich in ihrem Unterlassen sogar einen groben Fehler bejaht, leuchtet es ein, dass es sich auch um eine dokumentationspflichtige Maßnahme handelt. Der erteilte Hinweis bzw. die für Risikopatienten sogar ausdrücklich auszusprechende Empfehlung können eben nicht ohne weiteres auf sich beruhen, sondern ziehen weitere Konsequenzen nach sich, insbesondere eine Nachfragepflicht beim nächsten Besuch, gerade wenn der Patient zuvor den Eindruck hinterlassen hat, über die Thematik erst noch einmal nachdenken zu müssen. Lehnt der Patient dann den Eingriff ab, weil er ihm zu risikoreich oder zu lästig ist, wäre dies wiederum zwingend dokumentationsbedürftig. Folgt er dem Rat, hat dies gegebenenfalls weitere Konsequenzen (Überweisung) zur Folge. Ist der Rat zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten oder der Patient gänzlich unentschlossen, muss er ggf. ein weiteres Mal aufgeklärt werden. Dafür ist die Dokumentation dann tatsächlich rein medizinisch notwendig. Der Beklagte, der die Dokumentationspflicht auch in der Berufung weiter bestreitet, bringt seinerseits keine weitergehenden Argumente als seine Zweifel, ob die Koloskopie als Maßnahme überhaupt sinnvoll ist. Das indes hat mit der Frage der Dokumentationspflicht nichts zu tun. Es spricht im übrigen für sich, dass der Beklagte im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vorgetragen hat, er dokumentiere tatsächlich üblicherweise einen Hinweis auf eine Koloskopie, habe es nur im Falle des Kläger offensichtlich vergessen. Daraus lässt sich nur der Schluss ziehen, dass auch der Beklagte diesen Hinweis zumindest seinerzeit für dokumentationspflichtig gehalten hat.
36Die Folge der unterlassenen Dokumentation und der daraus resultierenden Vermutung, dass die Maßnahme unterblieb, ist die Umkehr der Beweislast hinsichtlich des Behandlungsfehlervorwurfes. Den Beweis, dass der behauptete Hinweis tatsächlich erteilt wurde, hat der Beklagte nicht erbracht. Seiner Aussage im Rahmen der informatorischen Befragung kommt angesichts der diametral gegenläufigen Darstellung seitens des Klägers kein derart höheres Gewicht zu, dass sich darauf die Überzeugungsbildung des Gerichtes stützen ließe. Auch für eine förmliche Parteivernehmung nach § 448 ZPO bietet die (wie gezeigt ohnehin nicht widerspruchsfreie und dem Standard entsprechende) Darstellung keine hinreichende Grundlage.
37e)
38Die Hinweispflicht des Beklagten entfiel nicht deshalb, weil der Kläger bereits hinreichend über alle aufklärungspflichtigen Umstände aufgeklärt gewesen wäre. Soweit der Beklagte von fehlender Aufklärungsbedürftigkeit ausgeht unter Hinweis auf den Umstand, dass der Kläger anderthalb Jahre später tatsächlich in der Uniklinik Aachen eine Koloskopie durchführen ließ (was, wie er meint, wiederum nur bedeuten könne, dass er selbst den Hinweis gegeben haben müsse), geht diese Argumentation an der Sache vorbei. Es geht nicht um die Frage, ob jeder durchschnittlich gebildete Mensch weiß, dass es eine Darmspiegelung gibt und was sie in etwa bedeutet, sondern um die Frage, ob sie für den Kläger in seiner konkreten Situation eine sinnvolle und aus ärztlicher Sicht empfehlenswerte Maßnahme darstellte, oder ob er – wie tatsächlich suggeriert – der Ansicht sein durfte, ein Hämokulttest schließe sicher die Krebsgefahr aus. Insofern ist die Annahme auch in keiner Weise zwingend, dass der Kläger durch den Beklagten hinreichend über die Koloskopie als Krebsvorsorgemaßnahme unterrichtet gewesen sei, weil er sich aus eigenem Antrieb anderthalb Jahre später dieser Untersuchung unterzogen habe.
392.
40Zugunsten des Klägers ist davon auszugehen, dass eine ordnungsgemäße therapeutische Aufklärung des Klägers den gesamten weiteren Krankheitsverlauf verhindert hätte. Allerdings ist es ungewiss, ob eine ordnungsgemäße Aufklärung die Entstehung oder die weitere Entwicklung der Darmkrebserkrankung sicher verhindert hätte. Es ist nicht einmal sicher, dass der Kläger der leitliniengerechten Empfehlung tatsächlich gefolgt wäre und eine Koloskopie zeitnah hätte durchführen lassen (ob insoweit die Vermutung gilt, dass ein Patient sich aufklärungspflichtig verhält, lässt der Senat ausdrücklich offen). Darauf kommt es jedoch nicht an, denn diese Zweifel gehen zu Lasten des Beklagten, da dem Beklagten ein grobes Fehlverhalten vorzuwerfen ist, das zur Beweislastumkehr führt, und da er nicht den Nachweis führen kann, dass den Kläger auch bei richtiger Aufklärung dieselben gesundheitlichen Folgen getroffen hätten. Auch insoweit folgt der Senat dem landgerichtlichen Urteil.
41a)
42Die Kammer hat einen groben Fehler auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Heintjes zu Recht bejaht. Dabei steht dem Senat durchaus vor Augen, dass eine Koloskopie eine Maßnahme ist, die viele Menschen scheuen und die nicht ganz unerhebliche Risiken birgt, die bei sozialversicherten Patienten, die keiner Risikogruppe angehören, als Vorsorgemaßnahme nur insgesamt zweimal im Leben bezahlt wird, die also keine blanke Selbstverständlichkeit für einen Patienten ist. Es mag auch zutreffen, dass nicht wenige Ärzte einer Koloskopie als reiner Vorsorgemaßnahme eher skeptisch gegenüber stehen und sie ihren Patienten nicht unmittelbar empfehlen. Allerdings stellt dies keine durchgreifenden Bedenken dar, die aus rechtlicher Sicht die Annahme eines groben Fehlers hindern. Ein grober Fehler liegt nach der gängigen Definition vor, wenn der Behandler in eindeutiger Weise gegen bewährte medizinische Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstößt, und dadurch einen Fehler begeht, der aus objektiver medizinischer Sicht nicht mehr verständlich ist, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Es handelt sich bei der Empfehlung zur Koloskopie um eine eindeutige Anweisung einer Leitlinie, die einen bewährten Standard abbildet. Dies wird einmal mehr deutlich in der Tatsache, dass es sich um eine S3-Leitlinie handelt, also eine solche, die den höchstmöglichen Grad wissenschaftlicher Absicherung aufweist. Zur Früherkennung von Darmkrebs ist eine Koloskopie nicht nur überaus geeignet, sondern – so der Sachverständige – praktisch alternativlos, denn andere Methoden (insbesondere der bloße Hämokulttest) weisen eine erhebliche Ungenauigkeit auf. Die Alternative besteht also nur darin, das Risiko der Nichterkennung eines sich entwickelnden Krebses zu tragen. Damit sind die Elemente des eindeutigen Verstoßes und des Verstoßes gegen bewährte Grundsätze ohne weiteres zu bejahen.
43Gleiches gilt aber auch für das Element der Unverständlichkeit aus objektiver medizinischer Sicht. Ob und welche Maßnahmen ein Patient wahrnehmen möchte zur Krebsfrüherkennung ist eine Entscheidung von existentieller Tragweite, die der Arzt unter keinen Umständen für den Patienten treffen darf. Dies gilt insbesondere und hier ganz entscheidend für einen Patienten, der einer Risikogruppe angehört, weil er familiär vorbelastet ist. Wenn ein Arzt dem Patienten die für seine Entscheidung wesentlichen Informationen vorenthält, ihn insbesondere nicht darüber informiert, dass er einer Risikogruppe angehört und dass hierfür eine klare und eindeutige Empfehlung zur Koloskopie gilt, ist dies aus medizinischer Sicht nicht zu verstehen. Es gibt keine Gründe, die das Nichtinformieren als noch medizinisch verständlich erscheinen lassen. Es liegt kein schwieriger Abwägungsprozess vor, keine komplexe fehlerträchtige Situation, bei der eine letztlich falsche Entscheidung noch nachvollziehbar ist. Weder der Beklagte noch der Sachverständige zeigen irgendwelche Umstände auf, die das Unterlassen einer derart einfachen und unaufwändigen Empfehlung als verständlich erscheinen lassen. Vielmehr zieht sich der Beklagte ausschließlich auf Erwägungen zurück, die die Berechtigung der Empfehlung betreffen oder die Gründe, die ein Patient in seinen Abwägungsprozess einbeziehen mag, nämlich die Risiken der Koloskopie. Das aber darf ihn – wie gezeigt – nicht hindern, den Patienten aufzuklären. Der Umstand, dass der Beklagte den Kläger ansonsten ordnungsgemäß untersucht hat und dass aus dieser Untersuchung über die familiäre Vorbelastung hinaus keine weiteren konkreten Hinweise resultierten, die eine Koloskopie nahelegten, lässt das Unterlassen des Hinweises ebenfalls nicht als aus objektiver medizinischer Sicht verständlich erscheinen. Dass der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten zunächst nur von einem einfachen Fehler ausgegangen ist und erst im Rahmen der mündlichen Anhörung einen groben Fehler bejaht hat (dies dann aber sehr deutlich), hindert schließlich die Überzeugungsbildung ebenfalls nicht, gibt dem Senat insbesondere keinen Anlass, einen anderen Sachverständigen nach seiner Meinung zu fragen. Dass ein Sachverständiger nach intensiver Diskussion und ersichtlich gründlichem weiteren Durchdenken der Kriterien des groben Fehlers sich letztlich umentscheidet (was im Hinblick auf die Scheu der meisten Sachverständigen, einen groben Fehler überhaupt als solchen deutlich anzusprechen, wahrlich selten ist), stärkt das Gewicht seiner Ausführungen eher als dass es sie schwächt. Die spätere Einschätzung beruht auf gründlicherer gedanklicher Durchdringung und nicht zuletzt auf der Klarstellung eines für den Sachverständigen wichtigen Umstandes, nämlich der Erkenntnis, dass die Untersuchung vom 15.5.2009 ganz wesentlich der Krebsvorsorge und nicht anderen Zwecken diente.
44b)
45Den Gegenbeweis, nämlich die äußerste Unwahrscheinlichkeit, dass der Kläger gesund aus der Sache heraus gekommen wäre, hätte der Beklagte ihn am 15.5.2009 ordnungsgemäß über eine Koloskopie aufgeklärt, kann der Beklagte nicht führen. Aus den Ausführungen des Sachverständigen folgt, dass schon nicht sicher davon ausgegangen werden könne, ob damals überhaupt das Stadium der Bösartigkeit schon erreicht worden sei, so dass nicht einmal klar ist, ob der Kläger überhaupt hätte operiert werden müssen. Ob das Leiden sich noch in einem Stadium der Gutartigkeit befunden hätte, könne man rückblickend nicht beantworten. Falls ein bösartiger Befall vorgelegen hätte, wäre der betreffende Darmabschnitt entfernt worden. Je nach Größe des Tumors hätten die Heilungschancen dann bei über 90% gelegen. Zu der mutmaßlichen Größe des Tumors könne man aber rückblickend heute auch nichts Weiteres sagen. Aus der Tatsache, dass der Hämokulttest negativ war, könne man nur rückschließen, dass sich eine Krebserkrankung jedenfalls noch in einem frühen Stadium befunden habe. Auszugehen ist damit insgesamt von einer für den Kläger denkbar günstigen Situation, nämlich einer Heilung ohne nennenswerte Behandlungen (insbesondere keine Chemotherapie) und ohne Metastasen. Eine weitere Abklärung der Kausalitätsfrage ist nicht veranlasst.
