Sozialgericht Aachen Urteil, 12. Jan. 2016 - S 12 SB 259/13
Tenor
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 22.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2013 verurteilt, bei dem Kläger in der Zeit ab dem 01.10.2015 einen GdB von 60 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und B festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
1
Tatbestand:
2Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G, aG, B, RF und Bl streitig.
3Bei dem am 00.00.000 geborenen Kläger stellte der Beklagte mit Bescheid vom 20.09.2011 aufgrund einer Sehbehinderung (Einzel-GdB 30), einer Zuckerkrankheit (Einzel-GdB 20), einer Funktionsstörungen des Herzens (Einzel-GdB 20), einer Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10) sowie einer seelischen Störung (Einzel-GdB 10) einen GdB von 40 fest.
4Am 03.05.2012 stellte der Kläger einen Änderungsantrag. Hierbei gab er an, er leide unter schweren Herzproblemen, Knochenproblemen, Rückenproblemen, Gehproblemen, Bluthochdruck und Diabetes mellitus. Er wiege 160 kg. Aufgrund einer schweren Sehstörungen und Augenproblemen könne er nicht mehr alleine gehen. Des Weiteren bestünden schwere Probleme im neurologischen und urologischen Bereich. In Kürze stehe eine Operation an. Er beantragte die Zuerkennung der Merkzeichen G, aG, B, RF und Bl. Hinsichtlich der Behandlung des Diabetes gab der Kläger an, er behandelte diesen diätisch sowie mit Tabletten und Spritzen. Er nehme Actos® 45 (Wirkstoff Pioglitazon), Verapamil 240, Glimepirid, Metformin und ASS 100 ein. In Kürze werde er auch dreimal täglich Insulin spritzen.
5Der Beklagte holte einen Befundbericht der Augenärztin Dr. N. ein. Diese stellte einen Visus mit Brille rechts mit 0,05 und links mit 0,05 fest, die Papille sei gekippt und es fänden sich myopische Dehnungen am Augenhintergrund. Die Gesichtsfeldmessung habe ein irreguläres Restgesichtsfeld von weniger als 5° links und von bis 5° rechts ergeben. Der Beklagte holte darüber hinaus ein Pflegegutachten des MDK Nordrhein aus März 2012 ein. Dort wurde beim Kläger eine Pflegestufe I festgestellt. Unter anderem wurde darin ausgeführt, der Kläger könne nicht mehr lesen, Fernsehen schauen sei aber möglich. Auch könne sich der Kläger in der vertrauten Umgebung fortbewegen. Für die Körperpflege wurden 71 Minuten pro Tag, für die Ernährung 22 Minuten pro Tag und für die Mobilität 13 Minuten pro Tag ermittelt.
6Des Weiteren holte der Beklagte einen Befundbericht des Neurologen und Psychia-ters Dr. C., des Urologen Dr. X. und des Internisten Dr. S. ein und wertete diese durch seinen ärztlichen Dienst aus. Schließlich beauftragte der Beklagte Prof. Dr. C. mit der Erstellung eines augenärztlichen Gutachtens, welches dieser am 02.08.2012 erstattete. Prof. Dr. C. kam hierbei zu der Einschätzung, der Kläger gebe zwar eine sehr schlechte Sehschärfe und ein sehr schlechtes Gesichtsfeld an. Hierfür finde sich aber kein morphologischer Befund, der dies erklären könnte. Die Feststellung eines GdB für die Sehbehinderung komme damit nicht in Betracht.
7Mit Bescheid vom 22.08.2012 lehnte der Beklagte die Feststellung eines höheren GdB sowie des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für Inanspruch-nahme der Merkzeichen G, aG, B, RF und Bl ab.
8Hiergegen legte der Kläger am 13.09.2012 Widerspruch ein, den er indes nicht näher begründete. Mit Widerspruchsbescheid vom 26.02.2013 wies die Bezirksregierung N. den Widerspruch als unbegründet zurück.
9Am 19.03.2013 hat der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, Klage vor dem erkennenden Gericht erhoben. Das Gericht hat Befundberichte des Internisten Dr. C., der Augenärztin Dr. N., des Internisten Dr. S., und des Diabetologen Dr. E. eingeholt. Letzterer gab an, der Kläger habe sich äußerst incomplient verhalten. Eine sachgerechte diabetischen Diagnostik und Therapie sei vor diesem Hintergrund bislang nicht möglich gewesen. Ihm gegenüber habe der Kläger seinerzeit einen HbA1c-Wert von 11,8 % angegeben. Nach seiner Kenntnis nehme der Kläger Glimepirid ein.
10Unter dem 10.05.2013 hat der der Kläger Klage vor dem Verwaltungsgericht B. auf Gewährung von Blindengeld erhoben (2 K 1515/13).
11Der Kläger hat eine Gesichtsfeldmessung vom 16.7.2013 des Augenzentrums F. sowie Gesichtsfeld- und Visusmessungen der Frau Dr. N. vom 24.05.2013 sowie des Dr. D. vom 13.10.2014 zu den Akten gereicht.
12Das Gericht hat sodann ein augenärztliches Gutachten des Direktors der Klinik für Augenheilkunde der RWTH B. Prof. Dr. X. in Auftrag gegeben, welches dieser - unter Berücksichtigung der Ergebnisse ambulante Untersuchungen vom 28.03., 17.07. und 13.08.2014 - gegenüber dem Gericht erstattet hat. Anamnestisch hat der Kläger u.a. angegeben, der HbA1c Wert liege derzeit bei 8,0. Der Beginn einer Insu-lintherapie sei geplant. Derzeit erhalte er jedoch nur orale Antidiabetika. Er erhalte Pflegestufe II. Der Gutachter hat beim Kläger eine hochgradige Visusminderung in der Ferne und der Nähe sowie eine beidseitige konzentrische und hochgradige Gesichtsfeldeinengung festgestellt. Pathologische Augenbefunde, die den schlechten Visus und das eingeengte Gesichtsfeld erklären könnten, haben sich nach den Feststellungen des Gutachters indes nicht gefunden. Darüber hinaus sei aufgefallen, dass sämtliche Untersuchungen, die nicht auf die subjektive Mitarbeit des Klägers angewiesen waren, deutlich besser ausfielen als diejenigen, die eine gute Mitarbeit des Klägers verlangten. Eine Blindheit im Sinne des Gesetzes könne nicht bestätigt werden.
13Den Beteiligten ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Kläger hat weitere Atteste des Dr. D. und der Frau Dr. N. sowie eine Stellungnahme des Landesarztes Dr. I. vom 01.11.2014 vorgelegt. Letzterer hat ausgeführt, dass nach seiner Ein-schätzung beim Kläger Blindheit im Sinne des § 1 Abs. 1 des Blinden- und Gehörlosengesetzes (GHBG) vorliege. Der Gutachter Prof. Dr. X. hat mehrfach er-gänzend Stellung genommen und dargelegt, aus welchen Gründen seiner Ansicht nach das von ihm gefundene Ergebnis zutreffend ist.
14Am 10.03.2015 hat ein Termin vor dem erkennenden Gericht stattgefunden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Terminsniederschrift Bezug genommen. Im Nachgang zu dem Termin hat das Gericht Befundberichte des Dr. C. und des Dr. E. eingeholt. Der ebenfalls vom Kläger benannte Orthopäde Dr. C. hat dem Gericht mitgeteilt, der Kläger sei ihm nicht bekannt. Darüber hinaus hat das Gericht ein Pflegegutachten vom 03.06.2013 des Dr. C. für den MDK Nordrhein beigezogen und sodann ein internistisch-arbeitsmedizinisches Gutachten des Dr. Q., ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Herrn X. – einschließlich eines testpsychologischen Zusatzgutachtens des Dipl.-Psych. L. sowie ein orthopädisches Gutachten des Dr. S. eingeholt.
15Der Kläger hat im Oktober 2015 ein Attest des Dr. G. vom 21.09.2015 eingereicht, wonach beim Kläger ein chronisch degeneratives Wirbelsäulensyndrom, eine multi-faktorielle Gangstörung, ein Intentionstremor beider Hände unklarer Genese, eine affektlabile Persönlichkeitsstörung, ein hyperglykämisch entgleister Diabetes mellitus Typ II, eine Adipositas per magna, Harninkontinenz und anamnestisch ein Visusverlust des linken Auges vorliegen. Es bestehe mindestens ein GdB von 50. Der Kläger hat sodann ein weiteres Attest des Dr. G. vom 25.10.2015 zu den Akten gereicht, wonach der Kläger seit Oktober 2015 die Diabetestherapie um eine Insulintherapie erweitert worden sei. Zusammen mit einem jetzt ebenfalls neu verordneten GLP1-Analogon müssten vom Kläger selbständig täglich zwei Subcutaninjektionen verabreicht werden. Zusätzlich sei eine Blutzuckerkontrolle jetzt mindestens einmal täglich erforderlich. Er sehe einen GdB von 50, eher sogar 70. Das Gericht hat hieraufhin schließlich einen weiteren Befundbericht des Dr. G. eingeholt.
16Am 12.01.2016 hat ein weiterer Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden. Der Kläger, dessen persönliches Erscheinen nicht angeordnet war, hat an der Ver-handlung teilgenommen.
17Der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, beantragt,
18den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22.08.2012 in der Ge-stalt des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2013 zu verurteilen, bei ihm ab Antragstellung einen GdB von 100 festzustellen sowie das Vorliegen der ge-sundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G, aG, B, RF und Bl.
19Der Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren und nimmt insbesondere Bezug auf die Ausführungen seiner ärztlichen Berater.
22Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
23Entscheidungsgründe:
24Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, als bei ihm ab dem 01.10.2015 ein GdB von 60 statt bislang 40 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und B festzustellen ist. Soweit der Kläger darüber hinaus die Feststellung eines GdB von 100 sowie die Zuerkennung der Merkzeichen G, B, aG, RF und Bl seit Antragstellung begehrt, war die Klage abzuweisen.
25Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
26Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (Bundessozialgericht - BSG – Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; Landessozialgericht - LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
27Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
28Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungs-medizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Ge-samtausmaßes der Behinderung zu schließen.
29Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).
30Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R = juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteil vom 18.06.2013 – L 15 BL 6/10 = juris Rn. 67 ff.; Bayerisches LSG Urteil vom 05.02.2013 – L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R = juris Rn. 11), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung sei-nes Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.
31Im vorliegenden Fall hat der – insoweit objektiv beweisbelastete – Kläger nach Auf-fassung der Kammer nicht im Vollbeweis nachgewiesen, dass die bei ihm vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Feststellungen eines GdB von mehr als 40 für die Zeit bis zum 01.10.2015 rechtfertigen.
32Der Kläger leidet und litt in dem maßgeblichen Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung zur Überzeugung der Kammer im Wesentlichen unter folgenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen
331. Subjektiv geschilderten Sehbeeinträchtigungen 2. Leichtgradige Hirnatrophie 3. Psychogen aggravierter Tremor der Hände 4. Dysthymie 5. Polyneuropathie 6. Funktionsstörung der Wirbelsäule und der unteren Gliedmaße 7. Diabetes mellitus Typ II 8. Fettstoffwechselstörung und Verdacht auf Fettleber 9. Adipositas per magna 10. Funktionelle Herzbeschwerden, Hypertonie 11. Harninkontinenz
34Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte sowie den Gutachten Prof. Dr. C., Prof. Dr. X., X., L., Dr. S. und Dr. Q. fest. Die Gutachten beruhen auf umfangreichen Untersuchungen erfahrener gerichtlicher Gutachter, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben. Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf verschiedene augenärztliche Atteste und die Aussage des Dr. I. sich insbesondere gegen die Ausführungen der ophthalmologischen Gutachten wendet, überzeugt dies die Kammer nicht (dazu ausführlich unten).
351. Für das Funktionssystem der Augen ist gemäß Teil B Ziffer 4 der Versorgungsme-dizinischen Grundsätze ein GdB nicht festzustellen.
36Prof. Dr. C. hat den Kläger am 02.08.2012 augenärztlich untersucht. Der Gutachter kam zu der Einschätzung, dass sich für den von der Augenärztin Dr. N. bescheinigte Visus von beidseits cc 0,05 (cum correctione sua – d.h. vorliegend mit vorhandener Brille des Klägers) sowie auch das vom Gutachter mit Perimetrie nach Goldmann mit Marke III/4 ermittelte Gesichtsfeld keinen morphologischen Befund finde, der dieser Werte erklären könnte. Die beim Kläger vorhandenen schrägen Sehnerveneintritte führen nicht zu funktionellen Einschränkungen, was der bei der Optische Kohärenztomographie ermittelte Befund (OCT-Befund – zu der Methode vgl. Grehn, Augenheilkunde, 31. Aufl. 2012, S. 43) gezeigt hat und die vorhandene Myopie habe bisher zu keinen Ausfällen geführt. Zu einer entsprechenden Einschätzung kommt im Ergebnis auch der vom Gericht beauftragte Gutachter Prof. Dr. X ... Auch er weist darauf hin, dass sich organisch sowohl für die beidseitige Visusminderung als auch für die vom Kläger geschilderte Gesichtsfeldeinengung keinerlei pathologische Augenbefunde finden, die diese Werte erklären könnten. Der Gutachter weist aber darauf hin, dass sämtliche Untersuchungen, die nicht auf die subjektive Mitarbeit des Klägers angewiesen waren, deutlich besser ausgefallen sind, als diejenigen, die eine gute Mitarbeit des Kläger verlangt haben. So stünden ein schlechter Visus, Metamorphosien (veränderte Wahrnehmungen, zu einer differenzierteren Beschreibung vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl. 2004, S 1149) und schwach erkennbares Amsler-Netz (vgl. dazu Grehn, Augenheilkunde, 31. Aufl. 2012, S. 49), nicht prüfbares Farbsehen, nicht prüfbares Stereosehen, ausgelöschtes Humphrey-Gesichtsfeld und hochgradig eingeengtes Goldmann-Gesichtsfeld, schlecht prüfbare Motilität, kaum durchführbarer Interferenzvisus und nicht durchführbare Kampimetrie (vgl. zu den Methoden der Gesichtsfeldbestimmung allgemein Augustin, Augenheilkunde, 2. Aufl. 2001, S. 785 ff.; Grehn, Augenheilkunde, 31. Aufl. 2012, S. 46 ff.) allesamt Untersuchungen, die eine subjektive Mitarbeit des Probanden erfordern, einem völlig unauffälligem Organbefund in Vorder- und Hinterabschnitt mit normalem Swinging-Flashlight-Test, normaler Autofluoreszenz, Voderabschnitts- und Hinterabschnitts-OTC, regelrecht auslösbarem okulokinetischen Nystagmus und größtenteils unauffälligen elektrophysiologischen Ergebnissen, objektiv messbaren Ergebnissen, gegenüber. Die besten vom Gutachter Prof. Dr. X. erhobenen Visuswerte zeigten beidseits mindestens eine zentrale Sehschärfe von 0,1. Dass der Kläger mindestens diesen Visus hat konnte nach den Feststellungen des Gutachters, an deren Richtigkeit zu zweifeln für die Kammer kein Anlass besteht, auch durch die elektrophysiologischen Untersuchungen bestätigt werden. Die vom Kläger beschrieben starke konzentrische Einengung des Gesichtsfeldes ist nach den Feststellungen des Gutachters ebenfalls zumindest teilweise auf schlechte Kooperation zurückzuführen. Dies schließt der Gutachter, für die Kammer nachvollziehbar, daraus, dass es große Schwankungen zwischen den verschiedenen perimetrischen Untersuchungen gab und die Mitarbeit des Klägers zwischen den einzelnen Untersuchungen variierte. Die guten Antworten des Klägers im photopischen und skotopischen ERG (vgl. dazu Grehn, Augenheilkunde, 31. Aufl. 2012, S. 54), die die Gesamtheit der retinalen Pho-torezeptoren widerspiegeln, sprechen des Weiteren gegen eine mögliche retinale, d.h. netzhautbezogene, Ursache der Gesichtsfeldeinengung.
37Es steht für die Kammer mit Prof. Dr. X. fest, dass beim Kläger aufgrund der Diskre-panz zwischen den subjektiven und objektiven Ergebnissen bei dem bestehenden organisch regelrechtem Befund davon auszugehen ist, dass die tatsächliche zentrale Sehschärfe und das tatsächliche zentrale Gesichtsfeld besser sind als die subjektiven Angaben, die der Kläger im Rahmen der gutachterlichen Untersuchun-gen und auch den Untersuchungen bei niedergelassenen Augenärzten gemacht hat bzw. dort erhoben wurden. Der Gutachter führt weiter aus, und die Kammer hat keinen Anlass an diesen Ausführungen zu zweifeln, dass insbesondere die beim Kläger seit Kindheit bestehende Myopie, d.h. Kurzsichtigkeit, und der Astigmatismus ("Brennpunktlosigkeit", vgl. Pschyrembel, 260. Aufl. 2004, S. 154) die sehr schlech-ten Visus- und Gesichtsfeldergebnisse nicht ausreichend erklären können. Allerdings, hierauf weist der Gutachter ebenfalls hin, ist eine amblyope Komponente auf beiden Augen letztlich nicht zu 100% auszuschließen (vgl. zur Definition und Prävalenz von Amblyopie Kaufmann/Steffen [Hrsg.] Strabismus, 4. Aufl. 2012, S 262 ff.). Sicher auszuschließen sei aber, dass eine Visus- und Gesichtsfeldminderung durch einen Diabetes mellitus bedingt ist, da sich keinerlei diabetische Korrelate am Auge befinden. Prof. Dr. X. ging aus ophthalmologischer Sicht beim Kläger damit letztlich am ehesten von einer bestehenden Aggravation aus.
38Zwischen Simulation, Aggravation und dem Bestehen von Verdeutlichungstendenzen ist zu unterscheiden. Unter Simulation versteht man dabei im Allgemeinen das bewusste und absichtliche Präsentieren von Beschwerden, die tatsächlich nicht erlebt werden (vgl. Widder/Gaidzik, Begutachtung in der Neurologie, 2. Aufl. 2011, S. 65 ff.; Hausotter, Neurologische Begutachtung, 2006, S. 158; Nedopill/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl.2012, S. 213 ff.; Venlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl. 2015, S. 23). Aggravation meint demgegenüber die verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung tatsächlich vorhandener krankhaften Störungen zum Zweck der Erlangung von Vorteilen (vgl. Widder/Gaidzik, Begutachtung in der Neurologie, 2. Aufl. 2011, S. 66 ff.; Venlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl. 2015, S. 23; vgl. auch Hausotter, Neurologi-sche Begutachtung, 2006, S. 158; Nedopill/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl.2012, S. 213 ff.). Bei Verdeutlichungstendenzen handelt es sich um den mehr oder weniger bewussten Versuch, den Gutachter vom Vorhandensein der geklagten Symptome zu überzeugen. Letzteres ist in Begutachtungssituationen durchaus üblich und nicht mit einer Simulation oder Aggravation zu verwechseln (Venlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl. 2015, S. 23).
39Unter anderem auch vor dem Hintergrund der von Prof. Dr. X. geäußerten Aggravationsvermutung hat die Kammer ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Herrn X. beauftragt. In diesem Rahmen wurde zudem ein testpsychologisches Zusatzgutachten durch Dipl.-Psychologen L. erstellt. Dieser stellte im Rahmen der freien Verhaltensbeobachtung fest, dass der Kläger nach Vorlage einer Buchstaben-reihe eines anerkannten Sehtestes die erste Reihe (Größe 1,4 cm) fehlerfrei lesen konnte. Auch die beiden ersten Buchstaben der zweiten Reihe (Größe 1,1 cm) erkannte der Kläger fehlerfrei, um in Anschluss daran – für den Gutachter nach eigenen Angaben völlig überraschend – zu erklären, er könne die weiteren Buchstaben dieser Zeile nicht mehr erkennen. Herr X. führt in seinem Gutachten hinsichtlich der geschilderten Sehbeschwerden des Klägers aus, dass diese neurologischerseits nicht erklärbar sind und sich weder durch den neurologischen Untersuchungsbefund noch durch die durchgeführte computertomographische Zusatzbegutachtung des Cerebrums verifizieren lassen. Computertomographisch wurde eine leichte Hirnatrophie gefunden, die einen unspezifischen Befund darstellt und die die Sehstörungen nicht erklären kann. Der Gutachter weist aber auf Umstände hin, die auch dem Vorsitzenden bereits im Termin vom 10.03.2015 aufgefallen waren und sich der Kammer in ihrer Besetzung im Termin vom 12.01.2016 ebenfalls gezeigt haben. So ist es dem Kläger nämlich – trotz der von ihm geklagten angeblichen erheblichen Sehschwäche durchaus möglich, sich in fremden Räumen offensichtlich sehend zu orientieren. X. beschreibt dies für das Gehen des Klägers durch die Räume der Praxis. Die Kammer konnte diesen Eindruck auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewinnen. Es steht zur Überzeugung der Kammer aufgrund des vom Kläger gezeigten Verhaltens und den Bewegungsabläufen im Raum fest, dass der Kläger durchaus sich sehend in den Räumen orientieren kann. Es steht zur Überzeugung der Kammer überdies fest, dass der Kläger hierbei insbesondere nicht auf die Hilfe seines Lebenspartners angewiesen ist. Der Kläger konnte im Rahmen der mündlichen Verhandlung selbständig unter Zuhilfenahme eines Gehstocks gehen und ist – dies war dem Kammervorsitzenden beim Termin am 10.03.2015 aufgefallen – in der Lage problemlos und zielsicher die Klinke der Tür zum Sitzungsaal zu finden. In diesen Zusammenhang fügt sich auch, dass der Kläger anamnestisch angab, zu Lesen (freilich mit Lupe, so sein Vortrag) und Fernsehen zu schauen. Nach Auffassung der Kammer ebenfalls bemerkenswert ist, dass der Kläger sich in mehreren handschriftlichen Erklärungen an das Gericht gewandt hat, die – unter Beachtung der Linierung auf liniertem Papier verfasst waren in weitgehend normaler Schriftgröße. Nach dem Wortlaut der Schreiben zu urteilen, hat der Kläger sie verfasst. Dies erscheint der Kammer – vor dem Hintergrund, dass der Kläger nach eigenen Angaben Buchstaben in einer Größe von 1,1 cm bei der Untersuchung durch Herrn Kilian nicht lesen konnte, jedenfalls auffällig. Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dass jemandes anderes die Schreiben für den Kläger oder dieser sie unter Verwendung von Hilfsmitteln verfasst hat, so dass diese Auffälligkeit letztlich nicht zu Lasten des Klägers in die Erwägungen der Kammer eingeflossen sind.
40X. geht in seinem Gutachten davon aus, dass es sich hinsichtlich der Aggravations-tendenzen bis hin zur Simulation um eine pseudoneurologische Störung im Sinne einer psychogenen Störung oder um bewusst herbeigeführte neurologische Symptome (vgl. dazu unten im Hinblick auf den Tremor des Klägers) handelt, die keinem bekannten organischen Krankheitsbild zugeordnet werden können. Nach den Feststellungen des Gutachters X., die nach Auffassung der Kammer – auch und gerade vor dem Hintergrund des im Termins vom 12.01.2016 gewonnenen persönlichen Eindrucks des Klägers - schlüssig und überzeugend sind, finden sich beim Kläger insgesamt deutliche Hinweise für einen Krankheitsgewinn bei Aggravation der Beschwerden bis hin zur Simulation einer Blindheit. Letztere können vom Gutachter aufgrund der Beobachtungen sowohl im Rahmen der Testpsychologie als auch klinisch-neurologisch nicht nachvollzogen werden.
41Insgesamt steht damit zur Überzeugung der Kammer fest, dass das Bestehen einer Blindheit nicht objektiviert ist. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Kläger eventuell tatsächlich bestehende Sehbeeinträchtigungen jedenfalls aggraviert u.U. sogar simuliert. Vor diesem Hintergrund ist insgesamt der Vollbeweis hinsichtlich des Umfangs etwaig bestehender Sehbeeinträchtigungen nicht geführt, was zu Lasten des Klägers geht. Ein GdB für das Funktionssystem der Augen kann nicht festgestellt werden. Soweit in dem Bescheid vom 20.09.2011 bei der Bildung des Gesamt-GdB ein GdB von 30 für die Augen mit in die Bewertung eingeflossen ist, hindert dies die Kammer nicht, den GdB für die Augen nunmehr mit 0 zu bewerten, auch ohne den Nachweis zu führen, dass eine Besserung eingetreten ist, da die Einzelgrade der Behinderung – anders als der Gesamt-GdB – nicht in Bestandskraft erwachsen (st. Rspr. BSB Beschluss vom 01.06.2015 – B 9 SB 10/15 B = juris, m.w.N.).
422. Für das Funktionssystem Nervensystem und Psyche ist der GdB des Klägers insgesamt gemäß Teil B Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit 20 zu bewerten.
43Die computertomographische Untersuchung des klägerischen Gehirns hat eine leichtgradige Hirnatrophie, d.h. ein leichtgradiger Rückgang von Hirngewebe, offen-bart. Darüber hinaus findet sich beim Kläger ein Tremor insbesondere der rechten Hand sowie eine leichte Polyneuropathie. Darüber hinaus sind eine seelische Störung im Sinne eines psychovegetativen Syndroms und einer Dysthymie objektiviert. Soweit Dr. G. in seinem Befundbericht vom 02.11.2015 Konzentrationsstörungen sowie das Vorliegen einer affektlabilen Persönlichkeitsstörung und eines Intentionstremors beider Hände befundet, und offenbar für die psychischen Störungen allein einen GdB von 50 bis 70 für angemessen erachtet, ist dies schon nicht hinreichend objektiviert. Dr. G. schreibt er in seinem Attest vom 21.09.2015 es sei wegen der affektlabilen Persönlichkeitsstörung aufgrund der "mittelgradigen Ausprägung" ein GdB von 50-70 gerechtfertigt. Nach Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist dieser Bewertungsspielraum vorgesehen für schwere Störungen mit "mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten". Hierzu macht Dr. G. indes keinerlei Angaben. Sie sind derzeit auch weder anderweitig geltend gemacht noch sonst erkennbar. Der Kläger hat bislang zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht in fachpsychiatrischer oder fachpsychologischer Behandlung zu sein. Die Annahmen einer Per-sönlichkeitsstörung setzt im Übrigen das Vorliegen der allgemeinen Kriterien nach ICD-10 F60 oder DSM-5 voraus (vgl. dazu Venlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl. 2015, S. 292 ff.). Gerade deren Vorliegen hat der Gutachter L. in seinem testpsychologischen Gutachten, welches er im Juli 2015 auf Grundlage der Auswertung verschiedener Testverfahren gerade ausdrücklich ausgeschlossen. Ein Ergebnis, welches vom nervenärztlichen Gutachter X. ebenfalls bestätigt wird. Es ist nicht im Ansatz erkennbar, auf welcher Grundlage der behandelnde Internist und Diabetologen Dr. G., fachfremd im September 2015 hier zu einer anderen Diagnose kommt. Unabhängig von der Diagnose zeigen aber die eingeholten Gutachten nach Auffassung der Kammer ganz deutlich, dass der Kläger psychisch keinesfalls in einem Maße beeinträchtigt ist, die die Feststellung eines höheren GdB als 20 rechtfertigen würde.
44Im Rahmen der Untersuchung beim Gutachter X. erschien der Kläger zeitlich, örtlich zur Personen und zur Situation ausreichend orientiert. Hinweise für eine Störung der Wahrnehmung oder der Aufmerksamkeit fanden sich nicht. Der Gedankengang war formal geordnet und inhaltlich unauffällig. Ebenso zeigten sich im klinischen Bild keine Hinweise für Störungen der Konzentrationsfähigkeit. Der Gutachter stellte ausdrücklich klar, dass Aufmerksamkeit, Auffassungsgabe und auch Konzentrationsfähigkeit auch mit zunehmender Dauer der Untersuchung nicht nachließen. Das Denken war formal geordnet, wenngleich etwas beschleunigt. Inhaltliche Denkstörungen in Form wahnhafte Vorstellungen wurden nicht berichtet. Auch fanden sich keine Hinweise für Wahrnehmungsstörungen in Form von Trugwahrnehmungen oder illusionären Verkennungen. Hinweise für Ich-Störungen, Zwänge oder paranoide Wahrnehmungsstörungen fanden sich ebenfalls nicht. Auch in Bezug auf Merkfähigkeit und Gedächtnis ergaben sich in der Untersuchung keine Hinweise für Einschränkungen. Biographische und andere anamnestische Daten konnten sicher erinnert und reproduziert werden. Kein Anhalt für krankhafte Einschränkungen der intellektuellen Funktionen, die entsprechend dem Bildungsstand zu erwarten waren. Die Stimmung des Klägers war ausgeglichen (euthym). Die affektive Resonanz war erhalten. Er wirkte nach den Feststellungen des Gutachters emotional angespannt, nervös, drängend hektisch, was nach Auffassung des Gutachters in der Sorge begründet liegen könnte, dass die von ihm vorgetragenen Beschwerden nicht hinreichend bewertet werden könnten. Nach Feststellungen des Gutachters fand sich – bei zuvor be-schriebener Ungeduld, Drängen und Distanzlosigkeit sowie den subjektiv geschilderten Stimmungsschwankungen – eine krankhafte Affektlabilität oder Affektinkontinenz nicht. Antrieb und Grundaktivität waren ausgeglichen, der Kläger lebhaft und spontan.
45Anamnestisch gab der Kläger zwar an, er sie mit seiner Lebenssituation derzeit nicht sonderlich zufrieden, was insbesondere auf seinen gesundheitlichen Einschränkungen beruhe. Aus seinen Angaben ergibt sich nach Auffassung der Kammer indes, dass psychische Beeinträchtigungen, die den Grad einer stärker behindernden Störung im Sinne des Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze erreichen würden, beim Kläger nicht gegeben sind. Der Kläger war weder in seiner Kontaktfähigkeit gegenüber dem Gutachter noch gegenüber dem Gericht beeinträchtigt. Darüber hinaus lebt der Partner in einer Partnerschaft. Der Tagesablauf ist – nach der Darstellung des Klägers – durch gemeinsame Aktivitäten geprägt (gemeinsames Kochen, gemeinsames Essen, gemeinsames Spazierengehen, gemeinsames Fernsehen). Die Partnerschaft besteht nunmehr seit ca. vier Jahren und auch der Kläger geht davon aus, dass er und sein Partner sich gut verstehen. Soweit der Kläger schildert, dass ihm zahlreiche Tätigkeiten nicht mehr möglich seien, geht die Kammer auch hier wieder zu einem erheblichen Teil von einer Aggravation aus (dazu weiter unten). Unter Berücksichtigung des vom Kläger geschilderten Aktivitätsniveau, dem beschriebenen Auftreten bei den Gutachtern sowie dem vor Gericht, der Beschrei-bung der bestehenden Partnerschaft und der Tatsache, dass sich der Kläger – wie dieses Verfahren im Übrigen auch zeigt – maßgeblich um die anfallenden bürokrati-schen Angelegenheiten (Bankangelegenheiten, Behörden- und Anwaltsgänge) kümmert, ist die Kammer mit dem Gutachter X. davon überzeugt, dass der Kläger bei zweifellos bestehender Unzufriedenheit, nicht unter wesentlichen Ein-schränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit leidet, sondern unter leichteren psychovegetativen bzw. psychischen Störungen im Sinne einer Dysthymie, also einer leichten chronischen Depression, die nicht den Ausbildungsgrad einer leichten depressiven Störung erreicht. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls der Tremor der rechten und linken Hand zu berücksichtigen. Sowohl X. und Dr. S. beschreiben ein – wie auch in den Vorbefunden – ein Zittern allein der rechten Hand. Dies fiel auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf und zwar auch als sich die Hand in Ruhe befand. Für diesen Tremor lässt sich eine eindeutige Ursache nicht ausmachen. Eine Zuordnung zu einem essentiellen Tremor ist nach Auffassung von X. ebensowenig möglich, wie die Annahme eines Parkinson-Syndroms. Unter Berücksichtigung der Anamnese geht X. davon aus, dass der Tremor psychogen aggraviert ist. Er geht davon aus, dass der Tremor für den Kläger die Funktion übernommen hat, dass er hiermit die Unbeholfenheit der rechten Hand demonstrieren kann und er diese Störung psychisch durch eigenes Mitwirken noch verstärkt. Eine Behandlung des Tremors hat bislang nicht stattgefunden ebensowenig wie eine multimodale Schmerztherapie der Wirbelsäule. Unabhängig von der Frage der Ursächlichkeit und der Therapiemöglichkeiten sind freilich auch insoweit die Teilhabebeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Insoweit nimmt die Kammer Bezug auf die Feststellungen im Gutachten des Dr. S., wonach der Spitzgriff rechts durch das Zittern nur unvollkommen und summarisch möglich ist und die Kraft um die Hälfte gegenüber der linken Hand vermindert ist. Dr. G. und der Gutachter Dr. Q. beschreiben demgegenüber einen deutlichen Handtremor beidseits. Das Greifen ist dem Kläger, dies steht zur Überzeugung der Kammer nach den gutachterlichen Feststellungen und dem Eindruck der Kammer fest, damit grundsätzlich durchaus weiter möglich, wenngleich Einschränkungen bei diffizileren Bewegungsabläufen möglich sein dürften. Daneben ist neurologisch eine leichte Polyneuropathie bei bestehendem vermindertem Berührungsempfinden zu berücksichtigen. Gemäß Teil B Ziffer 3.11 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind insoweit die Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund motorischer Ausfälle (mit Muskelatrophien) bzw. sensiblen Störungen zu berücksichtigen. Nach den eingeholten Gutachten, insbesondere des Gutachtens X., steht für die Kammer fest, dass die Funktionsbeeinträchtigungen durch die Polyneuropathie letztlich maßgeblich im Bereich der unteren Extremitäten bzw. Wirbelsäule auswirken, weswegen sie auch in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden sollen. Soweit der Kläger über Kopfschmerzen klagt, sind diese nicht im Ansatz objektiviert. Die Kammer geht durchaus davon aus, dass der Kläger, wie eine Vielzahl von Menschen, auch immer mal wieder unter Kopfschmerzen leidet. Dass diese ein Maß erreichen, die einen GdB bedingen könnten, ist in den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zahlreich eingeholten Befunden und Gutachten nicht im Ansatz dargetan.
46Unter Berücksichtigung der geschilderten Beeinträchtigungen ist für das Funktionssystem Psyche bei leichten psychovegetativen und psychischen Störungen mit Vorliegen eines psychogen aggravierten Tremors der rechten Hand, einer leichtgradigen Hirnatrophie und einer leichten Polyneuropathie der GdB mit 20 zu bemessen.