46Die Ungewissheiten bei der Vorfrage, ob der Kläger tatsächlich der leitliniengerechten Empfehlung gefolgt wäre, gehen ebenfalls zu Lasten des Beklagten. Der Gegenbeweis kann ihm nicht gelingen. Der Umstand, dass der Kläger anderthalb Jahre später ohne weiteres eine Koloskopie hat durchführen lassen, um bloße Blähungen abklären zu lassen, spricht im Gegenteil sogar deutlich eher dafür, dass er erst recht keine Bedenken gehabt hätte, wenn es um die notwendige Abklärung im Hinblick auf eine bestehende Krebsgefahr ging.
473.
48Folge des dem Beklagten anzulastenden Behandlungsfehlers ist, dass er verpflichtet ist, dem Kläger den materiellen und immateriellen Schaden, der auf dem Fehler zumindest mit beruht, zu ersetzen.
49a)
50Im Hinblick auf die mit der Klage geltend gemachten Behandlungskosten in Höhe von 6.459,01 € greift der Beklagte das Urteil der Kammer nicht an. Insofern kann auf die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen werden.
51Soweit der Kläger im Rahmen seiner Anschlussberufung klageerweiternd weitere Behandlungskosten in Höhe von 1811,79 € geltend macht, ist dies prozessual zulässig. Der Anspruch, der sich auf erstattungsfähige Kosten bezieht und in kausalem Zusammenhang steht zu der Krebserkrankung, ist auch der Sache nach begründet. Konkrete Einwendungen hiergegen hat der Beklagte nicht erhoben.
52b)
53Den Schmerzensgeldanspruch, der sich auf alle bekannten sowie alle voraussehbaren zukünftigen Beeinträchtigungen des Klägers bezieht, bemisst der Senat mit insgesamt 150.000.- €. Dabei nimmt der Senat auch hier im Wesentlichen Bezug auf die Erwägungen der Kammer. Maßgebend für die Bemessung des Betrages, der als angemessener Ausgleich und als notwendige Genugtuung für die erlittenen Leiden, Beschwerden und Beeinträchtigungen des Klägers anzusehen ist, ist die Krebserkrankung in ihrem gesamten Verlauf mit allen Weiterungen und Komplikationen, insbesondere der notwendigen Erstoperation zur Entfernung des betroffenen Darmabschnittes und aller Folgeoperationen, die infolge der Metastasenbildung die (wiederholte) Entfernung wesentlicher Teile von Lunge und Leber mit sich brachten, sowie der Nachbehandlung durch stark beeinträchtigende Therapien (Chemo). Dies alles hat zu ganz erheblichen Schmerzen, Leiden, Beschwerden, zu anhaltenden und irreversiblen körperlichen Beeinträchtigungen und vor allem zu ganz enormen psychischen Belastungen geführt, die durch das immer wieder neu aufflackernde Krankheitsgeschehen, die dadurch hervorgerufenen Enttäuschungen und die stets nahe Todesangst gekennzeichnet sind. Zu berücksichtigen ist ferner in erheblichem Maße, dass der Kläger sowohl die Fähigkeit verloren hat, seinen Beruf auszuüben als auch die sein Leben prägenden Freizeitgestaltungen. All dies hat die Kammer zu Recht und auch hinsichtlich der Höhe grundsätzlich angemessen berücksichtigt. Soweit die Kammer die Entfernung des befallenen Darmabschnittes als nicht zu vermeidende Ohnehin-Beeinträchtigung unberücksichtigt gelassen hat, war dem allerdings nicht zu folgen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass sich im Frühjahr 2009 noch eine Situation dargestellt hätte, die als prinzipiell gutartig anzusehen gewesen wäre und die eine Entfernung des Darms nicht als notwendig hätte erscheinen lassen müssen.
54Das gegenüber dem landgerichtlichen Urteil um 50.000.- € höhere Schmerzensgeld ist aufgrund der weiteren (negativen) gesundheitlichen Entwicklung des Klägers seit der Klageerhebung als auch nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils gerechtfertigt. Damit berücksichtigt werden die weitere körperliche Verschlechterung des Klägers und die erneute Operation mit der Entfernung weiterer Teile von Leber und Gallengängen, die durch Vorlage weiterer Behandlungsunterlagen belegt und durch den Beklagten nicht konkret angegriffen sind. Ein wesentlich höheres Schmerzensgeld, wie es dem Kläger nunmehr in einer Größenordnung von insgesamt 250.000.- € vorschwebt, ist hingegen nicht angemessen. Das Ausmaß der Beeinträchtigungen kann nur sehr begrenzt verglichen werden mit demjenigen gänzlich anders gelagerter Fälle. Um einen solchen anders gelagerten Fall handelt es sich bei der Entscheidung des OLG Hamm vom 18.6.2013, auf die der Kläger sich nunmehr beruft. Die Beeinträchtigungen, die einem Schmerzensgeldbetrag in der von dem Kläger nunmehr geltend gemachten Höhe üblicherweise zugrunde liegen, sind deutlich höher zu veranschlagen. Zu berücksichtigen ist, dass dem Kläger, ohne den dramatischen Verlust seiner Lebensqualität zu verkennen, doch in weitaus höherem Maße Möglichkeiten zur Teilhabe am Leben verbleiben, die anderen Menschen verschlossen sind.
554.
56Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
57Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO). Die entscheidungserheblichen Fragen sind ausschließlich solche des Einzelfalls.
58Berufungsstreitwert:
59für die Berufung des Klägers: 151.811.- €
60für die Berufung der Beklagten: 206.459.- €
61gesamt: 358.270.- €
62(wie in der mündlichen Verhandlung erörtert, war der Streitwert für den Feststellungsantrag im Hinblick auf die nicht unbeträchtlichen im Raum stehenden materiellen Schäden, insbesondere Verdienstausfall, mit 100.000.- € zu bewerten).
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 09. Februar 2015 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn abgeändert.
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 100.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 20.000,00 € seit dem 05. September 2013 und aus weiteren 80.000,00 € seit dem 21. Januar 2015 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner dem Kläger sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die der verstorbenen Frau E aus der fehlerhaften Behandlung in der Gemeinschaftspraxis der Beklagten in dem Zeitraum vom 25. August 2009 bis zum 07. September 2009 entstanden sind, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Die Kosten des Rechtsstreits werden den Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Gründe:
2I.
3Die am ##.##.1954 geborene Frau E (im folgenden: Patientin) hat von den Beklagten als Mitgliedern einer hautärztlichen Gemeinschaftspraxis wegen vermeintlicher ärztlicher Behandlungsfehler in der Hauptsache zunächst die Zahlung eines mit mindestens 20.000,00 € für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes und die Feststellung weitergehender Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Schäden begehrt. Nach dem Tod der Patientin am 12.12.2013 hat der Ehemann als Erbe den Rechtsstreit fortgeführt, das Schmerzensgeldbegehren auf mindestens 100.000,00 € erhöht und auch den Ersatz materieller Schäden in Höhe von 8.577,69 € verlangt.
4Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme durch dermatologische Begutachtung durch Prof. Dr. B abgewiesen.
5Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass sich Behandlungsfehler nicht feststellen ließen. Eine unzureichende Durchführung der klinischen Untersuchung - ohne Verwendung einer dermatologischen Speziallupe - sei mangels Beweisangebots nicht festzustellen. Auf der Basis des mangels Beweisangebotes für den Vortrag des Klägers zugrundezulegenden Vortrags der Beklagten sei es auch nicht zu beanstanden, dass zunächst abgeklärt werden sollte, ob ein Nagelhämatom vorliege. Ebenso wenig lasse sich feststellen, dass der Patientin die fehlerhafte Auskunft erteilt worden sei, dass bei ihr nur eine bakterielle Infektion vorliege. Bei den sonstigen möglichen und dahingestellt gelassenen Behandlungsfehlern - Durchführung der Nagelprobenentnahme durch die Patientin selbst, keine rechtzeitige Wiedereinbestellung der Patientin in die Praxis - lasse sich jedenfalls eine Kausalität für den weiteren Verlauf nicht feststellen. Insoweit komme auch eine Beweislastumkehr nicht in Betracht, weil allenfalls einfache Behandlungsfehler vorlägen. Eine Beweiserleichterung sei auch nicht im Blick auf Dokumentationsversäumnisse gerechtfertigt, weil solche Versäumnisse nicht vorlägen.
6Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers, der das erstinstanzliche Begehren weiter verfolgt.
7Er verbleibt dabei, dass die klinische Untersuchung ohne dermatologische Speziallupe einen haftungsbegründenden Diagnosefehler darstelle. Dabei sei von den Tatsachenbehauptungen des Klägers auszugehen, weil der Beklagte diese zunächst gar nicht und erst nach der sachverständigen Begutachtung nur unzureichend und verspätet bestritten habe. Überdies belege die dürftige Dokumentation, dass eine ausreichende Diagnostik nicht erfolgt sei. Der Fehler sei als grob einzustufen, weil die Beklagten aufgrund des entsprechenden Verdachts der Hausärztin, deren Überweisung und der potentiellen Tödlichkeit der Erkrankung zu einer erhöhten Sorgfalt verpflichtet gewesen seien.
8Überdies sei ausweislich der widersprüchlichen Angaben der Beklagten zu der angeblich von der Patientin geschilderten Stoßverletzung von einer unzureichenden Anamnese auszugehen.
9Fehlerhaft sei es auch gewesen, zunächst die Frage eines Nagelhämatoms abzuklären. Denn nach den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen sei von vornherein mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Melanom auszugehen gewesen. Dafür spreche insbesondere die vorgefundene Verfärbung des Nagels. Darüber hinaus habe die Entnahme der Nagelprobe nicht der Patientin selbst überlassen werden dürfen.
10Das Landgericht sei auch zu Unrecht davon ausgegangen, dass kein Fehler hinsichtlich der Mitteilung des histologischen Ergebnisses vorgelegen habe. Der die Auskunft erteilende Beklagte zu 2) habe die Patientin selbst nie gesehen und habe auch nur bekunden können, was er selbst gegenüber seinen eigenen Patienten mitteile. Auch habe es sich entgegen seiner Erklärung bei der bakteriellen Infektion nicht nur um einen Nebenbefund gehandelt. Es sei weiterhin davon auszugehen, dass die Notwendigkeit einer weiteren Abklärung durch den Beklagten zu 2) nicht mitgeteilt worden sei, so dass die Patientin davon ausgehen durfte, dass ein besorgniserregender Befund nicht vorlag. Dem Beklagten zu 1) sei insoweit vorzuwerfen, dass er sich selbst um die Patientin nicht mehr gekümmert habe, anstelle, wie erforderlich, die Patientin sofort nach dem Eingang des histologischen Befundes wieder einzubestellen.
11Der Kläger hält weiterhin ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 100.000,00 € für angemessen. Er hat zunächst eine Verurteilung entsprechend den erstinstanzlichen Anträgen begehrt. Im Senatstermin vom 11.9.2015 hat er den Feststellungsantrag auf materielle Schäden begrenzt und den bezifferten Zahlungsantrag der 1. Instanz in den Feststellungsantrag einbezogen. Der Senat hat sodann den Feststellungsantrag dahingehend ausgelegt, dass die Feststellung von Ansprüchen aus der fehlerhaften Behandlung (insbesondere fehlerhafte Aufklärung der Ursachen der Nagelverfärbung) und nicht nur aus einer fehlerhaften therapeutischen Aufklärung begehrt wird. Denn der Kläger hat in beiden Instanzen auch insoweit kausale Behandlungsfehler geltend gemacht; darüber hat das Landgericht auch umfassend Beweis erhoben.
12Der Kläger beantragt nunmehr,
131.
14die Beklagten zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird neben 5 % Zinsen über den jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen;
152.
16festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die auf die fehlerhafte Behandlung im Jahr 2009 zurückzuführen sind, soweit die Ansprüche nicht an Dritte übergegangen sind.
17Die Beklagten beantragen,
18die Berufung zurückzuweisen.
19Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung.
20Der Beklagte zu 1) habe lege artis wegen des von der Patientin geschilderten Stoßereignisses zunächst die Frage eines Nagelhämatoms durch eine Probenentnahme abklären dürfen. Die zu dem Zeitpunkt des Stoßereignisses wiedergegebenen Angaben seien auch nicht widersprüchlich; die unterschiedlich dargestellten Zeitpunkte hätten auch keine Relevanz. Die von der Klägerin erst in der mündlichen Verhandlung dargestellte und vom Gericht unterstellte Farbe des Zehennagels habe nicht den Verdacht auf ein vorrangig abzuklärendes Melanom begründen können, weil eine solche Abgrenzung zwischen Melanom und Hämatom nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht möglich sei. Dieser habe auch nur eine Vermutung geäußert. Der Beklagte zu 1) habe bei der klinischen Untersuchung auch eine Lupe verwendet.
21Das Ergebnis der histologischen Untersuchung habe die Patientin frühzeitig und maximal eine Woche nach dem Eingang des Ergebnisses der Praxis bereits aufgrund ihres eigenen Anrufs erhalten, sodass es auf eine Pflicht zur unaufgeforderten Information nicht ankomme.
22Es sei prozessual zugestanden, dass die Patientin auch auf die Notwendigkeit der Wiedervorstellung für den Fall hingewiesen worden sei, dass die dunkle Stelle nicht innerhalb von Wochen herauswachse. Weitere Untersuchungen seien nicht möglich gewesen, weil die Klägerin nicht wieder in der Praxis erschienen sei.
23Etwaige Behandlungsfehler seien nur als einfache Fehler einzustufen. Neu, verspätet und falsch sei dazu der Vortrag, dass die Hausärztin Screeningbefugt gewesen ist und einen Tumorverdacht geäußert, hat weiterhin, dass dieser durch die Patientin dem Beklagten zu 1) auch mitgeteilt worden sei.
24Der Senat hat die Parteien persönlich angehört und Beweis erhoben durch Einholung eines mündlichen dermatologischen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. B. Wegen des Ergebnisses wird auf den Berichterstattervermerk zum Senatstermin verwiesen.
25Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes, insbesondere des genauen Wortlautes der erstinstanzlich gestellten Anträge, wird auf die angefochtene Entscheidung und die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
26II.
27Die Berufung ist begründet.
28Die Beklagten haften dem Kläger als Mitglieder der von ihnen betriebene Gemeinschaftspraxis gesamtschuldnerisch für die Fehler, die anlässlich der dermatologischen Behandlung in den Zeitraum vom 25.8.2013 bis zum 7.9.2013 unterlaufen sind.
291.
30Der Kläger hat einen Anspruch auf Schmerzensgeld gemäß den §§ 1922 ff., 611, 280, 249 ff., 823, 253 Abs.2 BGB.
31Der Senat stützt sich insoweit auf die Begutachtung durch den gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. B, insbesondere seine Ausführungen bei der Anhörung vor dem Senat.
32a.
33Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte zu 1) es unterlassen hat, bei der klinischen Untersuchung eine Speziallupe zu verwenden.
34Denn das Ergebnis einer optischen Besichtigung sowohl mit als auch ohne Lupe war nach den Erläuterungen des Sachverständigen vor dem Senat nicht geeignet, ein Melanom am Nagel zu erkennen oder auszuschließen. Überdies lässt sich auch nicht prognostizieren, welches Ergebnis im konkreten Fall die Verwendung eine Lupe erbracht hätte.
35b.
36Den Beklagten ist es aber anzulasten, dass es der Beklagte zu 1) am 25.8.2009 unterlassen hat, eine ausreichende histologische Befundung zum sicheren Ausschluss eines Melanoms sicherzustellen.
37Der Senat folgt dem Sachverständigen darin, dass bei dermatologischen Auffälligkeiten insbesondere der bösartigste mögliche Befund differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden musste. Vorliegend kamen in Betracht ein Nagelhämatom, ein Melanom und eine Pilzerkrankung. Das Melanom stellte dabei – als ohne rechtzeitige Behandlung tödlich verlaufende Hautkrebserkrankung – die gefährlichste und schwerwiegendste Erkrankung dar, deren Vorliegen oder Nichtvorliegen sicher abgeklärt werden musste.
38Auch wenn die Patientin von einem Stoßereignis und damit von einer nahe liegende Ursache für ein Nagelhämatom berichtet haben sollte, hat dies den Beklagten zu 1) nicht von der Pflicht entbunden, die notwendige umfassende Differenzialdiagnostik durchzuführen.
39Die Möglichkeit eines Melanoms hat der Beklagte zu 1) auch gesehen. Das folgt daraus, dass er eine histologische Befundung in die Wege geleitet hat, was im Hinblick auf ein bloßes Nagelhämatom nach den Ausführungen des Sachverständigen vor dem Landgericht nicht sachgerecht gewesen wäre. Entsprechend ist in der Stellungnahme für die Gutachterkommission im Mai 2012 angegeben, dass aus Sicht der Beklagten gutartige und bösartige Hautveränderungen in Betracht gekommen seien.
40Die histologische Befundung, die der Beklagte zu 1) demnach zutreffend als notwendig angesehen hat, hätte aber durch die ordnungsgemäße Entnahme einer Nagelprobe vorbereitet werden müssen. Diese Nagelprobe hätte dabei unbedingt an repräsentativer Stelle im Bereich des möglichen Melanoms entnommen werden müssen, um überhaupt ein aussagekräftiges histologisches Bild geben zu können.
41Vorliegend hat der Beklagte zu 1) es jedoch der Patientin überlassen, den Ort der Nagelprobe zu bestimmen und die Entnahme der Probe durchzuführen. Das war fehlerhaft. Um die erfolgversprechendste Stelle für die Überprüfung des Melanomverdachts zu erreichen, hätte die Nagelprobe nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen durch den behandelnden Hautarzt selbst entnommen werden müssen. Denn nur dieser konnte aufgrund seiner hautärztlichen Kenntnisse das für die Probe relevante Gebiet sicher bestimmen. Der Senat folgt dem Sachverständigen auch darin, dass diese Aufgabe wegen der hautärztlichen Fragestellung und der herausragenden Bedeutung für das Untersuchungsergebnis nicht an Dritte delegiert werden konnte, insbesondere nicht an die Patientin selbst oder an ihre Podologin.
42Dementsprechend hat dann der histologische Befund vom 29.8.2009 tatsächlich auch lediglich einen bakteriellen infizierten Nagel ausgewiesen, nicht dagegen das nach den Ausführungen des Sachverständigen schon Monate lang bestehende Melanom. Für dessen Ausschluss oder Verifizierung war bis zu diesem Zeitpunkt nichts gewonnen.
43c.
44Darüber hinaus ist den Beklagten vorzuwerfen, dass die Patientin nach der telefonischen Mitteilung des Histologiebefundes am 7.9.2009 nicht hinreichend zur alsbaldigen Wiedervorstellung in der Praxis zur weitergehenden Befundung veranlasst worden ist.
45Der Senat folgt dem Sachverständigen darin, dass die Patientin nach dem maßgeblichen medizinischen Facharztstandard anlässlich der telefonischen Mitteilung des Histologiebefundes hätte wieder einbestellt werden müssen. Denn der histologische Befund war hinsichtlich der Frage eines Melanoms nicht aussagekräftig; auch die in ihm angesprochene bakterielle Infektion stellte einen häufigen Befund war, der für die hier maßgebliche Frage aber nicht relevant war.
46Eine solche Wiedereinbestellung ist am 7.9.2009 zur Überzeugung des Senates tatsächlich nicht erfolgt. Die Behandlungsunterlagen enthalten für diesen Tag nur den Hinweis auf eine telefonische Mitteilung des Histologiebefundes, nicht jedoch den Hinweis auf eine Wiedereinbestellung, wie dies für den 25. 8. 2009 mit dem Vermerk einer Wiedervorstellung bei Persistenz dokumentiert worden ist. Darüber hinaus hatte Beklagte zu 1) in seiner Stellungnahme gegenüber der Gutachterkommission im Mai 2012 erklärt, dass man davon ausgegangen sei, dass der Patientin nach der Information über den Histologiebefund klar sein würde, dass die Verdachtsdiagnose eines Nagelhämatoms nicht zutreffend war und der Befund deshalb einer weiteren Abklärung bedurfte. Diese Erklärung setzt inzident voraus, dass eine Wiedereinbestellung gerade nicht erfolgt ist. Andernfalls wäre zu erwarten gewesen, dass nicht auf die bloße subjektive Annahme der Behandler, sondern auf einen tatsächlich erteilten ausdrücklichen Hinweis Bezug genommen worden wäre. Anhaltspunkte dafür, dass es sich um ein Missverständnis oder um eine Fehlinformation gehandelt haben könnte, bestehen nicht. Plausible Gründe dafür, wie es dazu gekommen sein könnte, haben die Beklagten auch bei der Anhörung vor dem Senat nicht angeben können. Der Senat geht deshalb davon aus, dass am 7.9.2009 kein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Wiedervorstellung gegeben worden ist.
47Ein solcher Hinweis war entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil die Notwendigkeit weiterer Befundung der Patientin aufgrund ihrer Tätigkeit im Medizinbereich bekannt gewesen ist. Die Klägerin hatte den Beruf der Zahnarzthelferin gelernt und war September 2009 als Leiterin einer AOK-Geschäftsstelle tätig. Es ist nicht ersichtlich, dass bei dieser Sachlage die notwendigen hautärztlichen Kenntnisse vorhanden gewesen sind.