473. Für die Funktionsstörungen der Wirbelsäule ist gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze – unter Einbeziehung auch der unteren Extremitäten nach Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze – ein GdB von 30 in Ansatz zu bringen.
48Der Kläger hat gegenüber den Gutachtern weitgehend übereinstimmend sinngemäß erklärt, er leide unter Schmerzen insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlungen bis in die Füße. Er sei nur noch in der Lage sich mit Hilfsmitteln beschwerlich fortzubewegen. Er berichtete über Sensibilitätsstörungen. Die Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule seien ständig vorhanden und nähmen beim Gehen zu. Soweit der Kläger gegenüber den Gutachtern angegeben hat, er könne ohne Rollator nicht mehr gehen, trifft dies – wie sich anlässlich beider Gerichtstermine gezeigt hat – nicht zu. Der Kläger war zu beiden Terminen unter Zuhilfenahme eines Gehstocks und nicht eines Rollators erschienen. Es zeigte sich beim Termin vom 12.01.2016 zur Überzeugung der erkennenden Kammer schon aufgrund entsprechender Inaugenscheinnahme, dass der Kläger durchaus beweglicher und selbständiger ist als er seine Umgebung glauben machen will. Hierin sieht sich die Kammer im Übrigen auch durch die eingeholten Gutachten bestätigt.
49Im Rahmen der Untersuchung durch den Orthopäden Dr. S. zeigte sich beim Kläger folgendes Bild. Die seitliche Hals- und Nackenmuskulatur sowie die Schulterhöhenmuskulatur werden weich und nicht erkennbar schmerzhaft eindrückbar beschrieben. Auch die Brustwirbelsäulenmuskulatur war weich, eindrückbar und nicht druckschmerzhaft, im Bereich der Lendenwirbelsäule war die begleitende Rückenstreckmuskulatur im Tonus erhöht und druckschmerzhaft. Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule zeigte folgende nach Neutral-Null ermittelten Ausmaße (re/li): Seitenneigen 30°/0°/30°, die Reklination/Inklination mit 30°/0°/40° und die Rotation mit 60°/0°/60°. Damit war die Beweglichkeit der Halswirbelsäule weitgehend normgerecht (vgl. zu den Bewegungsausmaßen der Wirbelsäule allgemein Grifka/Krämer, Orthopädische Unfallchirurgie, 9. Aufl. 2013, S. 157 f.; Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 2009, S. 17). Die Beweglichkeit Lendenwirbelsäule erschien mit einem Vorneigen/Rückneigen von 30°/10°/0°, einer Seitenneigung von 10°/0°/10° und einer Drehbewegung von 10°/0°/10° bei einem Maß nach Schober von 10/12 cm mittelgradig eingeschränkt (zu den Werten nach Schober vgl. Wülker (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, 2. Aufl. 2010, S. 224). Neurologische Aus-fallerscheinungen, bedingt durch die Wirbelsäule konnte Dr. S. nicht feststellen. Das Heben der Beine in die Senkrechte gelang dem Kläger beidseits zwischen 60° und 70° und war durch die bestehende Fettschürze begrenzt. Ebenfalls begrenzt durch die bestehende Fettschürze war das Beugen der Hüftgelenke beidseits mit rechts 80°/0°/10° und links 90°/0°/10°, wobei die passive Drehbewegung bei ge-streckten Beinen nicht schmerzhaft war und in normalen Umfang gezeigt werden konnte. Bei der Prüfung nach Lasègue gab der Kläger zwar Rückenschmerzen an, aber nicht in den Bereichen, die für die durch die nachgewiesenen Bandscheibenvorfälle gedehnten Nervenwurzeln typisch wären. Die Prüfung nach Lasègue war auch bei der Untersuchung durch den Neurologen und Psychiater X negativ. Auch dort zeigte sich die Lendenwirbelsäule etwas druckschmerzhaft. Die Brustwirbelsäule war dort nicht klopfschmerzhaft, die Halswirbelsäule frei beweglich. X wies freilich auf das am Rumpf und in den Beinen bestehende verminderte Berührungsempfinden des Klägers hin (dazu bereits oben). Allein bei der Untersuchung durch Dr. Q. war das Lasègue’sche Zeichen rechts bei 60° und links bei 45° positiv, wobei bei dieser Untersuchung leider – anders als durch X – nicht der beschriebene Schmerz näher verortet worden ist.
50Betrachtet man die reinen Bewegungseinschränkungen so ist nach Auffassung der Kammer mit Dr. S. an sich von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt auszugehen. Vor dem Hintergrund freilich, dass – wenngleich auch insoweit der Anteil der beim Kläger bestehenden Aggravationstendenzen nicht trennschaft erfasst werden kann – sowohl X. als auch Dr. Q. von einer durch die nachgewiesenen Bandscheibenvorfälle und insbesondere das beim Kläger bestehende erhebliche Übergewicht verursachten Schmerz- und Beschwerdesymptomatik mit (zumindest) pseudoradikulärer Schmerzaustrahlung in die Beine ausgehen, kann hier nach Auffassung der Kammer mit den beiden Gutachtern ein GdB von 30 für diesen Bereich in Ansatz gebracht werden, wobei hierbei auch die Auswirkungen der Polyneuropathie berücksichtigt sind. Hierbei verkennt die Kammer nicht, dass gemäß Teil B Ziffer 15.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze die Adipositas allein keinen GdB bedingt, dass aber Folge- und Begleitschäden, wie sie nach den Feststellungen der Gutachter beim Kläger vorliegen, die Annahme eines GdB, insbesondere bei der vorliegenden Adipositas per magna (vgl. BSG Urteil vom 24.04.2008 – B9/9a SB 7/06 R = juris Rn. 14). Hierbei sind freilich die – ebenfalls durch die Adipositas bedingte eingeschränkte Beweglichkeit der Hüftegelenke – miterfasst.
514. Sonstige Beeinträchtigungen der unteren Extremitäten, die gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen GdB von mindestens 10 bedingen würden sind nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung der vorliegenden Gutachten und sonstigen Arzt- und Befundberichte nicht objektiviert. Das Gleiche gilt für den Bereich der oberen Extremitäten gemäß Teil B Ziffer 18.13. Der beim Kläger vorliegende Tremor wurde mit seinen Auswirkungen bereits bei der Feststellung des GdB für das Funktionssystem Nerven und Psyche zutreffend berücksichtigt.
525. Für das Funktionssystem des Stoffwechsels und der inneren Sekretion ist der GdB des Klägers bis zu dem Zeitpunkt, in dem nachweisbar eine Insulintherapie aufgenommen wurde, d.h. Oktober 2015, der GdB mit 20, ab diesem Zeitpunkt mit 40 zu bewerten.
53Gemäß Teil B Ziffer 15.1 Versorgungsmedizinischen Grundsätze in der aktuellen Fassung der Fünften Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Versordnung (5. VersMedVÄndV) vom 11.10.2012 (BGBl. I, S. 2122) gilt hinsichtlich der Beurteilung eine Zuckerkrankheit Folgendes:
54Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0.
55Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20.
56Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40.
57Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50
58Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.
59Aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen steht für die Kammer fest, dass der Kläger mit einer Insulintherapie erst im Oktober 2015 begonnen hat. Zuvor wurde der Diabetes medikamentös oral behandelt. Gemäß Teil B Ziffer 15.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist bei zur Beginn der Insulintherapie von einem GdB von 20 auszugehen. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass zeitweise der Blutzucker des Klägers schlecht eingestellt war, so berichtete der frühere Internist des Klägers, Dr. S. im Jahr 2013 von einem HbA1c-Wert von 11,9%. Der HbA1c-Wert ermittelt den Anteil des glykierten Hämoglobins in den Erythrozyten und stellt derzeit das wichtigste Maß für die Qualitätsbeurteilung der Blutzuckereinstel-lung der jeweils letzten zwei Monate dar (Hien/Böhm/Claudi-Böhm/Krämer/Kohlhaas, Diabetes Handbuch, 7. Aufl. 2013, S. 9 f.; Häring/Gallwitz/Wieland/Usadel/Mehnert, Diabetologie in Klinik und Praxis, 6. Aufl. 2011, S. 107 f.). Die Normwerte liegen im Bereich von 4% bis 6%. Zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Prof. Dr. X. war der HbA1c-Wert zwischenzeitlich nach Angaben des Klägers bei 8%. Dr. G. beschreibt in seinem Befundbericht aus November 2015 wiederum einen HbA1c-Wert von 10,2%. Damit ist insgesamt zwar von einer schlechten Blutzuckereinstellung auszugehen, was nach Auffassung der Kammer auch daran liegt, dass der Kläger ein besonderes Augenmerk auf die Behandlung des Diabetes bislang nicht gelegt zu haben scheint. So beschrieb der Diabetologe Dr. E. den Kläger als äußerst incomplient. Bei der Untersuchung durch Dr. Q. konnte der Kläger offenbar den Namen des aktuellen Kombinationspräparats ebenfalls nicht nennen. Es enthalte jedenfalls Metformin. Der Gutachter X. hat Comboglyt 1000 notiert. Gemeint ist hier wohl Komboglyze® 1000, ein Kombinationspräparat, welches die Wirkstoffe Metformin und Saxagliptin (Letzteres ein sog. "DPP4-Hemmer") enthält, denen beiden kein wesentlich erhöhtes Hypoglykämiepotential zugeschrieben wird (vgl. zu alledem etwa Piper, Innere Medizin, 2. Aufl. 2013, S. 469 ff.). In der Vergangenheit hat der Kläger den Diabetes mit oralen Antidiabetika freilich auch mit dem Wirkstoff Glimepirid behandelt, bei welchem ein erhöhtes Hypoglykämiepotential besteht (vgl. dazu etwa Siegenthaler/Blum [Hrsg.], Klinische Pathophysiologie, 9. Aufl. 2006, S. 93; Fröhlich/Kirch, Praktische Arzneitherapie, 3. Aufl. 2003, S. 511). Die Teilhabebeeinträchtigungen durch die Zuckerkrankheit sind, insbesondere im Hinblick auf den nur geringen Therapieaufwand des Klägers, bei fehlenden manifesten Anzeichen für Folgeerkrankungen – so konnte bislang bspw. eine diabetische Retinopathie ausgeschlossen werden – bis Oktober 2015 mit 20 wohlwollend hoch bewertet. Soweit beim Kläger eine Polyneuropathie besteht wurde diese bereits oben hinreichen bewertet ... Vor dem Hintergrund eines unauffälligen Urinstatus und normalen Kreatininwerten findet sich auch kein Anhalt für das Vorliegen einer relevanten diabetischen Nephropathie. Die Tatsache, dass der Blutzucker beim Kläger schlecht eingestellt ist, bedeutet – im Hinblick auf die fehlende Compliance des Klägers - insbesondere nicht, dass er auch schlecht einstellbar ist.
60Nach dem Arzt- und Befundbericht des Dr. G. aus Oktober bzw. November 2015 geht die Kammer allerdings davon aus, dass der Kläger ab Oktober eine Insulintherapie begonnen hat. Hierbei muss der Kläger zweimal täglich Insulin spritzen und mindestens einmal täglich selbständig eine Blutzuckerkontrolle durchführen. Darüber hinaus nimmt der Kläger ein GLP-1-Analogon ein (vgl. hierzu etwa Piper, Innere Medizin, 2. Aufl. 2013, S. 470). Hierfür ist ein GdB von 40 in Ansatz zu bringen.
61Schon der oben zitierte Wortlaut der Vorschrift der Ziffer 15.1 macht deutlich, dass beim Kläger die Voraussetzungen für einen GdB von mindestens 50 nicht erfüllt sind. Hierfür sind nämlich (mindestens) drei Beurteilungskriterien erforderlich. Es müssen (1.) täglich mindestens vier Insulininjektionen durchgeführt werden. Es muss darüber hinaus (2.) eine selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung erfolgen sowie (3.) eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte vorliegen. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu berücksichtigen, dass diese drei Kriterien in einer Gesamtschau die sachgerechte Beurteilung des Gesamtzustands erleichtern sollen (vgl. BSG Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R = juris Rn. 16 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 25.10.2012 – B 9 SB 2/12 R = juris Rn. 34). Beim Kläger scheidet schon die Annahme des ersten Tatbestandsmerkmals aus, da er nur zweimal täglich spritzt. Es ist beim Kläger vielmehr von einem Bewertungsspielraum zwischen 30 und 40 auszugehen. Unter Berücksichtigung, der – nach Auffassung der Kammer wohl auch der schlechten Complience des Klägers geschuldeten – nachgewiesenen HbA1c-Werten, die in dem hier betrachteten längeren Zeitraum durchaus nicht unerheblich schwanken – ist dieser Bewertungsspielraum nach oben auszuschöpfen. Wie sich die Zuckerkrankheit unter der nunmehr begonnen Therapie entwickelt, wird abzuwarten sein. Soweit beim Kläger darüber hinaus eine Fettstoffwechselstörung diagnostiziert wurde, erhöht diese gemäß Teil B Ziffer 15.3 der Versorgungsmedizinschen Grundsätze den GdB nicht weiter. Das Gleiche gilt für die Adipositas per magna, die im Übrigen, der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts folgend, ausnahmsweise bereits oben beim Kläger berücksichtigt worden ist.
626. Für das Funktionssystem Herz und Kreislauf ist gemäß Teil B Ziffer 9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von höchstens 20 in Ansatz zu bringen, der nach Auffassung der Kammer allenfalls soeben erreicht ist. Der behandelnde Internist Dr. G. geht in seinem Befundbericht vom 02.11.2015 von einer arteriellen Hypertonie im Sinne einer Belastungshypertonie aus. Der Kläger nimmt derzeit Verapamil 240, Herz ASS sowie das Diuretikum Torasemid. Die beim Kläger objekti-vierten Blutdruckwerte lagen zwischen Riva-Rocci (RR) 120/80 mmHg (Dr. S.), RR 140/100 mmHg (Dr. Q.), RR 124/86 mmHg (Dr. G.) und sind damit – in Ruhe – etwas erhöht. Nach den Feststellungen des Internisten und Arbeitsmediziners Dr. Q. in seinem Gutachten, an deren Richtigkeit die Kammer keinen Anlass zu zweifeln hat, sind Organschäden bislang nicht objektiviert. Hinweise auf eine Herzinsuffizienz als Ursache der vom Kläger geschilderten Atemnot bei Belastung finden sich bei normalem NT-proBNP labortechnisch (zum Aussagegehalt der Bestimmung dieses Wertes, vgl. Bruhn/Junker/Schäfer/Schreiber, Labormedizin, 3. Aufl. 2011, S. 174 ff.) und klinisch nicht, weswegen die Feststellung eines höheren GdB als soeben 20 keinesfalls gerechtfertigt erscheint. Die Kammer hat hierbei die Einnahme der verschiedenen Medikamente berücksichtigt.
637. Der Kläger gibt zudem an, er leide unter einer Harninkontinenz, die das Tragen von Vorlagen erforderlich mache. Eine Behandlung dieses vom Kläger geltend gemachten Leidens ist bislang nicht objektiviert. Im Rahmen eines 2012 erstellten Befundberichts gaben die Ärzte an, der Kläger sei zuletzt im Januar 2010 zur Therapie einer seit 2003 schon bekannten Phimose (Vorhautverengung) vorstellig geworden. Die Kammer möchte nicht in Abrede stellen, dass es beim Kläger zu ungewolltem Harnabgang kommt. Insoweit wird auf das Pflegegutachten vom 03.06.2013 Bezug genommen, wonach beim Kläger eine Harnteilinkontinenz besteht. Anhaltspunkte, die insoweit einen höheren GdB als 10 – höchstens soeben 20 – rechtfertigen würden sind indes nicht objektiviert.
648. Wesentliche weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die einen GdB bedingen könnten, sind nicht objektiviert.
659. Vor diesem Hintergrund ist bei dem Kläger gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze für die Zeit bis Oktober 2015 ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden, für die Zeit danach ein GdB von 60. § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchti-gungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich ver-stärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris). Im Vordergrund stehen vorliegend erkennbar die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule im Zusammenspiel mit den unteren Extremitäten und den Einschränkungen durch die Adipositas per magna. Diese bedingen - wie oben ausgeführt - einen GdB von 30. Neben diesen sind die Beeinträchtigungen für das Funktionssystem Psyche und Nerven mit einem GdB von 20, sowie der Diabetes mit einem GdB von ebenfalls 20 in Ansatz zu bringen. Bei diesen ist indes schon zu berücksichtigen, dass Teilaspekte der Psyche und des Diabetes bereits in die Bewertung des GdB von 30 für die Wirbelsäule und die unteren Extremitäten (bezüglich der Schmerzen und den Auswirkungen der Polyneuropathie) mit eingeflossen sind. Zunächst ist damit ein GdB von 40 in Ansatz zu bringen. Die Beeinträchtigungen des Funktionssystems Herz treten mit einem GdB von soeben 20 in den Hintergrund. Das Gleiche gilt für die übrigen objektivierten Gesundheitsbeeinträchtigungen. Ein GdB von mindestens 50 und damit die Schwerbehinderteneigenschaft kommt zunächst nicht in Betracht. Dies schon vor allem deshalb, weil sich die objektivierten Beeinträchtigungen der Klägerin gerade nicht gemäß Teil A Nr. 3 lit. b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem einzelnen Gesundheitsschaden vergleichen lassen, für den die Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen festen GdB-Wert von 50 angeben (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 49 ff. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG und den hierzu vertretenen Meinungsstand in der Literatur). Insbesondere lassen sich Beeinträchtigungen etwa vergleichbar einer Versteifung großer Teile der Wirbelsäule, anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthesen die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst, schwere Skoliose (ab ca. 70° nach Cobb), oder aber einer Versteifung des Hüftgelenks in ungünstiger Stellung oder dem Verlust eines Beins im Unterschenkel bei dem Kläger nicht feststellen. Dies umso mehr als beim Kläger die starken Aggravationstendenzen (dazu bereits oben) zu berücksichtigten waren. Für die Zeit ab Oktober 2015 ist indes die Erhöhung des GdB für den Diabetes zu berücksichtigen. Dieser ist mit 40 zu bewerten. Unter Berücksichtigung der im übrigen gleichbleibenden sonstigen Erkrankungen erscheint es nach Auffassung der Kammer gerechtfertigt, den GdB des Klägers aber diesem Zeitpunkt insgesamt mit 60 zu bewerten.
6610. Soweit der Kläger die Eintragung des Merkzeichens Bl begehrt, war die Klage abzuweisen. Blind ist ein behinderter Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt, vgl. Teil A Ziffer 6 lit. a der Versorgungsmedizinschen Grundsätze. Als blind ist darüber hinaus ein Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn anderen Sehstörungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind. Diese in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen vorgenommene Bestimmung des Merkmals "blind" entspricht im Wesentlichen den Regelungen des § 1 Abs. 1 des nordrhein-westfälischen Gesetzes über die Hilfen für Blinde und Gehörlose (GHBG) vom 25.11.1997 (GV. NW. 1997 S. 430) in der derzeit geltenden Fassung sowie der des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches – Sozialhilfe – (SGB XII), auf den § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Schwerbe-hindertenausweisverordnung (SchwbAwV) vom 25.7.1991 (BGBl. I, S. 1739) in der derzeit geltenden Fassung Bezug nimmt. Liegen die Voraussetzungen des § 72 Abs. 5 SGB XII vor ist nach Feststellung dieser Merkmale das Merkzeichen Bl. einzutragen. Voraussetzung für die Feststellung von Merkzeichen ist indes, dass der Kläger schwerbehindert ist, d.h. bei ihm ein GdB von mindestens 50 festgestellt wurde. Für die Zeit bis Oktober 2016 scheidet damit die Eintragung irgendwelcher Merkzeichen – also auch des Merkzeichens Bl – per se aus. Aber für die Zeit danach kommt die Zuerkennung des Merkzeichens nicht in Betracht, da die oben geschilderten gesundheitlichen Voraussetzungen beim Kläger wie oben ausführlich dargelegt – nicht objektiviert sind.
6711. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG.
68Gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung; vgl. hierzu und zu den sich aus dem Merkzeichen ergebenden rechtlichen Folgen, Bundessozialgericht – BSG – Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15). Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO (neu bekannt gemacht am 26. Januar 2001, BAnz 2001, Nr. 21, S 1419). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG), wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Die Frage, ob die Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Rechtsverordnung verbindliche Festlegungen hinsichtlich der Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen enthalten, war bislang umstritten. So wurde teilweise die Auffassung vertreten, eine Ermächtigungsgrundlage zur Schaffung einer Rechtsverordnung betreffend die im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche sei nicht gegeben. Insbesondere enthalte die durch die Versorgungsmedizinischen Grundsätze in Bezug genommene Regelung des § 30 Abs. 17 BVG a.F. (nunmehr § 30 Abs. 16 BVG) keine entsprechende Ermächtigung (Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 02.10.2012 - L 8 SB 1914/10 = juris Rn. 26). Die Regelungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Nachteilsausgleich aG seien damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Rechtsgrundlage seien daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze. Dieser Auffassung hatte sich - normtheoretisch - in der Vergangenheit auch die erkennende Kammer angeschlossen. Sie hatte aber stets darauf hingewiesen, dass gleichwohl die Feststellungen des Teil D Ziffer 3 mit in die Bewertung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG einbezogen werden können, wenngleich freilich nicht als Rechtsgrundlage im Sinne einer Rechtsverordnung. Die Feststellungen in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen werden auf Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze evidenzbasierter Medizin erstellt und fortentwickelt, vgl. § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung. Sie enthalten - im Hinblick auf das Merkzeichen aG - im Wesentlichen die gleichen Regelungen, wie bereits Ziffer 31 der vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX), zuletzt aus dem Jahr 2008, (AHP 2008). Die Festlegungen der Anhaltspunkte sind von der Rechtsprechung - als antizipierte Sachverständigengutachten - bei der Frage der Beurteilung der Zuerkennung von Merkzeichen zugrundegelegt worden. Eine entsprechende Funktion erfüllten nach Auffassung der Kammer bislang auch die nunmehr in Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze dargelegten Regelungen (vgl. hierzu etwa SG Aachen – S 12 SB 240/13 = juris; für eine Anwendung der in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen dargelegten Anforderungen auch Bayerisches LSG Urteil vom 26.09.2012 - L 15 SB 46/09 = juris Rn. 61; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 19.12.2011 - L 13 SB 12/08 = juris Rn. 29; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.11.2011 - L 11 SB 67/09 = juris Rn. 34; wohl auch LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 09.08.2012 - L 10 SB 10/12 = juris Rn. 15; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 13.07.2010 - L 6 SB 133/09 = juris Rn. 29; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 13.07.2010 - 6 SB 133/09 = juris Rn. 27; a.A. offensichtlich LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 12.10.2011 - L 6 SB 3032/11 = juris Rn. 39 ff.). Auf diese Problematik hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich reagiert (vgl. BT-Drucks. 18/3190, S. 5). Durch Gesetz zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 07.01.2015 (BGBl. II, S. 15) wurde in § 70 SGB IX ein Absatz 2 angefügt, in dem nun das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ausdrücklich ermächtigt wird, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Darüber hinaus wurde § 159 SGB IX um einen Absatz 7 erweitert, wonach, sofern noch keine Verordnung nach § 70 Absatz 2 erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Absatz 1 des BVG und der auf Grund des § 30 Absatz 16 des BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend. Diese Änderungen sind am 15.01.2015 in Kraft getreten. Damit hat der Gesetzgeber nunmehr nach Auffassung der Kammer eine eindeutige und hinreichende normative Grundlage für die Anwendung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze auch hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Merkzeichen geschaffen (in diesem Sinne auch LSG Baden-Württemberg Urteil vom 22.05.2015 - L 8 SB 70/13 = juris; Vogl in: jurisPK-SGB IX, § 159 Rn. 38 f; ders., in: jurisPK-SGB IX, § 146 Rn. 5 f.). Spätestens seit dem 15.01.2015 ist damit klar, dass die Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Rechtsverordnung unmittelbare - auch die Gerichte bindende - Wirkung entfalten. Für die Zeit davor bleibt es nach Auffassung der Kammer indes dabei, dass die in Teil B Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze richterrechtlich zur Bestimmung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen herangezogen werden konnten. Im Ergebnis ergeben sich hierdurch mithin keine Änderungen (so auch LSG Baden-Württemberg Urteil vom 22.05.2015 - L 8 SB 70/13 = juris). Da der Kläger jedenfalls nicht in eine der oben genannten Beispielsgruppen fällt, war zu klären, ob er dem ausdrücklich beschriebenen Personenkreis gleichzustellen ist. Eine Gleichstellung muss dann erfolgen, wenn ein Betroffener in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlichem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter eben so großen Anstrengungen wie die erstgenannte Gruppe von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R =juris Rn.18) Die damit erforderliche Bildung eines Vergleichsmaßstabes birgt freilich Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im Gesetz ausdrücklich aufgezählten Gruppen in ihrer Wegfähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppe - bei gutem gesundheitlichem Allgemeinzustand, hoher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen können. Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten behinderten Gruppen kann es grundsätzlich aber nicht ankommen (vgl. dazu Bundessozialgericht, a.a.O.) Im Ergebnis ist hinsichtlich der Gleichstellung bei dem Restgehvermögen des Betrof-fenen anzusetzen. Insoweit stellen die maßgeblichen straßenrechtlichen Vorschriften darauf ab, ob ein schwerbehinderter Mensch nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung - und zwar praktisch von den ersten Schritten - außerhalb seines Kraftfahrzeuges sich bewegen kann. Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R =juris Rn.18). Bei der erforderlichen tatrichterlichen Feststellung, ob und ggf. in welchem Umfang körperlichen Anstrengungen vorhanden sind, kann dabei nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden. Zur Klärung dieser Frage sind Indizien wie Erschöpfungszustände, Luftnot, Schmerzen oder ähnliches heranzuziehen (vgl. BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.). So lässt sich ein vergleichbares Erschöpfungsbild u.a. aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren - auch auf Großparkplätzen - mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das ein Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (BSG, a.a.O.). Unter Berücksichtigung der genannten Kriterien liegen beim Kläger die Vorausset-zungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG nicht vor. Der Gutachter Dr. S. beschrieb, dass der Kläger sich innerhalb der Räume der Interstut GmbH normal bewegte und nicht orientierungslos oder erkennbar hilflos war. Er kam mit einem Rollator, suchte die Toilette vom Flur aus aber ohne Rollator auf. Auch ging er sonstige kürzere Strecken ohne Rollator. Der sozialmedizinisch erfahrene Gutachter kam zu der Einschätzung, dass der Kläger insbesondere durch sein erhebliches Übergewicht in der Gehstrecke limitiert ist, keinesfalls aber in einem Maße, die die Zuerkennung des Merkzeichens aG rechtfertige. Entsprechendes berichtet Herr X., der überdies darauf hinweist, dass der der Kläger gerade bei seinen Gehversuchen sich demonstrativ und deutlich aggravierend – bis hin zur Simulation – verhielt. Die Kammer ist unter Berücksichtigung der Gutachten und dem Eindruck, den die Kammer vom Gangbild des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnen hat – der Kläger bewegte sich hier ebenfalls ohne Rollator und – zeitweise gestützt - mit Hilfe eines Gehstocks – davon überzeugt, dass der Kläger keinesfalls mit den Personen vergleichbar ist, bei denen die Zuerkennung des Merkzeichens aG in Betracht kommt. 12. Auch die Feststellung für das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens RF kommt nicht in Betracht. Nach der Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 30.11.1993 des Landes Nordrhein-Westfalen (GVBl. NRW 1993, S. 970) steht das Merkzeichen RF den Fürsorgeberechtigten im Sinne des § 27e BVG, Blinden oder nicht nur vorübergehend sehbehinderten Personen mit einem GdB von 60 allein wegen der Sehbehinderung sowie Hörgeschädigten, die gehörlos sind, oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Gehörhilfen nicht möglich ist, zu. Eine Inanspruchnahme kommt überdies nach § 1 Nr. 3 der Verordnung in Betracht, wenn ein behinderter Mensch aufgrund seiner Leiden gehindert ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen (zum Merkzeichen RF BSG Urteil vom 16.02.2012 - B 9 SB 2/11 R = juris Rn. 22,24). Öffentliche Veranstaltung ist dabei jede grundsätzlich jedermann uneingeschränkt oder bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen (z.B. Eintrittsgeld) zugänglich ge-machte Veranstaltung im Sinne einer Organisation von Darbietungen verschiedenster Art; dazu zählen Veranstaltungen politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art, wobei es auf das tatsächliche Angebot von Veranstaltungen im örtlichen Einzugsbereich des Behinderten ebenso wenig ankommt wie auf seine persönlichen Vorlieben, Bedürfnisse, Neigungen oder Interessen (Bayerisches LSG Urteil vom 25.09.2012 - L 3 SB 15/12 = juris Rn. 27 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG; auch BSG Urteil vom 10.08.1993, 9/9a RVs 7/91; Urteil vom 16.03.1994, 9/9a RVs 3/83; Urteil vom 12.02.1997, 9/9a RVs 2/93; LSG NRW Urteil vom 18.01.2006; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom15.03.2012 - L 11 SB 105/09 = juris Rn. 41). Dazu gehören nicht nur Theater-, Oper-, Konzert- und Kinovorstellungen, sondern auch Veranstaltungen wie etwa Ausstellungen, Messen, Museen, Märkte, Gottesdienste, Volksfeste, Sportveranstaltungen, Tier- und Pflanzengärten sowie letztlich auch öffentliche Gerichtsverhandlungen. Maßgeblich ist allein die Möglichkeit der körperlichen Teilnahme, gegebenenfalls mit technischen Mitteln (z.B. Rollstuhl) und/oder mit Hilfe einer Begleitperson (Bayerisches LSG Urteil vom 25.09.2012 - L 3 SB 15/12 = juris Rn. 27 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.09.1991 - 9/9a RVs 15/98 = juris Rn. 9). Die Unmöglichkeit zur Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leides ständig, d.h. allgemein und um-fassend, vom Besuch ausgeschlossen ist. Aufgrund der eingeholten gerichtlichen Gutachtens sowie den Befundberichte und nicht zuletzt des persönlichen Eindrucks des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass dieser derzeit nicht dauernd gehindert ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Die hierfür erforderliche Sehbehinderung ist beim Kläger nicht objektiviert (vgl. dazu oben). Auch sonstige Beeinträchtigungen die einer Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. 13. Der Kläger hat aber ab Oktober 2015 einen Anspruch auf Feststellung des Vor-liegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G. Nach 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Die Länge der In § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX genannten Wegstrecke ist gesetzlich nicht geregelt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts beträgt die üblicherweise im Ortsverkehr zurückgelegte Strecke zwei Kilometer, die etwa in einer halben Stunde zurückgelegt werden (etwa BSG Urteil vom 10.12.1987 - 9a RVs 11/87 = juris Rn. 13 ff.; BSG Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVs 1/96 = juris Rn. 19; BSG Urteil vom 27.08.1998 - B 9 SB 13/97 R = juris Rn. 15). Feststellungen zur Zuerkennung des Merkzeichens G enthält darüber hinaus Teil D Ziffer 1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze Die entsprechende Regelung lautet u.a.: "( ) In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d. h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird ( ). Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens sind als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z. B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen ( ). Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, sind bei allen Sehbehinderungen mit einem GdB von wenigstens 70 und bei Seh-behinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit beiderseits, geistige Behinderung) anzunehmen. Bei Hörbehinderungen ist die Annahme solcher Störungen nur bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) oder im Erwachsenenalter bei diesen Hörstörungen in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. Sehbehinderung, geistige Behinderung) gerechtfertigt. Bei geistig behinderten Menschen sind entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich benutzen, nur schwer zurechtfinden können. Unter diesen Umständen ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei geistigen Behinderungen mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen. Bei einem GdB unter 80 kommt eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht." Die Regelung macht deutlich, dass die Annahme des Merkzeichens G regelmäßig dann in Betracht kommt, wenn Beeinträchtigungen, die sich auf die Gehwerkzeuge auswirken mindestens einen GdB von 50, in Ausnahmefällen auch von 40, bedingen. Solche Beeinträchtigungen sind beim Kläger derzeit nicht objektiviert (vgl. dazu bereits oben). Indes ist in diesem Zusammenhang nach Auffassung der Kammer die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu berücksichtigen, wonach bei der Frage, ob die Voraussetzungen des Merkzeichens G gegeben sind auch zu berücksichtigen ist, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen (vgl. BSG Urteil vom 24.04.2008 – B 9/9a SB 7/06 R = juris Rn. 12). Von diesen Faktoren sind nach den Vorgaben des Versorgungsmedizinischen Grundsätze all diejenigen unbeachtlich, die die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG Urteil vom 24.04.2008 – B 9/9a SB 7/06 R = juris, a.a.O.). Nach den übereinstimmenden Feststellungen der Gutachter geht die Kammer davon aus, dass eine Wegstrecke von 2 km innerhalb einer Zeit von etwa einer halben Stunde nicht mehr zumutbar ist. Trotz der festgestellten Aggravation des Klägers geht auch die Kammer davon aus, dass dies zutrifft und zwar insbesondere aufgrund der beim Kläger vorlie-genden Adipositas per magna bei bestehender schwacher Muskulatur, bestehenden Beeinträchtigungen insbesondere der Lendenwirbelsäule mit jedenfalls pseudoradikulären Auswirkungen auch auf die unteren Extremitäten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann insoweit auch das erhebliche Übergewicht berücksichtigt werden. Die funktionellen Auswirkungen einer Adipositas per magna sind nicht nur bei Einschätzung eines aus anderen Gesundheitsstörungen folgenden GdB (erhöhend) zu berücksichtigen, sondern auch insoweit, als sie zu einer Einbuße der in § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX genannten Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen (BSG Urteil vom 10.12.1987 – 9a RVs 11/87 = juris Rn. 9; BSG Urteil vom 24.04.2008 – B 9/9a SB 7/06 R = juris Rn. 14). Wie oben bereits ausgeführt bedingen die Beeinträchtigungen in der Wirbelsäule und den unteren Extremitäten für sich noch keinen GdB von 40. Die aus den Gesundheitsstörungen des Stütz- und Bewegungsapparates folgenden Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr werden aber jedenfalls durch funktionelle Auswirkungen der Adipositas per magna so weit verstärkt, dass die dem Kläger zumutbare Wegstrecke auf unter 2 km abgesunken ist. Für die Zeit ab der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft kommt nach alledem auch die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Auswirkungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G in Betracht.