48Der Hinweis war auch nicht deshalb entbehrlich, wenn die Patientin am 25. 8. 2009 auf die Notwendigkeit der Wiedervorstellung bei Persistenz des Beschwerdebildes hingewiesen worden ist. Denn der telefonische Hinweis vom 7.9.2009 auf das Ergebnis einer bakteriellen Infektion war auch dann geeignet, den Eindruck zu erwecken, dass damit die Ursache der Beschwerden gefunden worden sei, während tatsächlich der gesamte Befund nach den Ausführungen des Sachverständigen bei der Anhörung vor dem Senat weiterhin suspekt war und der behandelnde Arzt weiterhin in der Verantwortung stand, die Frage eines Melanoms abzuklären. Das Erreichen des Zwecks des früher gegebenen Hinweises war dann aber nach der Mitteilung eines scheinbaren, aber tatsächlich nicht relevanten Befundergebnisses nicht mehr sichergestellt.
49Die Beklagten können sich auch nicht darauf berufen, dass sich die Patientin der Notwendigkeit der Wiedervorstellung bewusst gewesen sein muss. Zwar hat auch der Sachverständige bei der mündlichen Anhörung gemeint, dass der Patientin die Notwendigkeit der Wiedervorstellung eigentlich klar sein musste. Er hat aber dabei ausweislich seiner Angaben bei der Anhörung vorausgesetzt, dass die Patientin entsprechend medizinisch vorgebildet ist. Greifbare Anhaltspunkte für eine medizinische, insbesondere hautärztliche Vorbildung oder eine tatsächliche Kenntnis der Notwendigkeit der Wiedervorstellung ungeachtet des Ergebnisses des histologischen Befundes haben jedoch aus den soeben erörterten Gründen nicht vorgelegen. Überdies war ein früherer Hinweis, wie erörtert, für die Patientin wegen des nur bakteriellen Befundes nicht mehr aussagekräftig.
50d.
51Der Senat bewertet das Fehlverhalten der Beklagten hinsichtlich der fehlerhaften Probenentnahme und hinsichtlich des am 7.9.2009 unterlassenen Hinweises auf die Notwendigkeit einer Wiedervorstellung jedenfalls in der Gesamtschau als groben Behandlungsfehler, der zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich der zuzurechnenden Folgen führt.
52Der gerichtliche Sachverständige hat bereits die unzureichende Probenentnahme sowohl in seinem schriftlichen Gutachten, dessen Bewertung er bei der Anhörung vor dem Senat bestätigt hat, als auch erneut im Rahmen der Anhörung aus medizinischer Sicht als grob fehlerhaft angesehen. Dem schließt sich der Senat bei juristischer Gesamtbewertung an. Angesichts der Umstände, dass ein unbehandeltes Melanom zum Tode führt, dass die Überlassung der Durchführung der Nagelprobe an die Patientin zur Verifizierung eines solchen Melanoms völlig unzuverlässig und ungeeignet gewesen ist, und dass die deshalb zwingend notwendige erneute histologische und sonstige Befundung mangels Hinweises am 7.9.2009 nicht sichergestellt worden ist, liegt ein Fehlverhalten vor, bei dem eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln verstoßen worden ist, und das aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil es einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. dazu etwa BGH NJW 2001, S.2795).
53Es kommt deshalb nicht mehr darauf an, dass hinsichtlich der Durchführung der Nagelprobe erst recht ein einfacher Befunderhebungsfehler vorliegt, der ebenfalls zur Beweislastumkehr führen würde, weil nach den Feststellungen des Sachverständigen bei ordnungsgemäßer Durchführung das schon seit Monaten oder Jahren bestehende Melanom mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt worden wäre und ein Verkennen des Melanoms oder eine Nichtreaktion als grob fehlerhaft anzusehen gewesen wäre.
54Dem Kläger kommt deshalb bei der Bewertung der auf das Fehlverhalten zurückzuführenden Schäden eine Beweislastumkehr zugute.
55Die Beweislastumkehr erfasst den Primärschaden und alle Folgeschäden, die die konkrete Ausprägung des Fehlers darstellen. Rechtsgutsverletzung (Primärschaden), auf die sich die haftungsbegründende Kausalität ausrichtet, ist dabei nicht allein die nicht rechtzeitige Erkennung einer bereits vorhandenen behandlungsbedürftigen Gesundheitsbeeinträchtigung. Die geltend gemachte Körperverletzung (Primärschaden) ist vielmehr in der durch den Behandlungsfehler herbeigeführten gesundheitlichen Befindlichkeit in ihrer konkreten Ausprägung zu sehen (vgl. BGH-Urteil vom 02.07.2013 - VI ZR 554/12 -, Juris unter Rz.16). Das heißt, im Streitfall ist Primärschaden die gesundheitliche Befindlichkeit der Patientin, die maßgeblich dadurch entstanden ist, dass eine hinreichende histologische Abklärung der Möglichkeit eines Melanoms nicht sichergestellt worden ist. Eine Beweislastumkehr kommt lediglich insoweit nicht in Betracht, als ein haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. etwa BGH-Urteil vom 16.11.2004 - VI ZR 328/03 -, Juris unter Rz.12).
56Vorliegend geht der Senat auf der Basis der Ausführungen des Sachverständigen davon aus, dass die Amputation des Zehengrundgliedes in jedem Fall medizinisch notwendig gewesen wäre, sie also den Beklagten nicht anzulasten ist.
57Im übrigen ist das weitere Geschehen mit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis zum Tode den Beklagten zuzurechnen. Der Senat folgt dem Sachverständigen dahingehend, dass eine hypothetische Chance bestanden hat, dass nach der Amputation eine vollständige Heilung eingetreten wäre.
58Die den Beklagten zuzurechnenden Umstände rechtfertigen nach Auffassung des Senates ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000,00 €.
59Der Anspruch auf Schmerzensgeld soll dem Verletzten einen angemessenen Ausgleich für die erlittenen Beeinträchtigungen und Genugtuung für das bieten, was ihm der Schädiger angetan hat. Das Schmerzensgeld ist dabei der Höhe nach unter umfassender Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände festzusetzen und hat in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Dauer der Gesundheitsbeeinträchtigungen stehen (vgl. nur Palandt-Grüneberg, BGB, 74. Auflage, § 253 Rdn.4, 15 m.w.N.).
60Der Senat hat dabei insbesondere berücksichtigt, dass den Beklagten zuzurechnen ist, dass die zu erwartende Lebenszeit der damals 55-jährigen Patientin deutlich verkürzt worden ist, weiterhin, dass sich die Leidenszeit der Patientin über ca. 3 Jahre erstreckt hat in dem Wissen, dass eine Melanomerkrankung vorgelegen hatte, die zunächst nicht erkannt worden ist. Die Patientin hat eine Reihe von durch Arztberichte nachgewiesenen, sie belastenden Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Es sind dabei sodann pulmonale Metastasen festgestellt worden, die zu mehrfachen operativen Eingriffen - Thorakektomie und Metastasektomie - im Januar und Februar 2013 geführt haben. Sie haben der Patientin deutlich gemacht, dass die Erkrankung weiterhin bestanden hat und sie sich auf ein letales Ende einstellen musste.
61Dieser Verlauf rechtfertigt nach Bewertung des Senates ein Schmerzensgeld in der erkannten Höhe.
62e.
63Zinsen sind wie erkannt als Rechtshängigkeitszinsen geschuldet.
642.
65Das Feststellungsbegehren ist begründet. Bereits die zunächst als materieller Schadensersatz geltend gemachten und sodann in den Feststellungsantrag einbezogenen Kostenpositionen belegen, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Entstehung eines materiellen Schadens gegeben ist.
66Eine Haftung der Beklagten ist damit in dem erkannten Umfang gegeben. Die Berufung hat in vollem Umfang Erfolg.
67Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10, 711, 543 ZPO.
68Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch keine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert.
Die Verpflichtung zum Schadensersatz wegen einer gegen die Person gerichteten unerlaubten Handlung erstreckt sich auf die Nachteile, welche die Handlung für den Erwerb oder das Fortkommen des Verletzten herbeiführt.
(1) Wird infolge einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit die Erwerbsfähigkeit des Verletzten aufgehoben oder gemindert oder tritt eine Vermehrung seiner Bedürfnisse ein, so ist dem Verletzten durch Entrichtung einer Geldrente Schadensersatz zu leisten.
(2) Auf die Rente finden die Vorschriften des § 760 Anwendung. Ob, in welcher Art und für welchen Betrag der Ersatzpflichtige Sicherheit zu leisten hat, bestimmt sich nach den Umständen.
(3) Statt der Rente kann der Verletzte eine Abfindung in Kapital verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.
(4) Der Anspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein anderer dem Verletzten Unterhalt zu gewähren hat.
(1) Im Falle der Tötung hat der Ersatzpflichtige die Kosten der Beerdigung demjenigen zu ersetzen, welchem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu tragen.
(2) Stand der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnis, vermöge dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf den Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten durch Entrichtung einer Geldrente insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde; die Vorschriften des § 843 Abs. 2 bis 4 finden entsprechende Anwendung. Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung gezeugt, aber noch nicht geboren war.
(3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.
Die Ehegatten sind einander verpflichtet, durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie angemessen zu unterhalten. Ist einem Ehegatten die Haushaltsführung überlassen, so erfüllt er seine Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushalts.
(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Der Ehemann der Klägerin zu 1 (im Folgenden: Klägerin) und Vater des Klägers zu 2 starb am 22. September 2004 infolge eines Verkehrsunfalls. Die volle Einstandspflicht der Beklagten steht außer Streit. Im vorliegenden Rechtsstreit verlangen die Kläger den Ersatz entgangenen Unterhalts. Die Klägerin begehrt mit der Leistungsklage die Zahlung einer Geldrente, deren Höhe sie in erster Instanz für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 mit 650 € mo- natlich und für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis 30. September 2034 mit 707 € monatlich beziffert hat. Daneben begehrt sie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für ihren darüber hinausgehenden Unterhaltsschaden. Der Kläger zu 2 hat die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung einer monatlichen Geldrente begehrt. Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Gegen dieses Urteil haben nur die Beklagten Berufung eingelegt, und zwar allein mit dem Ziel der vollständigen Abweisung des Leistungsantrags der Klägerin. Die Berufung hatte teilweise Erfolg und führte zur Ermäßigung und zeitlichen Kürzung der von den Beklagten an die Klägerin zu zahlenden Rentenbeträge. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter, soweit das Berufungsgericht zu ihrem Nachteil entschieden und die Klage abgewiesen hat.
Entscheidungsgründe:
I.
- 2
- Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Klägerin gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz des ihr durch den Unfalltod ihres Ehemannes entstandenen Unterhaltsschadens in Form einer monatlich zu zahlenden Geldrente zu, jedoch für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 nur in Höhe von monatlich 179,07 € und für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis 28. Februar 2015 nur in Höhe von monatlich 236,18 €. Der Rentenanspruch ende am 28. Februar 2015 mit der Vollendung des 16. Lebensjahres des Klägers zu 2. Von diesem Zeitpunkt an sei die betriebliche Arbeitsleistung der Klägerin in ihrem Schausteller- und Imbissbetrieb wegen des dann geringeren Betreuungsbedarfs des Kindes auf 50 % zu erhöhen. Da der sich für diese Zeit errechnende Unterhaltsrentenbetrag der Klägerin in Höhe von monatlich 327,77 € gerin- ger sei als die ihr zustehende Witwenrente, entfalle ein Rentenanspruch gegen die Beklagten.
II.
- 3
- Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
- 4
- 1. Das Berufungsgericht stellt zutreffend darauf ab, dass nach § 844 Abs. 2 BGB bei der Tötung eines gesetzlich zum Unterhalt Verpflichteten die unterhaltsberechtigte Person Anspruch auf Ersatz des Schadens hat, der ihr durch Entzug des Unterhaltsrechts entsteht (vgl. Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 10. Aufl., Rn. 319). Der Ersatz ist grundsätzlich durch Entrichtung einer Geldrente zu leisten. Dabei hat nach § 823 Abs. 1, § 844 Abs. 2 BGB der Schädiger dem Geschädigten bei Vorliegen der vom Berufungsgericht festgestellten weiteren Voraussetzungen insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts nach dem Gesetz verpflichtet gewesen wäre. Dies zwingt den Richter zu einer Prognose, wie sich die Unterhaltsbeziehungen zwischen dem Unterhaltsberechtigten und dem Unterhaltspflichtigen bei Unterstellung seines Fortlebens nach dem Unfall entwickelt hätten. Er muss daher gemäß § 287 ZPO eine vorausschauende Betrachtung vornehmen, in die er alle voraussehbaren Veränderungen der Unterhaltsbedürftigkeit des Berechtigten und der (hypothetischen) Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen, wäre er noch am Leben, einzubeziehen hat. Dabei hat der Tatrichter bei der Festsetzung der Unterhaltsrente für die Zukunft sämtliche für die Bemessung dieser Rente im Bezugszeitraum zukünftig maßgebend werdenden Faktoren zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteile vom 24. April 1990 - VI ZR 183/89, VersR 1990, 907; vom 4. November 2003 - VI ZR 346/02, VersR 2004, 75, 77 mwN; vom 27. Januar 2004 - VI ZR 342/02, VersR 2004, 653 und vom 25. April 2006 - VI ZR 114/05, VersR 2006, 1081 Rn. 8).
- 5
- 2. Der Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflicht bestimmt sich nicht nach § 844 Abs. 2 BGB, sondern nach den unterhaltsrechtlichen Vorschriften. Den nach diesen Normen geschuldeten Unterhalt setzt § 844 Abs. 2 BGB voraus (vgl. Senatsurteil vom 4. November 2003 - VI ZR 346/02, aaO S. 76).
- 6
- a) Bei der Ermittlung des Barunterhaltsschadens geht das Berufungsgericht zutreffend von den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus (vgl. z.B. Senatsurteile vom 6. Oktober 1987 - VI ZR 155/86, VersR 1987, 1243 f.; vom 31. Mai 1988 - VI ZR 116/87, VersR 1988, 954, 955, 957; vom 5. Dezember 1989 - VI ZR 276/88, VersR 1990, 317 f. und vom 2. Dezember 1997 - VI ZR 142/96, BGHZ 137, 237, 240; vgl. auch Jahnke in: van Bühren/Lemcke/Jahnke, Anwalts-Handbuch Verkehrsrecht, 2. Aufl., Teil 4 Rn. 1352 ff.; Wenzel/Zoll, Der Arzthaftungsprozess, 2012, Kap. 2 Rn. 2264 ff.; Burmann/Heß in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, 2012, Kap. 7 Rn. 459 ff.). Zu Recht beanstandet die Revision jedoch, dass dem Berufungsgericht bei der Errechnung der "fixen Kosten" des Haushalts Rechtsfehler unterlaufen sind.
- 7
- b) Zur Berechnung des Barunterhaltsschadens sind nach der Ermittlung des für Unterhaltszwecke verfügbaren fiktiven Nettoeinkommens des Getöteten in einem zweiten Schritt die "fixen Kosten" vorweg abzusetzen und - nach quotenmäßiger Verteilung des verbleibenden Einkommens auf den Getöteten und seine unterhaltsberechtigten Hinterbliebenen - in voller Höhe den einzelnen Unterhaltsgeschädigten anteilig zuzurechnen (Senatsurteil vom 1. Oktober 1985 - VI ZR 36/84, VersR 1986, 39, 40). Unter "fixen Kosten" sind jene Ausgaben zu verstehen, die weitgehend unabhängig vom Wegfall eines Familienmitgliedes als feste Kosten des Haushalts weiterlaufen und deren Finanzierung der Getötete familienrechtlich geschuldet hätte (Senatsurteile vom 11. Oktober 1983 - VI ZR 251/81, VersR 1984, 79, 81 und vom 31. Mai 1988 - VI ZR 116/87, aaO S. 955).
- 8
- aa) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, das Berufungsgericht hätte als "fixe Kosten" die Aufwendungen für die Unfallversicherung der Klägerin berücksichtigen müssen. Insoweit ist weder dargetan noch ersichtlich, dass der verstorbene Ehemann unterhaltsrechtlich zur Zahlung dieser Kosten verpflichtet gewesen wäre.
- 9
- bb) Der Revision kann auch nicht darin gefolgt werden, dass die Prämien für die Lebensversicherung des verstorbenen Ehemannes der Klägerin als "fixe Kosten" von dem Nettoeinkommen abzusetzen seien. Da diese Lebensversicherungen mit dem Tod des Ehemannes endeten, sind darauf keine weiteren Prämien mehr zu entrichten.
- 10
- cc) Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht die Aufwendungen für die Lebensversicherungen der Klägerin nicht als "fixe Kosten" des Haushalts berücksichtigt, sondern in vollem Umfang als individuelle Aufwendungen angesehen hat. Sie verweist mit Recht darauf, dass die Klägerin und ihr verstorbener Ehemann nach den getroffenen Feststellungen gemeinsam selbständig in ihrem Schausteller- und Imbissbetrieb tätig gewesen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind Aufwendungen und Rücklagen von Selbständigen zur Altersvorsorge, die während der Zeit der aktiven beruflichen Tätigkeit erbracht würden, jedoch als "fixe Kosten" des Haushalts zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteile vom 26. Mai 1954 - VI ZR 69/53, VersR 1954, 325, 326 und vom 14. April 1964 - VI ZR 89/63, VersR 1964, 778, 779; BGH, Urteil vom 3. Dezember 1951 - III ZR 68/51, VersR 1952, 97, 98). Aufwendungen und Rücklagen zur Altersvorsorge können, soweit den betreffenden Personen keine ausreichende gesetzliche Altersrente zur Verfügung steht, entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht stets in vollem Umfang als Beiträge für "freiwillige" Versicherungen behandelt werden. Insoweit kann es sich vielmehr durchaus um "notwendige" und damit "fixe Kosten" des Haushalts handeln. Da Prämien für Kapitallebensversicherungen je nach Lage des Falles sowohl der Eigen- bzw. Altersvorsorge als auch der Absicherung der Unterhaltsberechtigten dienen können und insoweit eine besondere Form des Unterhalts darstellen, sind sie gegebenenfalls mit dem Anteil, der nicht der Vermögensbildung dient, bei der Bemessung der Rentenhöhe gemäß § 844 Abs. 2 BGB vom unterhaltsrechtlich relevanten Nettoeinkommen abzuziehen (BGH, Urteil vom 3. Dezember 1951 - III ZR 68/51, aaO S. 98 f.; Wenzel/Zoll, aaO Rn. 2284). Dabei unterfällt die Höhe des als "fixe Kosten" zu berücksichtigenden Anteils regelmäßig der tatrichterlichen Schätzung gemäß § 287 ZPO (vgl. OLG Zweibrücken, VersR 1994, 613, 614 mit NABeschluss des erkennenden Senats vom 26. Oktober 1993 - VI ZR 6/93; OLG Hamm, Urteil vom 6. Juni 2008 - I-9 U 123/055, juris Rn. 148), wobei nach Lage des Falles auch zu berücksichtigen sein kann, in welchem Maße beide Ehegatten zum Familieneinkommen beigetragen haben.
- 11
- dd) Die Revision beanstandet auch mit Recht, dass das Berufungsgericht bei der Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO ermessensfehlerhaft die der Klägerin zu ersetzenden Fixkosten über 16 ¼ Jahre hinweg um je 25 % für die beiden Kinder des Getöteten gekürzt hat, obwohl möglicherweise dessen Unterhaltspflicht seit dem 1. Oktober 2008 gegenüber der am 1. September 2008 volljährig gewordenen Tochter (und Schwester des Klägers zu 2) nicht mehr bestanden hätte und ab 1. März 2017 gegenüber dem am 25. Februar 2017 volljährig werdenden Kläger zu 2 nicht mehr bestehen würde. Insoweit hat das Berufungsgericht bei der Aufteilung der "fixen Kosten" die Altersentwicklung der beiden Kinder nicht hinreichend berücksichtigt.
- 12
- ee) Die Revision rügt ferner mit Recht, dass das Berufungsgericht diesen Fehler wiederholt hat, indem es bei der Verteilung des nach Abzug der "fixen Kosten" verbleibenden Unterhaltsbeitrags des Getöteten den Anteil der Klägerin über 16 ¼ Jahre hinweg konstant mit 35 % bemessen hat. Auch dabei hat es den sich durch das Heranwachsen der Kinder ergebenden Veränderungen nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen.
- 13
- 3. In dem dargestellten Umfang ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen, um dem Berufungsgericht Gelegenheit zu geben, die Höhe des Unterhaltsschadens unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats zu ermitteln. Dabei wird im Rahmen der Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO gegebenenfalls auch das Vorbringen der Revisionserwiderung zur Berechnung des Rentenanspruchs zu berücksichtigen sein. Zoll Diederichsen Pauge Stöhr von Pentz
LG Duisburg, Entscheidung vom 27.04.2010 - 1 O 311/07 -
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 15.03.2011 - I-1 U 110/10 -
(1) Im Falle der Tötung hat der Ersatzpflichtige die Kosten der Beerdigung demjenigen zu ersetzen, welchem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu tragen.
(2) Stand der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnis, vermöge dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf den Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten durch Entrichtung einer Geldrente insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde; die Vorschriften des § 843 Abs. 2 bis 4 finden entsprechende Anwendung. Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung gezeugt, aber noch nicht geboren war.
(3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Zahlung rückständigen Unterhalts und einer Geldrente in Anspruch. Ihre Mutter wurde am 3. März 1999 bei einem Verkehrsunfall mit dem vom Beklagten zu 1) gesteuerten Fahrzeug getötet, dessen Halterin die Beklagte zu 2) und deren Haftpflichtversicherer die Beklagte zu 3) ist. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit.
- 2
- Die am 18. September 1979 geborene Klägerin leidet u.a. an einer fortschreitenden Friedreich´schen Ataxie und ist in steigendem Umfang pflegebedürftig. Ihre am 21. August 1947 geborene Mutter pflegte sie bis zu ihrem Unfalltod persönlich. Am 18. September 2000 heiratete die Klägerin. Ihr Ehemann gab mit der Heirat seinen Beruf auf; er übernahm ihre Pflege und nach der am 17. April 2001 erfolgten Geburt des gemeinsamen Kindes auch dessen Versorgung. Der Vater der Klägerin hat ihr eine behindertengerecht ausgebaute Wohnung mit einem Mietwert von 1.500 DM zur Verfügung gestellt und hilft bei der täglichen Versorgung der Klägerin und des Kindes aus. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin und zwei gemeinsamen Kindern, die in den Jahren 2000 und 2001 geboren wurden, zusammen. Die Klägerin erhält Pflegegeld und eine Halbwaisenrente. Sie begehrt die Kosten für die Pflege, die ihre Mutter geleistet hätte.