6914. Ab diesem Zeitpunkt ist beim Kläger auch das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens B gegeben.
70Für die unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson nach § 145 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX ist in Verbindung mit § 146 Abs. 2 SGB IX die Notwendigkeit ständiger Begleitung zu beurteilen. Ständige Begleitung ist - nach ständiger Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (dazu schon oben) - bei schwerbehinderten Menschen, bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen G oder H vorliegen, notwendig, wenn sie infolge der Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Das Merkzeichen G liegt bei dem Kläger seit Oktober 2015 vor (vgl. dazu oben). Es ist demnach nach Teil D Ziffer 2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu klären, ob der Kläger bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen ist, ob er etwa beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen ist oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen erforderlich sind. Insoweit nimmt die Kammer ebenfalls Bezug auf die Ausführungen der gerichtlich bestellten Gutachter Dr. S. und X., die beide übereinstimmend zu der Einschätzung ge-kommen sind, dass der Kläger bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf fremde Hilfe angewiesen ist, um Gefahren für sich oder andere zu vermeiden und er Hilfe beim Ein- und Aussteigen bedarf. Auch insoweit macht sich nach Auffassung der Kammer die adipositasbedingte Gehschwäche und Unsicherheit bemerkbar. Die Kostentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt insbesondere die Tatsache, dass die Voraussetzungen für einen höheren GdB als 40 und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und B erst seit Oktober 2015 und damit im laufenden Gerichtsverfahren eingetreten sind. Der Beklagte hat somit keine Veranlassung zur Klage gegeben.
Urteilsbesprechung zu Sozialgericht Aachen Urteil, 12. Jan. 2016 - S 12 SB 259/13
Urteilsbesprechungen zu Sozialgericht Aachen Urteil, 12. Jan. 2016 - S 12 SB 259/13
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Sozialgericht Aachen Urteil, 12. Jan. 2016 - S 12 SB 259/13 zitiert oder wird zitiert von 9 Urteil(en).
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen mit Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).
Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.
Tenor
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Mai 2010 wird als unzulässig verworfen.
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Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
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Durch Urteil vom 21.5.2010 hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers von 50 auf 30 wegen Ablaufs einer Heilungsbewährung bestätigt. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Zur Begründung macht er geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
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Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil er den behaupteten Zulassungsgrund nicht so dargelegt hat, wie es § 160a Abs 2 Satz 3 SGG verlangt.
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Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1) eine bestimmte Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.
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Der Kläger hält die Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-Verordnung in ihrem Wortlaut und ihrer Rechtsanwendungspraxis bei karzinogenen Erkrankungen im Einklang mit dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nach wie vor eine Herabstufung unter einen Gesamt-GdB von 50 vorsehen darf. Bei dieser Frage handelt es sich nicht zweifelsfrei um eine reine Rechtsfrage, also eine Frage, die allein unter Anwendung juristischer Methodik beantwortet werden kann.
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Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10), wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 69 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Diese Umstände sind in die als sog antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) einbezogen worden. Dementsprechend sind die AHP nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten (s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Für die seit dem 1.1.2009 geltende Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung gilt das Gleiche.
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Die Feststellung des GdB ist dabei in einen rechtlichen Rahmen eingebettet, den das Tatsachengericht zwingend zu beachten hat. Rechtlicher Ausgangspunkt ist stets § 69 Abs 1, 3 und 4 SGB IX(s zuletzt BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 bis 21 mwN). AHP und VG setzen die gesetzlichen Vorgaben um, wobei insbesondere auch medizinische Sachkunde zum Tragen kommt. Es kann hier offenbleiben, inwieweit in diesem Rahmen grundsätzlich bedeutsame Rechtsfragen iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG auftreten können. Jedenfalls hat der Kläger die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit der von ihm aufgeworfenen Frage nicht hinreichend dargetan.
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Es wird schon nicht deutlich, auf welche Bestimmung der VG sich die Frage des Klägers bezieht. Sollte er insoweit auf Teil B Nr 1 Buchst c VG Bezug nehmen, so hätte er darlegen müssen, inwieweit sich daraus ergebe, dass eine Herabsetzung des GdB auf unter 50 zwingend vorgesehen sei. Besonderer Ausführungen hätte es schon deshalb bedurft, weil die betreffende Vorschrift an sich nur die pauschal bemessene Höhe des GdB während der Heilungsbewährung regelt. Für die Zeit danach ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörungen zu bemessen (vgl dazu Teil A Nr 2 VG). Dabei sind selbstverständlich auch seelische Begleiterscheinungen und erst recht psychische Störungen, auf die der Kläger hinweist, zu berücksichtigen (vgl Teil A Nr 2 Buchst i VG). Insoweit ist nicht klar, inwiefern die VG nach Ansicht des Klägers in diesem Zusammenhang rechtliche Zweifelsfragen aufwerfen.
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Letztlich zielt die Frage des Klägers offenbar auf eine (möglichst unbeschränkte) Verlängerung der Heilungsbewährungszeit und der damit verbundenen pauschalen GdB-Bemessung. Sicher würde die Regelung in Teil B Nr 1 Buchst c VG gegen § 69 SGB IX verstoßen, wenn sie nicht dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entspräche(vgl § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX iVm § 30 Abs 17 BVG; dazu auch § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung). Da es zu den Aufgaben des beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales gebildeten Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin gehört, die Fortentwicklung der VG entsprechend dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft vorzubereiten, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Bestimmungen der VG diesem Qualitätsmaßstab entsprechen. Insoweit hätte es näherer Darlegungen des Klägers dazu bedurft, inwiefern aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse eine längere Heilungsbewährungszeit geboten sein könnte. Der Kläger beschränkt sich hingegen auf allgemeine Behauptungen, ohne auf wissenschaftliche Quellen Bezug zu nehmen. Das reicht nicht aus.
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-
Soweit der Kläger schließlich die in seinem Fall erfolgte GdB-Bemessung angreift, rügt er im wesentlichen die berufungsgerichtliche Sachverhaltsaufklärung und Beweiswürdigung, ohne die Beschränkungen zu berücksichtigen, die sich bei behaupteten Verletzungen von § 103 und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG für die Revisionszulassung aus § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ergeben.
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Die Beschwerde ist daher ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG).
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen mit Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).
(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei beschädigten Kindern und Jugendlichen ist der Grad der Schädigungsfolgen nach dem Grad zu bemessen, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt, soweit damit keine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Für erhebliche äußere Gesundheitsschäden können Mindestgrade festgesetzt werden.
(2) Der Grad der Schädigungsfolgen ist höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn
- 1.
auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann, - 2.
zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder - 3.
die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.
(3) Rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, erhalten nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich in Höhe von 42,5 vom Hundert des auf volle Euro aufgerundeten Einkommensverlustes (Absatz 4) oder, falls dies günstiger ist, einen Berufsschadensausgleich nach Absatz 6.
(4) Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Haben Beschädigte Anspruch auf eine in der Höhe vom Einkommen beeinflußte Rente wegen Todes nach den Vorschriften anderer Sozialleistungsbereiche, ist abweichend von Satz 1 der Berechnung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente zugrunde zu legen, die sich ohne Berücksichtigung dieser Rente wegen Todes ergäbe. Ist die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemindert, weil das Erwerbseinkommen in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nicht mehr als die Hälfte des Erwerbslebens umfaßt, schädigungsbedingt gemindert war, so ist die Rentenminderung abweichend von Satz 1 der Einkommensverlust. Das Ausmaß der Minderung wird ermittelt, indem der Rentenberechnung für Beschädigte Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Zeiten ergäben, in denen das Erwerbseinkommen der Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.
(5) Das Vergleichseinkommen errechnet sich nach den Sätzen 2 bis 5. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A aus den vorletzten drei der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen. Beträge des Durchschnittseinkommens bis 0,49 Euro sind auf volle Euro abzurunden und von 0,50 Euro an auf volle Euro aufzurunden. Der Mittelwert aus den drei Jahren ist um den Prozentsatz anzupassen, der sich aus der Summe der für die Rentenanpassung des laufenden Jahres sowie des Vorjahres maßgebenden Veränderungsraten der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 in Verbindung mit § 228b des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ergibt; die Veränderungsraten werden jeweils bestimmt, indem der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um eins vermindert und durch Vervielfältigung mit 100 in einen Prozentsatz umgerechnet wird. Das Vergleichseinkommen wird zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt; wenn das nach den Sätzen 1 bis 6 errechnete Vergleichseinkommen geringer ist, als das bisherige Vergleichseinkommen, bleibt es unverändert. Es ist durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu ermitteln und im Bundesanzeiger bekanntzugeben; die Beträge sind auf volle Euro aufzurunden. Abweichend von den Sätzen 1 bis 5 sind die Vergleichseinkommen der Tabellen 1 bis 4 der Bekanntmachung vom 14. Mai 1996 (BAnz. S. 6419) für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 durch Anpassung der dort veröffentlichten Werte mit dem Vomhundertsatz zu ermitteln, der in § 56 Absatz 1 Satz 1 bestimmt ist; Satz 6 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.
(6) Berufsschadensausgleich nach Absatz 3 letzter Satzteil ist der Nettobetrag des Vergleicheinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend.
(7) Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte die Regelaltersgrenze nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch erreicht, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen
- 1.
bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1 790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert, - 2.
bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1 380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert
(8) Das Nettoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit wird pauschal aus dem derzeitigen Bruttoeinkommen ermittelt, indem
- 1.
das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit um die in Absatz 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Vomhundertsätze gemindert wird, - 2.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte um den Vomhundertsatz gemindert werden, der für die Bemessung des Beitrags der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 des Elften Buches Sozialgesetzbuch) gilt, und um die Hälfte des Vomhundertsatzes des allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen (§ 241 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch); die zum 1. Januar festgestellten Beitragssätze gelten insoweit jeweils vom 1. Juli des laufenden Kalenderjahres bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres, - 3.
sonstige Geldleistungen von Leistungsträgern (§ 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) mit dem Nettobetrag berücksichtigt werden und - 4.
das übrige Bruttoeinkommen um die in Nummer 2 genannten Vomhundertsätze und zusätzlich um 19 vom Hundert des 562 Euro übersteigenden Betrages gemindert wird; Nummer 2 letzter Halbsatz gilt entsprechend.
(9) Berufsschadensausgleich nach Absatz 6 wird in den Fällen einer Rentenminderung im Sinne des Absatzes 4 Satz 3 nur gezahlt, wenn die Zeiten des Erwerbslebens, in denen das Erwerbseinkommen nicht schädigungsbedingt gemindert war, von einem gesetzlichen oder einem gleichwertigen Alterssicherungssystem erfaßt sind.
(10) Der Berufsschadensausgleich wird ausschließlich nach Absatz 6 berechnet, wenn der Antrag erstmalig nach dem 21. Dezember 2007 gestellt wird. Im Übrigen trifft die zuständige Behörde letztmalig zum Stichtag nach Satz 1 die Günstigkeitsfeststellung nach Absatz 3 und legt damit die für die Zukunft anzuwendende Berechnungsart fest.
(11) Wird durch nachträgliche schädigungsunabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt statt dessen als Einkommen das Grundgehalt der Besoldungsgruppe der Bundesbesoldungsordnung A, der der oder die Beschädigte ohne den Nachschaden zugeordnet würde; Arbeitslosigkeit oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gilt grundsätzlich nicht als Nachschaden. Tritt nach dem Nachschaden ein weiterer schädigungsbedingter Einkommensverlust ein, ist dieses Durchschnittseinkommen entsprechend zu mindern. Scheidet dagegen der oder die Beschädigte schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wird der Berufsschadensausgleich nach den Absätzen 3 bis 8 errechnet.
(12) Rentenberechtigte Beschädigte, die einen gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten oder Lebenspartners, einem Verwandten oder einem Stief- oder Pflegekind führen oder ohne die Schädigung zu führen hätten, erhalten als Berufsschadensausgleich einen Betrag in Höhe der Hälfte der wegen der Folgen der Schädigung notwendigen Mehraufwendungen bei der Führung des gemeinsamen Haushalts.
(13) Ist die Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erhöht worden, so ruht der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente nach § 31 Abs. 1 Satz 1 erzielten Mehrbetrags. Entsprechendes gilt, wenn die Grundrente nach § 31 Abs. 4 Satz 2 erhöht worden ist.
(14) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen:
- a)
welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist, - b)
wie der Einkommensverlust bei einer vor Abschluß der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung zu ermitteln ist, - c)
wie der Berufsschadensausgleich festzustellen ist, wenn der Beschädigte ohne die Schädigung neben einer beruflichen Tätigkeit weitere berufliche Tätigkeiten ausgeübt oder einen gemeinsamen Haushalt im Sinne des Absatzes 12 geführt hätte, - d)
was als derzeitiges Bruttoeinkommen oder als Durchschnittseinkommen im Sinne des Absatzes 11 und des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt und welche Einkünfte bei der Ermittlung des Einkommensverlustes nicht berücksichtigt werden, - e)
wie in besonderen Fällen das Nettoeinkommen abweichend von Absatz 8 Satz 1 Nr. 3 und 4 zu ermitteln ist.
(15) Ist vor dem 1. Juli 1989 bereits über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entschieden worden, so verbleibt es hinsichtlich der Frage, ob Absatz 4 Satz 1 oder 3 anzuwenden ist, bei der getroffenen Entscheidung.
(16) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln.
(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.
(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch
- a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung, - b)
eine Kriegsgefangenschaft, - c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit, - d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist, - e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen, - f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.
(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.
(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.
(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei beschädigten Kindern und Jugendlichen ist der Grad der Schädigungsfolgen nach dem Grad zu bemessen, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt, soweit damit keine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Für erhebliche äußere Gesundheitsschäden können Mindestgrade festgesetzt werden.
(2) Der Grad der Schädigungsfolgen ist höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn
- 1.
auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann, - 2.
zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder - 3.
die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.
(3) Rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, erhalten nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich in Höhe von 42,5 vom Hundert des auf volle Euro aufgerundeten Einkommensverlustes (Absatz 4) oder, falls dies günstiger ist, einen Berufsschadensausgleich nach Absatz 6.
(4) Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Haben Beschädigte Anspruch auf eine in der Höhe vom Einkommen beeinflußte Rente wegen Todes nach den Vorschriften anderer Sozialleistungsbereiche, ist abweichend von Satz 1 der Berechnung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente zugrunde zu legen, die sich ohne Berücksichtigung dieser Rente wegen Todes ergäbe. Ist die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemindert, weil das Erwerbseinkommen in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nicht mehr als die Hälfte des Erwerbslebens umfaßt, schädigungsbedingt gemindert war, so ist die Rentenminderung abweichend von Satz 1 der Einkommensverlust. Das Ausmaß der Minderung wird ermittelt, indem der Rentenberechnung für Beschädigte Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Zeiten ergäben, in denen das Erwerbseinkommen der Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.
(5) Das Vergleichseinkommen errechnet sich nach den Sätzen 2 bis 5. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A aus den vorletzten drei der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen. Beträge des Durchschnittseinkommens bis 0,49 Euro sind auf volle Euro abzurunden und von 0,50 Euro an auf volle Euro aufzurunden. Der Mittelwert aus den drei Jahren ist um den Prozentsatz anzupassen, der sich aus der Summe der für die Rentenanpassung des laufenden Jahres sowie des Vorjahres maßgebenden Veränderungsraten der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 in Verbindung mit § 228b des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ergibt; die Veränderungsraten werden jeweils bestimmt, indem der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um eins vermindert und durch Vervielfältigung mit 100 in einen Prozentsatz umgerechnet wird. Das Vergleichseinkommen wird zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt; wenn das nach den Sätzen 1 bis 6 errechnete Vergleichseinkommen geringer ist, als das bisherige Vergleichseinkommen, bleibt es unverändert. Es ist durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu ermitteln und im Bundesanzeiger bekanntzugeben; die Beträge sind auf volle Euro aufzurunden. Abweichend von den Sätzen 1 bis 5 sind die Vergleichseinkommen der Tabellen 1 bis 4 der Bekanntmachung vom 14. Mai 1996 (BAnz. S. 6419) für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 durch Anpassung der dort veröffentlichten Werte mit dem Vomhundertsatz zu ermitteln, der in § 56 Absatz 1 Satz 1 bestimmt ist; Satz 6 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.
(6) Berufsschadensausgleich nach Absatz 3 letzter Satzteil ist der Nettobetrag des Vergleicheinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend.
(7) Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte die Regelaltersgrenze nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch erreicht, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen
- 1.
bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1 790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert, - 2.
bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1 380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert
(8) Das Nettoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit wird pauschal aus dem derzeitigen Bruttoeinkommen ermittelt, indem
- 1.
das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit um die in Absatz 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Vomhundertsätze gemindert wird, - 2.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte um den Vomhundertsatz gemindert werden, der für die Bemessung des Beitrags der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 des Elften Buches Sozialgesetzbuch) gilt, und um die Hälfte des Vomhundertsatzes des allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen (§ 241 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch); die zum 1. Januar festgestellten Beitragssätze gelten insoweit jeweils vom 1. Juli des laufenden Kalenderjahres bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres, - 3.
sonstige Geldleistungen von Leistungsträgern (§ 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) mit dem Nettobetrag berücksichtigt werden und - 4.
das übrige Bruttoeinkommen um die in Nummer 2 genannten Vomhundertsätze und zusätzlich um 19 vom Hundert des 562 Euro übersteigenden Betrages gemindert wird; Nummer 2 letzter Halbsatz gilt entsprechend.
(9) Berufsschadensausgleich nach Absatz 6 wird in den Fällen einer Rentenminderung im Sinne des Absatzes 4 Satz 3 nur gezahlt, wenn die Zeiten des Erwerbslebens, in denen das Erwerbseinkommen nicht schädigungsbedingt gemindert war, von einem gesetzlichen oder einem gleichwertigen Alterssicherungssystem erfaßt sind.
(10) Der Berufsschadensausgleich wird ausschließlich nach Absatz 6 berechnet, wenn der Antrag erstmalig nach dem 21. Dezember 2007 gestellt wird. Im Übrigen trifft die zuständige Behörde letztmalig zum Stichtag nach Satz 1 die Günstigkeitsfeststellung nach Absatz 3 und legt damit die für die Zukunft anzuwendende Berechnungsart fest.
(11) Wird durch nachträgliche schädigungsunabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt statt dessen als Einkommen das Grundgehalt der Besoldungsgruppe der Bundesbesoldungsordnung A, der der oder die Beschädigte ohne den Nachschaden zugeordnet würde; Arbeitslosigkeit oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gilt grundsätzlich nicht als Nachschaden. Tritt nach dem Nachschaden ein weiterer schädigungsbedingter Einkommensverlust ein, ist dieses Durchschnittseinkommen entsprechend zu mindern. Scheidet dagegen der oder die Beschädigte schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wird der Berufsschadensausgleich nach den Absätzen 3 bis 8 errechnet.
(12) Rentenberechtigte Beschädigte, die einen gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten oder Lebenspartners, einem Verwandten oder einem Stief- oder Pflegekind führen oder ohne die Schädigung zu führen hätten, erhalten als Berufsschadensausgleich einen Betrag in Höhe der Hälfte der wegen der Folgen der Schädigung notwendigen Mehraufwendungen bei der Führung des gemeinsamen Haushalts.
(13) Ist die Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erhöht worden, so ruht der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente nach § 31 Abs. 1 Satz 1 erzielten Mehrbetrags. Entsprechendes gilt, wenn die Grundrente nach § 31 Abs. 4 Satz 2 erhöht worden ist.
(14) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen:
- a)
welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist, - b)
wie der Einkommensverlust bei einer vor Abschluß der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung zu ermitteln ist, - c)
wie der Berufsschadensausgleich festzustellen ist, wenn der Beschädigte ohne die Schädigung neben einer beruflichen Tätigkeit weitere berufliche Tätigkeiten ausgeübt oder einen gemeinsamen Haushalt im Sinne des Absatzes 12 geführt hätte, - d)
was als derzeitiges Bruttoeinkommen oder als Durchschnittseinkommen im Sinne des Absatzes 11 und des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt und welche Einkünfte bei der Ermittlung des Einkommensverlustes nicht berücksichtigt werden, - e)
wie in besonderen Fällen das Nettoeinkommen abweichend von Absatz 8 Satz 1 Nr. 3 und 4 zu ermitteln ist.
(15) Ist vor dem 1. Juli 1989 bereits über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entschieden worden, so verbleibt es hinsichtlich der Frage, ob Absatz 4 Satz 1 oder 3 anzuwenden ist, bei der getroffenen Entscheidung.
(16) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln.
(1) Solange Beschädigte infolge der Schädigung hilflos sind, wird eine Pflegezulage von 376 Euro (Stufe I) monatlich gezahlt. Hilflos im Sinne des Satzes 1 sind Beschädigte, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung zu den in Satz 2 genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muß, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Ist die Gesundheitsstörung so schwer, daß sie dauerndes Krankenlager oder dauernd außergewöhnliche Pflege erfordert, so ist die Pflegezulage je nach Lage des Falles unter Berücksichtigung des Umfangs der notwendigen Pflege auf 642, 916, 1 174, 1 524 oder 1 876 Euro (Stufen II, III, IV, V und VI) zu erhöhen. Für die Ermittlung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage sind die in der Verordnung zu § 30 Abs. 17 aufgestellten Grundsätze maßgebend. Blinde erhalten mindestens die Pflegezulage nach Stufe III. Hirnbeschädigte mit einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 erhalten eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I.
(2) Wird fremde Hilfe im Sinne des Absatzes 1 von Dritten aufgrund eines Arbeitsvertrages geleistet und übersteigen die dafür aufzuwendenden angemessenen Kosten den Betrag der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wird die Pflegezulage um den übersteigenden Betrag erhöht. Leben Beschädigte mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft, ist die Pflegezulage so zu erhöhen, dass sie nur ein Viertel der von ihnen aufzuwendenden angemessenen Kosten aus der pauschalen Pflegezulage zu zahlen haben und ihnen mindestens die Hälfte der pauschalen Pflegezulage verbleibt. In Ausnahmefällen kann der verbleibende Anteil bis zum vollen Betrag der pauschalen Pflegezulage erhöht werden, wenn Ehegatten, Lebenspartner oder ein Elternteil von Pflegezulageempfängern mindestens der Stufe V neben den Dritten in außergewöhnlichem Umfang zusätzliche Hilfe leisten. Entstehen vorübergehend Kosten für fremde Hilfe, insbesondere infolge Krankheit der Pflegeperson, ist die Pflegezulage für jeweils höchstens sechs Wochen über Satz 2 hinaus so zu erhöhen, dass den Beschädigten die pauschale Pflegezulage in derselben Höhe wie vor der vorübergehenden Entstehung der Kosten verbleibt. Die Sätze 2 und 3 gelten nicht, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder Elternteil nicht nur vorübergehend keine Pflegeleistungen erbringt; § 40a Abs. 3 Satz 3 gilt.
(3) Während einer stationären Behandlung wird die Pflegezulage nach den Absätzen 1 und 2 Empfängern von Pflegezulage nach den Stufen I und II bis zum Ende des ersten, den übrigen Empfängern von Pflegezulage bis zum Ablauf des zwölften auf die Aufnahme folgenden Kalendermonats weitergezahlt.
(4) Über den in Absatz 3 bestimmten Zeitpunkt hinaus wird die Pflegezulage während einer stationären Behandlung bis zum Ende des Kalendermonats vor der Entlassung nur weitergezahlt, soweit dies in den folgenden Sätzen bestimmt ist. Beschädigte erhalten ein Viertel der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder der Elternteil bis zum Beginn der stationären Behandlung zumindest einen Teil der Pflege wahrgenommen hat. Daneben wird die Pflegezulage in Höhe der Kosten weitergezahlt, die aufgrund eines Pflegevertrages entstehen, es sei denn, die Kosten hätten durch ein den Beschädigten bei Abwägung aller Umstände zuzumutendes Verhalten, insbesondere durch Kündigung des Pflegevertrages, vermieden werden können. Empfänger einer Pflegezulage mindestens nach Stufe III erhalten, soweit eine stärkere Beteiligung der schon bis zum Beginn der stationären Behandlung unentgeltlich tätigen Pflegeperson medizinisch erforderlich ist, abweichend von Satz 2 ausnahmsweise Pflegezulage bis zur vollen Höhe nach Absatz 1, in Fällen des Satzes 3 jedoch nicht über den nach Absatz 2 Satz 2 aus der pauschalen Pflegezulage verbleibenden Betrag hinaus.
(5) Tritt Hilflosigkeit im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 gleichzeitig mit der Notwendigkeit stationärer Behandlung oder während einer stationären Behandlung ein, besteht für die Zeit vor dem Kalendermonat der Entlassung kein Anspruch auf Pflegezulage. Für diese Zeit wird eine Pflegebeihilfe gezahlt, soweit dies in den folgenden Sätzen bestimmt ist. Beschädigte, die mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft leben, erhalten eine Pflegebeihilfe in Höhe eines Viertels der pauschalen Pflegezulage nach Stufe I. Soweit eine stärkere Beteiligung der Ehegatten, Lebenspartner oder eines Elternteils oder die Beteiligung einer Person, die den Beschädigten nahesteht, an der Pflege medizinisch erforderlich ist, kann in begründeten Ausnahmefällen eine Pflegebeihilfe bis zur Höhe der pauschalen Pflegezulage nach Stufe I gezahlt werden.
(6) Für Beschädigte, die infolge der Schädigung dauernder Pflege im Sinne des Absatzes 1 bedürfen, werden, wenn geeignete Pflege sonst nicht sichergestellt werden kann, die Kosten der nicht nur vorübergehenden Heimpflege, soweit sie Unterkunft, Verpflegung und Betreuung einschließlich notwendiger Pflege umfassen, unter Anrechnung auf die Versorgungsbezüge übernommen. Jedoch ist den Beschädigten von ihren Versorgungsbezügen zur Bestreitung der sonstigen Bedürfnisse ein Betrag in Höhe der Beschädigtengrundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 und den Angehörigen ein Betrag mindestens in Höhe der Hinterbliebenenbezüge zu belassen, die ihnen zustehen würden, wenn Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben wären. Bei der Berechnung der Bezüge der Angehörigen ist auch das Einkommen der Beschädigten zu berücksichtigen, soweit es nicht ausnahmsweise für andere Zwecke, insbesondere die Erfüllung anderer Unterhaltspflichten, einzusetzen ist.
Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.
Tenor
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. August 2009 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Schwerbehindertenrecht.
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Wegen eines juxtakortikalen Chondrosarkoms (bösartiger Knochentumor) im Bereich des linken Schulterblattes bei familiärer Osteochondromatose wurde am 23.9.2002 bei dem 1960 geborenen Kläger eine subtotale Schulterblattentfernung links durchgeführt.
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Auf seinen im September 2002 angebrachten Antrag stellte das Amt für Familie und Soziales Leipzig durch Bescheid vom 2.6.2003 wegen "Erkrankung des Schulterblattes links (in Heilungsbewährung), Teilverlust des Schulterblattes links, Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes links" einen GdB von 50 fest. Den Widerspruch des Klägers wies das Sächsische Landesamt für Familie und Soziales (Landesversorgungsamt) durch Widerspruchsbescheid vom 8.9.2003 zurück. Nach Überprüfung aufgrund gerichtlichen Vergleichs (Sozialgericht
Leipzig - S 2 SB 277/03) stellte die ehemalige sächsische Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 30.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.3.2005 fest, dass der GdB weiter 50 betrage.
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Nach Beweiserhebung hat das vom Kläger angerufene SG Leipzig die auf Feststellung des GdB mit 80 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 24.7.2007). Zur Überzeugung des Gerichts sei das Chondrosarkom des Schulterblattes im Frühstadium entfernt worden, so dass nach Nr 26.1 Abs 3 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) ein GdB von 50 angemessen sei. Die beim Kläger verbliebenen Organ- und Gliedmaßenschäden seien nicht mit einem GdB von mehr als 50 zu bewerten, so dass der Gesamt-GdB ebenfalls 50 betrage.
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Während des vom Kläger geführten Berufungsverfahrens ist die beklagte Stadt Leipzig an die Stelle des Freistaates Sachsen getreten. Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat den bereits erstinstanzlich als Sachverständigen gehörten Unfallchirurgen Prof. Dr. J. ergänzend befragt sowie ein weiteres Sachverständigengutachten von dem Orthopäden Prof. Dr. W. beigezogen. Prof. Dr. J. ist in seiner Stellungnahme vom 10.11.2008 bei seiner im Gutachten vom 14.10.2006 vertretenen Auffassung verblieben, dass die generalisierten funktionellen Defizite des Klägers die Einschätzung eines GdB von 60 rechtfertigten. Prof. Dr. W. hat in seinem Gutachten vom 2.12.2008 die Zuerkennung eines Gesamt-GdB von 70 für gerechtfertigt gehalten.
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Durch Urteil vom 26.8.2009 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Richtiger Klagegegner sei die Stadt Leipzig. Der Freistaat Sachsen sei aufgrund einer Zuständigkeitsänderung durch sächsische Landesgesetze zum 1.8.2008 kraft Gesetzes aus dem Verfahren ausgeschieden und durch die Beklagte ersetzt worden. Diese landesgesetzlichen Bestimmungen stünden mit höherrangigem Recht in Einklang.
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Der Bescheid vom 2.6.2003 und der Bescheid vom 30.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.3.2005 seien rechtmäßig. Die vorliegende Osteochondromatose könne nicht mit einem alle betroffenen Körperteile abdeckenden GdB bewertet werden. Sie sei in den AHP nicht aufgeführt und auch nicht mit einer Gelenkerkrankung des rheumatisch entzündlichen Formenkreises vergleichbar. Die sich daraus ergebenden Funktionsstörungen seien daher einzeln zu bewerten. Es ergäben sich Einzel-GdB von jeweils 10 für die leichte Funktionsstörung im Bereich des linken Hüftgelenks, das leichte Funktionsdefizit in den oberen Sprunggelenken, die mittelschweren Funktionsdefizite beider Handgelenke und Unterarme sowie ein Teil-GdB von 20 für die schwere Funktionsstörung im Bereich des linken Schultergelenks. Der Zustand nach Entfernung des Chondrosarkoms des Schulterblattes links sei, wie es auch das SG zutreffend angenommen habe, mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten, weil die Entfernung im Frühstadium erfolgt sei. Nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (Anl VersMedV) sei der GdB für das Chondrosarkom von 50 nicht entsprechend höher zu bewerten, da weder der verbliebene Körperschaden bzw Organ- oder Gliedmaßenschaden noch außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB von 50 oder mehr bedingten. Bis zum Ablauf der Heilungsbewährung - in der Regel bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Geschwulstbeseitigung - sei beim Kläger somit ein GdB von 50 festzustellen. Prof. Dr. J. habe die Einzel-GdB zu einem Gesamt-GdB von 60 addiert, was unzulässig sei. Prof. Dr. W. habe bei seiner Gesamt-GdB-Bildung nicht die Maßgabe nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV beachtet.
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Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision macht der Kläger eine Verletzung des § 69 Abs 1 SGB IX iVm den AHP und der Anl VersMedV geltend. Das angefochtene Urteil weiche zur Bildung des Gesamt-GdB insbesondere von dem Urteil des BSG vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - ab. Zudem habe das LSG den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Insbesondere zur Frage, ob der Tumor im Frühstadium oder in einem anderen Stadium entfernt worden sei, habe das LSG seinen Sachvortrag nicht zur Kenntnis genommen. Ebenfalls habe das LSG den Sachverhalt hinsichtlich der von ihm - dem Kläger - behaupteten Vererblichkeit seiner Erkrankung nicht hinreichend aufgeklärt. Zudem habe das LSG den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt, indem es überraschend und ohne eigene Sachkunde keinem der beiden vorinstanzlich gehörten ärztlichen Fachgutachter gefolgt sei. Schließlich habe das LSG gegen § 62 SGG auch dadurch verstoßen, dass es dem Sachverständigen Prof. Dr. Wirth höhere Sachkunde zugesprochen habe als Prof. Dr. J. Hierzu habe er - der Kläger - sich nicht äußern können.
- 9
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. August 2009 und das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 24. Juli 2007 sowie die Bescheide des Amtes für Familie und Soziales Leipzig vom 2. Juni 2003 und 30. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 30. Mai 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm ab 6. September 2002 einen höheren GdB als 50 festzustellen.
- 10
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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 11
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
- 12
-
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
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Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
- 14
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Im Laufe des Berufungsverfahrens ist auf Beklagtenseite kraft Gesetzes ein Beteiligtenwechsel erfolgt (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4; BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6, RdNr 13 f; BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 20). Zum 1.8.2008 ist die Stadt Leipzig an die Stelle des Freistaates Sachsen getreten, weil von diesem Zeitpunkt an die bis dahin von den Ämtern für Familie und Soziales des Landes wahrgenommenen Aufgaben des Schwerbehindertenrechts nach dem SGB IX auf die Landkreise und kreisfreien Städte übertragen worden sind. Dies geschah durch Art 44 Nr 5 Gesetz zur Neuordnung der Sächsischen Verwaltung vom 29.1.2008 (Sächsisches GVBl 138) und ergänzender landesrechtlicher Regelungen, deren Inhalt als Landesrecht das LSG für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat (§ 202 SGG iVm § 560 ZPO; s Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 162 RdNr 7). Einwendungen gegen diese Feststellungen des Inhalts des Sächsischen Landesrechtes sind nicht erhoben worden.
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Diese durch das Sächsische Landesgesetz erfolgte Zuständigkeitsänderung ist mit revisiblem Recht (vgl § 162 SGG) vereinbar. Sie ist rechtswirksam erfolgt. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu der dem erwähnten sächsischem Landesrecht ähnlichen Zuständigkeitsveränderung in Nordrhein-Westfalen verstößt die Übertragung der Aufgaben des Schwerbehindertenrechts auf die Kreise und kreisfreien Städte nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des Grundgesetzes (Urteile vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - juris und - B 9 SB 3/08 R - juris, Urteil vom 29.4.2010 - B 9 SB 1/10 R - juris; zur Übertragung der Aufgaben des Sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung und der Opferentschädigung auf die Kommunalen Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen s Urteile vom 11.12.2008 - B 9 V 3/07 R - SGb 2009, 95 und - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1). Die für die Verwaltungsreform in Nordrhein-Westfalen geltende Rechtslage muss in gleicher Weise für die ebenfalls durch formelles Landesgesetz erfolgte Zuständigkeitsänderung in Sachsen gelten. Gegenteilige rechtliche Bedenken sind nicht ersichtlich und auch vom Kläger nicht vorgebracht worden.
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Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ab Antragstellung im September 2002. Darüber ist in den angefochtenen Bescheiden vom 2.6.2003 und 30.1.2004 ablehnend entschieden, denn darin ist für den Kläger lediglich ein GdB von 50 festgestellt worden. Weitere Bescheide, insbesondere für die Zeit nach Ablauf der Heilungsbewährung sind nicht ergangen.
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Ob der Kläger, wie das LSG entschieden hat, nur Anspruch auf die bereits erfolgte Feststellung eines GdB von 50 oder, wie der Kläger geltend macht, Anspruch auf Feststellung eines darüber hinausgehenden GdB hat, kann der Senat auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG (s § 163 SGG) noch nicht abschließend entscheiden.
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Rechtsgrundlage für einen möglichen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ist § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I 1046), für die Zeit ab 1.5.2004 idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606; aF) sowie - für die Zeit ab 21.12.2007 - idF des Gesetzes vom 13.12.2007 (BGBl I 2904; nF). Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX (aller Fassungen) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX (aller Fassungen) die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX (aller Fassungen) nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
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Gemäß § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX in den bis zum 20.12.2007 maßgeblichen Fassungen (aF) gelten bei der Feststellung der Behinderung (des GdB) die Maßstäbe des § 30 Abs 1 BVG entsprechend(BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 bis 21 mwN). Durch diesen Verweis stellt § 69 SGB IX auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, dessen Ausgangspunkt die "Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äußerer Körperschäden iS der Nr 5 Allgemeine Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG sind. Von diesen Mindestvomhundertsätzen leiten sich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der AHP ab. In § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX in der ab 21.12.2007 geltenden Fassung (nF) wird zusätzlich auf die auf Grund des § 30 Abs 17 BVG mit Wirkung ab 1.1.2009 erlassene Rechtsverordnung Bezug genommen. Anzuwenden sind vorliegend für die Zeit ab Antragstellung im September 2002 bis zum Ende des Jahres 2008 die AHP 1996, 2004, 2005 und 2008. Für die Zeit ab 1.1.2009 ist die Anl VersMedV Grundlage für die Feststellung des GdB. Aus diesem Wechsel ergeben sich hier keine inhaltlichen Abweichungen, da der Wortlaut der maßgebenden Abschnitte der AHP und der Anl VersMedV ("Versorgungsmedizinische Grundsätze") identisch ist.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass die AHP grundsätzlich den Maßstab angeben, nach dem der GdB einzuschätzen ist (BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Bei den AHP handelt es sich um antizipierte Sachverständigengutachten, die im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten sind (zum Ganzen s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Entsprechendes gilt für die seit dem 1.1.2009 in Kraft befindliche VersMedV als verbindliche Rechtsquelle. Zweifel am Inhalt der AHP oder der Anl VersMedV, der durch besondere, vor allem medizinische Sachkunde bestimmt ist, sind vorzugsweise durch Nachfrage bei dem verantwortlichen Urheber, hier also beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin bzw bei dem für diesen geschäftsführend tätigen BMAS (§ 3 VersMedV) zu klären (vgl dazu BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 6/06 R - juris RdNr 21). Im Übrigen sind AHP und VersMedV auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen(BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R -, SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Dabei sind sie im Lichte des § 69 SGB IX auszulegen. Bei nach entsprechender Auslegung verbleibenden Verstößen gegen § 69 SGB IX sind diese Rechtsquellen nicht anzuwenden(BSG Urteil vom 23.4.2009, aaO).
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Bei der Feststellung des (Gesamt)-GdB ist das seit jeher im Schwerbehindertenrecht geltende Finalitätsprinzip (zum Rechtszustand nach dem Schwerbehindertengesetz s BSG SozR 3870 § 57 Nr 1 S 5; s auch Teil A Nr 2.a Satz 1 Anl VersMedV) zu beachten, das sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs 1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX festgeschrieben worden ist. Danach sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrem Entstehungsgrund zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (BSG Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a SB 4/07 R - zum Begriff der sog Organkomplikationen unter Hinweis auf Knickrehm, SGb 2008, 220, 221; s auch Nr 18 Abs 1 AHP/Teil A Nr 2.a Anl VersMedV). Das BSG (aaO) hat dargelegt, dass möglicherweise durch eine Haupterkrankung (dort: Diabetes Mellitus) hervorgerufene Gesundheitsstörungen (dort: zB Netzhautveränderungen etc) wie von der Haupterkrankung unabhängig entstandene Gesundheitsstörungen zu behandeln sind und in ihren Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit unabhängig von dem für die Haupterkrankung festzustellenden Einzel-GdB separat zu berücksichtigen sind. Entsprechend hat das BSG im Falle der durch die Haupterkrankung (Schilddrüsenentfernung wegen Karzinom) hervorgerufenen Verletzung eines Stimmbandnervs entschieden (BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10). Danach begegnet es durchgreifenden Bedenken, mit der GdB-Bewertung eines Zustands nach Tumorentfernung während der Heilungsbewährung auch abgrenzbare und nennenswerte Schäden an anderen Organen zu erfassen, die nicht immer mit einer derartigen Behandlung verbunden sind.
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Gemäß Nr 26.1 Abs 3 AHP und Teil B Nr 1.c Anl VersMedV ist nach Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum der Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre, und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten im Folgenden angegebenen GdB/MdE/GdS-Anhaltswerte sind auf den "Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein". "Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - zB langdauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen". Ferner bestimmt Nr 26.1 Abs 3 AHP/Teil B Nr 1.c Anl VersMedV, dass, sofern bis zum Ablauf der Heilungsbewährung der GdB während dieser Zeit 50 beträgt, der GdB entsprechend höher zu bewerten ist, wenn der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden und/oder außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB von 50 oder mehr bedingen.
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Wie der Begriff des Organschadens zu verstehen ist, ist in den AHP und der Anl VersMedV nicht näher geregelt. Der erkennende Senat hat dazu mehrere Möglichkeiten aufgezeigt (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 28). Jedenfalls aber darf die Einschätzung des Gesamt-GdB nicht unterschiedlich ausfallen in Fällen, in denen der Organschaden schon vor der Krebsoperation vorhanden war, und Fällen, in denen er erst mit oder nach der Operation aufgetreten ist (BSG aaO, RdNr 30, 31). Soweit Nr 26.1 Abs 3 letzter Satz AHP und Teil B Nr 1.c letzter Satz Anl VersMedV bestimmen, dass der wegen Heilungsbewährung anzunehmende GdB erhöht werden muss ("ist … höher zu bewerten"), wenn der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden (Körperschaden) - für sich allein - einen GdB von 50 oder mehr bedingt, kann sich diese Regelung mithin nur auf den von der Geschwulsterkrankung betroffenen Körperteil und die mit der Tumorentfernung typischerweise verbundenen Schäden beziehen. Ob die festgelegte Grenze eines GdB von 50 für derartige verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschäden zu hoch angesetzt ist, muss hier nicht erörtert werden; denn die schwere Funktionsstörung des linken Schultergelenks, die neben dem Teilverlust des linken Schulterblatts als vom GdB des Zustands nach Tumorentfernung miterfasst angesehen werden könnte, bedingt nach den bisherigen Feststellungen des LSG nur einen GdB von 20.
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Die Feststellung des GdB ist tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10; zur Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung als Tatsachenfeststellung s zuletzt BSG SozR 4-2700 § 56 Nr 2 RdNr 10 mwN) und kann im Revisionsverfahren nur durch entsprechende Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl § 163 SGG). Sie ist jedoch in den dargestellten rechtlichen Rahmen eingebettet, den Verwaltung und Tatsachengerichte zwingend zu beachten haben. Entsprechende Rechtsverstöße durch das Tatsachengericht sind vom Revisionsgericht zu beanstanden (§ 162 SGG).
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Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s § 2 Abs 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese - soweit möglich - den in den AHP/der Anl VersMedV genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl Nr 19 Abs 3 AHP/Teil A Nr 3.c Anl VersMedV) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der AHP/Anl VersMedV feste GdB/MdE-Werte bzw feste GdS-Werte angegeben sind (vgl Nr 19 Abs 2 AHP/Teil A Nr 3.b Anl VersMedV).
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Ausgehend von diesen rechtlichen Rahmenbedingungen hat das LSG im ersten Verfahrensschritt Feststellungen über die beim Kläger bestehenden, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen getroffen, die für das Revisionsgericht bindend sind, zumal sie vom Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind (§ 163 SGG). Danach liegen ein Zustand nach Entfernung eines Chondrosarkoms mit Teilentfernung des linken Schulterblattes und schwerer Funktionsstörung im Bereich des linken Schultergelenks sowie - im Wesentlichen auf der Grundlage einer familiären Osteochondromatose - Funktionsstörungen im Bereich des linken Hüftgelenks und der oberen Sprunggelenke, mittelschwere Funktionsdefizite beider Handgelenke und Unterarme vor. Soweit sich der Kläger gegen die Feststellung des LSG wendet, das Chondrosarkom sei im Frühstadium entfernt worden, betrifft sein Vorbringen weniger den gegenwärtigen Gesundheitszustand, sondern vielmehr ein Merkmal, das nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV für die pauschale GdB-Bemessung während der Heilungsbewährung von Bedeutung ist.
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Der Senat lässt es dahinstehen, inwiefern die vom LSG im zweiten Verfahrensschritt vorgenommenen Feststellungen über die Zuordnung der Gesundheitsstörungen zu in den AHP und der Anl VersMedV aufgeführten Funktionssystemen und deren Bewertung mit jeweils einem Einzel-GdB bindend sind. Insbesondere bleibt offen, ob die vom LSG auf Nr 26.1 Abs 3 AHP und Teil B Nr 1.c Anl VersMedV gestützte Bewertung des Einzel-GdB für den Zustand nach Entfernung des Chondrosarkoms insoweit auf einer das BSG bindenden Tatsachenfeststellung beruht, als das LSG angenommen hat, die Entfernung sei im Frühstadium erfolgt. Denn selbst wenn die Bewertung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung mit 50 im Ansatz zutreffend sein sollte, begegnet das weitere Vorgehen des LSG durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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Das LSG hat die Regelung der Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV unrichtig angewendet. Es hat bereits verkannt, dass diese Bestimmungen nur die Ermittlung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung während der Heilungsbewährung und nicht die Bemessung des Gesamt-GdB betreffen. Es hätte zudem nicht alle mit der familiären Osteochondromatose des Klägers zusammenhängenden Funktionsstörungen in die Bemessung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung einbeziehen, sondern insoweit nur die unmittelbar damit verbundenen Schäden berücksichtigen dürfen. Wäre danach der Einzel-GdB von 50 nicht zu erhöhen gewesen, so hätten die übrigen Gesundheitsstörungen (insbesondere im Bereich der Hände, Unterarme, Hüft- und Sprunggelenke) in einem dritten Verfahrensabschnitt in die Bildung des Gesamt-GdB einbezogen werden müssen.
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Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Vorgehensweise zu einem höheren Gesamt-GdB als 50 hätte führen können. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die betreffenden Funktionsstörungen nach den Feststellungen des LSG jeweils nur einen GdB von 10 bedingen.
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Nach Nr 19 Abs 4 AHP und Teil A Nr 3.d.ee Anl VersMedV führen, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Ein derartiger Ausnahmefall könnte hier vorliegen. Die vom LSG festgestellten Beweglichkeitseinschränkungen am linken Hüftgelenk, den Handgelenken und Unterarmen sowie den oberen Sprunggelenken sind offenbar einer sog Systemerkrankung - nämlich einer familiären Osteochondromatose - zuzuordnen. Dadurch könnten die Auswirkungen der einzelnen Erscheinungen insgesamt ein stärkeres Gewicht erhalten. Hinzu könnten besondere seelische Begleiterscheinungen kommen, die sich aus der Vererblichkeit dieser Erkrankung ergeben.
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Sollte der Kläger - wie seinem Vorbringen entnommen werden könnte - darüber hinaus an einer psychischen Erkrankung leiden, wäre diese mit einem Einzel-GdB zu bewerten und bei der Bildung des Gesamt-GdB gesondert zu berücksichtigen.
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Nach alledem fehlen weitere tatrichterliche Feststellungen, die das BSG im Revisionsverfahren nicht nachholen kann. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
- 33
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Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG erneut zu prüfen und festzustellen haben, ob sich das Chondrosarkom des linken Schulterblattes bei seiner Entfernung tatsächlich erst im Frühstadium oder - wie der Kläger geltend macht - in einem fortgeschrittenen Stadium befunden hat. Letzteres würde nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV während der Heilungsbewährung zu einem höheren Einzel-GdB führen.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Tenor
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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Dezember 2014 wird als unzulässig verworfen.
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Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
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I. Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt (Bescheid vom 11.12.2008).
- 2
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Ihren Antrag auf Höherbewertung des GdB lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 18.11.2010, Widerspruchsbescheid vom 15.12.2011). Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben. Mit Urteil vom 18.12.2014 hat das LSG einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines höheren GdB von mindestens 50 verneint. Die Höhe des Gesamt-GdB habe sich seit der letzten maßgeblichen Feststellung durch den Bescheid vom 11.12.2008 nicht wesentlich geändert. Die Bewertungen der Teil-GdB für einzelne Funktionssysteme durch das SG und die Beklagte seien eher zu hoch ausgefallen.
- 3
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt, weil das LSG von der Rechtsprechung des BSG zur Abschmelzung überhöhter GdB abgewichen sei.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil sie den allein behaupteten Zulassungsgrund der Divergenz nicht ordnungsgemäß dargelegt hat (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
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Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 mwN).
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Die Klägerin hat bereits keinen tragenden abstrakten Rechtssatz des LSG herausgestellt, mit dem dieses der Rechtsprechung des BSG widersprochen habe. Sie macht geltend, das Berufungsgericht habe das Urteil des BSG vom 17.4.2013 (B 9 SB 6/12 R - SozR 4-1300 § 48 Nr 26) verkannt. Danach habe dem bei einem durch die Verwaltungsbehörde überhöht festgestellten GdB diese selbst per Verwaltungsakt über die Abschmelzung zu entscheiden. Mit diesem Vorbringen ist eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG nicht dargetan. Wer eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG geltend macht, muss darlegen, dass das LSG im angefochtenen Urteil nicht lediglich die Tragweite der höchstrichterlichen Rechtsprechung verkennt, sondern dieser Rechtsprechung bewusst einen eigenen Rechtssatz entgegensetzt(vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 73 mwN). An dieser Darlegung fehlt es hier. Den von der Beschwerde behaupteten Rechtssatz des LSG konnte sie nicht aus den Urteilsgründen zitieren, weil er dort nicht steht. Eine bewusste Abweichung des LSG von einem Rechtssatz des BSG hat sie damit nicht dargelegt.
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Ohnehin verkennt die Beschwerde den Inhalt des angegriffenen Urteils. Das LSG ist nicht von einer überhöhten, sondern von einer im Ergebnis nach wie vor zutreffenden Festsetzung des Gesamt-GdB der Klägerin von 30 durch die Beklagte ausgegangen. Das LSG hat lediglich wie der Beklagte eine Höherbewertung abgelehnt, weil sich der Gesamt-GdB durch neu hinzugetretene Funktionsbeeinträchtigungen nicht geändert habe. Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form ein überhöhter GdB nach § 48 Abs 3 SGB X abgeschmolzen werden kann (vgl BSG SozR 4-1300 § 48 Nr 26) stellte sich für das LSG von seinem rechtlichen Ausgangspunkt her nicht.
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Soweit die Beschwerde auf eine teilweise abweichende Einschätzung einzelner Funktionsbeeinträchtigungen hinweist, die der Beklagte und das LSG zugrunde gelegt haben, so übersieht sie Folgendes: Maßgeblicher Regelungsinhalt eines Feststellungsbescheids über das Vorliegen und den Grad einer Behinderung bildet nicht die Frage, wie einzelne Funktionsbeeinträchtigungen für sich genommen zu bewerten sind, sondern welche Folgen sich aus ihrem Zusammenwirken für die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben der Gesellschaft insgesamt ergeben, § 69 Abs 1 S 1 und S 4 und Abs 3 SGB IX. Das Schwerbehindertenrecht kennt nur einen Gesamtzustand der Behinderung, den gegebenenfalls mehrere Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit bestimmen (vgl BSGE 82, 176 = SozR 3-3870 § 4 Nr 24). So genannte Einzel-GdB, die den Grad der Behinderung separat für eine einzelne Erkrankung bzw Funktionseinschränkung im Bescheid ausweisen, sind nur Begründungselemente (§ 35 SGB X) des Gesamt-GdB; nur letzterer steht im Verfügungssatz des Bescheids und hat Feststellungswirkung (Oppermann in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 69 SGB IX RdNr 10). Nach alldem hat das LSG daher die bisherige Feststellung eines (Gesamt-)GdB von 30 durch den Beklagten gerade nicht als rechtswidrig überhöht angesehen und abgeschmolzen, sondern im Ergebnis, wenn auch nicht in jedem Begründungselement, bestätigt.
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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
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Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
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Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Tenor
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Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 15. November 2012 wird zurückgewiesen.
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Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
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Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei dem Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 festzustellen ist.
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Der 1968 geborene Kläger beantragte wegen eines insulinpflichtigen Diabetes Mellitus Typ 1 am 4.10.2001 erstmalig die Feststellung einer Behinderung. Daraufhin stellte das beklagte Land bei ihm wegen dieses Leidens einen GdB von 40 fest (Bescheid vom 23.11.2001). Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 24.9.2002; Urteil des SG vom 12.2.2004). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es angeführt, der Kläger sei durch sein einziges Leiden (Diabetes mellitus) nicht gravierend in seiner gesamten Lebensführung beeinträchtigt. Erhebliche Einschränkungen seien nur hinsichtlich der Berufsausübung festzustellen. Insoweit sei zwar der Kernbereich der Erfüllung der dem Kläger obliegenden Pflichten betroffen; er habe aber seine Tätigkeit nicht aufgeben müssen, sondern könne ihr unter modifizierten Bedingungen nachgehen. In allen anderen Lebensbereichen seien keine gravierenden Einschränkungen gegeben. Der insoweit festzustellende erhöhte Planungs- und Organisationsaufwand bei zahlreichen Freizeitaktivitäten beruhe auf den täglich mindestens vier Insulininjektionen (mit jeweils selbständiger Dosisanpassung). Selbst gravierende Beeinträchtigungen in einem Lebensbereich seien nicht geeignet, eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung im gesamten gesellschaftlichen Leben hervorzurufen. Schließlich werde der Kläger nicht zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität eingeschränkt (Urteil vom 15.11.2012).
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Mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe die Anforderungen an die Bejahung einer gravierenden Beeinträchtigung der Lebensführung überspannt, indem es hierfür erhebliche Einschnitte in mehreren Lebensbereichen verlange. Hinzu komme, dass das LSG weitere Einschränkungen zwar zutreffend festgestellt, aber nicht hinreichend gewürdigt habe.
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Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 15.11.2012 und des Sozialgerichts Magdeburg vom 12.2.2004 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 23.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.9.2002 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei dem Kläger für die Zeit ab dem 4.10.2001 einen GdB von mindestens 50 festzustellen.
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Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Revision zurückzuweisen.
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Er hält das Urteil des LSG für zutreffend und stützt sich dabei auf die bisherige Senatsrechtsprechung.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).
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1. Der Kläger erstrebt mit seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 SGG - siehe zur statthaften Klageart zuletzt BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 24 mwN) die Verpflichtung des beklagten Landes, unter Abänderung des Bescheids vom 23.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.9.2002 (§ 95 SGG) mit Wirkung ab dem 4.10.2001 den GdB mit mindestens 50 festzustellen. Da es sich nicht um einen punktuellen oder nur auf die Zukunft bezogenen Streitgegenstand handelt, kommt es - entgegen dem insoweit zu engen Obersatz des LSG - maßgebend auf die Sach- und Rechtslage im gesamten Zeitraum vom 4.10.2001 bis zum 15.11.2012 (Tag der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz) an.
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2. Die Revision ist nicht erfolgreich, da der Kläger für diesen Zeitraum keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines höheren GdB als 40 hat. Der angefochtene Bescheid des beklagten Landes vom 23.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.9.2002 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
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a) Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB für die Zeit ab 4.10.2001 ist § 69 Abs 1 und 3 SGB IX idF vom 19.6.2001 (BGBl I 1046), für die Zeit ab 1.5.2004 idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606), für die Zeit ab 21.12.2007 idF des Gesetzes vom 13.12.2007 (BGBl I 2904) und für die Zeit ab 1.7.2011 idF des Gesetzes vom 20.6.2011 (BGBl I 1114). Nach § 69 Abs 1 S 1 SGB IX (in den genannten Fassungen) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB in einem besonderen Verfahren fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 S 3(bzw idF seit 1.5.2004: S 4) SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß § 69 Abs 1 S 4(bzw idF seit 1.5.2004: S 5) SGB IX aF galten bis zum 20.12.2007 (nur) die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend. Durch diesen Verweis stellte § 69 SGB IX aF auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, dessen Kern die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) waren. Gemäß § 69 Abs 1 S 5 SGB IX wird seit dem 21.12.2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs 17(bzw Abs 16) BVG erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1 und des § 35 Abs 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung
) Bezug genommen, sodass seit 1.1.2009 die VersMedV vom 10.12.2008 (BGBl I 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 11.10.2012 (BGBl I 2122), anstelle der AHP Grundlage für die Feststellung des GdB ist (vgl auch BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 f). Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (AnlVersMedV) erlassen worden, in denen ua die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) iS des § 30 Abs 1 BVG festgelegt worden sind. Diese sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend, weil beide Begriffe - insoweit übereinstimmend - ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens bilden (vgl Teil A Nr 2 AnlVersMedV). Die AHP und die zum 1.1.2009 in Kraft getretene AnlVersMedV stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (stRspr: zuletzt BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 28; vgl ferner etwa Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die GdB-Bewertung auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstands anderer Wissenszweige zu entwickeln (vgl BSG aaO RdNr 28; BSG Urteil vom 29.8.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSGE 67, 204, 208 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 1 S 5 f).
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Die Bemessung des GdB ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl Urteil vom 29.11.1956 - 2 RU 121/56 - BSGE 4, 147, 149 f; Urteil vom 9.10.1987 - 9a RVs 5/86 - BSGE 62, 209, 212 f = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 23 mwN). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom Tatsachengericht die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets §§ 2 Abs 1, 69 Abs 1, 3 SGB IX(vgl BSG aaO RdNr 16 bis 21 mwN); maßgebend sind danach die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (zuletzt BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 30 mwN).
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b) Der Senat hat sich in den letzten Jahren bereits in etlichen Revisionsurteilen zur GdB-Festsetzung bei Diabetes mellitus geäußert. Aufgrund dieser gefestigten Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, sind die sich in diesem Zusammenhang stellenden Rechtsfragen weitestgehend geklärt (kurz zusammengefasst im Senatsurteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 31).
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Formal betrachtet sind nach dem oben Gesagten für die Zeit ab Stellung des Feststellungsantrags durch den Kläger am 4.10.2001 zunächst bis zum Ende des Jahres 2008 die AHP (Ausgaben 1996, 2004, 2005 und 2008) und für die Zeit ab dem 1.1.2009 die VersMedV idF vom 10.12.2008 bzw der fünf seitdem erlassenen Änderungsverordnungen heranzuziehen. Der Senat hat jedoch bereits entschieden, dass diese Vorschriften teilweise nicht zur GdB-Bewertung bei Diabetes mellitus geeignet, teilweise sogar wegen Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht nichtig sind (Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - Juris RdNr 25 ff mwN). Insoweit kann letztlich - wie im Urteil des LSG geschehen - für den gesamten Streitzeitraum auf die Neufassung der Vorschrift Teil B Nr 15.1 AnlVersMedV vom 14.7.2010 zurückgegriffen werden (so schon Senatsurteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 32 mwN). Für die Zeit ab dem 22.7.2010 ist diese Regelung ohnehin unmittelbar zur GdB-Bewertung bei Diabetes mellitus anwendbar. Der Senat hat nach wie vor keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Bestimmungen nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen könnten (siehe schon BSG aaO RdNr 35 mwN).
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Die danach allein maßgebende Rechtsgrundlage hat folgenden Wortlaut:
15.1 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus).
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50.
Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.
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Was den entscheidungserheblichen Lebenssachverhalt angeht, bleibt es demgegenüber dabei, dass der tatsächliche Verlauf der Funktionsstörungen infolge des Diabetes mellitus im gesamten Zeitraum seit dem 4.10.2001 zu berücksichtigen ist. Denn die Verpflichtungsklage des Klägers ist nicht nur in die Zukunft gerichtet, sondern erstreckt sich auch auf die Feststellung eines (höheren) GdB für die Vergangenheit. Dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ist indes mit (noch) hinreichender Klarheit zu entnehmen, dass insofern keine wesentlichen Veränderungen eingetreten sind. Die tatsächlichen Feststellungen zu den eingetretenen Teilhabebeeinträchtigungen beziehen sich auf den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum.
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Für die hier streitige Feststellung eines GdB von (mindestens) 50 enthält Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV drei Beurteilungskriterien: täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte. Diese Kriterien sind nach Auffassung des Senats nicht jeweils gesondert für sich genommen starr anzuwenden; vielmehr sollen sie eine sachgerechte Beurteilung des Gesamtzustands erleichtern (so schon BSG Urteil vom 25.10.2012 - B 9 SB 2/12 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 16 RdNr 34).
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Das LSG hat die beiden erstgenannten, auf den Therapieaufwand bezogenen Beurteilungskriterien als erfüllt angesehen. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts einzuwenden.
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Zu Recht geht das Berufungsurteil weiter davon aus, dass dies allein nicht ausreicht, um den GdB mit (mindestens) 50 festzustellen. Vielmehr muss die betreffende Person durch Auswirkungen des Diabetes mellitus auch insgesamt gesehen erheblich in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sein. Der Senat hat bereits in mehreren Entscheidungen ausführlich dargelegt und begründet, dass und warum es sich hierbei trotz des insoweit missverständlichen Wortlauts des letzten Teilsatzes von Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV um eine zusätzlich zu erfüllende Anforderung handelt (zuletzt im Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 39 ff mwN; siehe auch Urteil vom 25.10.2012 - B 9 SB 2/12 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 16 RdNr 37 ff mit insoweit zustimmender Anm Wendtland, SGb 2013, 647, 653 f). Das kommt bereits durch die Verwendung des Wortes "und" deutlich zum Ausdruck. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber, der ausdrücklich an die vorausgegangene Senatsrechtsprechung angeknüpft hat (siehe BR-Drucks 285/10 S 3), davon ausgegangen ist, dass bei einem entsprechenden Therapieaufwand immer eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung vorliegt. Zudem ist für die Beurteilung des GdB bei Diabetes mellitus auch die jeweilige Stoffwechsellage bedeutsam (vgl Teil B Nr 15.1 Abs 3 AnlVersMedV; grundlegend BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 40). Der darin zum Ausdruck kommende Therapieerfolg kann aber nur im Rahmen der Prüfung des dritten Merkmals (gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung) berücksichtigt werden.
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Vor diesem Hintergrund hat das LSG ohne durchgreifenden Rechtsfehler verneint, dass der Kläger durch erhebliche Einschnitte gravierend in seiner Lebensführung beeinträchtigt ist. Bei der insoweit erforderlichen am Einzelfall orientierten Beurteilung, die alle die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinflussenden Umstände berücksichtigt, lässt sich bei dem Kläger auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die der Senat mangels entsprechender Verfahrensrügen gebunden ist (§ 163 SGG), keine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung konstatieren.
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Allerdings teilt der Senat nicht die Auffassung des LSG, eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung iS von Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV komme aus Rechtsgründen nur in Betracht, wenn die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führenden erheblichen Einschnitte mindestens zwei verschiedene Lebensbereiche betreffen. Dagegen spricht schon der Wortlaut der genannten Norm, der eine solche differenzierende Betrachtungsweise nicht nahelegt. Auch in der Begründung der Neufassung wird lediglich beispielhaft auf verschiedene Bereiche hingewiesen (Planung des Tagesablaufs, Gestaltung der Freizeit, Zubereitung der Mahlzeiten, Berufsausübung und Mobilität; vgl BR-Drucks 285/10 S 3). Schließlich gebietet auch die Vereinbarkeit der Regelung mit höherrangigem Recht ein weiteres Verständnis, das eine Gesamtbetrachtung der Teilhabebeeinträchtigung ermöglicht. Denn schon die gesetzliche Vorschrift, die die Maßstäbe für die Feststellung des GdB enthält (vgl den Verweis in § 69 Abs 1 S 5 SGB IX aF), gibt vor, dass die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen "in allen Lebensbereichen" zu ermitteln und zu berücksichtigen sind (§ 30 Abs 1 BVG). Auch der in § 2 Abs 1 S 1 SGB IX definierte Begriff der Behinderung setzt nur voraus, dass die "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" in irgendeiner Form beeinträchtigt ist - ohne dass nach einzelnen Bereichen differenziert würde. Dies entspricht der Finalität des modernen Behinderungsbegriffs (vgl dazu BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 20, 30 ff; Wendtland, SGb 2010, 373, 378). Schließlich hält der Senat den Lösungsansatz des LSG auch nicht für praktikabel, weil keine rechtlichen Maßstäbe für die Abgrenzung von "Lebensbereichen" existieren. Dem Gebot der Rechtssicherheit wäre nur Genüge getan, wenn sich nach abstrakten, vorhersehbaren Kriterien bestimmen ließe, ob etwa die oben aus der Verordnungsbegründung zitierten Aktivitäten jeweils eigene Lebensbereiche darstellen oder nicht. Dazu verhält sich das Berufungsurteil nicht; es stellt der Berufsausübung nur noch den Oberbegriff "Freizeit- bzw. Mobilitätsbereich" gegenüber.
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Bei der demnach anzustellenden Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche lässt sich eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung nur unter strengen Voraussetzungen bejahen (aA wohl Wendtland, SGb 2013, 647, 654). Das zeigt sich schon an der Formulierung der Vorschrift, die eine für einen Normtext seltene Häufung einschränkender Merkmale enthält (erheblich, gravierend, ausgeprägt). In diesem Zusammenhang hat der Beklagte zu Recht auf die Systematik der Regelung der Teil B Nr 15.1 AnlVersMedV hingewiesen, die diese Wortwahl erklärt. Dem Verordnungsgeber ging es ersichtlich darum, mit jedem Absatz eine Steigerung der Anforderungen zu verdeutlichen (der auf der Rechtsfolgenseite jeweils ein höherer GdB gegenübersteht). Weiterhin lässt sich aus dem oben dargestellten Zusammenspiel der drei Beurteilungskriterien der Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV ableiten, dass die mit der dort vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte nicht geeignet sind, eine zusätzliche ("und") gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. Berücksichtigungsfähig ist daher nur ein dieses hohe Maß noch übersteigender, besonderer Therapieaufwand. Daneben kann - wie oben ausgeführt - ein unzureichender Therapieerfolg die Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung rechtfertigen. Schließlich sind auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten.
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Gemessen an diesen Kriterien ist das Berufungsurteil im Ergebnis nicht zu beanstanden. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG muss der Kläger bis zu sechs Insulininjektionen am Tag vornehmen und dabei - nach entsprechender Blutzuckermessung - auch die jeweilige Dosis anpassen. Unbeschadet des damit verbundenen, die Lebensführung einschränkenden Therapieaufwands wird der Kläger nicht noch zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität in seiner Leistungsfähigkeit und damit in seiner Teilhabefähigkeit am Leben in der Gesellschaft erheblich beeinträchtigt. Trotz des Entstehens von Unterzuckerungszuständen ist es bisher fast nie zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen mit erforderlicher Fremdhilfe gekommen. Die Erkrankung hat nicht zu nennenswerten Zeiten von Arbeitsunfähigkeit oder stationärer Behandlungsbedürftigkeit geführt. Die den Kläger ambulant behandelnden Ärzte haben nach den Feststellungen des LSG durchgehend eine "sehr gute Stoffwechseleinstellung berichtet". Folgeschäden an anderen Organen sind bislang nicht aufgetreten. Betrachtet man schließlich die erkrankungsbedingten Beeinträchtigungen in der konkreten Lebensführung des Klägers, so hat das LSG keine hinreichend gewichtigen Einschnitte festgestellt, um eine gravierende Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in seiner Gesamtheit annehmen zu können. Einzelne Ausfallzeiten infolge von Unterzuckerungszuständen sind unvermeidbare Folge des Diabetes mellitus und können angesichts des insgesamt überdurchschnittlichen Therapieerfolgs keine besondere Beeinträchtigung darstellen. Die vom LSG festgestellten Einschränkungen bei (privaten oder zwingenden dienstlichen) Reisen, beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen und bei der Nahrungsaufnahme bedeuten nicht nur eine signifikante, sondern eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung (vgl Teil B Nr 15.1 Abs 2, 3 AnlVersMedV). Das Ausmaß einer darüber noch hinausgehenden ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung (Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV) erreichen sie hingegen nicht.
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Entgegen der Revision führt auch nicht etwa der Umstand, dass der Kläger nach den Feststellungen des LSG gerade in seiner Berufsausübung gravierend beeinträchtigt ist, zu einem anderen Ergebnis. Vielmehr erlaubt die zur Prüfung des Vorliegens einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung anzustellende Gesamtbetrachtung der Einschnitte, die den behinderten Menschen in seiner Lebensführung beeinträchtigen, eine wechselseitige Kompensation von durch Krankheitsfolgen gestörten und ungestörten Aktivitäten. Den allgemeinen Grundsätzen des Schwerbehindertenrechts entspricht es, die Auswirkungen von Funktionsstörungen in allen Lebensbereichen zu berücksichtigen. Dies geschieht mit gleicher Gewichtung, ohne dass - wie in der Revisionsbegründung vorgeschlagen - die existenzielle Bedeutung einer Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen wäre. Das ergibt sich schon im Umkehrschluss aus § 30 Abs 2 BVG, wonach der auf der Grundlage des § 30 Abs 1 BVG iVm der VersMedV ermittelte GdS höher zu bewerten ist, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in ihrem Beruf besonders betroffen sind. Auf diese Regelung wird jedoch in § 69 Abs 1 SGB IX für die GdB-Feststellung gerade nicht verwiesen. Demzufolge wird in den allgemeinen Grundsätzen des Teils A Nr 2 b AnlVersMedV zutreffend davon ausgegangen, dass der GdB grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen ist.