- 3
- Das Landgericht hat der Klage weitgehend stattgegeben. Das Berufungsgericht hat auf die Berufung der Beklagten der Klage in weit geringerem Umfang stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
- 4
- Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der Klägerin stehe ein Schadensersatzanspruch aus § 844 Abs. 2 BGB in dem Umfang zu, in dem sie nach §§ 1601, 1602 Abs. 1, 1603 Abs. 1, 1610, 1612 BGB von ihrer Mutter Barunterhalt hätte verlangen können. Dieser sei anhand der von der Mutter der Klä- gerin zu erzielenden fiktiven monatlichen Einkünfte als Pflegehelferin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 36 Stunden unter Berücksichtigung einer Aufwandspauschale und des Selbstbehalts zu ermitteln. Auf dieser Grundlage stehe der Klägerin für den Zeitraum vom 3. März 1999 bis 31. Dezember 2001 kein weiterer Schadensersatz zu, weil der für diesen Zeitraum für den Unterhalt der Klägerin noch verfügbare Differenzbetrag von 460,16 € durch die von den Beklagten gezahlten und anerkannten monatlichen Beträge überschritten worden sei. Für den nachfolgenden Zeitraum ergebe sich ein monatlicher Unterhaltsanspruch von 413 €. Davon ausgehend sei hinsichtlich des Unterhaltsrückstands Schadensersatz zu leisten und für die Zukunft eine monatliche Rente zu zahlen, jedoch nur bis zum Erreichen des 65. Lebensjahres der Mutter im August 2012. Dann hätte diese in Rente gehen müssen, so dass bei verminderten Einkünften kein verfügbarer Differenzbetrag mehr zur Verfügung gestanden hätte.
- 5
- Ihren monatlichen Bedarf von 1.191,35 € (ab dem 1. Mai 2004 1.661 €) müsse die Klägerin in Höhe von 664,68 € aus dem erhaltenen Pflegegeld Stufe III abdecken. Vorrangige Unterhaltsansprüche gegen ihren Ehemann aus § 1608 BGB über dessen Beitrag zur Haushaltsführung und Versorgung des gemeinsamen Kindes hinaus bestünden nicht. Der weitere Bedarf könne auch nicht gegenüber dem Vater der Klägerin erfolgreich geltend gemacht werden, weil von diesem angesichts seiner Einkommensverhältnisse und anderweitigen Unterhaltsverpflichtungen kein Barunterhalt verlangt werden könne und bereits die Überlassung der Wohnung eine überobligationsmäßige Leistung darstelle.
- 6
- Entgegen der Ansicht der Klägerin sei nicht auf die tatsächlich erbrachte Unterhaltsleistung ihrer Mutter abzustellen, denn für die Höhe des Schadensersatzanspruchs aus § 844 Abs. 2 BGB komme es allein auf den gesetzlich geschuldeten und nicht auf einen tatsächlich gewährten Unterhalt an. Selbst wenn die Klägerin und ihre Eltern eine lebenslange Pflege und Versorgung der Kläge- rin im Wege des Naturalunterhalts vereinbart hätten, fehle es an einer entsprechenden gesetzlich geschuldeten Unterhaltsverpflichtung der Mutter als Grundlage für einen Anspruch nach § 844 Abs. 2 BGB. Es handele sich dann nämlich um eine erhebliche Erweiterung der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung, nach der beim volljährigen Kind regelmäßig der Barunterhalt geschuldet sei.
II.
- 7
- Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht in vollem Umfang stand.
- 8
- 1. Das Berufungsgericht stellt zutreffend darauf ab, dass nach § 844 Abs. 2 BGB bei der Tötung eines gesetzlich zum Unterhalt Verpflichteten die unterhaltsberechtigte Person Anspruch auf Ersatz des Schadens hat, der ihr durch Entzug des Unterhaltsrechts entsteht (vgl. Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 8. Aufl., Rn. 319). Der Ersatz ist grundsätzlich durch Entrichtung einer Geldrente zu leisten. Dabei hat nach §§ 823 Abs. 1, 844 Abs. 2 BGB der Schädiger dem Geschädigten bei Vorliegen der vom Berufungsgericht festgestellten weiteren Voraussetzungen insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts nach dem Gesetz verpflichtet gewesen wäre. Dies zwingt den Richter zu einer Prognose, wie sich die Unterhaltsbeziehungen zwischen dem Unterhaltsberechtigten und dem Unterhaltspflichtigen bei Unterstellung seines Fortlebens nach dem Unfall entwickelt hätten. Er muss daher gemäß § 287 ZPO eine vorausschauende Betrachtung vornehmen, in die er alle voraussehbaren Veränderungen der Unterhaltsbedürftigkeit des Berechtigten und der (hypothetischen) Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen, wäre er noch am Leben, einzubeziehen hat. Dabei hat der Tatrichter bei der Festset- zung der Unterhaltsrente für die Zukunft sämtliche für die Bemessung dieser Rente im Bezugszeitraum zukünftig maßgebend werdenden Faktoren zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteile vom 24. April 1990 - VI ZR 183/89 - VersR 1990, 907; vom 4. November 2003 - VI ZR 346/02 - VersR 2004, 75, 77 m.w.N.; vom 27. Januar 2004 - VI ZR 342/02 - VersR 2004, 653).
- 9
- 2. Der Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflicht bestimmt sich nicht nach § 844 Abs. 2 BGB, sondern nach den unterhaltsrechtlichen Vorschriften. Den nach diesen Normen geschuldeten Unterhalt setzt § 844 Abs. 2 BGB voraus (vgl. Senatsurteil vom 4. November 2003 - VI ZR 346/02 - aaO, 76). Deshalb richtet sich hier im Verhältnis zwischen der zum Unfallzeitpunkt bereits volljährigen Tochter und ihrer getöteten Mutter der Umfang des fiktiven gesetzlichen Unterhalts nach dem Bedarf der Klägerin und nach der persönlichen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Getöteten, wobei der Unterhalt grundsätzlich durch Entrichtung einer Geldrente zu gewähren ist (vgl. §§ 1601, 1602, 1603, 1610, 1612 BGB).
- 10
- 3. Unterhaltsbedürftig ist die Klägerin nur, soweit sie außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 Abs. 1 BGB). Soweit ihre eigenen Einkünfte ausreichen, um den Bedarf zu decken, besteht ein Unterhaltsbedarf nicht.
- 11
- Zwar ist die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung unstreitig nicht in der Lage , am Erwerbsleben teilzunehmen und sich durch Arbeitseinkommen selbst zu unterhalten. Jedoch hat sie eigene Einkünfte durch das ihr gezahlte Pflegegeld. Entgegen der Ansicht der Revision begegnet die vom Berufungsgericht vorgenommene Anrechnung dieser Einkünfte auf den Bedarf der Klägerin keinen rechtlichen Bedenken.
- 12
- Das nach § 37 SGB XI geleistete Pflegegeld kommt der Klägerin unfallunabhängig wegen ihrer bereits vorher bestehenden schweren Erkrankung zu- gute. Es dient zum Ausgleich ihrer behinderungsbedingten Mehraufwendungen und vermindert demzufolge ihren nach § 1602 BGB zu bestimmenden Unterhaltsbedarf (vgl. BGH Urteile vom 7. Juli 2004 - XII ZR 272/02 - NJW-RR 2004, 1300, 1301; vom 23. Juli 2003 - XII ZR 339/00 - NJW-RR 2003, 1441, 1442 sowie vom 25. November 1992 - XII ZR 164/91 - NJW-RR 1993, 322 zur bedarfsdeckenden Anrechnung von Landespflegegeldern; Soergel-Beater, Kommentar zum BGB, Stand 2005, § 844 Rn. 39). Ob es - wie die Revision meint - Bedenken begegnet, den Bedarf eines erwachsenen behinderten Kindes nach Tabellen und Leitlinien zu bestimmen, die von ihrer Zielsetzung her auf Minderjährige und noch in der Ausbildung befindliche junge Erwachsene zugeschnitten sind (vgl. Senatsurteile vom 22. Januar 1985 - VI ZR 71/83 - VersR 1985, 365, 367; vom 1. Oktober 1985 - VI ZR 36/84 - VersR 1986, 39, 40; vom 31. Mai 1988 - VI ZR 116/87 - NJW 1988, 2365, 2366; OLG Hamm FamRZ 2004, 1061, 1062), ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Auf den konkret zu bestimmenden (Wendl/Staudigl, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 5.A., § 2 Rn. 44; Staudinger-Röthel, BGB-Kommentar, § 844 Rn. 167) Bedarf der Klägerin ist jedenfalls das Pflegegeld als Einkommen in Anrechnung zu bringen, was zu einer Bedarfsdeckung in Höhe des Pflegegeldes und damit einem Erlöschen des Unterhaltsanspruchs insoweit führt.
- 13
- 4. Als unzutreffend erweist sich jedoch unter den besonderen Umständen des Streitfalls die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin als volljähriges Kind lediglich Anspruch auf Barunterhalt als gesetzlichen Unterhalt hat.
- 14
- a) Soweit das Berufungsgericht erwägt, die von ihm unterstellte Vereinbarung der Eltern der Klägerin zur Gewährung von Naturalunterhalt durch die Mutter im Wege der aufopfernden Pflege stelle keine gesetzliche Konkretisierung des Unterhalts auf Naturalleistungen dar, sondern überlagere nur eine ge- setzlich geschuldete Barunterhaltsverpflichtung, verkennt es die Bedeutung der Formulierung "kraft Gesetzes unterhaltspflichtig" im Sinne des § 844 Abs. 2 BGB. "Gesetzlicher Unterhalt" im Sinne dieser Vorschrift ist, was im konkreten Fall das Ergebnis eines Unterhaltsprozesses der Klägerin gegen ihre Mutter wäre (Staudinger-Röthel, BGB, Bearbeitung 2002, § 844 Rn. 104, 167; SoergelBeater , BGB, 13. Aufl., § 844 Rn. 23).