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Was die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft angeht, hat das LSG zu Recht auf deren allgemeine Beschreibung in den einleitenden Teilen der AnlVersMedV bzw der AHP verwiesen. Insofern bietet sich für die Maßstabsbildung ein Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen an, für die im Tabellenteil ein Wert von 50 fest vorgegeben ist. Die tatrichterliche Einschätzung, dass der Kläger nicht in ähnlich gravierender Weise in seiner Lebensführung eingeschränkt ist, wie die im Berufungsurteil als Vergleichsgruppe herangezogenen Personen (behinderte Menschen mit einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, einem Verlust eines Beins im Unterschenkel oder einer Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung), begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Wollte man dagegen bei der Prüfung des Teils B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV geringere Anforderungen an die Anerkennung einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung stellen, käme es insoweit zu Wertungswidersprüchen innerhalb der AnlVersMedV.
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Abschließend lässt sich auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG auch ausschließen, dass der GdB des Klägers wegen außergewöhnlich schwer regulierbarer Stoffwechsellagen im Sinne von Teil B Nr 15.1 Abs 5 AnlVersMedV einen Wert von (mindestens) 50 erreicht.
Tenor
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Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 21. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
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Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
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Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 nach dem Schwerbehindertenrecht hat.
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Auf den Antrag der 1954 geborenen Klägerin vom 20.4.2010 stellte das beklagte Land nach Beiziehung eines Befundberichts und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 22.7.2010 wegen eines Diabetes mellitus einen GdB von 30 ab April 2010 fest. Nachdem die Klägerin im Widerspruchsverfahren Auszüge ihres Diabetikertagebuchs vorgelegt hatte, holte der Beklagte weitere versorgungsärztliche Stellungnahmen ein. Die Versorgungsärztin S. führte unter dem 23.12.2010 aus: Die vorgelegte Dokumentation umfasse einen Zeitraum von 96 Tagen. Die Klägerin messe vier bis achtmal täglich den Blutzucker und injiziere zwei bis viermal täglich Bolusinsulin und einmal täglich Basisinsulin. An mindestens 35 Tagen habe die Dosis nicht angepasst werden müssen. An den restlichen Tagen seien ein bis drei Korrekturinjektionen vorgenommen worden. Eine für einen GdB von 50 erforderliche ständige Anpassung der Insulindosierung sei daher nicht zu bestätigen. Es werde ein Gesamt-GdB von 40 vorgeschlagen. Hierauf gestützt änderte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.12.2010 den angefochtenen Bescheid unter Zurückweisung des Widerspruchs im Übrigen dahin ab, dass ab April 2010 der GdB 40 betrage. Zur Begründung gab er den Inhalt der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 23.12.2010 weitgehend wörtlich wieder.
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Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Magdeburg (SG) hat mit Urteil vom 14.3.2011 den angefochtenen Verwaltungsakt geändert und den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin ab April 2010 einen GdB von 50 festzustellen. In den Entscheidungsgründen heißt es: Bei der Klägerin seien die Voraussetzungen für einen GdB von 50 bei Diabetes mellitus erfüllt, wie sie in Teil B Nr 15.1 Versorgungsmedizinische Grundsätze in der Fassung vom 14.7.2010 geregelt seien, die auch für die Zeit davor gälten. Die Klägerin führe eine Insulintherapie durch, bei der sie täglich ein langwirkendes Basisinsulin und jeweils vor den Mahlzeiten ein schnell wirkendes Insulin spritze. Die Tatsache, dass sich die Klägerin nach ihren Aufzeichnungen an einigen Tagen nur drei Insulininjektionen verabreicht habe, sei darauf zurückzuführen, dass sie an diesen Tagen nur zwei Mahlzeiten zu sich genommen habe. Damit habe die Klägerin aber die Voraussetzungen der Verordnung sinngemäß erfüllt, denn die Vorschrift wolle gerade die Fälle erfassen, in denen - wie hier - täglich einmal Basisinsulin und vor jeder Mahlzeit, also üblicherweise dreimal, ein Mahlzeiteninsulin gespritzt werde. Die weitere Formulierung "… Menschen, die … durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind" stelle kein weiteres Tatbestandsmerkmal dar, sondern eine Bewertung der Situation der Betroffenen, die den genannten Therapieaufwand betreiben müssten.
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Im danach vom Beklagten veranlassten Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) die Klägerin persönlich angehört sowie einen Befundbericht von Dr. K. vom 6.9.2011 eingeholt. Ferner hat es zwei vom Beklagten vorgelegte versorgungsärztliche Stellungnahmen von Dr. S. vom 30.9.2011 und Dr. W. vom 13.2.2012 zu den Akten genommen. Durch Urteil vom 21.2.2012 hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:
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Die Klägerin sei durch den angefochtenen Bescheid nicht in ihren Rechten verletzt, da der festgestellte GdB von 40 rechtmäßig sei. Rechtsgrundlage für die Beurteilung des GdB seien § 69 Abs 1 SGB IX sowie die Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (Anl VersMedV) vom 10.12.2008. Das zentrale Leiden der Klägerin betreffe das Funktionssystem "Innere Sekretion und Stoffwechsel" und werde durch den insulinpflichtigen Diabetes mellitus geprägt. Auf der Grundlage der Zweiten Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 14.7.2010 ergebe sich bei der Klägerin ein GdB von 40. Demgegenüber setze ein GdB von 50 mindestens vier Insulininjektionen pro Tag, ein selbstständiges Anpassen der Insulindosis sowie gravierende und erhebliche Einschnitte in der Lebensführung voraus.
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Diese Anforderungen erreiche die Klägerin nicht. Sie führe nicht ständig eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durch, wie dies die Versorgungsärztin S. unter dem 23.12.2010 überzeugend ausgeführt habe. Auch komme es nach der Einschätzung der Versorgungsärzte nach Auswertung der Unterlagen nicht zu einer "ständigen" Dosisanpassung der Insulingabe. Damit bewege sich die Klägerin bereits unterhalb des Mindestumfangs des Therapieaufwandes, den die VersMedV für die Feststellung eines GdB von 50 verlange. Neben der täglichen Injektion mit einem langwirksamen Insulin müsse die Klägerin bei hohen Morgenwerten zu jeder Mahlzeit und bei Nebenerkrankungen das kurzwirkende Insulin einsetzen und dabei auch die jeweilige Dosis variieren. Das sei jedoch nicht ständig der Fall, sondern offenbar von den jeweiligen Begleitumständen (Alltagsbelastung, berufliche Anforderungen, Reisetätigkeit usw) abhängig. Hinzu kämen ständige Blutzuckermessungen zu jeder Mahlzeit und gegebenenfalls bis zu sechsmal täglich, die jedoch nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen nicht erhöhend zu berücksichtigen seien.
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Selbst wenn man zu Gunsten der Klägerin einen Therapieaufwand von mindestens vier Insulininjektionen und eine ständige Dosisanpassung annehmen würde, fehle es jedenfalls an erheblichen Einschnitten, die sich so gravierend auf ihre Lebensführung auswirkten, dass die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft gerechtfertigt werden könne. Die Klägerin werde trotz des einschränkenden Therapieaufwandes nicht noch zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität in ihrer Leistungsfähigkeit und damit in ihrer Teilhabefähigkeit erheblich beeinträchtigt. So gehe sie nach ihren eigenen Angaben einer Außendiensttätigkeit mit hohem und belastungsintensiven Anforderungsprofil nach und bewältige diese Anstrengungen offenbar ohne wesentliche krankheitsbedingten Einschränkungen seit vielen Jahren. Zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen sei es bei der Klägerin nach Beginn der Insulintherapie noch nie gekommen. Auch seien wesentliche Folgeschäden noch nicht eingetreten.
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Mit ihrer - vom LSG zugelassen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
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Das angefochtene Urteil sei iS der § 136 Abs 1 Nr 6, § 128 Abs 1 S 2 SGG nicht hinreichend mit Gründen versehen. Das LSG habe seiner Entscheidung allein die Fassung des Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV in der ab dem 22.7.2010 geltenden Fassung (nF) zugrunde gelegt, obwohl streitig auch die Höhe des GdB in der Zeit von April 2010 bis zum 21.7.2010 sei. Für diesen Zeitraum fehle es an einer Begründung für die Feststellung des GdB.
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Das LSG habe zudem ihr Recht auf rechtliches Gehör (§ 128 Abs 2 SGG) dadurch verletzt, dass es seine Entscheidung maßgebend auf die Stellungnahme der Versorgungsärztin S. vom "30.12.2010" gestützt habe, ohne ihr diese Stellungnahme zuvor zugänglich gemacht zu haben. Da das LSG erstmals im Urteil auf diese im Verwaltungsverfahren erstellte versorgungsärztliche Stellungnahme eingegangen sei, sei sie dadurch unzulässig überrascht worden. Aufgrund des Verlaufs des Erörterungstermins vom 21.12.2011, der von ihr danach vorgelegten Messdokumentationen von April 2010 und der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.2.2012 habe sie nicht damit rechnen müssen, dass das LSG die versorgungsärztliche Stellungnahme vom "30.12.2010" zur Urteilsbegründung heranziehen würde. Hätte man sie vorab darauf hingewiesen, hätte sie ihr Tagebuch erneut vorgelegt und anhand dessen nachgewiesen, dass sie sehr wohl - täglich - mindestens vier Insulininjektionen durchführe.
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Soweit das LSG seine Verneinung eines GdB von 50 darauf gestützt habe, dass sie über Jahre hinweg beruflich und privat ohne gravierende Einschränkungen lebe, habe es nicht erkennen lassen, dass es die für diese Beurteilung erforderliche soziologische und sozialmedizinische Sachkunde besitze. Diese Unterlassung mache das Urteil ebenfalls zur einer Überraschungsentscheidung.
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Schließlich habe das LSG auch seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nach § 103 SGG verletzt. Das Gericht habe Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV idF vom 14.7.2010 (nF) dahin ausgelegt, dass zusätzlich zum Therapieaufwand (von mindestens vier Insulininjektionen täglich) erhebliche Einschnitte in der Lebensführung vorliegen müssten. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze hätten zwar normähnlichen Charakter, inhaltlich seien sie jedoch antizipierte Sachverständigengutachten. Deren Inhalt gehöre zur Erforschung des Sachverhalts, sodass diesbezügliche Zweifel regelmäßig durch Nachfrage bei dem geschäftsführend tätigen Bundesministerium zu klären seien. Wenn das LSG sein Verständnis von den erheblichen Einschnitten in die Lebensführung, die für die Beurteilung der Teilhabeeinschränkungen im Fall eines insulinpflichtigen Diabetes mit einem GdB von 50 zwingend vorliegen müssten, seinem Urteil habe zugrunde legen wollen, hätte es sich nicht damit begnügen dürfen, Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV selbst auszulegen. Es hätte sich vielmehr gedrängt fühlen müssen, eine Auskunft bei dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales einzuholen, wie die erheblichen Einschnitte in die Lebensführung bei der Festsetzung des GdB zu berücksichtigen seien. Eine derart durchgeführte Klärung hätte zu dem Ergebnis führen können, dass allein der Therapieaufwand von mindestens vier Insulininjektionen täglich mit einer selbstständig vorzunehmenden Variation der Insulindosis die Feststellung eines GdB von 50 rechtfertige.
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Das LSG habe ua dem Urteil des BSG vom 2.12.2010 - B 9 SB 3/09 R - folgen wollen. Nach dieser Entscheidung seien Sachverhaltsermittlungen dazu vorzunehmen, ob der Therapieaufwand aus medizinischen Gründen nach Ort, Zeit oder Art und Weise festgelegt sei, ob eine Vernachlässigung der therapeutischen Maßnahmen gravierende Folgen haben könne und ob die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in anderen Lebensbereichen wegen des zeitlichen Umfangs der Therapie erheblich beeinträchtigt sei. Dementsprechend hätte das LSG sich gedrängt fühlen müssen, entsprechende Sachverhaltsermittlungen zu den Einschnitten in die Lebensführung entsprechend dem Urteil des BSG vom 2.12.2010 vorzunehmen, was es jedoch unterlassen habe. Diese fehlenden Sachverhaltsermittlungen seien auch nicht in den Stellungnahmen der Versorgungsverwaltung enthalten, auf die das Berufungsgericht seine Beweiswürdigung in sehr einseitiger Weise stütze.
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Materiell-rechtlich habe das LSG § 69 Abs 1 und 3 SGB IX verletzt. Für den Zeitraum von der Antragstellung im April 2010 bis zum 21.7.2010 hätte das LSG die Grundsätze des Urteils des BSG vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - anwenden müssen. Danach sei für die Feststellung des GdB neben der Einstellungsqualität auch der Therapieaufwand zu beurteilen, soweit er sich auf die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft nachteilig auswirke. Hierbei sei auch das Ergebnis der therapeutischen Maßnahmen, insbesondere die erreichte Stoffwechsellage zu betrachten. Der GdB sei relativ niedrig anzusetzen, wenn mit geringem Therapieaufwand eine ausgeglichene Stoffwechsellage erreicht werden könne. Mit in beeinträchtigender Weise wachsendem Therapieaufwand und bzw oder abnehmendem Therapieerfolg im Sinne einer instabileren Stoffwechsellage werde der GdB höher einzuschätzen sein. In einem ersten Schritt sei der Therapieaufwand festzustellen. In einem zweiten Schritt sei die Stoffwechsellage zu beurteilen und in einem dritten Schritt wären die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in Betracht zu ziehen. Entsprechende Sachverhaltsermittlungen hierzu habe das LSG nicht angestellt.
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Auf der Grundlage der versorgungsärztlichen Stellungnahmen habe das LSG den GdB unzutreffend beurteilt. Schon der unmittelbare Therapieaufwand sei erheblich. Zudem sei zu berücksichtigen, dass, würde sie nicht so diszipliniert leben, Stoffwechselentgleisungen die Folge wären. Soweit das LSG bei ihr von einer stabilen Stoffwechsellage auf einen geringeren GdB als 50 geschlossen habe, sei dieser Rückschluss in der Allgemeinheit nicht zulässig. Gerade ihre hohe Disziplin und vorausschauende Planung sowie ihre bewusste Lebensführung führten dazu, dass die Folgen des Diabetes bei ihr bisher gering geblieben seien. Ihr dies zum Nachteil gereichen zu lassen, würde bedeuten, dass der disziplinlose Behinderte mit einem höheren GdB "belohnt" werde und derjenige Behinderte, der sich intensiv um die Bekämpfung der Folgen der Erkrankung kümmere und einen entsprechenden Zeitaufwand dafür betreibe, mit einem geringeren GdB "bestraft" werde. Zudem habe das LSG die Auswirkungen des Diabetes auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft an Behinderungen gemessen, die mit ihrer Erkrankung nicht vergleichbar seien.
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Für die Zeit ab dem 22.7.2010 habe das LSG zwar richtiger Weise Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV nF zugrunde gelegt. Das LSG missverstehe jedoch die im vorliegenden Fall einschlägige Variante der Ziff 15.1, nach der der GdB 50 beträgt. Diese Variante beinhalte einerseits den Therapieaufwand, der mit täglich mindestens vier Insulininjektionen angegeben werde, und die Insulindosis, die in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der jeweils folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig zu variieren sei. Schon wenn, wie in ihrem Fall, die vier Insulininjektionen täglich durchgeführt werden müssten, sei der GdB mit 50 festzusetzen. Entgegen der Auffassung des LSG bedürfe es nicht zusätzlich noch weiterer, erheblicher Einschnitte in die Lebensführung. Der Therapieaufwand von mindestens vier Insulininjektionen täglich erfasse den in der Summe erheblichen zeitlichen Aufwand zB für regelmäßige Arztbesuche, den Einkauf von Medikamenten und Spritzutensilien, die Planung des Tagesablaufs, den Aufwand für das Spritzen selbst, die Vermeidung von rückfallgefährdenden Verhaltensweisen, das Aufsuchen von Orten für die Injektionen sowie aktive Vorkehrungen zum Ausgleich von potenziellen Gesundheitsrisiken. Da der Begriff Therapieaufwand nach der Rechtsprechung des BSG weit zu fassen sei und darunter die Gesamtheit der Maßnahmen zur Behandlung einer Krankheit mit dem Ziel der Wiederherstellung der Gesundheit, der Linderung der Beschwerden und der Verhinderung von Rückfällen zu verstehen sei, sei der Therapieaufwand zur Herstellung einer guten Stoffwechsellage ein geeigneter Maßstab. Das LSG verkenne diesen Begriff, wenn es den GdB primär danach beurteile, welche Einschnitte sie jenseits derjenigen, die im Zusammenhang mit den Insulinverabreichungen stünden, hinzunehmen habe. Wenn das Insulin infolge tropischer Temperaturen unbrauchbar werde, habe das mittelbar ebenfalls mit dem Therapieaufwand zu tun. Nichtbehinderte müssten sich insoweit nicht mit entsprechenden zusätzlichen Vorkehrungen gegen Hitze oder auch Diebstahl der Insulintasche belasten.
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Nach den Bewertungsgrundsätzen in Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV nF würden die bei der GdB-Bewertung zu berücksichtigenden Teilhabestörungen unter dem Oberbegriff "Einschnitte in die Lebensführung" zusammengefasst. Der Therapieaufwand und die damit verbundenen Einschnitte in die Lebensführung seien aber nicht die einzige Art und Weise, wie die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch den Diabetes mellitus beschränkt werde. Soweit sie ihren Ausschluss von bestimmten Sportarten geschildert habe, gehe es indes nicht um den Therapieaufwand, sondern um den Ausschluss von Möglichkeiten, die Freizeit zu gestalten und damit um Teilhabemöglichkeiten am Leben in der Gesellschaft. Werde Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV nF in dieser Weise verstanden und angewendet, sei ihr GdB mit mindestens 50 festzusetzen.
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Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 21. Februar 2012 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 14. März 2011 zurückzuweisen.
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Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Er trägt im Wesentlichen vor: Eine Verletzung der von der Klägerin genannten Verfahrensvorschriften liege seines Erachtens nicht vor. Insbesondere sei die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 23.12.2010 nahezu wörtlich im Widerspruchsbescheid wiedergegeben. Auf der Grundlage der Zweiten Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 14.7.2010 sei der GdB mit 40 korrekt bewertet. Danach sei Voraussetzung für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft neben der täglich viermaligen Insulininjektion bei jeweiliger Anpassung der Dosis eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung. Das wäre der Fall, wenn sich die Stoffwechsellage trotz des definierten täglichen Therapieaufwandes weiterhin so unbefriedigend zeige, dass eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung nachvollziehbar sei. Nicht der Fall sei dies, wenn sich die Stoffwechsellage im Ergebnis des therapeutischen Aufwandes - wie im Fall der Klägerin - überwiegend als gut eingestellt erweise. Dieses Rechtverständnis werde von der Begründung der Änderungsverordnung gestützt.
Entscheidungsgründe
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Die Revision der Klägerin ist zulässig. Sie ist Kraft Zulassung durch das LSG statthaft und innerhalb der gesetzlichen Fristen eingelegt und begründet worden. Die Begründung genügt den Anforderungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG.
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Die Revision ist unbegründet.
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Einer Sachentscheidung des Senats stehen Mängel des vorinstanzlichen Verfahrens nicht entgegen. Klage und Berufung sind zulässig. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Aufhebung des Berufungsurteils, mit dem die Klage abgewiesen worden ist. Die Klägerin erstrebt die Wiederherstellung des Urteils des SG, mit dem der Beklagte verurteilt worden ist, den GdB der Klägerin ab April 2010 mit 50 festzustellen. Dieses prozessuale Ziel, das die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 SGG - zur statthaften Klageart vgl BSG Urteil vom 12.4.2000 - B 9 SB 3/99 R - SozR 3-3870 § 3 Nr 9 S 21 f; Urteil vom 2.12.2010 - B 9 SB 3/09 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 12 RdNr 11) verfolgt, erreicht sie nicht.
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Zunächst ist die Rüge, das angefochtene Urteil sei iS der § 136 Abs 1 Nr 6, § 128 Abs 1 S 2 SGG nicht mit Gründen versehen, jedenfalls unbegründet. Es trifft zwar zu, dass das LSG auch für den Beurteilungszeitraum vor dem 22.7.2010 (ohne nähere Begründung) Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV idF vom 14. 7.2010 (nF) zu Grunde gelegt hat. Insoweit fehlen jedoch keine Entscheidungsgründe. Das LSG hat lediglich nicht deutlich gemacht, warum es die erst am 22.7.2010 in Kraft getretenen Bestimmungen auch für die Zeit davor als maßgeblich ansieht. Soweit die Klägerin der Ansicht ist, das LSG habe insoweit einen falsche Rechtsgrundlage angewendet, betrifft ihre Rüge einen Rechtsanwendungsfehler, jedoch keinen Verfahrensmangel (zum Begriff Verfahrensmangel s Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 10. Aufl 2012, § 144 RdNr 32 mwN).
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Der Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines GdB von 50 richtet sich nach § 69 Abs 1 und 3 SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I 1046, 1047) idF vom 13.12.2007 (BGBl I 2904). Nach § 69 Abs 1 S 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 S 4 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß § 69 Abs 1 S 5 SGB IX gelten die Maßstäbe des § 30 Abs 1 BVG entsprechend. Durch diesen Verweis auf § 30 Abs 1 BVG stellt § 69 SGB IX auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, dessen Ausgangspunkt die "Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äußerer Körperschäden iS der Nr 5 Allgemeine Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG sind. Die weitere Bezugnahme in § 69 Abs 1 S 5 SGB IX betrifft die aufgrund des § 30 Abs 17 BVG erlassene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1 und des § 35 Abs 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl I 2412), die zuletzt durch die Verordnung vom 11.10.2012 (BGBl I 2122) geändert worden ist (vgl auch BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 f). Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anl VersMedV) veröffentlicht worden, in denen ua die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) iS des § 30 Abs 1 BVG festgelegt worden sind.
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Die zum 1.1.2009 in Kraft getretene Anl VersMedV stellt ihrem Inhalt nach nicht nur eine Konkretisierung der Regelung des § 69 SGB IX, sondern auch ein antizipiertes Sachverständigengutachten dar(stRspr des BSG; vgl Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN; vgl auch zur Rechtslage nach dem Schwerbehindertengesetz: BVerfG Beschluss vom 6.3.1995 - 1 BvR 60/95 - SozR 3-3870 § 3 Nr 6 S 11 f). Sie berücksichtigt dabei den Behinderungsbegriff der "Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung" (deren Weiterentwicklung wurde im Mai 2001 von der Weltgesundheitsorganisation als ICF verabschiedet) als Grundlage des Bewertungssystems, auch wenn dieses Klassifikationsmodell darin bislang noch nicht überall konsequent umgesetzt worden ist (vgl VersMedV, Einleitung S 5, 1. Aufl 2009). Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe im Leben in der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die GdB-Bewertung auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (vgl BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28; BSG Urteil vom 29.8.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSGE 67, 204, 208 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1 S 5 f; dazu auch Masuch, SozSich 2004, 314, 315; Straßfeld, SGb 2003, 613).
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Dem trägt die Anl VersMedV im Grundsatz Rechnung. Dementsprechend ist deren Inhalt nicht (ausschließlich) mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden zu ermitteln; vielmehr sind diesbezügliche Zweifel vorzugsweise durch Nachfrage bei dem verantwortlichen Urheber, hier also beim "Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin" bzw dem für diesen geschäftsführend tätigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales - BMAS (§ 3 VersMedV), zu klären (vgl zB dazu BSG Urteil vom 24.4.2008 aaO). Darüber hinaus ist die VersMedV (nebst Anlage) an den rechtlichen Vorgaben der §§ 2, 69 SGB IX zu messen. Dazu gehört, dass sie dem aktuellen Stand der Medizin entsprechen muss (vgl dazu BSG Urteil vom 18.9.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2 jeweils RdNr 14; Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25; Urteil vom 2.12.2010 - B 9 SB 3/09 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 12 RdNr 14; § 69 Abs 1 S 5 SGB IX, § 30 Abs 17 BVG iVm §§ 2, 3 Abs 1 VersMedV). Bei Verstößen dagegen sind die jeweiligen Bestimmungen nicht oder nur mit Maßgaben anzuwenden (vgl auch BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 19; BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - juris RdNr 30).
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Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl Urteil vom 29.11.1956 - 2 RU 121/56 - BSGE 4, 147, 149 f; Urteil vom 9.10.1987 - 9a RVs 5/86 - BSGE 62, 209, 212 f = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83; Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - aaO RdNr 23 mwN). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom Tatsachengericht die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets § 2 Abs 1, § 69 Abs 1 und 3 SGB IX(s zuletzt BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - aaO RdNr 16 bis 21 mwN); danach sind insbesondere die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgebend.
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Zur GdB-Bewertung bei Diabetes mellitus hat der Senat in mehreren Urteilen Stellung genommen. Mit Urteil vom 24.4.2008 (- B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9) hat er sich mit den Bewertungsgrundsätzen der früheren Nr 26.15 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, Ausgaben 1996 und 2004) befasst. Mit Urteil vom 11.12.2008 (- B 9/9a SB 4/07 R - juris) hat er sich zu der vorläufigen Neufassung des Abschnitts Diabetes mellitus in Nr 26.15 der AHP geäußert. Mit Urteil vom 23.4.2009 (- B 9 SB 3/08 R - juris) hat der erkennende Senat Teil B Nr 15 vom 10.12.2008 als nichtig angesehen, weil darin, wie in der vorläufigen Neufassung der AHP allein die Einstellungsqualität und - noch - nicht der die Teilhabe beeinträchtigende Therapieaufwand berücksichtigt worden war. Schließlich hat der Senat mit Urteil vom 2.12.2010 (- B 9 SB 3/09 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 12) zu Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV idF vom 14.7.2010 entschieden, dass diese Vorschrift mit § 69 SGB IX vereinbar und wirksam ist und auf sie auch in der Zeit vor ihrem Inkrafttreten zurückgegriffen werden kann(aaO RdNr 30 ff insbes 38).
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Im vorliegenden Fall zu beurteilen ist der Zeitraum ab Antragstellung durch die Klägerin im April 2010, sodass (formal) betrachtet für die Zeit vom 1.4.2010 bis zum 21.7.2010 die am 1.1.2009 in Kraft getretene Regelung in Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV idF vom 10.12.2008 heranzuziehen ist. Entsprechend den Urteilen des erkennenden Senats vom 23.4.2009 und 2.12.2010 (jeweils aaO) ist diese Vorschrift jedoch nicht zur GdB-Bewertung geeignet. Vielmehr kann auf die Neufassung der Vorschrift idF vom 14.7.2010 zurückgegriffen werden.
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Für die Zeit ab dem 22.7.2010 ist die vom BMAS im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates erlassene Regelung in Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV nF unmittelbar anzuwenden.
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Die Vorschrift hat folgenden Inhalt, der sich zwar unmittelbar auf die Feststellung des GdS bezieht, jedoch für die Bemessung des GdB entsprechend gilt (vgl Teil A Nr 2 Anl VersMedV):
15.1 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50.
Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.
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Hierzu hat der erkennende Senat bereits im Einzelnen ausgeführt, dass diese neugefassten Beurteilungsgrundsätze den Vorgaben seiner Rechtsprechung in den Urteilen vom 24.4.2008, 11.12.2008 und 23.4.2009 (jeweils aaO) genügen und Anhaltspunkte dafür, dass diese Bestimmungen nicht dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen könnten, nicht ersichtlich sind (Urteil vom 2.12.2010, aaO, RdNr 26).
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Soweit es die hier streitige Feststellung eines GdB von 50 betrifft, enthält Teil B Nr 15.1 Abs 4 Anl VersMedV nF seinem Wortlaut nach drei Beurteilungskriterien: täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbstständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie (durch erhebliche Einschnitte) gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung. Diese Kriterien sind nach Auffassung des Senats nicht jeweils gesondert für sich genommen starr anzuwenden; vielmehr sollen sie eine sachgerechte Beurteilung des Gesamtzustandes erleichtern.
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Dementsprechend kann das Erfordernis von "täglich mindestens vier Insulininjektionen" entgegen der Auffassung des Beklagten nicht so verstanden werden, dass ausnahmslos an allen Tagen eine Anzahl von vier Insulininjektionen durchgeführt werden muss. Der Senat hat insoweit bereits entschieden, dass eine Bewertung des GdB, die sich ausschließlich an der Zahl der Insulininjektionen pro Tag orientiert, nicht überzeugt. Vielmehr ist der Therapieaufwand neben der Einstellungsqualität zu beurteilen (s Urteil vom 24.4.2008, aaO RdNr 40). Dazu hat der Senat ausgeführt, dass der GdB relativ niedrig anzusetzen sein wird, wenn mit geringen Therapieaufwand eine ausgeglichene Stoffwechsellage erreicht wird, und der GdB bei (in beeinträchtigender Weise) wachsendem Therapieaufwand und/oder abnehmendem Therapieerfolg (instabilerer Stoffwechsellage) höher einzuschätzen sein wird (aaO). Obwohl die Begründung der Zweiten Verordnung zur Änderung der VersMedV insoweit inhaltlich keine konkrete Aussage trifft (BR Drucks 285/10), wollte der Verordnungsgeber der Rechtsprechung des BSG erklärtermaßen folgen (s BR Drucks 285/10 S 3). Es ist daher davon auszugehen, dass er bei der Neufassung des Teil B Nr 15.1 AnlVersMedV zum 22.7.2010 die Zahl von vier Insulininjektionen am Tag nicht als absoluten Grenzwert angesehen hat.
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Des Weiteren verlangt das Erfordernis einer "selbstständigen" Variation der Insulindosis kein "ständiges" Anpassen der Dosis. Entscheidend ist die Abhängigkeit der jeweiligen Dosierung vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung. Sie kann demnach unter Umständen auch mehrfach gleich bleiben. In keinem Fall ist insoweit allein auf die Anzahl von zusätzlichen Korrekturinjektionen abzustellen.
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Entgegen der Ansicht der Klägerin reicht ein Erfüllen dieser beiden, auf den Therapieaufwand bezogenen Beurteilungskriterien nicht aus. Vielmehr muss die betreffende Person durch Auswirkungen des Diabetes mellitus auch insgesamt gesehen erheblich in der Lebensführung beeinträchtigt sein. Das kommt in Teil B Nr 15.1 Abs 4 Anl VersMedV durch die Verwendung des Wortes "und" deutlich zum Ausdruck. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber davon ausgegangen ist, dass bei einem entsprechenden Therapieaufwand immer eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung vorliegt. Je nach den persönlichen Fähigkeiten und Umständen der betreffenden Person kann sich die Anzahl der Insulininjektionen und die ständige Anpassung der Dosis nämlich unterschiedlich stark auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Abgesehen davon ist für die Beurteilung des GdB bei Diabetes mellitus auch die jeweilige Stoffwechsellage bedeutsam (vgl auch Teil B Nr 15.1 Abs 3 Anl VersMedV; allgemein dazu BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 40), die im Rahmen der Prüfung des dritten Merkmals (gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung) berücksichtigt werden kann. Die durch erhebliche Einschnitte bewirkte gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung kann mithin auf Besonderheiten der Therapie beruhen, etwa wenn ein Erkrankter aufgrund persönlicher Defizite für eine Injektion erheblich mehr Zeit benötigt als ein anderer, im Umgang mit den Injektionsutensilien versierter Mensch. Einschnitte in der Lebensführung zeigen sich daneben auch bei einem unzulänglichen Therapieerfolg, also der Stoffwechsellage des erkrankten Menschen.
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Dieser Auslegung steht - wie das LSG zutreffend erkannt hat - nicht entgegen, dass es im letzten Teilsatz des Abs 4 heißt: "erleiden auf Grund dieses Therapieaufwandes eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung". Diese Formulierung mag zwar sprachlich unklar erscheinen und in einem gewissem Widerspruch zu den zuvor aufgeführten drei Merkmalen stehen, sie ändert jedoch nichts an der durch § 69 SGB IX gebotenen umfassenden Betrachtung des Gesamtzustandes. Jedenfalls kann aus ihr nicht der Schluss gezogen werden, der Verordnungsgeber habe eine Mindestzahl von mit selbstständiger Dosisanpassung verbundenen Insulininjektionen für die Feststellung eines GdB von 50 ausreichen lassen wollen.
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Diese Bestimmung des Inhalts des Teil B Nr 15.1 Anl VersMedV nF gewinnt der Senat allein aufgrund einer Auslegung des Wortlauts der Vorschrift vor dem Hintergrund seiner zitierten Rechtsprechung. Unklarheiten, die nur mit Hilfe medizinischen oder anderweitigen Sachverstands beseitigt werden können, sind nicht ersichtlich. Aus diesem Grund bleibt auch die Rüge der Klägerin, das LSG hätte den Inhalt der Vorschrift durch eine Befragung des zuständigen Sachverständigenbeirats beim BMAS klären müssen, ohne Erfolg.
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Auf dieser rechtlichen Grundlage verlangt die Bewertung des GdB eine am jeweiligen Einzelfall orientierte Beurteilung, die alle die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinflussenden Umstände berücksichtigt. Gemessen an diesen Kriterien ist das Berufungsurteil rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50.
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Nach den Feststellungen des LSG führt die Klägerin nicht ständig eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Injektionen durch. Auch komme es nicht zu einer "ständigen" Anpassung der Insulingabe. Trotz ihres individuellen Therapieaufwands werde die Klägerin nicht durch eine schlechte Einstellungsqualität in ihrer Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt. Sie erleide in ihrer gesamten Lebensführung (Beruf, Sport, Reisen) keine gravierenden krankheitsbedingten Einschränkungen. Zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen sei es noch nie gekommen.
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Soweit die Klägerin die Feststellung des LSG zur Häufigkeit ihrer täglichen Insulininjektionen mit der Begründung angreift, das LSG habe dabei ihr rechtliches Gehör verletzt, dringt sie damit nicht durch. Der in §§ 62, 128 Abs 2 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör(Art 103 Abs 1 GG) soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (s § 128 Abs 2 SGG; vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). In diesem Rahmen besteht jedoch weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage, noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE 84, 188, 190). Das gilt grundsätzlich auch für nicht rechtskundig vertretene Beteiligte, wenn es sich nicht um komplizierte tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten oder Überlegungen handelt. Bei der Zahl täglich erforderlicher Injektionen handelt es sich nicht um einen komplizierten tatsächlichen Umstand. Jeder kann ihn ohne juristischen oder anderweitigen besonderen Sachverstand erfassen.