- 15
- Für die Höhe eines Anspruchs aus § 844 Abs. 2 BGB kommt es allein auf den gesetzlich geschuldeten und nicht auf den Unterhalt an, den die Getötete möglicherweise tatsächlich gewährt hätte (vgl. Senatsurteile vom 5. Juli 1988 - VI ZR 299/87 - VersR 1988, 1166, 1168 und vom 6. Oktober 1992 - VI ZR 305/91 - VersR 1993, 56, 57, jeweils m.w.N.). Eine über die gesetzlich geschuldete Unterhaltspflicht hinausgehende ("überobligationsmäßig") tatsächlich erbrachte Unterhaltsleistung ist im Rahmen des § 844 Abs. 2 BGB nicht zu ersetzen (vgl. Senatsurteil vom 6. Oktober 1992 - VI ZR 305/91 - aaO). Demgemäß genügt eine nur auf Vertrag beruhende Unterhaltspflicht nicht den Anforderungen , die § 844 Abs. 2 BGB an die Schadensersatzpflicht des Schädigers gegenüber mittelbar Geschädigten stellt (vgl. Senatsurteile vom 24. Juni 1969 - VI ZR 66/67 - VersR 1969, 998, 999; vom 6. Dezember 1983 - VI ZR 2/82 - VersR 1984, 189, 190; OLG München VersR 1979, 1066 mit Nichtannahmebeschluss des BGH vom 10. Juli 1979 - VI ZR 228/78 -; Küppersbusch, aaO, Rn. 323; Soergel-Beater, aaO, § 844 Rn. 15). Eine solche Fallgestaltung liegt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts indes hier nicht vor. Insoweit gilt Folgendes:
- 16
- b) Für den Zeitraum bis zur Heirat der Klägerin ist zu berücksichtigen, dass Eltern, die einem unverheirateten Kind Unterhalt zu gewähren haben, nach § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB bestimmen können, in welcher Art der Unterhalt gewährt werden soll. Dies gilt auch für Unterhaltspflichten gegenüber voll- jährigen Kindern (BGH, Urteil vom 3. Dezember 1980 - IV b ZR 537/80 - NJW 1981, 574, 575; vgl. BayObLG, FamRZ 1977, 263, 264; OLG Bremen, FamRZ 1976, 642, 643; Gernhuber/Coester-Waltjen, Lehrb. d. FamR, 4. Aufl., § 46 III 2). Das Gesetz schränkt das elterliche Bestimmungsrecht nur dadurch ein, dass das Familiengericht aus besonderen Gründen auf Antrag des Kindes die Bestimmung der Eltern ändern kann (§ 1612 Abs. 2 Satz 2 BGB). Eine Bestimmung , die von einem hierzu Berechtigten vorbehaltlos getroffen wird, inhaltlich bestimmt ist und den ganzen Lebensbedarf des Kindes umfasst, ist daher grundsätzlich verbindlich, solange sie nicht auf Antrag des Kindes durch das Familiengericht geändert wird (vgl. Gernhuber/Coester-Waltjen, aaO; Göppinger /Wax-Kodal, Unterhaltsrecht, 8. Aufl., Rn. 168).
- 17
- Soweit die Klägerin vorgetragen hat, sie habe mit ihren Eltern vereinbart, diese würden sie bis an ihr Lebensende pflegen, macht sie geltend, der Unterhalt habe seitens der Mutter entsprechend der bis zum Unfalltod praktizierten Handhabung als Naturalunterhalt geleistet werden sollen. Insoweit ist von einer entsprechenden Bestimmung der Eltern nach § 1612 Abs. 2 BGB auszugehen, die ihre Grundlage in der Krankheit der Klägerin einerseits und der tatsächlichen Möglichkeit zur Pflege durch die nicht erwerbstätige Mutter andererseits hatte. Bei dieser Sachlage hätte die zum Unfallzeitpunkt volljährige unverheiratete Klägerin demnach im Rahmen eines Unterhaltsprozesses von ihrer Mutter keinen Barunterhalt, sondern deren Pflegeleistungen als gesetzlich geschuldeten Naturalunterhalt verlangen können (vgl. OLG Zweibrücken, FamRZ 1988, 204, 205; OLG Hamm, NJW-RR 1987, 539, 540; Göppinger/Wax-Kodal, aaO, Rn. 181; Wendl/Staudigl, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 5. Aufl., § 2 Rn. 35). Unter diesen Umständen sind die von der Mutter erbrachten Dienstleistungen bei der Klägerin als einem volljährigen, unverheirateten Kind konkret zu bewerten (vgl. MünchKommBGB/Köhler, 3. Aufl., § 1606 Rn. 7; Staudinger/Engler, BGB, Bearbeitung 2000, § 1606 Rn. 25; Staudinger/Röthel, BGB, Bearbeitung 2002, § 844 Rn. 167). Insoweit besteht nämlich wegen der Konkretisierung des Unterhaltsanspruchs durch die Bestimmung der Eltern ein gesetzlicher Anspruch auf Naturalunterhalt, solange die getroffene Bestimmung gilt. Demgemäß wäre auch die Klägerin als unverheiratete, volljährige mittelbar Geschädigte nach § 844 Abs. 2 BGB schadensrechtlich so zu stellen, wie sie bei Weitergewährung des Naturalunterhalts gestanden hätte.
- 18
- d) Der Anspruch auf Gewährung von Naturalunterhalt durch die Mutter wäre unter den besonderen Umständen des Streitfalls auch nicht durch die Heirat der Klägerin erloschen. Zwar geht der Anspruch gegen den Ehegatten auf Unterhalt dem Elternunterhalt vor, § 1608 BGB, und spricht § 1612 Abs. 2 BGB nur von einem Bestimmungsrecht gegenüber volljährigen unverheirateten Kindern. Dem liegt zugrunde, dass der mit der Ehe des Kindes gebildete neue Lebenskreis Vorrang vor dem alten, dem Bestimmungsrecht der Eltern unterliegenden , haben muss (Gernhuber/Coester-Waltjen, aaO, § 46 III 1). Daher besteht ein Bestimmungsrecht der Eltern nach § 1612 Abs. 2 BGB gegenüber dem verheirateten Kind nach allgemeiner Meinung nicht (Göppinger/WaxKodal , aaO, Rn. 141; Köhler/Luthin, Handbuch des Unterhaltsrechts, 9. Aufl., Rn. 3091; MünchKommBGB/Born, 4. Aufl., § 1612 Rn. 8; OLG Köln, FamRZ 1983, 643 m.w.N.).
- 19
- Jedoch ist der Ehegatte der Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts über die von ihm geleistete Hausarbeit und Versorgung des gemeinsamen Kindes hinaus nicht leistungsfähig, so dass ein Unterhaltsanspruch der verheirateten Klägerin gegen ihre Eltern weiter besteht. Auf diesen Unterhaltsanspruch ist § 1612 Abs. 1 BGB anzuwenden (MünchKommBGB/Born, aaO, Rn. 8, 11). Nach dieser Vorschrift bedarf ein Übergang zum Naturalunterhalt als anstelle von Barunterhalt gesetzlich geschuldetem Unterhalt (MünchKommBGB /Born, aaO, § 1612 Rn. 2) besonderer Gründe zu seiner Rechtferti- gung und einer grundsätzlich dem Tatrichter überlassenen Abwägung der Interessen des Unterhaltspflichtigen gegenüber denen des Unterhaltsberechtigten. Diese Voraussetzungen liegen bei revisionsrechtlicher Betrachtungsweise vor.
- 20
- Nach dem vom Berufungsgericht als richtig unterstellten Klägervortrag wäre hier von einem Ausnahmefall nach § 1612 Abs. 1 Satz 2 BGB auszugehen. Nach der Rechtsprechung wird eine Unterhaltsbestimmung nach § 1612 Abs. 2 BGB durch den Eintritt der Volljährigkeit des Kindes nicht wirkungslos, wenn und soweit die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Beteiligten davon unberührt bleiben (BGH, Urteil vom 1. Juni 1983 - IV b ZR 365/81 - NJW 1983, 2200, 2202). Das muss entsprechend für den vorliegenden Fall gelten, in dem der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen ihre Eltern trotz der Heirat nicht weggefallen ist und die Mutter angesichts der besonderen Lebensumstände den Unterhaltsanspruch weiterhin durch Naturalleistungen hätte erfüllen dürfen.
- 21
- e) Damit hat die Klägerin nach § 844 Abs. 2 BGB - unter Anrechnung der Pflegegelder - Anspruch auf Geldersatz für die von ihrer Mutter konkret erbrachten Dienst-/Pflegeleistungen, soweit diese den tatsächlichen Bedarf der Klägerin abdecken und die Mutter leistungsfähig gewesen wäre. Anders als bei einer Schadensersatzrente auf der Grundlage des zuletzt erzielten Nettoeinkommens des Getöteten, bei der zu berücksichtigen ist, dass sich die Höhe des Unterhaltsanspruchs mit dem voraussichtlichen Ausscheiden des Getöteten aus dem Erwerbsleben verändert und der Schadensersatzrente ab diesem Zeitpunkt nicht mehr das zuletzt erzielte Nettoeinkommen des Getöteten zugrunde gelegt werden kann (Senatsurteil vom 27. Januar 2004 - VI ZR 342/02 - VersR 2004, 653 m.w.N.), ist bei Ersatz für Naturalleistungen die Geldrente auf die Zeit zu begrenzen, in der der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens leistungsfähig gewesen wäre. Das ist gemäß § 287 ZPO unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu schätzen, wobei insbesondere die allgemeine Lebenserwartung der durch das Lebensalter gekennzeichneten Personengruppe , der der Betroffene angehört, und dessen besondere Lebens- und Gesundheitsverhältnisse zu berücksichtigen sind (vgl. Senatsurteile vom 27. Januar 2004 - VI ZR 342/02 - aaO und vom 25. April 1972 - VI ZR 134/71 - VersR 1972, 834 f.).
III.
- 22
- Da das Berufungsgericht die von der Klägerin vorgetragene Vereinbarung mit ihren Eltern nur unterstellt hat und bei ihrem Vorliegen die Höhe des Schadensersatzes neu festzusetzen ist, war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung zurückzuverweisen, §§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 1 ZPO. Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll
LG Landshut, Entscheidung vom 21.10.2004 - 73 O 871/02 -
OLG München, Entscheidung vom 11.05.2005 - 20 U 5275/04 -
(1) Im Falle der Tötung hat der Ersatzpflichtige die Kosten der Beerdigung demjenigen zu ersetzen, welchem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu tragen.
(2) Stand der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnis, vermöge dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhaltspflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf den Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten durch Entrichtung einer Geldrente insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet gewesen sein würde; die Vorschriften des § 843 Abs. 2 bis 4 finden entsprechende Anwendung. Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung gezeugt, aber noch nicht geboren war.
(3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.
Die Ehegatten sind einander verpflichtet, durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie angemessen zu unterhalten. Ist einem Ehegatten die Haushaltsführung überlassen, so erfüllt er seine Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushalts.
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Der Ehemann der Klägerin zu 1 (im Folgenden: Klägerin) und Vater des Klägers zu 2 starb am 22. September 2004 infolge eines Verkehrsunfalls. Die volle Einstandspflicht der Beklagten steht außer Streit. Im vorliegenden Rechtsstreit verlangen die Kläger den Ersatz entgangenen Unterhalts. Die Klägerin begehrt mit der Leistungsklage die Zahlung einer Geldrente, deren Höhe sie in erster Instanz für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 mit 650 € mo- natlich und für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis 30. September 2034 mit 707 € monatlich beziffert hat. Daneben begehrt sie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für ihren darüber hinausgehenden Unterhaltsschaden. Der Kläger zu 2 hat die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung einer monatlichen Geldrente begehrt. Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Gegen dieses Urteil haben nur die Beklagten Berufung eingelegt, und zwar allein mit dem Ziel der vollständigen Abweisung des Leistungsantrags der Klägerin. Die Berufung hatte teilweise Erfolg und führte zur Ermäßigung und zeitlichen Kürzung der von den Beklagten an die Klägerin zu zahlenden Rentenbeträge. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter, soweit das Berufungsgericht zu ihrem Nachteil entschieden und die Klage abgewiesen hat.