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Entgegen der Darstellung der Klägerin war eine Sachlage, bei der sie nicht damit zu rechnen brauchte, dass das LSG die täglich erforderliche Zahl von Insulininjektionen anspricht und wertet, vor der Entscheidung des LSG nicht gegeben. Der Klägerin musste schon aufgrund des Inhalts des Widerspruchsbescheides sowie des Urteils des SG klar sein, dass es maßgebend auch auf die Häufigkeit der täglichen Insulininjektionen ankam und diese nicht als ausreichend angesehen werden könnte. Denn der Beklagte hat die vom LSG schließlich ausdrücklich genannte versorgungsärztliche Stellungnahme von Frau S. vom 23.12.2010 im Widerspruchsbescheid vom 27.12.2010 bereits inhaltlich wiedergegeben. Zwar hat der Beklagte in seiner weiteren Begründung den Schwerpunkt auf das Fehlen einer ständigen Anpassung der Dosierung gelegt. Das SG hat jedoch ausdrücklich ausgeführt, die "Tatsache, dass sich die Klägerin nach ihren Aufzeichnungen an einigen Tagen nur drei Insulininjektionen verabreicht" habe, sei darauf zurückzuführen, dass sie an diesen Tagen nur zwei Mahlzeiten zu sich genommen habe. Damit seien zwar die Voraussetzungen nach dem Wortlaut der Vorschrift ("täglich mindestens vier Insulininjektionen") nicht erfüllt. Es sei jedoch nicht sachgerecht, den GdB nach der Anzahl der Mahlzeiten festzulegen.
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Dem ist der Beklagte mit seiner Berufung entgegengetreten und hat - unter Wiederholung der Begründung des Widerspruchsbescheides - vorgetragen, dass nach dem vorliegenden Diabetiker-Tagebuch für den Zeitraum vom 3.6. bis 7.9. (ohne Jahresangabe - 96 Tage) die Klägerin sich "zwei- bis viermal täglich Bolusinsulin und einmal Basisinsulin injiziert" habe. Aus diesen Angaben ergibt sich nicht durchgängig eine Anzahl von mindestens vier Injektionen am Tag. Der weitere Verlauf des Berufungsverfahrens (Schriftsatz des Beklagten vom 4.10.2011 mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 30.9.2011 und insbesondere Erörterungstermin am 21.12.2011) lässt nicht erkennen, dass der Beklagte eine tägliche Mindestzahl von vier Insulininjektionen eingeräumt oder dass sich das LSG inhaltlich so geäußert hätte.
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Aus diesem Ablauf und Inhalt des Verfahrens konnte die Klägerin demzufolge entnehmen, dass die Häufigkeit der täglichen Insulininjektionen maßgebend für die Beurteilung des GdB ist und sie nach dem bisherigen Stand des Verfahrens eine Mindestzahl von vier Injektionen täglich nicht erreicht. Jedenfalls musste die Klägerin mit einer solchen Beweiswürdigung des LSG rechnen. Dementsprechend konnte es für sie objektiv keine Überraschung sein, dass das LSG im Berufungsurteil diesen Umstand aufgreift und rechtlich würdigt.
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Des Weiteren ist unbeachtlich, dass die Vorinstanz irrtümlich eine "ständige" (anstelle einer "selbstständigen") Dosisanpassung verlangt, denn jedenfalls fehlt es nach dem berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen an einer durch erhebliche Einschnitte gravierend beeinträchtigten Lebensführung der Klägerin. Detaillierte Tatsachenfeststellungen sind insoweit nicht erforderlich gewesen, da das LSG die ausführlichen Angaben der Klägerin zugrunde gelegt hat. Soweit die Klägerin rügt, das LSG habe seine Feststellung, sie - die Klägerin - habe über Jahre hinweg beruflich und privat ohne gravierende Einschränkungen gelebt, getroffen, ohne über die für diese Beurteilung erforderliche soziologische und sozialmedizinische Sachkunde zu verfügen, greift diese Rüge nicht durch. Denn für die Beurteilung einer im Wesentlichen "normalen Lebensführung" bedarf es keiner besonderen Sachkunde. Die entsprechende Beurteilung kann der Tatrichter ohne sachverständige Unterstützung selbst vornehmen. Überdies hat sich das LSG insoweit ersichtlich neben den eigenen Angaben der Klägerin auch auf die sozialmedizinische Beurteilung der Versorgungsärztin Dr. W. in deren in das Verfahren einbezogenen Stellungnahme vom 13.2.2012 gestützt. Dabei sind auch die von der Klägerin geschilderten einschränkenden Umstände (zB Schwierigkeiten bei Reisen in die Tropen, Unmöglichkeit der Ausübung des Tauchsports) berücksichtigt worden.
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Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG ist es zudem - auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens - auszuschließen, dass der GdB der Klägerin gemäß Teil B Nr 15.1 Abs 5 Anl VersMedV einen Wert von 50 erreicht. Nach dieser Vorschrift können außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen jeweils höhere GdB-Werte bedingen. Ausgehend von einem GdB von 40 wäre danach eine Erhöhung auf 50 theoretisch möglich. Die Voraussetzungen der Vorschrift sind jedoch zweifelsfrei nicht erfüllt, da entsprechende Stoffwechsellagen bei der Klägerin nicht festgestellt worden sind.
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Schließlich geht die von der Klägerin in diesem Zusammenhang vertretene Ansicht fehl, sie dürfe wegen ihres konsequenten Therapieverhaltens und ihrer vernünftigen Lebensführung in Bezug auf ihre Erkrankung bei der Festsetzung des GdB nicht "schlechter" behandelt werden als ein behinderter Mensch, der bei gleicher Krankheitslage wegen einer nicht so konsequent durchgeführten Therapie eine schlechtere Stoffwechsellage aufweise und dem deswegen ein höherer GdB als ihr zuerkannt werde. Die Klägerin übersieht, dass die Beurteilung des GdB im Schwerbehindertenrecht ausschließlich final, also orientiert an dem tatsächlich bestehenden Zustand des behinderten Menschen zu erfolgen hat, ohne dass es auf die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsstörung ankommt (vgl Oppermann in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 69 SGB IX RdNr 23 mwN). Das gilt sowohl hinsichtlich unbeeinflussbarer Kausalzusammenhänge (s dazu BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 20 mwN) als auch für Vorgänge, auf die der Betroffene Einfluss nehmen kann oder die er sogar selbst zu verantworten hat. Insofern kommt es nicht darauf an, welche Folgen eine Vernachlässigung der Diabetes-Therapie bei der Klägerin haben würde.
Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.
Tenor
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. August 2009 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Schwerbehindertenrecht.
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Wegen eines juxtakortikalen Chondrosarkoms (bösartiger Knochentumor) im Bereich des linken Schulterblattes bei familiärer Osteochondromatose wurde am 23.9.2002 bei dem 1960 geborenen Kläger eine subtotale Schulterblattentfernung links durchgeführt.
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Auf seinen im September 2002 angebrachten Antrag stellte das Amt für Familie und Soziales Leipzig durch Bescheid vom 2.6.2003 wegen "Erkrankung des Schulterblattes links (in Heilungsbewährung), Teilverlust des Schulterblattes links, Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes links" einen GdB von 50 fest. Den Widerspruch des Klägers wies das Sächsische Landesamt für Familie und Soziales (Landesversorgungsamt) durch Widerspruchsbescheid vom 8.9.2003 zurück. Nach Überprüfung aufgrund gerichtlichen Vergleichs (Sozialgericht
Leipzig - S 2 SB 277/03) stellte die ehemalige sächsische Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 30.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.3.2005 fest, dass der GdB weiter 50 betrage.
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Nach Beweiserhebung hat das vom Kläger angerufene SG Leipzig die auf Feststellung des GdB mit 80 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 24.7.2007). Zur Überzeugung des Gerichts sei das Chondrosarkom des Schulterblattes im Frühstadium entfernt worden, so dass nach Nr 26.1 Abs 3 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) ein GdB von 50 angemessen sei. Die beim Kläger verbliebenen Organ- und Gliedmaßenschäden seien nicht mit einem GdB von mehr als 50 zu bewerten, so dass der Gesamt-GdB ebenfalls 50 betrage.
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Während des vom Kläger geführten Berufungsverfahrens ist die beklagte Stadt Leipzig an die Stelle des Freistaates Sachsen getreten. Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat den bereits erstinstanzlich als Sachverständigen gehörten Unfallchirurgen Prof. Dr. J. ergänzend befragt sowie ein weiteres Sachverständigengutachten von dem Orthopäden Prof. Dr. W. beigezogen. Prof. Dr. J. ist in seiner Stellungnahme vom 10.11.2008 bei seiner im Gutachten vom 14.10.2006 vertretenen Auffassung verblieben, dass die generalisierten funktionellen Defizite des Klägers die Einschätzung eines GdB von 60 rechtfertigten. Prof. Dr. W. hat in seinem Gutachten vom 2.12.2008 die Zuerkennung eines Gesamt-GdB von 70 für gerechtfertigt gehalten.
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Durch Urteil vom 26.8.2009 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Richtiger Klagegegner sei die Stadt Leipzig. Der Freistaat Sachsen sei aufgrund einer Zuständigkeitsänderung durch sächsische Landesgesetze zum 1.8.2008 kraft Gesetzes aus dem Verfahren ausgeschieden und durch die Beklagte ersetzt worden. Diese landesgesetzlichen Bestimmungen stünden mit höherrangigem Recht in Einklang.
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Der Bescheid vom 2.6.2003 und der Bescheid vom 30.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.3.2005 seien rechtmäßig. Die vorliegende Osteochondromatose könne nicht mit einem alle betroffenen Körperteile abdeckenden GdB bewertet werden. Sie sei in den AHP nicht aufgeführt und auch nicht mit einer Gelenkerkrankung des rheumatisch entzündlichen Formenkreises vergleichbar. Die sich daraus ergebenden Funktionsstörungen seien daher einzeln zu bewerten. Es ergäben sich Einzel-GdB von jeweils 10 für die leichte Funktionsstörung im Bereich des linken Hüftgelenks, das leichte Funktionsdefizit in den oberen Sprunggelenken, die mittelschweren Funktionsdefizite beider Handgelenke und Unterarme sowie ein Teil-GdB von 20 für die schwere Funktionsstörung im Bereich des linken Schultergelenks. Der Zustand nach Entfernung des Chondrosarkoms des Schulterblattes links sei, wie es auch das SG zutreffend angenommen habe, mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten, weil die Entfernung im Frühstadium erfolgt sei. Nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (Anl VersMedV) sei der GdB für das Chondrosarkom von 50 nicht entsprechend höher zu bewerten, da weder der verbliebene Körperschaden bzw Organ- oder Gliedmaßenschaden noch außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB von 50 oder mehr bedingten. Bis zum Ablauf der Heilungsbewährung - in der Regel bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Geschwulstbeseitigung - sei beim Kläger somit ein GdB von 50 festzustellen. Prof. Dr. J. habe die Einzel-GdB zu einem Gesamt-GdB von 60 addiert, was unzulässig sei. Prof. Dr. W. habe bei seiner Gesamt-GdB-Bildung nicht die Maßgabe nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV beachtet.
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Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision macht der Kläger eine Verletzung des § 69 Abs 1 SGB IX iVm den AHP und der Anl VersMedV geltend. Das angefochtene Urteil weiche zur Bildung des Gesamt-GdB insbesondere von dem Urteil des BSG vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - ab. Zudem habe das LSG den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Insbesondere zur Frage, ob der Tumor im Frühstadium oder in einem anderen Stadium entfernt worden sei, habe das LSG seinen Sachvortrag nicht zur Kenntnis genommen. Ebenfalls habe das LSG den Sachverhalt hinsichtlich der von ihm - dem Kläger - behaupteten Vererblichkeit seiner Erkrankung nicht hinreichend aufgeklärt. Zudem habe das LSG den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt, indem es überraschend und ohne eigene Sachkunde keinem der beiden vorinstanzlich gehörten ärztlichen Fachgutachter gefolgt sei. Schließlich habe das LSG gegen § 62 SGG auch dadurch verstoßen, dass es dem Sachverständigen Prof. Dr. Wirth höhere Sachkunde zugesprochen habe als Prof. Dr. J. Hierzu habe er - der Kläger - sich nicht äußern können.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. August 2009 und das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 24. Juli 2007 sowie die Bescheide des Amtes für Familie und Soziales Leipzig vom 2. Juni 2003 und 30. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 30. Mai 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm ab 6. September 2002 einen höheren GdB als 50 festzustellen.
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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
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Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
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Im Laufe des Berufungsverfahrens ist auf Beklagtenseite kraft Gesetzes ein Beteiligtenwechsel erfolgt (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4; BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6, RdNr 13 f; BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 20). Zum 1.8.2008 ist die Stadt Leipzig an die Stelle des Freistaates Sachsen getreten, weil von diesem Zeitpunkt an die bis dahin von den Ämtern für Familie und Soziales des Landes wahrgenommenen Aufgaben des Schwerbehindertenrechts nach dem SGB IX auf die Landkreise und kreisfreien Städte übertragen worden sind. Dies geschah durch Art 44 Nr 5 Gesetz zur Neuordnung der Sächsischen Verwaltung vom 29.1.2008 (Sächsisches GVBl 138) und ergänzender landesrechtlicher Regelungen, deren Inhalt als Landesrecht das LSG für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat (§ 202 SGG iVm § 560 ZPO; s Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 162 RdNr 7). Einwendungen gegen diese Feststellungen des Inhalts des Sächsischen Landesrechtes sind nicht erhoben worden.
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Diese durch das Sächsische Landesgesetz erfolgte Zuständigkeitsänderung ist mit revisiblem Recht (vgl § 162 SGG) vereinbar. Sie ist rechtswirksam erfolgt. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu der dem erwähnten sächsischem Landesrecht ähnlichen Zuständigkeitsveränderung in Nordrhein-Westfalen verstößt die Übertragung der Aufgaben des Schwerbehindertenrechts auf die Kreise und kreisfreien Städte nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des Grundgesetzes (Urteile vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - juris und - B 9 SB 3/08 R - juris, Urteil vom 29.4.2010 - B 9 SB 1/10 R - juris; zur Übertragung der Aufgaben des Sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung und der Opferentschädigung auf die Kommunalen Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen s Urteile vom 11.12.2008 - B 9 V 3/07 R - SGb 2009, 95 und - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1). Die für die Verwaltungsreform in Nordrhein-Westfalen geltende Rechtslage muss in gleicher Weise für die ebenfalls durch formelles Landesgesetz erfolgte Zuständigkeitsänderung in Sachsen gelten. Gegenteilige rechtliche Bedenken sind nicht ersichtlich und auch vom Kläger nicht vorgebracht worden.
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Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ab Antragstellung im September 2002. Darüber ist in den angefochtenen Bescheiden vom 2.6.2003 und 30.1.2004 ablehnend entschieden, denn darin ist für den Kläger lediglich ein GdB von 50 festgestellt worden. Weitere Bescheide, insbesondere für die Zeit nach Ablauf der Heilungsbewährung sind nicht ergangen.
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Ob der Kläger, wie das LSG entschieden hat, nur Anspruch auf die bereits erfolgte Feststellung eines GdB von 50 oder, wie der Kläger geltend macht, Anspruch auf Feststellung eines darüber hinausgehenden GdB hat, kann der Senat auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG (s § 163 SGG) noch nicht abschließend entscheiden.
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Rechtsgrundlage für einen möglichen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ist § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I 1046), für die Zeit ab 1.5.2004 idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606; aF) sowie - für die Zeit ab 21.12.2007 - idF des Gesetzes vom 13.12.2007 (BGBl I 2904; nF). Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX (aller Fassungen) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX (aller Fassungen) die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX (aller Fassungen) nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
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Gemäß § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX in den bis zum 20.12.2007 maßgeblichen Fassungen (aF) gelten bei der Feststellung der Behinderung (des GdB) die Maßstäbe des § 30 Abs 1 BVG entsprechend(BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 bis 21 mwN). Durch diesen Verweis stellt § 69 SGB IX auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, dessen Ausgangspunkt die "Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äußerer Körperschäden iS der Nr 5 Allgemeine Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG sind. Von diesen Mindestvomhundertsätzen leiten sich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der AHP ab. In § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX in der ab 21.12.2007 geltenden Fassung (nF) wird zusätzlich auf die auf Grund des § 30 Abs 17 BVG mit Wirkung ab 1.1.2009 erlassene Rechtsverordnung Bezug genommen. Anzuwenden sind vorliegend für die Zeit ab Antragstellung im September 2002 bis zum Ende des Jahres 2008 die AHP 1996, 2004, 2005 und 2008. Für die Zeit ab 1.1.2009 ist die Anl VersMedV Grundlage für die Feststellung des GdB. Aus diesem Wechsel ergeben sich hier keine inhaltlichen Abweichungen, da der Wortlaut der maßgebenden Abschnitte der AHP und der Anl VersMedV ("Versorgungsmedizinische Grundsätze") identisch ist.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass die AHP grundsätzlich den Maßstab angeben, nach dem der GdB einzuschätzen ist (BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Bei den AHP handelt es sich um antizipierte Sachverständigengutachten, die im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten sind (zum Ganzen s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Entsprechendes gilt für die seit dem 1.1.2009 in Kraft befindliche VersMedV als verbindliche Rechtsquelle. Zweifel am Inhalt der AHP oder der Anl VersMedV, der durch besondere, vor allem medizinische Sachkunde bestimmt ist, sind vorzugsweise durch Nachfrage bei dem verantwortlichen Urheber, hier also beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin bzw bei dem für diesen geschäftsführend tätigen BMAS (§ 3 VersMedV) zu klären (vgl dazu BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 6/06 R - juris RdNr 21). Im Übrigen sind AHP und VersMedV auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen(BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R -, SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Dabei sind sie im Lichte des § 69 SGB IX auszulegen. Bei nach entsprechender Auslegung verbleibenden Verstößen gegen § 69 SGB IX sind diese Rechtsquellen nicht anzuwenden(BSG Urteil vom 23.4.2009, aaO).
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Bei der Feststellung des (Gesamt)-GdB ist das seit jeher im Schwerbehindertenrecht geltende Finalitätsprinzip (zum Rechtszustand nach dem Schwerbehindertengesetz s BSG SozR 3870 § 57 Nr 1 S 5; s auch Teil A Nr 2.a Satz 1 Anl VersMedV) zu beachten, das sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs 1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX festgeschrieben worden ist. Danach sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrem Entstehungsgrund zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (BSG Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a SB 4/07 R - zum Begriff der sog Organkomplikationen unter Hinweis auf Knickrehm, SGb 2008, 220, 221; s auch Nr 18 Abs 1 AHP/Teil A Nr 2.a Anl VersMedV). Das BSG (aaO) hat dargelegt, dass möglicherweise durch eine Haupterkrankung (dort: Diabetes Mellitus) hervorgerufene Gesundheitsstörungen (dort: zB Netzhautveränderungen etc) wie von der Haupterkrankung unabhängig entstandene Gesundheitsstörungen zu behandeln sind und in ihren Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit unabhängig von dem für die Haupterkrankung festzustellenden Einzel-GdB separat zu berücksichtigen sind. Entsprechend hat das BSG im Falle der durch die Haupterkrankung (Schilddrüsenentfernung wegen Karzinom) hervorgerufenen Verletzung eines Stimmbandnervs entschieden (BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10). Danach begegnet es durchgreifenden Bedenken, mit der GdB-Bewertung eines Zustands nach Tumorentfernung während der Heilungsbewährung auch abgrenzbare und nennenswerte Schäden an anderen Organen zu erfassen, die nicht immer mit einer derartigen Behandlung verbunden sind.
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Gemäß Nr 26.1 Abs 3 AHP und Teil B Nr 1.c Anl VersMedV ist nach Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum der Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre, und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten im Folgenden angegebenen GdB/MdE/GdS-Anhaltswerte sind auf den "Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein". "Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - zB langdauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen". Ferner bestimmt Nr 26.1 Abs 3 AHP/Teil B Nr 1.c Anl VersMedV, dass, sofern bis zum Ablauf der Heilungsbewährung der GdB während dieser Zeit 50 beträgt, der GdB entsprechend höher zu bewerten ist, wenn der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden und/oder außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB von 50 oder mehr bedingen.
- 23
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Wie der Begriff des Organschadens zu verstehen ist, ist in den AHP und der Anl VersMedV nicht näher geregelt. Der erkennende Senat hat dazu mehrere Möglichkeiten aufgezeigt (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 28). Jedenfalls aber darf die Einschätzung des Gesamt-GdB nicht unterschiedlich ausfallen in Fällen, in denen der Organschaden schon vor der Krebsoperation vorhanden war, und Fällen, in denen er erst mit oder nach der Operation aufgetreten ist (BSG aaO, RdNr 30, 31). Soweit Nr 26.1 Abs 3 letzter Satz AHP und Teil B Nr 1.c letzter Satz Anl VersMedV bestimmen, dass der wegen Heilungsbewährung anzunehmende GdB erhöht werden muss ("ist … höher zu bewerten"), wenn der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden (Körperschaden) - für sich allein - einen GdB von 50 oder mehr bedingt, kann sich diese Regelung mithin nur auf den von der Geschwulsterkrankung betroffenen Körperteil und die mit der Tumorentfernung typischerweise verbundenen Schäden beziehen. Ob die festgelegte Grenze eines GdB von 50 für derartige verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschäden zu hoch angesetzt ist, muss hier nicht erörtert werden; denn die schwere Funktionsstörung des linken Schultergelenks, die neben dem Teilverlust des linken Schulterblatts als vom GdB des Zustands nach Tumorentfernung miterfasst angesehen werden könnte, bedingt nach den bisherigen Feststellungen des LSG nur einen GdB von 20.
- 24
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Die Feststellung des GdB ist tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10; zur Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung als Tatsachenfeststellung s zuletzt BSG SozR 4-2700 § 56 Nr 2 RdNr 10 mwN) und kann im Revisionsverfahren nur durch entsprechende Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl § 163 SGG). Sie ist jedoch in den dargestellten rechtlichen Rahmen eingebettet, den Verwaltung und Tatsachengerichte zwingend zu beachten haben. Entsprechende Rechtsverstöße durch das Tatsachengericht sind vom Revisionsgericht zu beanstanden (§ 162 SGG).
- 25
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Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s § 2 Abs 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese - soweit möglich - den in den AHP/der Anl VersMedV genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl Nr 19 Abs 3 AHP/Teil A Nr 3.c Anl VersMedV) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der AHP/Anl VersMedV feste GdB/MdE-Werte bzw feste GdS-Werte angegeben sind (vgl Nr 19 Abs 2 AHP/Teil A Nr 3.b Anl VersMedV).
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Ausgehend von diesen rechtlichen Rahmenbedingungen hat das LSG im ersten Verfahrensschritt Feststellungen über die beim Kläger bestehenden, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen getroffen, die für das Revisionsgericht bindend sind, zumal sie vom Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind (§ 163 SGG). Danach liegen ein Zustand nach Entfernung eines Chondrosarkoms mit Teilentfernung des linken Schulterblattes und schwerer Funktionsstörung im Bereich des linken Schultergelenks sowie - im Wesentlichen auf der Grundlage einer familiären Osteochondromatose - Funktionsstörungen im Bereich des linken Hüftgelenks und der oberen Sprunggelenke, mittelschwere Funktionsdefizite beider Handgelenke und Unterarme vor. Soweit sich der Kläger gegen die Feststellung des LSG wendet, das Chondrosarkom sei im Frühstadium entfernt worden, betrifft sein Vorbringen weniger den gegenwärtigen Gesundheitszustand, sondern vielmehr ein Merkmal, das nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV für die pauschale GdB-Bemessung während der Heilungsbewährung von Bedeutung ist.
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Der Senat lässt es dahinstehen, inwiefern die vom LSG im zweiten Verfahrensschritt vorgenommenen Feststellungen über die Zuordnung der Gesundheitsstörungen zu in den AHP und der Anl VersMedV aufgeführten Funktionssystemen und deren Bewertung mit jeweils einem Einzel-GdB bindend sind. Insbesondere bleibt offen, ob die vom LSG auf Nr 26.1 Abs 3 AHP und Teil B Nr 1.c Anl VersMedV gestützte Bewertung des Einzel-GdB für den Zustand nach Entfernung des Chondrosarkoms insoweit auf einer das BSG bindenden Tatsachenfeststellung beruht, als das LSG angenommen hat, die Entfernung sei im Frühstadium erfolgt. Denn selbst wenn die Bewertung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung mit 50 im Ansatz zutreffend sein sollte, begegnet das weitere Vorgehen des LSG durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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Das LSG hat die Regelung der Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV unrichtig angewendet. Es hat bereits verkannt, dass diese Bestimmungen nur die Ermittlung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung während der Heilungsbewährung und nicht die Bemessung des Gesamt-GdB betreffen. Es hätte zudem nicht alle mit der familiären Osteochondromatose des Klägers zusammenhängenden Funktionsstörungen in die Bemessung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung einbeziehen, sondern insoweit nur die unmittelbar damit verbundenen Schäden berücksichtigen dürfen. Wäre danach der Einzel-GdB von 50 nicht zu erhöhen gewesen, so hätten die übrigen Gesundheitsstörungen (insbesondere im Bereich der Hände, Unterarme, Hüft- und Sprunggelenke) in einem dritten Verfahrensabschnitt in die Bildung des Gesamt-GdB einbezogen werden müssen.
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Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Vorgehensweise zu einem höheren Gesamt-GdB als 50 hätte führen können. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die betreffenden Funktionsstörungen nach den Feststellungen des LSG jeweils nur einen GdB von 10 bedingen.
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Nach Nr 19 Abs 4 AHP und Teil A Nr 3.d.ee Anl VersMedV führen, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Ein derartiger Ausnahmefall könnte hier vorliegen. Die vom LSG festgestellten Beweglichkeitseinschränkungen am linken Hüftgelenk, den Handgelenken und Unterarmen sowie den oberen Sprunggelenken sind offenbar einer sog Systemerkrankung - nämlich einer familiären Osteochondromatose - zuzuordnen. Dadurch könnten die Auswirkungen der einzelnen Erscheinungen insgesamt ein stärkeres Gewicht erhalten. Hinzu könnten besondere seelische Begleiterscheinungen kommen, die sich aus der Vererblichkeit dieser Erkrankung ergeben.
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Sollte der Kläger - wie seinem Vorbringen entnommen werden könnte - darüber hinaus an einer psychischen Erkrankung leiden, wäre diese mit einem Einzel-GdB zu bewerten und bei der Bildung des Gesamt-GdB gesondert zu berücksichtigen.
- 32
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Nach alledem fehlen weitere tatrichterliche Feststellungen, die das BSG im Revisionsverfahren nicht nachholen kann. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
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Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG erneut zu prüfen und festzustellen haben, ob sich das Chondrosarkom des linken Schulterblattes bei seiner Entfernung tatsächlich erst im Frühstadium oder - wie der Kläger geltend macht - in einem fortgeschrittenen Stadium befunden hat. Letzteres würde nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV während der Heilungsbewährung zu einem höheren Einzel-GdB führen.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
(1) Blinden Menschen wird zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen Blindenhilfe gewährt, soweit sie keine gleichartigen Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten. Auf die Blindenhilfe sind Leistungen bei häuslicher Pflege nach dem Elften Buch, auch soweit es sich um Sachleistungen handelt, bei Pflegebedürftigen des Pflegegrades 2 mit 50 Prozent des Pflegegeldes des Pflegegrades 2 und bei Pflegebedürftigen der Pflegegrade 3, 4 oder 5 mit 40 Prozent des Pflegegeldes des Pflegegrades 3, höchstens jedoch mit 50 Prozent des Betrages nach Absatz 2, anzurechnen. Satz 2 gilt sinngemäß für Leistungen nach dem Elften Buch aus einer privaten Pflegeversicherung und nach beamtenrechtlichen Vorschriften. § 39a ist entsprechend anzuwenden.
(2) Die Blindenhilfe beträgt bis 30. Juni 2004 für blinde Menschen nach Vollendung des 18. Lebensjahres 585 Euro monatlich, für blinde Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, beträgt sie 293 Euro monatlich. Sie verändert sich jeweils zu dem Zeitpunkt und in dem Umfang, wie sich der aktuelle Rentenwert in der gesetzlichen Rentenversicherung verändert.
(3) Lebt der blinde Mensch in einer stationären Einrichtung und werden die Kosten des Aufenthalts ganz oder teilweise aus Mitteln öffentlich-rechtlicher Leistungsträger getragen, so verringert sich die Blindenhilfe nach Absatz 2 um die aus diesen Mitteln getragenen Kosten, höchstens jedoch um 50 vom Hundert der Beträge nach Absatz 2. Satz 1 gilt vom ersten Tage des zweiten Monats an, der auf den Eintritt in die Einrichtung folgt, für jeden vollen Kalendermonat des Aufenthalts in der Einrichtung. Für jeden vollen Tag vorübergehender Abwesenheit von der Einrichtung wird die Blindenhilfe in Höhe von je einem Dreißigstel des Betrages nach Absatz 2 gewährt, wenn die vorübergehende Abwesenheit länger als sechs volle zusammenhängende Tage dauert; der Betrag nach Satz 1 wird im gleichen Verhältnis gekürzt.
(4) Neben der Blindenhilfe wird Hilfe zur Pflege wegen Blindheit nach dem Siebten Kapitel außerhalb von stationären Einrichtungen sowie ein Barbetrag (§ 27b Absatz 2) nicht gewährt. Neben Absatz 1 ist § 30 Abs. 1 Nr. 2 nur anzuwenden, wenn der blinde Mensch nicht allein wegen Blindheit voll erwerbsgemindert ist. Die Sätze 1 und 2 gelten entsprechend für blinde Menschen, die nicht Blindenhilfe, sondern gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten.
(5) Blinden Menschen stehen Personen gleich, deren beidäugige Gesamtsehschärfe nicht mehr als ein Fünfzigstel beträgt oder bei denen dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleichzuachtende, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens vorliegen.
(6) Die Blindenhilfe wird neben Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches erbracht.
Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.
(1) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates über Folgendes zu erlassen:
- 1.
die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr, insbesondere über - a)
den Inhalt und die Gültigkeitsdauer von Fahrerlaubnissen, insbesondere unterschieden nach Fahrerlaubnisklassen, über die Probezeit sowie über Auflagen und Beschränkungen zu Fahrerlaubnissen, - b)
die erforderliche Befähigung und Eignung von Personen für ihre Teilnahme am Straßenverkehr, das Mindestalter und die sonstigen Anforderungen und Voraussetzungen zur Teilnahme am Straßenverkehr, - c)
die Ausbildung und die Fortbildung von Personen zur Herstellung und zum Erhalt der Voraussetzungen nach Buchstabe b und die sonstigen Maßnahmen, um die sichere Teilnahme von Personen am Straßenverkehr zu gewährleisten, insbesondere hinsichtlich Personen, die nur bedingt geeignet oder ungeeignet oder nicht befähigt zur Teilnahme am Straßenverkehr sind, - d)
die Prüfung und Beurteilung des Erfüllens der Voraussetzungen nach den Buchstaben b und c, - e)
Ausnahmen von einzelnen Anforderungen und Inhalten der Zulassung von Personen, insbesondere von der Fahrerlaubnispflicht und von einzelnen Erteilungsvoraussetzungen,
- 2.
das Verhalten im Verkehr, auch im ruhenden Verkehr, - 3.
das Verhalten der Beteiligten nach einem Verkehrsunfall, das geboten ist, um - a)
den Verkehr zu sichern und Verletzten zu helfen, - b)
Feststellungen zu ermöglichen, die zur Geltendmachung oder Abwehr von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen erforderlich sind, insbesondere Feststellungen zur Person der Beteiligten, zur Art ihrer Beteiligung, zum Unfallhergang und zum Versicherer der unfallbeteiligten Fahrzeuge,
- 4.
die Bezeichnung von im Fahreignungsregister zu speichernden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten - a)
für die Maßnahmen nach den Regelungen der Fahrerlaubnis auf Probe nebst der Bewertung dieser Straftaten und Ordnungswidrigkeiten als schwerwiegend oder weniger schwerwiegend, - b)
für die Maßnahmen des Fahreignungsbewertungssystems, wobei - aa)
bei der Bezeichnung von Straftaten deren Bedeutung für die Sicherheit im Straßenverkehr zugrunde zu legen ist, - bb)
Ordnungswidrigkeiten mit Punkten bewertet werden und bei der Bezeichnung und Bewertung von Ordnungswidrigkeiten deren jeweilige Bedeutung für die Sicherheit des Straßenverkehrs und die Höhe des angedrohten Regelsatzes der Geldbuße oder eines Regelfahrverbotes zugrunde zu legen sind,
- 5.
die Anforderungen an - a)
Bau, Einrichtung, Ausrüstung, Beschaffenheit, Prüfung und Betrieb von Fahrzeugen, - b)
die in oder auf Fahrzeugen einzubauenden oder zu verwendenden Fahrzeugteile, insbesondere Anlagen, Bauteile, Instrumente, Geräte und sonstige Ausrüstungsgegenstände, einschließlich deren Prüfung,
- 6.
die Zulassung von Fahrzeugen zum Straßenverkehr, insbesondere über - a)
die Voraussetzungen für die Zulassung, die Vorgaben für das Inbetriebsetzen zulassungspflichtiger und zulassungsfreier Fahrzeuge, die regelmäßige Untersuchung der Fahrzeuge sowie über die Verantwortung, die Pflichten und die Rechte der Halter, - b)
Ausnahmen von der Pflicht zur Zulassung sowie Ausnahmen von einzelnen Anforderungen nach Buchstabe a,
- 7.
die Einrichtung einer zentralen Stelle zur Erarbeitung und Evaluierung von verbindlichen Prüfvorgaben bei regelmäßigen Fahrzeuguntersuchungen, - 8.
die zur Verhütung von Belästigungen anderer, zur Verhütung von schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes oder zur Unterstützung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung erforderlichen Maßnahmen, - 9.
die Maßnahmen - a)
über den Straßenverkehr, die zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit oder zu Verteidigungszwecken erforderlich sind, - b)
zur Durchführung von Großraum- und Schwertransporten, - c)
im Übrigen, die zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf öffentlichen Straßen oder zur Verhütung einer über das verkehrsübliche Maß hinausgehenden Abnutzung der Straßen erforderlich sind, insbesondere bei Großveranstaltungen,
- 10.
das Anbieten zum Verkauf, das Veräußern, das Verwenden, das Erwerben oder das sonstige Inverkehrbringen von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen, - 11.
die Kennzeichnung und die Anforderungen an die Kennzeichnung von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen, - 12.
den Nachweis über die Entsorgung oder den sonstigen Verbleib von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen, auch nach ihrer Außerbetriebsetzung, - 13.
die Ermittlung, das Auffinden und die Sicherstellung von gestohlenen, verlorengegangenen oder sonst abhanden gekommenen Fahrzeugen, Fahrzeugkennzeichen sowie Führerscheinen und Fahrzeugpapieren einschließlich ihrer Vordrucke, soweit nicht die Strafverfolgungsbehörden hierfür zuständig sind, - 14.
die Überwachung der gewerbsmäßigen Vermietung von Kraftfahrzeugen und Anhängern an Selbstfahrer, - 15.
die Beschränkung des Straßenverkehrs einschließlich des ruhenden Verkehrs - a)
zugunsten schwerbehinderter Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, mit beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder vergleichbaren Funktionseinschränkungen sowie zugunsten blinder Menschen, - b)
zugunsten der Bewohner städtischer Quartiere mit erheblichem Parkraummangel, - c)
zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe oder zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen,
- 16.
die Einrichtung von Sonderfahrspuren für Linienomnibusse und Taxen, - 17.
die Einrichtung und Nutzung von fahrzeugführerlosen Parksystemen im niedrigen Geschwindigkeitsbereich auf Parkflächen, - 18.
allgemeine Ausnahmen von den Verkehrsvorschriften nach Abschnitt I oder von auf Grund dieser Verkehrsvorschriften erlassener Rechtsverordnungen zur Durchführung von Versuchen, die eine Weiterentwicklung dieser Rechtsnormen zum Gegenstand haben.