Entscheidungsgründe:
I.
- 2
- Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Klägerin gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz des ihr durch den Unfalltod ihres Ehemannes entstandenen Unterhaltsschadens in Form einer monatlich zu zahlenden Geldrente zu, jedoch für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 nur in Höhe von monatlich 179,07 € und für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis 28. Februar 2015 nur in Höhe von monatlich 236,18 €. Der Rentenanspruch ende am 28. Februar 2015 mit der Vollendung des 16. Lebensjahres des Klägers zu 2. Von diesem Zeitpunkt an sei die betriebliche Arbeitsleistung der Klägerin in ihrem Schausteller- und Imbissbetrieb wegen des dann geringeren Betreuungsbedarfs des Kindes auf 50 % zu erhöhen. Da der sich für diese Zeit errechnende Unterhaltsrentenbetrag der Klägerin in Höhe von monatlich 327,77 € gerin- ger sei als die ihr zustehende Witwenrente, entfalle ein Rentenanspruch gegen die Beklagten.
II.
- 3
- Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
- 4
- 1. Das Berufungsgericht stellt zutreffend darauf ab, dass nach § 844 Abs. 2 BGB bei der Tötung eines gesetzlich zum Unterhalt Verpflichteten die unterhaltsberechtigte Person Anspruch auf Ersatz des Schadens hat, der ihr durch Entzug des Unterhaltsrechts entsteht (vgl. Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 10. Aufl., Rn. 319). Der Ersatz ist grundsätzlich durch Entrichtung einer Geldrente zu leisten. Dabei hat nach § 823 Abs. 1, § 844 Abs. 2 BGB der Schädiger dem Geschädigten bei Vorliegen der vom Berufungsgericht festgestellten weiteren Voraussetzungen insoweit Schadensersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens zur Gewährung des Unterhalts nach dem Gesetz verpflichtet gewesen wäre. Dies zwingt den Richter zu einer Prognose, wie sich die Unterhaltsbeziehungen zwischen dem Unterhaltsberechtigten und dem Unterhaltspflichtigen bei Unterstellung seines Fortlebens nach dem Unfall entwickelt hätten. Er muss daher gemäß § 287 ZPO eine vorausschauende Betrachtung vornehmen, in die er alle voraussehbaren Veränderungen der Unterhaltsbedürftigkeit des Berechtigten und der (hypothetischen) Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen, wäre er noch am Leben, einzubeziehen hat. Dabei hat der Tatrichter bei der Festsetzung der Unterhaltsrente für die Zukunft sämtliche für die Bemessung dieser Rente im Bezugszeitraum zukünftig maßgebend werdenden Faktoren zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteile vom 24. April 1990 - VI ZR 183/89, VersR 1990, 907; vom 4. November 2003 - VI ZR 346/02, VersR 2004, 75, 77 mwN; vom 27. Januar 2004 - VI ZR 342/02, VersR 2004, 653 und vom 25. April 2006 - VI ZR 114/05, VersR 2006, 1081 Rn. 8).
- 5
- 2. Der Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflicht bestimmt sich nicht nach § 844 Abs. 2 BGB, sondern nach den unterhaltsrechtlichen Vorschriften. Den nach diesen Normen geschuldeten Unterhalt setzt § 844 Abs. 2 BGB voraus (vgl. Senatsurteil vom 4. November 2003 - VI ZR 346/02, aaO S. 76).
- 6
- a) Bei der Ermittlung des Barunterhaltsschadens geht das Berufungsgericht zutreffend von den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus (vgl. z.B. Senatsurteile vom 6. Oktober 1987 - VI ZR 155/86, VersR 1987, 1243 f.; vom 31. Mai 1988 - VI ZR 116/87, VersR 1988, 954, 955, 957; vom 5. Dezember 1989 - VI ZR 276/88, VersR 1990, 317 f. und vom 2. Dezember 1997 - VI ZR 142/96, BGHZ 137, 237, 240; vgl. auch Jahnke in: van Bühren/Lemcke/Jahnke, Anwalts-Handbuch Verkehrsrecht, 2. Aufl., Teil 4 Rn. 1352 ff.; Wenzel/Zoll, Der Arzthaftungsprozess, 2012, Kap. 2 Rn. 2264 ff.; Burmann/Heß in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, 2012, Kap. 7 Rn. 459 ff.). Zu Recht beanstandet die Revision jedoch, dass dem Berufungsgericht bei der Errechnung der "fixen Kosten" des Haushalts Rechtsfehler unterlaufen sind.
- 7
- b) Zur Berechnung des Barunterhaltsschadens sind nach der Ermittlung des für Unterhaltszwecke verfügbaren fiktiven Nettoeinkommens des Getöteten in einem zweiten Schritt die "fixen Kosten" vorweg abzusetzen und - nach quotenmäßiger Verteilung des verbleibenden Einkommens auf den Getöteten und seine unterhaltsberechtigten Hinterbliebenen - in voller Höhe den einzelnen Unterhaltsgeschädigten anteilig zuzurechnen (Senatsurteil vom 1. Oktober 1985 - VI ZR 36/84, VersR 1986, 39, 40). Unter "fixen Kosten" sind jene Ausgaben zu verstehen, die weitgehend unabhängig vom Wegfall eines Familienmitgliedes als feste Kosten des Haushalts weiterlaufen und deren Finanzierung der Getötete familienrechtlich geschuldet hätte (Senatsurteile vom 11. Oktober 1983 - VI ZR 251/81, VersR 1984, 79, 81 und vom 31. Mai 1988 - VI ZR 116/87, aaO S. 955).
- 8
- aa) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, das Berufungsgericht hätte als "fixe Kosten" die Aufwendungen für die Unfallversicherung der Klägerin berücksichtigen müssen. Insoweit ist weder dargetan noch ersichtlich, dass der verstorbene Ehemann unterhaltsrechtlich zur Zahlung dieser Kosten verpflichtet gewesen wäre.
- 9
- bb) Der Revision kann auch nicht darin gefolgt werden, dass die Prämien für die Lebensversicherung des verstorbenen Ehemannes der Klägerin als "fixe Kosten" von dem Nettoeinkommen abzusetzen seien. Da diese Lebensversicherungen mit dem Tod des Ehemannes endeten, sind darauf keine weiteren Prämien mehr zu entrichten.
- 10
- cc) Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht die Aufwendungen für die Lebensversicherungen der Klägerin nicht als "fixe Kosten" des Haushalts berücksichtigt, sondern in vollem Umfang als individuelle Aufwendungen angesehen hat. Sie verweist mit Recht darauf, dass die Klägerin und ihr verstorbener Ehemann nach den getroffenen Feststellungen gemeinsam selbständig in ihrem Schausteller- und Imbissbetrieb tätig gewesen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind Aufwendungen und Rücklagen von Selbständigen zur Altersvorsorge, die während der Zeit der aktiven beruflichen Tätigkeit erbracht würden, jedoch als "fixe Kosten" des Haushalts zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteile vom 26. Mai 1954 - VI ZR 69/53, VersR 1954, 325, 326 und vom 14. April 1964 - VI ZR 89/63, VersR 1964, 778, 779; BGH, Urteil vom 3. Dezember 1951 - III ZR 68/51, VersR 1952, 97, 98). Aufwendungen und Rücklagen zur Altersvorsorge können, soweit den betreffenden Personen keine ausreichende gesetzliche Altersrente zur Verfügung steht, entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht stets in vollem Umfang als Beiträge für "freiwillige" Versicherungen behandelt werden. Insoweit kann es sich vielmehr durchaus um "notwendige" und damit "fixe Kosten" des Haushalts handeln. Da Prämien für Kapitallebensversicherungen je nach Lage des Falles sowohl der Eigen- bzw. Altersvorsorge als auch der Absicherung der Unterhaltsberechtigten dienen können und insoweit eine besondere Form des Unterhalts darstellen, sind sie gegebenenfalls mit dem Anteil, der nicht der Vermögensbildung dient, bei der Bemessung der Rentenhöhe gemäß § 844 Abs. 2 BGB vom unterhaltsrechtlich relevanten Nettoeinkommen abzuziehen (BGH, Urteil vom 3. Dezember 1951 - III ZR 68/51, aaO S. 98 f.; Wenzel/Zoll, aaO Rn. 2284). Dabei unterfällt die Höhe des als "fixe Kosten" zu berücksichtigenden Anteils regelmäßig der tatrichterlichen Schätzung gemäß § 287 ZPO (vgl. OLG Zweibrücken, VersR 1994, 613, 614 mit NABeschluss des erkennenden Senats vom 26. Oktober 1993 - VI ZR 6/93; OLG Hamm, Urteil vom 6. Juni 2008 - I-9 U 123/055, juris Rn. 148), wobei nach Lage des Falles auch zu berücksichtigen sein kann, in welchem Maße beide Ehegatten zum Familieneinkommen beigetragen haben.
- 11
- dd) Die Revision beanstandet auch mit Recht, dass das Berufungsgericht bei der Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO ermessensfehlerhaft die der Klägerin zu ersetzenden Fixkosten über 16 ¼ Jahre hinweg um je 25 % für die beiden Kinder des Getöteten gekürzt hat, obwohl möglicherweise dessen Unterhaltspflicht seit dem 1. Oktober 2008 gegenüber der am 1. September 2008 volljährig gewordenen Tochter (und Schwester des Klägers zu 2) nicht mehr bestanden hätte und ab 1. März 2017 gegenüber dem am 25. Februar 2017 volljährig werdenden Kläger zu 2 nicht mehr bestehen würde. Insoweit hat das Berufungsgericht bei der Aufteilung der "fixen Kosten" die Altersentwicklung der beiden Kinder nicht hinreichend berücksichtigt.
- 12
- ee) Die Revision rügt ferner mit Recht, dass das Berufungsgericht diesen Fehler wiederholt hat, indem es bei der Verteilung des nach Abzug der "fixen Kosten" verbleibenden Unterhaltsbeitrags des Getöteten den Anteil der Klägerin über 16 ¼ Jahre hinweg konstant mit 35 % bemessen hat. Auch dabei hat es den sich durch das Heranwachsen der Kinder ergebenden Veränderungen nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen.
- 13
- 3. In dem dargestellten Umfang ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen, um dem Berufungsgericht Gelegenheit zu geben, die Höhe des Unterhaltsschadens unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats zu ermitteln. Dabei wird im Rahmen der Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO gegebenenfalls auch das Vorbringen der Revisionserwiderung zur Berechnung des Rentenanspruchs zu berücksichtigen sein. Zoll Diederichsen Pauge Stöhr von Pentz
LG Duisburg, Entscheidung vom 27.04.2010 - 1 O 311/07 -
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 15.03.2011 - I-1 U 110/10 -
(1) Wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jeder Partei zur Hälfte zur Last.
(2) Das Gericht kann der einen Partei die gesamten Prozesskosten auferlegen, wenn
- 1.
die Zuvielforderung der anderen Partei verhältnismäßig geringfügig war und keine oder nur geringfügig höhere Kosten veranlasst hat oder - 2.
der Betrag der Forderung der anderen Partei von der Festsetzung durch richterliches Ermessen, von der Ermittlung durch Sachverständige oder von einer gegenseitigen Berechnung abhängig war.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.