(2) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates über Folgendes zu erlassen:
- 1.
die Typgenehmigung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge, sofern sie unionsrechtlichen Vorgaben unterliegt, über die Fahrzeugeinzelgenehmigung, sofern ihr nach Unionrecht eine Geltung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zukommt, sowie über das Anbieten zum Verkauf, das Inverkehrbringen, die Inbetriebnahme, das Veräußern oder die Einfuhr von derart genehmigten oder genehmigungspflichtigen Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge, insbesondere über - a)
die Systematisierung von Fahrzeugen, - b)
die technischen und baulichen Anforderungen an Fahrzeuge, Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten, einschließlich der durchzuführenden Prüfverfahren zur Feststellung der Konformität, - c)
die Sicherstellung der Übereinstimmung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge mit einem genehmigten Typ bei ihrer Herstellung, - d)
den Zugang zu technischen Informationen sowie zu Reparatur- und Wartungsinformationen, - e)
die Bewertung, Benennung und Überwachung von technischen Diensten, - f)
die Kennzeichnung und Verpackung von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für Fahrzeuge oder - g)
die Zulassung von Teilen und Ausrüstungen, von denen eine ernste Gefahr für das einwandfreie Funktionieren wesentlicher Systeme von Fahrzeugen ausgehen kann,
- 2.
die Marktüberwachung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge, - 3.
die Pflichten der Hersteller und ihrer Bevollmächtigten, der Einführer sowie der Händler im Rahmen - a)
des Typgenehmigungsverfahrens im Sinne der Nummer 1, - b)
des Fahrzeugeinzelgenehmigungsverfahrens im Sinne der Nummer 1 oder - c)
des Anbietens zum Verkauf, des Inverkehrbringens, der Inbetriebnahme, des Veräußerns, der Einfuhr sowie der Marktüberwachung von Fahrzeugen, Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge oder
- 4.
die Technologien, Strategien und andere Mittel, für die festgestellt ist, dass - a)
sie die Leistungen der Fahrzeuge, Systeme, Bauteile oder selbstständigen technischen Einheiten für Fahrzeuge bei Prüfverfahren unter ordnungsgemäßen Betriebsbedingungen verfälschen oder - b)
ihre Verwendung im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens oder des Fahrzeugeinzelgenehmigungsverfahrens im Sinne der Nummer 1 aus anderen Gründen nicht zulässig ist.
(3) In Rechtsverordnungen nach Absatz 1 oder Absatz 2 können hinsichtlich der dort genannten Gegenstände jeweils auch geregelt werden:
- 1.
die Erteilung, Beschränkung oder Entziehung von Rechten, die sonstigen Maßnahmen zur Anordnung oder Umsetzung, die Anerkennung ausländischer Berechtigungen oder Maßnahmen, die Verwaltungsverfahren einschließlich der erforderlichen Nachweise sowie die Zuständigkeiten und die Ausnahmebefugnisse der vollziehenden Behörden im Einzelfall, - 2.
Art, Inhalt, Herstellung, Gestaltung, Lieferung, Ausfertigung, Beschaffenheit und Gültigkeit von Kennzeichen, Plaketten, Urkunden, insbesondere von Führerscheinen, und sonstigen Bescheinigungen, - 3.
die Anerkennung, Zulassung, Registrierung, Akkreditierung, Begutachtung, Beaufsichtigung oder Überwachung von natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts oder von sonstigen Einrichtungen im Hinblick auf ihre Tätigkeiten - a)
der Prüfung, Untersuchung, Beurteilung und Begutachtung von Personen, Fahrzeugen oder Fahrzeugteilen sowie der Herstellung und Lieferung nach Nummer 2, - b)
des Anbietens von Maßnahmen zur Herstellung oder zum Erhalt der Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b oder - c)
der Prüfung und Zertifizierung von Qualitätssicherungssystemen,
- 4.
Emissionsgrenzwerte unter Berücksichtigung der technischen Entwicklung zum Zeitpunkt des Erlasses der jeweiligen Rechtsverordnung, - 5.
die Mitwirkung natürlicher oder juristischer Personen des Privatrechts bei der Aufgabenwahrnehmung in Form ihrer Beauftragung, bei der Durchführung von bestimmten Aufgaben zu helfen (Verwaltungshilfe), oder in Form der Übertragung bestimmter Aufgaben nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 5, 6, 7 oder 9 Buchstabe b oder Absatz 2 auf diese Personen (Beleihung), insbesondere - a)
die Bestimmung der Aufgaben und die Art und Weise der Aufgabenerledigung, - b)
die Anforderungen an diese Personen und ihre Überwachung einschließlich des Verfahrens und des Zusammenwirkens der zuständigen Behörden bei der Überwachung oder - c)
die Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch diese Personen, insbesondere die Übermittlung solcher Daten an die zuständige Behörde,
- 6.
die Übertragung der Wahrnehmung von einzelnen Aufgaben auf die Bundesanstalt für Straßenwesen oder das Kraftfahrt-Bundesamt oder - 7.
die notwendige Versicherung der natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts oder der sonstigen Einrichtungen in den Fällen der Nummer 3 oder Nummer 5 zur Deckung aller im Zusammenhang mit den dort genannten Tätigkeiten entstehenden Ansprüche sowie die Freistellung der für die Anerkennung, Zulassung, Registrierung, Akkreditierung, Begutachtung, Beaufsichtigung, Überwachung, Beauftragung oder Aufgabenübertragung zuständigen Bundes- oder Landesbehörde von Ansprüchen Dritter wegen Schäden, die diese Personen oder Einrichtungen verursachen.
(4) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 und 8 oder Absatz 2, jeweils auch in Verbindung mit Absatz 3, können auch erlassen werden
- 1.
zur Abwehr von Gefahren, die vom Verkehr auf öffentlichen Straßen ausgehen, - 2.
zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen, die von Fahrzeugen ausgehen, oder - 3.
zum Schutz der Verbraucher.
- 1.
zum Schutz der Bevölkerung in Fußgängerbereichen oder verkehrsberuhigten Bereichen, der Wohnbevölkerung oder der Erholungssuchenden vor Emissionen, die vom Verkehr auf öffentlichen Straßen ausgehen, insbesondere zum Schutz vor Lärm oder vor Abgasen, - 2.
für Sonderregelungen an Sonn- und Feiertagen oder - 3.
für Sonderregelungen über das Parken in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr.
(5) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 oder 2 können auch zur Durchführung von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union und zur Durchführung von zwischenstaatlichen Vereinbarungen im Anwendungsbereich dieses Gesetzes erlassen werden.
(6) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 5 oder 8 oder nach Absatz 2, sofern sie jeweils in Verbindung mit Absatz 4 Satz 1 Nummer 2 oder Satz 2 Nummer 1 erlassen werden, oder Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 12 werden vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit gemeinsam erlassen. Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 11, 13 oder 14 oder nach Absatz 3 Nummer 2 in Verbindung mit Absatz 1 Nummer 1 oder 6 können auch zum Zweck der Bekämpfung von Straftaten erlassen werden. Im Fall des Satzes 2 werden diese Rechtsverordnungen vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat gemeinsam erlassen. Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 oder 8 oder nach Absatz 2, sofern sie jeweils in Verbindung mit Absatz 4 Satz 1 Nummer 3 erlassen werden, werden vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gemeinsam erlassen.
(7) Keiner Zustimmung des Bundesrates bedürfen Rechtsverordnungen
- 1.
zur Durchführung der Vorschriften nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 in Verbindung mit Absatz 3 oder - 2.
über allgemeine Ausnahmen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 18, auch in Verbindung mit den Absätzen 3 bis 6.
(8) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates, jedoch unbeschadet des Absatzes 6,
- 1.
sofern Verordnungen nach diesem Gesetz geändert oder abgelöst werden, Verweisungen in Gesetzen und Rechtsverordnungen auf diese geänderten oder abgelösten Vorschriften durch Verweisungen auf die jeweils inhaltsgleichen neuen Vorschriften zu ersetzen, - 2.
in den auf Grund des Absatzes 1 oder 2, jeweils auch in Verbindung mit den Absätzen 3 bis 7 erlassenen Rechtsverordnungen enthaltene Verweisungen auf Vorschriften in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union zu ändern, soweit es zur Anpassung an Änderungen jener Vorschriften erforderlich ist, oder - 3.
Vorschriften der auf Grund des Absatzes 1 oder 2, jeweils auch in Verbindung mit den Absätzen 3 bis 7 erlassenen Rechtsverordnungen zu streichen oder in ihrem Wortlaut einem verbleibenden Anwendungsbereich anzupassen, sofern diese Vorschriften durch den Erlass entsprechender Vorschriften in unmittelbar im Anwendungsbereich dieses Gesetzes geltenden Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union unanwendbar geworden oder in ihrem Anwendungsbereich beschränkt worden sind.
(9) In den Rechtsverordnungen nach Absatz 1, jeweils auch in Verbindung mit den Absätzen 3 bis 6, kann mit Zustimmung des Bundesrates die jeweilige Ermächtigung ganz oder teilweise auf die Landesregierungen übertragen werden, um besonderen regionalen Bedürfnissen angemessen Rechnung zu tragen. Soweit eine nach Satz 1 erlassene Rechtsverordnung die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt, sind diese befugt, die Ermächtigung durch Rechtsverordnung ganz oder teilweise auf andere Landesbehörden zu übertragen.
(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen:
1. | aG | wenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist, |
2. | H | wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften ist, |
3. | BI | wenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist, |
4. | GI | wenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 228 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist, |
5. | RF | wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt, |
6. | 1. Kl. | wenn der schwerbehinderte Mensch die im Verkehr mit Eisenbahnen tariflich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit Fahrausweis der 2. Wagenklasse erfüllt, |
7. | G | wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist, |
8. | TBI | wenn der schwerbehinderte Mensch wegen einer Störung der Hörfunktion mindestens einen Grad der Behinderung von 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens einen Grad der Behinderung von 100 hat. |
(2) Ist der schwerbehinderte Mensch zur Mitnahme einer Begleitperson im Sinne des § 229 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch berechtigt, sind auf der Vorderseite des Ausweises das Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen“ einzutragen.
(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei beschädigten Kindern und Jugendlichen ist der Grad der Schädigungsfolgen nach dem Grad zu bemessen, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt, soweit damit keine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Für erhebliche äußere Gesundheitsschäden können Mindestgrade festgesetzt werden.
(2) Der Grad der Schädigungsfolgen ist höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn
- 1.
auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann, - 2.
zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder - 3.
die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.
(3) Rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, erhalten nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich in Höhe von 42,5 vom Hundert des auf volle Euro aufgerundeten Einkommensverlustes (Absatz 4) oder, falls dies günstiger ist, einen Berufsschadensausgleich nach Absatz 6.
(4) Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Haben Beschädigte Anspruch auf eine in der Höhe vom Einkommen beeinflußte Rente wegen Todes nach den Vorschriften anderer Sozialleistungsbereiche, ist abweichend von Satz 1 der Berechnung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente zugrunde zu legen, die sich ohne Berücksichtigung dieser Rente wegen Todes ergäbe. Ist die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemindert, weil das Erwerbseinkommen in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nicht mehr als die Hälfte des Erwerbslebens umfaßt, schädigungsbedingt gemindert war, so ist die Rentenminderung abweichend von Satz 1 der Einkommensverlust. Das Ausmaß der Minderung wird ermittelt, indem der Rentenberechnung für Beschädigte Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Zeiten ergäben, in denen das Erwerbseinkommen der Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.
(5) Das Vergleichseinkommen errechnet sich nach den Sätzen 2 bis 5. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A aus den vorletzten drei der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen. Beträge des Durchschnittseinkommens bis 0,49 Euro sind auf volle Euro abzurunden und von 0,50 Euro an auf volle Euro aufzurunden. Der Mittelwert aus den drei Jahren ist um den Prozentsatz anzupassen, der sich aus der Summe der für die Rentenanpassung des laufenden Jahres sowie des Vorjahres maßgebenden Veränderungsraten der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 in Verbindung mit § 228b des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ergibt; die Veränderungsraten werden jeweils bestimmt, indem der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um eins vermindert und durch Vervielfältigung mit 100 in einen Prozentsatz umgerechnet wird. Das Vergleichseinkommen wird zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt; wenn das nach den Sätzen 1 bis 6 errechnete Vergleichseinkommen geringer ist, als das bisherige Vergleichseinkommen, bleibt es unverändert. Es ist durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu ermitteln und im Bundesanzeiger bekanntzugeben; die Beträge sind auf volle Euro aufzurunden. Abweichend von den Sätzen 1 bis 5 sind die Vergleichseinkommen der Tabellen 1 bis 4 der Bekanntmachung vom 14. Mai 1996 (BAnz. S. 6419) für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 durch Anpassung der dort veröffentlichten Werte mit dem Vomhundertsatz zu ermitteln, der in § 56 Absatz 1 Satz 1 bestimmt ist; Satz 6 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.
(6) Berufsschadensausgleich nach Absatz 3 letzter Satzteil ist der Nettobetrag des Vergleicheinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend.
(7) Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte die Regelaltersgrenze nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch erreicht, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen
- 1.
bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1 790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert, - 2.
bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1 380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert
(8) Das Nettoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit wird pauschal aus dem derzeitigen Bruttoeinkommen ermittelt, indem
- 1.
das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit um die in Absatz 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Vomhundertsätze gemindert wird, - 2.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte um den Vomhundertsatz gemindert werden, der für die Bemessung des Beitrags der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 des Elften Buches Sozialgesetzbuch) gilt, und um die Hälfte des Vomhundertsatzes des allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen (§ 241 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch); die zum 1. Januar festgestellten Beitragssätze gelten insoweit jeweils vom 1. Juli des laufenden Kalenderjahres bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres, - 3.
sonstige Geldleistungen von Leistungsträgern (§ 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) mit dem Nettobetrag berücksichtigt werden und - 4.
das übrige Bruttoeinkommen um die in Nummer 2 genannten Vomhundertsätze und zusätzlich um 19 vom Hundert des 562 Euro übersteigenden Betrages gemindert wird; Nummer 2 letzter Halbsatz gilt entsprechend.
(9) Berufsschadensausgleich nach Absatz 6 wird in den Fällen einer Rentenminderung im Sinne des Absatzes 4 Satz 3 nur gezahlt, wenn die Zeiten des Erwerbslebens, in denen das Erwerbseinkommen nicht schädigungsbedingt gemindert war, von einem gesetzlichen oder einem gleichwertigen Alterssicherungssystem erfaßt sind.
(10) Der Berufsschadensausgleich wird ausschließlich nach Absatz 6 berechnet, wenn der Antrag erstmalig nach dem 21. Dezember 2007 gestellt wird. Im Übrigen trifft die zuständige Behörde letztmalig zum Stichtag nach Satz 1 die Günstigkeitsfeststellung nach Absatz 3 und legt damit die für die Zukunft anzuwendende Berechnungsart fest.
(11) Wird durch nachträgliche schädigungsunabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt statt dessen als Einkommen das Grundgehalt der Besoldungsgruppe der Bundesbesoldungsordnung A, der der oder die Beschädigte ohne den Nachschaden zugeordnet würde; Arbeitslosigkeit oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gilt grundsätzlich nicht als Nachschaden. Tritt nach dem Nachschaden ein weiterer schädigungsbedingter Einkommensverlust ein, ist dieses Durchschnittseinkommen entsprechend zu mindern. Scheidet dagegen der oder die Beschädigte schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wird der Berufsschadensausgleich nach den Absätzen 3 bis 8 errechnet.
(12) Rentenberechtigte Beschädigte, die einen gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten oder Lebenspartners, einem Verwandten oder einem Stief- oder Pflegekind führen oder ohne die Schädigung zu führen hätten, erhalten als Berufsschadensausgleich einen Betrag in Höhe der Hälfte der wegen der Folgen der Schädigung notwendigen Mehraufwendungen bei der Führung des gemeinsamen Haushalts.
(13) Ist die Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erhöht worden, so ruht der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente nach § 31 Abs. 1 Satz 1 erzielten Mehrbetrags. Entsprechendes gilt, wenn die Grundrente nach § 31 Abs. 4 Satz 2 erhöht worden ist.
(14) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen:
- a)
welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist, - b)
wie der Einkommensverlust bei einer vor Abschluß der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung zu ermitteln ist, - c)
wie der Berufsschadensausgleich festzustellen ist, wenn der Beschädigte ohne die Schädigung neben einer beruflichen Tätigkeit weitere berufliche Tätigkeiten ausgeübt oder einen gemeinsamen Haushalt im Sinne des Absatzes 12 geführt hätte, - d)
was als derzeitiges Bruttoeinkommen oder als Durchschnittseinkommen im Sinne des Absatzes 11 und des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt und welche Einkünfte bei der Ermittlung des Einkommensverlustes nicht berücksichtigt werden, - e)
wie in besonderen Fällen das Nettoeinkommen abweichend von Absatz 8 Satz 1 Nr. 3 und 4 zu ermitteln ist.
(15) Ist vor dem 1. Juli 1989 bereits über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entschieden worden, so verbleibt es hinsichtlich der Frage, ob Absatz 4 Satz 1 oder 3 anzuwenden ist, bei der getroffenen Entscheidung.
(16) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 2. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
1
Tatbestand:
2Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen B und aG streitig.
3Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 10.04.2012 bei dem am 00.00.0000 geborenen Kläger aufgrund Herzleistungsminderung, Bluthochdruck, Funktionseinschränkung der unteren Gliedmaße, Hörminderung, Funktionsstörung der Wirbelsäule und schlafbezogener Atemstörung einen den Grad der Behinderung (GdB) des Klägers mit 80 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G fest. Aufgrund eines hiergegen eingelegten Widerspruchs erging am 12.07.2012 ein Teilabhilfebescheid, durch den beim Kläger ein GdB von 90 festgestellt wurde. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2012 wurde der Widerspruch unter Einbeziehung des Abhilfebescheides im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen.
4Am 03.01.2013 stellte der Kläger einen Änderungsantrag und beantragte – neben der Feststellung eines höheren GdB – die Zuerkennung der Merkzeichen B und aG. Zur Begründung gab er die Einschränkungen aufgrund seines operierten rechten Knies an.
5Der Beklagte wertete durch seinen ärztlichen Dienst Arztberichte der Klinik für Unfallchirurgie des T. betreffend einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 02.11.2012 bis 08.11.2012, des N. betreffend eine Magnetresonanztomographie (MRT) des rechten Knies vom 30.11.2012 sowie der Chirurgischen Klinik des T. betreffend eine Vorstellung des Klägers am 18.12.2012 aus und kam zu der Einschätzung, der GdB des Klägers sei mit 90 weiterhin zutreffend bewertet. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen B und aG lägen nicht vor.
6Mit Bescheid vom 21.01.2013 lehnte der Beklagte die Feststellung eines höheren GdB und des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen B und aG ab. Hiergegen legte der Kläger, vertreten durch seine Schwester, am 30.01.2013 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, es gehe ihm einzig und allein um die Parkerleichterung, damit er seinen Wagen nahe am Haus abstellen könne, da er nur mit gesundheitlichen Problemen laufen können.
7Mit Bescheid vom 26.02.2013 wies die Bezirksregierung N. den Widerspruch als unbegründet zurück.
8Am 13.03.2013 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, er sei zwischenzeitlich auch tagsüber auf eine Sauerstoffbehandlung mittels mobilen Sauerstoffgeräts angewiesen. Er sehe seine Mobilität so eingeschränkt, dass er nur wenige Schritte gehen könne. Zur Begründung hat der Kläger auf einen Arztbericht des Dr. X. vom 29.05.2013 verwiesen.
9Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Orthopäden Dr. F., des Orthopäden Dr. Q. sowie des Urologen Dr. E. sowie durch Beiziehung des Entlassungsberichts der Klinik N., in der der Kläger in der Zeit vom 22.01.2013 bis 19.02.2013 in stationärer Behandlung war. Darüber hinaus hat es ein internistisch-arbeitsmedizinisches Gutachten der Frau Dr. N. eingeholt, welches diese aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 09.10.2013 gegenüber dem Gericht am 23.11.2013 erstattet hat.
10Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Beklagte den Bescheid vom 21.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2013 dahingehend abgeändert, dass bei dem Kläger ab Antragstellung eine GdB von 100 festgestellt wird.
11Der Kläger hat, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte, beantragt,
12den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 21.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2013 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 11.03.2014 zu verurteilen, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen B und ab dem 01.03.2013 festzustellen.
13Der Beklagte hat beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren und nimmt insbesondere Bezug auf die Ausführungen seines ärztlichen Beraters im Gerichtsverfahren sowie die Feststellungen der Gutachterin Dr. N.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
17Entscheidungsgründe:
18Die Klage ist – soweit der Kläger die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens B begehrt – unzulässig. Die Ablehnung des Merkzeichens B im Bescheid vom 21.01.2013, es handelt sich hierbei um einen eigenen Regelungsgegenstand (vgl. zur Frage verschiedener Regelungsgegenstände im Bereich des Schwerbehindertenrechts Bayerisches Landessozialgericht – LSG – Urteil vom 26.09.2012 – L 15 SB 46/09 = juris) ist bestandskräftig und damit gemäß § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für die Beteiligten und das Gericht bindend. Der Kläger hat gegen den Bescheid nur hinsichtlich der Ablehnung des Merkzeichens aG Widerspruch eingelegt. Dies hat er in seinem Widerspruch klar dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er ausführte, es gehe ihm "einzig und allein um die Parkerleichterung", damit er seinen Wagen nahe am Haus abstellen könne, da er nur mit gesundheitlichen Problemen laufen könne. Die Bezirksregierung N. hat zutreffend auch nur über diesen Regelungsgegenstand im Widerspruch entschieden.
19Soweit sich der Kläger gegen die Ablehnung der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG wendet, ist die Klage als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zwar zulässig, sie ist jedoch unbegründet. Der Kläger ist durch die angefochtene Regelung nicht gemäß § 54 Abs. 2 SGG in seinen Rechten verletzt, da sie rechtmäßig ist. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG.
20Gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs 1 Nr 1 Schwerbehindertenausweisverordnung; vgl. hierzu und zu den sich aus dem Merkzeichen ergebenden rechtlichen Folgen, Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15). Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO (neu bekannt gemacht am 26. Januar 2001, BAnz 2001, Nr 21, S 1419, in der Fassung vom 17.07.2009). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG), wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Erläuternde Feststellungen zur Zuerkennung des Merkzeichens G enthält Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (zur Qualifikation der Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Erläuterungen vgl. LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 - 6 SB 133/09 = juris Rn. 27 - zum Merkzeichen aG). Die Frage, ob die Versorgungsmedizinischen Grundsätze darüber hinaus als Rechtsverordnung verbindliche Festlegungen enthalten ist umstritten. So wird teilweise die Auffassung vertreten, eine Ermächtigungsgrundlage zur Schaffung einer Rechtsverordnung betreffend die im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche sei nicht gegeben. Insbesondere enthalte der durch die Versorgungsmedizin in Bezug genommene Regelung des § 30 Abs. 17 BVG a.F. (nunmehr § 30 Abs. 16 BVG) keine entsprechende Ermächtigung (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.10.2012 - L 8 SB 1914/10 = juris Rn. 26). Die Regelungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Nachteilsausgleich aG seien damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Rechtsgrundlage seien daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze.
21Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an. Sie ist gleichwohl der Ansicht, dass die Feststellungen des Teil D Ziffer 3 mit in die Bewertung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG mit einbezogen werden können, wenngleich freilich nicht als Rechtsgrundlage im Sinne einer Rechtsverordnung. Die Feststellungen in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen werden auf Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze evidenzbasierter Medizin erstellt und fortentwickelt, vgl. § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung. Sie enthalten - im Hinblick auf das Merkzeichen aG - im Wesentlichen die gleichen Regelungen, wie bereits Ziffer 31 der vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX), zuletzt aus dem Jahr 2008, (AHP 2008). Die AHP 2008 beschrieben in Ziffer 31 Abs 3 bis 4 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten. Sie gaben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter außergewöhnlich gehbehindert ist. Die Festlegungen der Anhaltspunkte sind von der Rechtsprechung - als antizipierte Sachverständigengutachten - bei der Frage der Beurteilung der Zuerkennung von Merkzeichen zugrundegelegt worden. Eine entsprechende Funktion erfüllen auch die nunmehr in Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze dargelegten Regelungen (für eine Anwendung der in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen dargelegten Anforderungen auch Bayerisches LSG Urteil vom 26.09.2012 - L 15 SB 46/09 = juris Rn. 61; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 19.12.2011 - L 13 SB 12/08 = juris Rn. 29; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.11.2011 - L 11 SB 67/09 = juris Rn. 34; wohl auch LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 09.08.2012 - L 10 SB 10/12 = juris Rn. 15; LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 - L 6 SB 133/09 = juris Rn. 29 - zu aG; a.A. offensichtlich LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 12.10.2011 - L 6 SB 3032/11 = juris Rn. 39 ff.; Vogl in: jurisPK-SGB IX, § 146 SGB IX Rn. 5).
22Da der Kläger jedenfalls nicht in eine der oben genannten Beispielsgruppen fällt, war zu klären, ob er dem ausdrücklich beschriebenen Personenkreis gleichzustellen ist. Eine Gleichstellung muss dann erfolgen, wenn ein Betroffener in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlichem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter eben so großen Anstrengungen wie die erstgenannte Gruppe von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R = juris Rn.18) Die damit erforderliche Bildung eines Vergleichsmaßstabes birgt freilich Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im Gesetz ausdrücklich aufgezählten Gruppen in ihrer Wegfähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppe - bei gutem gesundheitlichem Allgemeinzustand, hoher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen können. Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten behinderten Gruppen kann es grundsätzlich aber nicht ankommen (vgl. dazu Bundessozialgericht, a.a.O.) Im Ergebnis ist hinsichtlich der Gleichstellung bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Insoweit stellen die maßgeblichen straßenrechtlichen Vorschriften darauf ab, ob ein schwerbehinderter Mensch nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung - und zwar praktisch von den ersten Schritten - außerhalb seines Kraftfahrzeuges sich bewegen kann. Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R = juris Rn.18) Bei der erforderlichen tatrichterlichen Feststellung, ob und ggf. in welchem Umfang körperlichen Anstrengungen vorhanden sind, kann dabei nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden. Zur Klärung dieser Frage sind Indizien wie Erschöpfungszustände, Luftnot, Schmerzen oder ähnliches heranzuziehen (vgl. BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.). So lässt sich ein vergleichbares Erschöpfungsbild u.a. aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren - auch auf Großparkplätzen - mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das ein Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (BSG, a.a.O.).
23Unter Berücksichtigung der genannten Kriterien liegen beim Kläger die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG nicht vor.
24Dies steht zur Überzeugung der Kammer auf Grundlage der vorliegenden Arzt- und Befundberichte aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sowie dem Gutachten der Frau Dr. N. fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von einer erfahrenen medizinischen Gutachterin unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln.
25Der Kläger gab gegenüber der Gutachterin an, sein rechtes Knie mache große Probleme. Hier bestehe ein stechender Schmerz bei Belastung und Ruhe, wobei bei Ruhe zeitweilig auch Beschwerdefreiheit bestehe. Insbesondere wenn er zu Gehen beginne verspüre er einen Schmerz, dieser bleibe aber auch beim Gehen konstant. In den Unterschenkel verspüre er beim Gehen ein Taubheitsgefühl in beiden Unterschenkel, in Ruhe sei dieses nicht so ausgeprägt. Bei Belastung komme es rasch zu Atemnot. Der Kläger beschrieb eine Gehstrecke von ca. 100 m.
26Die Gutachterin beschreibt das Gangbild des Klägers als nach dem Aufstehen leicht hinkend, wobei der Kläger nach einigen Schritten harmonischer, insgesamt aber tapsig und kleinschrittig gehe. Im Weiteren war ein eindeutiges Hinken nicht mehr festzustellen. Zur Untersuchung kam der Kläger ohne Unterarmgehstütze mit einem über der Schulter hängendem Sauerstoffgerät. Der Zehen- und der Fersengang werden als unauffällig beschrieben, der Blindgang als schleppend. Das rechte Knie war hinsichtlich der Streckung und Beugung mit 0°/15°/110° eingeschränkt. Das rechte Knie war in Streckung und Beugung unauffällig. Es fand sich rechts aber ein retropatellares Reiben. Die Flexion des rechten Hüftgelenks war unter Angaben von Knieschmerzen bis 110° möglich. Links wurde die mögliche Extension/Flexion der Hüfte mit 0°/0°/120° ermittelt. Die Beweglichkeit der übrigen Gelenke wird von der Gutachterin als unauffällig beschrieben. Der Einbeinstand konnte beidseits unauffällig gezeigt werden, ohne Herabsinken der jeweils kontralateralen Beckenhälfte. Das Einnehmen der tiefen Hocke wurde von der Gutachterin wegen der geklagten Kniebeschwerde nicht geprüft. Ein Leistendruck oder Trochanterkkopfschmerz wurde nicht geklagt. Am rechten Knie zeigte der Kläger bei nur leichtem Druck einen Schmerz an. Bei der orientierenden neurologischen Untersuchung gab der Kläger an den Außenseiten der Unterschenkel eine Minderung der Sensibilitätsempfindung. Am rechten Schienenbein wird kein Vibrationsempfinden angegeben, links 5/8. Lasègue-Zeichen waren beidseits negativ unter Angabe von Kniegelenksschmerzen rechts. Im Bereich der Zehen und der Fußsohlen gab der Kläger beidseits ein Taubheitsgefühl an. Der Patellasehnenreflex und der Achillessehnenreflex waren jeweils nicht auslösbar. Für das Funktionssystem der unteren Extremitäten ist aufgrund der Kniegelenksarthrose mit Bewegungseinschränkungen in Übereinstimmung mit der Gutachterin gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze von einem GdB von 30 auszugehen. Ebenfalls negativ auf die Beine wirkt sich das postthrombotische Syndrom und die Auswirkungen der diabetischen Polyneuropathie aus. In Übereinstimmung mit der Gutachterin bildet die Kammer hieraus einen GdB für das Funktionssystem der unteren Extremitäten von 40.
27Für das Funktionssystem der Wirbelsäule ist der GdB gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit 20 zu bewerten. Hierbei ist die Bewegungseinschränkung der Seitenneigung der Halswirbelsäule mit 20°/0°/20° und die Einschränkung der Seitenneigung des Rumpfes zu berücksichtigen. Die Rotation der HWS sowie des Rumpfes ist mit 40°/0°/40° nur leicht symmetrisch eingeschränkt. Insgesamt ist hier von leichten bis mittelgradigen Einschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten auszugehen. Unter Berücksichtigung der orthopädischen Beeinträchtigungen kommt die Zuerkennung des Merkzeichens aG keinesfalls in Betracht.
28Allerdings kommt die Feststellung des Merkzeichens aG auch bei Erkrankungen innerer Organe, wie etwa Beeinträchtigung von Herz und Lunge in Betracht.
29Beim Kläger liegen, dies steht zur Überzeugung der Kammer fest, erhebliche internistische Erkrankungen vor. So beschreibt die Gutachterin zum einen eine chronische Ateminsuffizienz in Folge einer Erschöpfung der Atempumpe bei Obesitas-Hypoventilationssyndrom. Nach ihren Feststellungen ist die Lungenfunktion des Klägers verändert, wenngleich auch noch nicht hochgradig. Vor dem Hintergrund, dass bei ihm bereits seit Längerem eine respiratorische Globalinsuffizienz nachgewiesen ist, könne gemäß Teil B Ziffer 8.3 hierfür ein GdB von 80 in Ansatz gebracht werden. Dieser GdB ist nach Auffassung der Kammer – vor dem Hintergrund des ansonsten beschriebenen Aktionsniveaus des Klägers und den Feststellungen des Dr. Wilmsmann in seinem Arztbericht vom 29.05.2013 – fraglich. Die Gutachterin selbst geht davon aus, dass keine Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades vorliegt (vgl. S. 24 des Gutachtens). Vor diesem Hintergrund ist die Zuerkennung eines GdB von 80 insoweit nach Auffassung der Kammer nicht objektiviert. Allerdings ist noch das ebenfalls bestehende Schlaf-Apnoe-Syndrom mit durchgeführter nächtlicher Überdruckbeatmung zu berücksichtigen, durch welches auch nach Auffassung der Kammer der GdB für das Funktionssystem der Lunge insgesamt auf 80 erhöht wird. Gleichwohl ist beim Kläger – trotz des GdB von 80 für das Funktionssystem Lunge – das Merkzeichen aG nicht anzuerkennen. Auch wenn nach Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze eine Gleichstellung bei Einschränkungen der Lungenfunktion schweren Grades dem Grunde nach in Betracht kommt, so kommt es auch bei dem Vorliegen schwerer innerer Erkrankungen für das Merkzeichen aG entscheidend darauf an, dass sich diese auf die Gehfähigkeit entsprechend negativ auswirkt (in diesem Sinne schon BSG Urteil vom 06.11.1985 – 9a RVs 7/83 = juris m.w.N.; vgl. auch Wendler, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 5. Aufl. 2012, Anmerkung zu Teil D 3 Nr. 5). Dies ist beim Kläger aber gerade nicht der Fall. Im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme vom 22.01.2013 bis 19.02.2013 in Bad Lippspringe betrug die Gehstrecke – wenngleich langsam – ohne zusätzliche Sauerstoffzufuhr 190 Meter, mit Sauerstoffzufuhr 250 Meter. Auch Dr. X. beschreibt in seinem Arztbericht vom 29.05.2013, dass eine kardiopulmonale Leistungslimitierung, welche eine Immobilität, wie vom Kläger gezeigt, nach sich zieht, nicht vorliegt. Der Kläger hat selbst gegenüber der Gutachterin angegeben, er könne noch ca. 100 Meter gehen. Dies entspricht auch den übrigen Feststellungen im Gutachten. Die gesamte Untersuchung durch Frau Dr. N. – und insbesondere auch die Gangprüfung – machen deutlich, dass der Kläger zwar in seiner Beweglichkeit nicht unerheblich eingeschränkt ist, nicht aber in einem Maße, welches eine Zuerkennung des Merkzeichens aG rechtfertigte. Das Gleiche gilt auch im Hinblick auf die Beeinträchtigungen des Funktionssystems Herz. Vor dem Hintergrund gelegentlich auftretender vorübergehender schwerer Dekompensationserscheinungen und des vorhandenen Bluthochdrucks geht auch die Kammer – zusammen mit der Gutachterin – gemäß Teil B Ziffer 9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze von einem GdB von 80 für das Funktionssystem Herz-Kreislauf aus. Die Erkrankungen des Herzens wirken sich freilich ebenfalls auf die Mobilität des Klägers aus. Wie aber bereits dargelegt ist die Gehstrecke bislang noch nicht in dem Maße eingeschränkt, dass dem Kläger das Merkzeichen aG zuzuerkennen wäre. An diesen Feststellungen ändert sich auch durch das kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegte Attest der Psychiaterin Tayyebian.
30Auch wenn die Kammer den Wunsch des gesundheitlich erheblich beeinträchtigten Klägers nachvollziehen kann, seinen Wagen nahe an seinem Haus abstellen zu können, so kann die Kammer dies nicht zu Gunsten des Klägers berücksichtigen. Bei der Frage, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG vorliegen, kommt es eben nur auf die gesundheitlichen Voraussetzungen an und nicht etwa auf die konkrete Wohnsituation (vgl. dazu Bayerisches Landessozialgericht Urteil vom 18.06.2013 – L 15 SB 183/09= juris Rn. 62).
31Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 4. Mai 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
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(1) Die Berechnungsgrundlage, die dem Krankengeld, dem Versorgungskrankengeld, dem Verletztengeld und dem Übergangsgeld zugrunde liegt, wird jeweils nach Ablauf eines Jahres ab dem Ende des Bemessungszeitraums an die Entwicklung der Bruttoarbeitsentgelte angepasst und zwar entsprechend der Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 Satz 1 des Sechsten Buches) vom vorvergangenen zum vergangenen Kalenderjahr.
(2) Der Anpassungsfaktor wird errechnet, indem die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer für das vergangene Kalenderjahr durch die entsprechenden Bruttolöhne und -gehälter für das vorvergangene Kalenderjahr geteilt werden; § 68 Absatz 7 und § 121 Absatz 1 des Sechsten Buches gelten entsprechend.
(3) Eine Anpassung nach Absatz 1 erfolgt, wenn der nach Absatz 2 berechnete Anpassungsfaktor den Wert 1,0000 überschreitet.
(4) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gibt jeweils zum 30. Juni eines Kalenderjahres den Anpassungsfaktor, der für die folgenden zwölf Monate maßgebend ist, im Bundesanzeiger bekannt.
(1) Die Bundesagentur für Arbeit kann die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen, besonders eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 155 Absatz 1 auf mehr als einen Pflichtarbeitsplatz, höchstens drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen zulassen, wenn dessen Teilhabe am Arbeitsleben auf besondere Schwierigkeiten stößt. Satz 1 gilt auch für schwerbehinderte Menschen im Anschluss an eine Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen und für teilzeitbeschäftigte schwerbehinderte Menschen im Sinne des § 158 Absatz 2.
(2) Ein schwerbehinderter Mensch, der beruflich ausgebildet wird, wird auf zwei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen angerechnet. Satz 1 gilt auch während der Zeit einer Ausbildung im Sinne des § 51 Absatz 2, die in einem Betrieb oder einer Dienststelle durchgeführt wird. Die Bundesagentur für Arbeit kann die Anrechnung auf drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen zulassen, wenn die Vermittlung in eine berufliche Ausbildungsstelle wegen Art oder Schwere der Behinderung auf besondere Schwierigkeiten stößt. Bei Übernahme in ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis durch den ausbildenden oder einen anderen Arbeitgeber im Anschluss an eine abgeschlossene Ausbildung wird der schwerbehinderte Mensch im ersten Jahr der Beschäftigung auf zwei Pflichtarbeitsplätze angerechnet; Absatz 1 bleibt unberührt.
(3) Bescheide über die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen auf mehr als drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen, die vor dem 1. August 1986 erlassen worden sind, gelten fort.
(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei beschädigten Kindern und Jugendlichen ist der Grad der Schädigungsfolgen nach dem Grad zu bemessen, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt, soweit damit keine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Für erhebliche äußere Gesundheitsschäden können Mindestgrade festgesetzt werden.
(2) Der Grad der Schädigungsfolgen ist höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn
- 1.
auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann, - 2.
zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder - 3.
die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.
(3) Rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, erhalten nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich in Höhe von 42,5 vom Hundert des auf volle Euro aufgerundeten Einkommensverlustes (Absatz 4) oder, falls dies günstiger ist, einen Berufsschadensausgleich nach Absatz 6.
(4) Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Haben Beschädigte Anspruch auf eine in der Höhe vom Einkommen beeinflußte Rente wegen Todes nach den Vorschriften anderer Sozialleistungsbereiche, ist abweichend von Satz 1 der Berechnung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente zugrunde zu legen, die sich ohne Berücksichtigung dieser Rente wegen Todes ergäbe. Ist die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemindert, weil das Erwerbseinkommen in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nicht mehr als die Hälfte des Erwerbslebens umfaßt, schädigungsbedingt gemindert war, so ist die Rentenminderung abweichend von Satz 1 der Einkommensverlust. Das Ausmaß der Minderung wird ermittelt, indem der Rentenberechnung für Beschädigte Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Zeiten ergäben, in denen das Erwerbseinkommen der Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.
(5) Das Vergleichseinkommen errechnet sich nach den Sätzen 2 bis 5. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A aus den vorletzten drei der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen. Beträge des Durchschnittseinkommens bis 0,49 Euro sind auf volle Euro abzurunden und von 0,50 Euro an auf volle Euro aufzurunden. Der Mittelwert aus den drei Jahren ist um den Prozentsatz anzupassen, der sich aus der Summe der für die Rentenanpassung des laufenden Jahres sowie des Vorjahres maßgebenden Veränderungsraten der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 in Verbindung mit § 228b des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ergibt; die Veränderungsraten werden jeweils bestimmt, indem der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um eins vermindert und durch Vervielfältigung mit 100 in einen Prozentsatz umgerechnet wird. Das Vergleichseinkommen wird zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt; wenn das nach den Sätzen 1 bis 6 errechnete Vergleichseinkommen geringer ist, als das bisherige Vergleichseinkommen, bleibt es unverändert. Es ist durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu ermitteln und im Bundesanzeiger bekanntzugeben; die Beträge sind auf volle Euro aufzurunden. Abweichend von den Sätzen 1 bis 5 sind die Vergleichseinkommen der Tabellen 1 bis 4 der Bekanntmachung vom 14. Mai 1996 (BAnz. S. 6419) für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 durch Anpassung der dort veröffentlichten Werte mit dem Vomhundertsatz zu ermitteln, der in § 56 Absatz 1 Satz 1 bestimmt ist; Satz 6 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.
(6) Berufsschadensausgleich nach Absatz 3 letzter Satzteil ist der Nettobetrag des Vergleicheinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend.
(7) Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte die Regelaltersgrenze nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch erreicht, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen
- 1.
bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1 790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert, - 2.
bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1 380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert
(8) Das Nettoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit wird pauschal aus dem derzeitigen Bruttoeinkommen ermittelt, indem
- 1.
das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit um die in Absatz 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Vomhundertsätze gemindert wird, - 2.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte um den Vomhundertsatz gemindert werden, der für die Bemessung des Beitrags der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 des Elften Buches Sozialgesetzbuch) gilt, und um die Hälfte des Vomhundertsatzes des allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen (§ 241 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch); die zum 1. Januar festgestellten Beitragssätze gelten insoweit jeweils vom 1. Juli des laufenden Kalenderjahres bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres, - 3.
sonstige Geldleistungen von Leistungsträgern (§ 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) mit dem Nettobetrag berücksichtigt werden und - 4.
das übrige Bruttoeinkommen um die in Nummer 2 genannten Vomhundertsätze und zusätzlich um 19 vom Hundert des 562 Euro übersteigenden Betrages gemindert wird; Nummer 2 letzter Halbsatz gilt entsprechend.
(9) Berufsschadensausgleich nach Absatz 6 wird in den Fällen einer Rentenminderung im Sinne des Absatzes 4 Satz 3 nur gezahlt, wenn die Zeiten des Erwerbslebens, in denen das Erwerbseinkommen nicht schädigungsbedingt gemindert war, von einem gesetzlichen oder einem gleichwertigen Alterssicherungssystem erfaßt sind.
(10) Der Berufsschadensausgleich wird ausschließlich nach Absatz 6 berechnet, wenn der Antrag erstmalig nach dem 21. Dezember 2007 gestellt wird. Im Übrigen trifft die zuständige Behörde letztmalig zum Stichtag nach Satz 1 die Günstigkeitsfeststellung nach Absatz 3 und legt damit die für die Zukunft anzuwendende Berechnungsart fest.
(11) Wird durch nachträgliche schädigungsunabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt statt dessen als Einkommen das Grundgehalt der Besoldungsgruppe der Bundesbesoldungsordnung A, der der oder die Beschädigte ohne den Nachschaden zugeordnet würde; Arbeitslosigkeit oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gilt grundsätzlich nicht als Nachschaden. Tritt nach dem Nachschaden ein weiterer schädigungsbedingter Einkommensverlust ein, ist dieses Durchschnittseinkommen entsprechend zu mindern. Scheidet dagegen der oder die Beschädigte schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wird der Berufsschadensausgleich nach den Absätzen 3 bis 8 errechnet.
(12) Rentenberechtigte Beschädigte, die einen gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten oder Lebenspartners, einem Verwandten oder einem Stief- oder Pflegekind führen oder ohne die Schädigung zu führen hätten, erhalten als Berufsschadensausgleich einen Betrag in Höhe der Hälfte der wegen der Folgen der Schädigung notwendigen Mehraufwendungen bei der Führung des gemeinsamen Haushalts.
(13) Ist die Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erhöht worden, so ruht der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente nach § 31 Abs. 1 Satz 1 erzielten Mehrbetrags. Entsprechendes gilt, wenn die Grundrente nach § 31 Abs. 4 Satz 2 erhöht worden ist.
(14) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen:
- a)
welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist, - b)
wie der Einkommensverlust bei einer vor Abschluß der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung zu ermitteln ist, - c)
wie der Berufsschadensausgleich festzustellen ist, wenn der Beschädigte ohne die Schädigung neben einer beruflichen Tätigkeit weitere berufliche Tätigkeiten ausgeübt oder einen gemeinsamen Haushalt im Sinne des Absatzes 12 geführt hätte, - d)
was als derzeitiges Bruttoeinkommen oder als Durchschnittseinkommen im Sinne des Absatzes 11 und des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt und welche Einkünfte bei der Ermittlung des Einkommensverlustes nicht berücksichtigt werden, - e)
wie in besonderen Fällen das Nettoeinkommen abweichend von Absatz 8 Satz 1 Nr. 3 und 4 zu ermitteln ist.
(15) Ist vor dem 1. Juli 1989 bereits über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entschieden worden, so verbleibt es hinsichtlich der Frage, ob Absatz 4 Satz 1 oder 3 anzuwenden ist, bei der getroffenen Entscheidung.
(16) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln.
Für Empfänger einer Pflegezulage nach § 35 und für Beschädigte, deren Grad der Schädigungsfolgen allein wegen Tuberkulose oder Gesichtsentstellung wenigstens 50 beträgt, sowie für Hirnbeschädigte haben die Hauptfürsorgestellen die Leistungen der Kriegsopferfürsorge unter Beachtung einer wirksamen Sonderfürsorge zu erbringen.
Tenor
-
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. April 2010 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betrifft.
-
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
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Der Kläger begehrt im Wege eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", also die Zuerkennung des Merkzeichens RF.
- 2
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Bei dem 1973 geborenen Kläger wurde durch Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München II/Außenstelle Regensburg - Versorgungsamt - vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung - Landesversorgungsamt - vom 18.2.2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Darüber hinaus enthält dieser Verwaltungsakt die Aussage, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G, aG, Bl, H, RF, Gl, 1. Kl. nicht vorliegen. Nach seinem Umzug nach Schleswig-Holstein bat der Kläger das dortige Landesamt für soziale Dienste im Juli 2005 um eine Überprüfung dieser Feststellungen. Mit Bescheid vom 23.9.2005 lehnte dieses Amt eine Neufeststellung nach § 44 Abs 2 SGB X ab. Den Widerspruchsbescheid vom 1.2.2006 stützte es auch auf § 48 SGB X. Am 12.4.2006 beantragte der Kläger erneut eine Überprüfung, die vom beklagten Land durch Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 abgelehnt wurde.
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Der sodann vom Kläger erhobenen, auf Feststellung eines GdB von 80 und der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF gerichteten Klage hat das Sozialgericht Itzehoe (SG) - nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens vom 18.6.2007 sowie weiterer Stellungnahmen vom 25.10.2007 und 13.10.2008 des Sachverständigen Dr. S. durch Urteil vom 17.10.2008 insoweit stattgegeben, als der Beklagte verpflichtet worden ist, die bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab 12.4.2006 mit einem GdB von 70 zu bewerten. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung ist vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht (LSG) im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen worden (Urteil vom 13.4.2010):
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Das Gutachten des Sachverständigen Dr. S., auf dessen Grundlage das SG den GdB des Klägers mit 70 bewertet habe, sei in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Es bestehe kein Zweifel daran, dass bei dem Kläger infolge seiner Erkrankung mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten bestünden, da er nicht über hinreichende Anpassungsmöglichkeiten verfüge, um beruflich eingegliedert werden zu können, und zudem auch weitgehend in seinen sozialen Kontakten eingeschränkt sei. Andererseits überzeuge es, wenn der Sachverständige gleichwohl schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten verneine, weil der Kläger noch zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sei.
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Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF. Anspruchsgrundlage hierfür sei § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sei die einschlägige landesrechtliche Vorschrift Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 Achter Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15.10.2004 (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag - RdFunkÄndVtr8) in der Fassung des Schleswig-Holsteinischen Gesetzes zum RdFunkÄndVtr8 (RdFunkVtr8ÄndG SH) vom 3.1.2005 (GVBl S 14), mit dessen Inkrafttreten zum 1.4.2005 die Rundfunkgebührenbefreiungsverordnungen der Länder außer Kraft getreten seien. Dabei seien die rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF jedoch gleich geblieben. Befreit würden danach unter anderem behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten.
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Soweit die einschlägige Regelung die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF von einem Mindest-GdB von 80 abhängig mache, verstoße sie nicht gegen höherrangiges Recht. Dies gelte insbesondere auch, soweit sie im Einzelfall dazu führe, dass der Nachteilsausgleich nicht zuerkannt werden könne, obwohl die weiteren Voraussetzungen hierfür vorlägen, weil der Betroffene aufgrund der bei ihm bestehenden Funktionsstörungen dauernd faktisch an das Haus gebunden sei. Letzteres habe Dr. S. bei dem Kläger bejaht, weil aufgrund der bei diesem bestehenden Wahnvorstellungen der Kontakt mit Menschen in größerer Zahl zu Verunsicherung und Bedrohungsgefühl führe, was erwarten lasse, dass er Veranstaltungen durch unangemessenes und auch offen aggressives Verhalten stören würde. Ob der Kläger damit im Sinne der Rechtsprechung in dem Sinne umfassend von allen öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme, bedürfe keiner Entscheidung.
- 7
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Unterstelle man, dass bei dem Kläger zwar die Grundvoraussetzung eines GdB von 80 fehle, die weiteren Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF dagegen vorlägen, führe dies nicht dazu, dass die einschlägige Vorschrift gegen höherrangiges Recht verstoße bzw im Falle des Klägers ermächtigungskonform so zu interpretieren wäre, dass ihm der Nachteilsausgleich RF unabhängig von einem GdB von mindestens 80 zuzuerkennen wäre. Zwar dürfte der Normgeber davon ausgegangen sein, dass der Mindest-GdB von 80 die Grundvoraussetzung, die faktische Bindung an das Haus eine spezielle, die Grundvoraussetzung weiter einschränkende Regelung beinhalte. In dem speziellen Fall des Klägers erweise sich dagegen die Grundvoraussetzung als die eigentlich einschränkende Regelung. Es entspreche jedoch dem Wesen typisierender und generalisierender Regelungen, wie sie auch die Regelungen über die Gewährung von Nachteilsausgleichen nach dem SGB IX darstellten, dass sie nicht jeden Einzelfall erfassen könnten. Dass es sich hier um einen atypischen Einzelfall handele, sei insbesondere der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. vom 13.10.2008 zu entnehmen, in der dieser nochmals herausstelle, dass bei dem Kläger die - besondere - Konstellation vorliege, dass er - wenn auch mit deutlichen Einschränkungen - aufgrund seines Leidens zwar zu einer weitgehend selbstständigen Lebensführung in der Lage sei, gerade an öffentlichen Veranstaltungen aber nicht teilnehmen könne.
- 8
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Zur Begründung seiner vom Bundessozialgericht (BSG) - beschränkt auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF - zugelassenen Revision trägt der Kläger unter anderem vor: Gerügt werde eine Verletzung von § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV iVm § 6 Abs 1 Nr 8 Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RdFunkGebStVtr) idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8. Zwar sei ihm bei strenger Wortlautauslegung das Merkzeichen RF nicht zuzuerkennen, weil bei ihm lediglich ein GdB von 70 vorliege. Hier handele es sich jedoch um eine besondere Konstellation, also um einen atypischen Fall. Das LSG verkenne, dass Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 RdFunkVtr8ÄndG SH sogenannte generalisierende Tatbestände enthalte. Dementsprechend seien diese Vorschriften nicht als abschließende Regelung anzusehen. Die Benennung eines willkürlichen Mindest-GdB von 80 solle zwar eine erste Einordnung einer Erkrankung ermöglichen, jedoch in atypischen Fällen die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht zwingend ausschließen.
- 9
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 13.4.2010 und des SG Itzehoe vom 17.10.2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 17.5.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 insoweit aufzuheben, als die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betroffen ist, und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 bzw des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF festzustellen.
- 10
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Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
- 11
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bringt ergänzend vor: Entgegen der Ansicht des Klägers sei die Aufzählung in § 6 Abs 1 RdFunkGebStVtr abschließend. Anderenfalls würde sich die Härteregelung in Abs 3 der Vorschrift erübrigen. Diese stelle weitere Befreiungen von der Gebührenpflicht in das Ermessen der Rundfunkanstalten.
- 12
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
- 13
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Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur (teilweisen) Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen für eine abschließende Entscheidung des erkennenden Senats nicht ausreichen.
- 14
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In der Sache begehrt der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des landesrechtlich geregelten Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", die im Schwerbehindertenausweis durch die Eintragung des Merkzeichens RF dokumentiert wird. Entgegen der Auffassung des LSG ist also nicht das Merkzeichen selbst der Nachteilsausgleich; vielmehr verhilft es dem schwerbehinderten Menschen lediglich dazu, eine Rundfunkgebührenbefreiung zu erlangen (vgl § 69 Abs 5 Satz 2 SGB IX).
- 15
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Bei dem durch den angefochtenen Verwaltungsakt (Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006) beschiedenen Antrag des Klägers handelt es sich - soweit es hier darauf ankommt - um ein Überprüfungsbegehren nach § 44 SGB X. Es ist in erster Linie auf eine entsprechende Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 gerichtet. Zumindest hilfsweise wird auch die Rücknahme des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 begehrt. Eine Überprüfung dieses Verwaltungsakts, der auch die Ablehnung einer Neufeststellung nach § 48 SGB X enthält, kommt in Betracht, wenn sich der Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 als rechtmäßig erweist, in der Zeit danach jedoch eine für den Kläger möglicherweise günstige Änderung eingetreten ist. Zwar ist das LSG - vom Kläger insoweit unangegriffen - davon ausgegangen, dass sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers in der Zeit ab Januar 2005 nicht wesentlich geändert haben, es könnte jedoch - auch infolge des Umzuges des Klägers von Bayern nach Schleswig-Holstein - eine wesentliche Änderung des maßgeblichen Landesrechts eingetreten sein.
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Der insoweit einschlägige § 44 SGB X bestimmt in seinen Abs 1 und 2:
(1)
Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
(2)
Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
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Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Rücknahme der mit Bescheid vom 5.1.2005 erfolgten Feststellung, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF nicht vorliegen, ist § 44 Abs 2 SGB X. Dabei handelt es sich um einen "Auffangtatbestand" für Fälle, in denen § 44 Abs 1 SGB X nicht anwendbar ist(vgl Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 4 f, 46). So verhält es sich hier, da die streitige Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht insbesondere keine Sozialleistung iS des § 44 Abs 1 SGB X ist(vgl BSGE 69, 14, 16 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 S 8 ff). Für die Zuständigkeit des Beklagten ist es unerheblich, dass der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme begehrt wird, von bayerischen Behörden erlassen worden ist (§ 44 Abs 3 SGB X).
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§ 44 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Maßgebend ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (vgl BSGE 88, 75, 81 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 20 S 136; BSG Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 27/98 R, juris RdNr 15), wobei neuere rechtliche Erkenntnisse zu berücksichtigen sind (vgl BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21 f; BSGE 63, 18, 23 = SozR 1300 § 44 Nr 31 S 84).
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Bei Bekanntgabe des in Bayern erlassenen Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 richtete sich die Zuerkennung des Merkzeichens RF nach folgenden Bestimmungen: Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX idF vom 23.4.2004 (BGBl I 606) treffen die (für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes - BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs 1 SGB IX, soweit neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie im Falle des Abs 4 über weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs 5 Satz 1 SGB IX). Nach § 70 SGB IX ist die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Vorschriften über die Gestaltung der Ausweise, ihre Gültigkeit und das Verwaltungsverfahren zu erlassen. Auf dieser Grundlage sieht § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV in der bis zum 11.12.2006 geltenden Fassung vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) vor, dass im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen RF einzutragen ist, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.
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Seinerzeit galt in Bayern noch die Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (RdFunkGebBefrV BY) vom 21.7.1992 (GVBl S 254). Nach deren § 1 Abs 1 Nr 3 wurden von der Rundfunkgebührenpflicht Behinderte befreit, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Unbeschadet der Gebührenbefreiung nach § 1 konnte die Rundfunkanstalt in besonderen Härtefällen von der Rundfunkgebührenpflicht befreien(§ 2 RdFunkGebBefrV BY). Der vom LSG im Hinblick auf Umzug des Klägers nach Schleswig-Holstein angewendete § 6 RdFunkGebStVtr vom 31.8.1991 idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8 vom 15.10.2004, dem Schleswig-Holstein durch das RdFunkVtr8ÄndG SH vom 3.1.2005 (GVBl S 14) zugestimmt hat, gilt erst ab 1.4.2005. Gleichzeitig sind die RdFunkGebBefrV der Länder außer Kraft getreten (§ 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr). Über die Auslegung und Anwendung der RdFunkGebBefrV BY kann der Senat als Revisionsgericht entscheiden, weil sie - wie durch den RdFunkGebStVtr aller Bundesländer beabsichtigt - mit den landesrechtlichen Regelungen anderer Bundesländer übereinstimmt (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 102).
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§ 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY enthält eine abschließende Aufzählung der Personengruppen, die von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Weder der Wortlaut noch sonstige Anhaltspunkte (vgl dazu allgemein den Antrag der Bayerischen Staatsregierung zum RdFunkÄndVtr8, LT-Drucks BY 15/1921 S 21; Gesetzentwurf zum RdFunkVtr8ÄndG SH, LT-Drucks SH 15/3747 S 57) deuten darauf hin, dass es sich nur um eine Auflistung typischer Fälle handelt. Selbst wenn die vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, in der hier maßgeblichen Fassung von 2005) insoweit - wie der Kläger annimmt - missverständliche Formulierungen enthalten sollten, lässt sich daraus kein abweichendes Auslegungsergebnis herleiten, weil die AHP ihrem Charakter als antizipierte Sachverständigengutachten entsprechend nicht geeignet sind, die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen authentisch zu interpretieren.
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Nach dem hier anwendbaren § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY mussten Behinderte zwei gesonderte (kumulative) Voraussetzungen erfüllen: Bei ihnen musste ein GdB von 80 vorliegen. Darüber hinaus war es erforderlich, dass sie wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Die Regelung lässt es nicht zu, auf das Vorliegen eines GdB von 80 zu verzichten, wenn allein das zweite Merkmal (Nicht-Teilnehmen-Können an öffentlichen Veranstaltungen) gegeben ist. Daran ändert es nichts, dass nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist, warum die betroffenen Personen von einer Gebührenbefreiung ausgeschlossen werden sollten. Jedenfalls ist es fraglich, ob der Mindest-GdB von 80 insoweit eine sachgerechte Schranke bildet. Allerdings dient er immerhin der Verwaltungsvereinfachung, wenn die Prüfung des zweiten Merkmals bei Fehlen des Mindest-GdB grundsätzlich entfallen kann.
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Ob diese Bestimmung für sich genommen in jeder Hinsicht mit höherrangigem Recht vereinbar war, braucht hier nicht näher geprüft zu werden, denn der Verordnungsgeber hatte durch die Härtefallregelung in § 2 RdFunkGebBefrV BY eine hinreichende Möglichkeit geschaffen, um bei der Rechtsanwendung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen(vgl dazu allgemein auch BVerfG <2. Kammer des Ersten Senats> Beschluss vom 30.11.2011 - 1 BvR 3269/08 und 1 BvR 656/10 - Umdruck S 7 f). Danach wurde die Gebührenbefreiung in besonderen Härtefällen einer Ermessensentscheidung der Rundfunkanstalt überlassen. Es kann hier offen bleiben, ob es sich bei dem Merkmal eines besonderen Härtefalls generell um eine gesondert zu prüfende Voraussetzung für die der Rundfunkanstalt obliegende Ermessensentscheidung handelt (vgl allgemein dazu BSG SozR 3-3100 § 89 BVG Nr 3 S 8; BSGE 59, 111, 115 f = SozR 1300 § 48 Nr 19 S 39 f). Dies trifft jedenfalls für Härtefälle zu, die allein auf den gesundheitlichen Gegebenheiten des Menschen mit Behinderung beruhen. Das Vorliegen eines gesundheitlich bedingten Härtefalls gehört zu den gesundheitlichen Merkmalen, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Rundfunkgebührenbefreiung" sind. Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX obliegt die Feststellung eines solchen Härtefalls mithin den für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden. Es ist auch sachgerecht, die insoweit erforderlichen Feststellungen einer dafür ausgestatteten, fachkundigen Stelle zu überlassen (vgl allgemein dazu BSG Urteil vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81, juris RdNr 25).
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Nach Auffassung des erkennenden Senats liegt ein gesundheitlich bedingter Härtefall regelmäßig dann vor, wenn eine Person mit einem GdB von weniger als 80 wegen eines besonderen psychischen Leidens ausnahmsweise an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Dabei handelt es sich nach den Feststellungen des LSG um eine außergewöhnliche, atypische Konstellation. Dies rechtfertigt es, unter Berücksichtigung des § 2 RdFunkGebBefrV BY die landesrechtlichen Voraussetzungen für eine - hier allerdings in das Ermessen der Rundfunkanstalt gestellte - Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht als erfüllt anzusehen(§ 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV). Demnach war in einem solchen Fall das Merkzeichen RF zuzuerkennen. Da in dem betreffenden Schwerbehindertenausweis ein GdB von unter 80 eingetragen ist, wurde für jeden deutlich, dass der Inhaber nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY, sondern nur die eines gesundheitlich bedingten Härtefalls nach § 2 RdFunkGebBefrV BY erfüllte.
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Die für die Zuerkennung des Merkzeichens RF im Februar 2005 einschlägigen Vorschriften sind auch sonst mit höherrangigem Recht vereinbar. Zwar sind - auch in früheren Entscheidungen des BSG (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 S 3 f; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 103 f) -gegen die Befreiung der in § 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY aufgeführten Menschen mit Behinderung von der Rundfunkgebührenpflicht rechtliche Bedenken geäußert worden. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob daran auch unter Berücksichtigung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl II 2008, 1419), das seit dem 26.3.2009 in Deutschland in Kraft ist (vgl Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812), festgehalten werden kann. Jedenfalls wirken sich solche Bedenken nicht auf die Rechtmäßigkeit der Vorschriften über die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF aus, zumal dieses auch den Zugang zu günstigen Telefontarifen (zB Sozialtarif der Deutschen Telekom) ermöglicht (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 104; BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2 RdNr 29 ff).
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Ob dem Kläger danach im Februar 2005 das Merkzeichen RF zustand, vermag der erkennende Senat nicht abschließend zu entscheiden. Dazu fehlt es an hinreichenden Tatsachenfeststellungen des LSG zu den damaligen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers und deren Auswirkungen bezogen auf die Frage, ob er aufgrund seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen konnte. Zunächst ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens RF auch allein aufgrund einer psychischen Störung erfüllt sein können (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26). Das LSG hat sodann ausgeführt, es bedürfe keiner Entscheidung, ob der Kläger - wie von der Rechtsprechung gefordert (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 17 S 65 f mwN) - unter Berücksichtigung seines von dem Sachverständigen Dr. S. festgestellten Gesundheitszustandes in dem Sinne umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme. Da der Senat die hier erforderlichen, vom LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung unterlassenen tatrichterlichen Feststellungen im Revisionsverfahren nicht treffen kann (§ 163 SGG), ist die Sache insoweit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
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Eine Zurückverweisung erübrigt sich nicht im Hinblick auf die vom Kläger (hilfsweise) ebenfalls begehrte Überprüfung des Bescheides des Beklagten vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006. Auch auf diesem Wege gelangt der Senat nicht zu einer abschließenden Sachentscheidung. Zwar sind in der Zeit zwischen dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 und dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 insoweit Rechtsänderungen eingetreten, als die RdFunkGebBefrV BY gemäß § 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr idF des am 9.2.2005 in Bayern bekannt gemachten Art 5 Nr 10 RdFunkÄndVtr8 (GVBl S 27) ab 1.4.2005 nicht mehr galt und infolge des Umzuges des Klägers nach Schleswig-Holstein dann § 6 RdFunkGebStVtr idF des RdFunkVtr8ÄndG SH anzuwenden war. § 6 Abs 1 Nr 8 RdFunkGebStVtr stimmt jedoch inhaltlich im Wesentlichen mit § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY überein. Entsprechendes gilt auch für die Härtefallregelungen in § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr und § 2 RdFunkGebBefrV BY. Folglich ergeben sich aus dieser Änderung für die Beurteilung des vorliegenden Falles keine neuen Gesichtspunkte. Es handelt sich mithin nicht um eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS von § 48 SGB X, die bei der Bescheiderteilung im Februar 2006 iS von § 44 Abs 2 SGB X zu Unrecht außer Acht gelassen worden wäre.
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Sollte das LSG bei seiner weiteren Prüfung zu der Beurteilung gelangen, dass der Kläger im Februar 2005 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfüllte, ist der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB X), soweit darin das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint worden ist. Ob eine Rücknahme danach auf die Zeit ab der Bekanntgabe des Bescheides vom 17.5.2006 (vgl dazu BSG SozR 1300 § 48 Nr 31) beschränkt wäre oder sich - wie das SG angenommen hat - auf den Zeitpunkt der Antragstellung (12.4.2006) beziehen kann (vgl dazu Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 46), ist höchstrichterlich noch nicht eindeutig entschieden (vgl dazu BSG SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 5). Auf diese Frage dürfte es hier allerdings praktisch kaum ankommen, da eine Rundfunkgebührenbefreiung gemäß § 6 Abs 5 RdFunkGebStVtr ohnehin nur vom Ersten des Monats an festgestellt wird, der dem Monat folgt, in dem der Befreiungsantrag bei der Landesrundfunkanstalt (bzw bei der von den Landesrundfunkanstalten beauftragten Gebühreneinzugszentrale) gestellt wird(vgl § 6 Abs 4 RdFunkGebStVtr). Bei der Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF für die Zukunft wäre dann § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr in der ab 1.4.2005 geltenden Fassung zugrunde zu legen.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Die Erhebungen erfolgen jährlich für das abgelaufene Kalenderjahr.
(1) Hilfsmerkmale sind
- 1.
Name und Anschrift des Auskunftspflichtigen, - 2.
Name, Telefonnummer und E-Mail-Adresse der für eventuelle Rückfragen zur Verfügung stehenden Person, - 3.
für die Erhebung nach § 143 Nummer 1 die Kennnummer des Leistungsberechtigten.
(2) Die Kennnummern nach Absatz 1 Nummer 3 dienen der Prüfung der Richtigkeit der Statistik und der Fortschreibung der jeweils letzten Bestandserhebung. Sie enthalten keine Angaben über persönliche und sachliche Verhältnisse des Leistungsberechtigten und sind zum frühestmöglichen Zeitpunkt, spätestens nach Abschluss der wiederkehrenden Bestandserhebung, zu löschen.
Die Erhebungen erfolgen jährlich für das abgelaufene Kalenderjahr.
Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch kostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger oder Beklagte beteiligt sind. Nimmt ein sonstiger Rechtsnachfolger das Verfahren auf, bleibt das Verfahren in dem Rechtszug kostenfrei. Den in Satz 1 und 2 genannten Personen steht gleich, wer im Falle des Obsiegens zu diesen Personen gehören würde. Leistungsempfängern nach Satz 1 stehen Antragsteller nach § 55a Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 93 Satz 3, § 109 Abs. 1 Satz 2, § 120 Absatz 1 Satz 2 und § 192 bleiben unberührt. Die Kostenfreiheit nach dieser Vorschrift gilt nicht in einem Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2).
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.