Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Beschluss, 28. Juli 2015 - 17a L 1517/15.A
Gericht
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 17a K 3132/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. Juli 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2Im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) der Berichterstatter als Einzelrichter.
3Der Antrag des Antragstellers hat Erfolg.
4Der Antrag ist zulässig. Insbesondere hat der Antragsteller die Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG, wonach Anträge nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen sind, gewahrt.
5Der Antrag ist auch begründet.
6Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung einer Klage ganz oder teilweise anordnen, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt. Maßgebliche – aber nicht ausschließliche – Grundlage der Abwägungsentscheidung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschätzen lassen.
7Diese Interessenabwägung fällt hier zugunsten des Antragstellers aus, da die Klage in der Hauptsache zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutzantrag Aussicht auf Erfolg hat. Die Abschiebungsanordnung nach Ungarn im Bescheid vom 7. Juli 2015 erweist sich bei summarischer Betrachtung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aller Voraussicht nach als rechtswidrig.
8§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestimmt für den Fall, dass ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Abschiebung in diesen Staat anordnet, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Gegenüber dem Antragsteller ist die Abschiebung nach Ungarn angeordnet worden, da dieser Staat gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (sog. "Dublin III-Verordnung") für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei.
9Ungarn dürfte jedoch nach den Regelungen der Dublin III-VO nicht für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig sein. Zwar hat Ungarn unter dem 8. Juni 2015 seine Zustimmung zu dessen Wiederaufnahme erklärt. Allerdings vermag eine gemäß Art. 25 Dublin III-VO erfolgte Zustimmung keinen Zuständigkeitsübergang zu bewirken und stellt insbesondere auch keine Ausübung eines Selbsteintritts gemäß Art. 17 Dublin III-VO dar.
10Vgl. zu den vergleichbaren Regelungen der Dublin II‑Verordnung: OVG Saarland, Urteil vom 9. Dezember 2014 – 2 A 313/13 – und VG Berlin, Beschluss vom 8. April 2014 – 33 L 81.14 A -, jeweils juris.
11Der Antragsteller hat vielmehr aus Art. 8 Abs. 4 der Dublin III-VO i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG (Schutz des Kindeswohls) einen Anspruch auf Durchführung seines Asylverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland.
12Gemäß Art. 8 Abs. 4 der Dublin III-VO ist bei Abwesenheit eines Familienangehörigen, eines seiner Geschwister oder eines Verwandten im Sinne der Absätze 1 und 2 der Mitgliedstaat zuständig, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. Verfassungsrechtlich verankert ist der Schutz des Kindeswohls in Art. 6 Abs. 2 GG.
13Vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1998- 2 BvR 1206/98 -, juris, Rn. 77.
14Der Antragsteller ist ein unbegleiteter Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung. Weder das Bundesamt noch Ungarn haben Zweifel an dem von ihm benannten Geburtsdatum ( . ) angemeldet. Zudem hat der Antragsteller angegeben, einen Personalausweis und eine Geburtsurkunde vorlegen zu können; derartige Dokumente sind allerdings nicht zum Verwaltungsvorgang gelangt. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass sich ein Familienangehöriger, ein Geschwister oder ein Verwandter des Antragstellers (vgl. zu den Begrifflichkeiten Art. 2 lit. g) und h) Dublin III-VO) rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält (vgl. Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO), sind auf der Grundlage der Angaben des Antragstellers nicht verifizierbar. Dahingehende Feststellungen hat auch das Bundesamt nicht getroffen. Erst Recht ist keine Einzelfallprüfung durchgeführt worden, ob ein sich etwaig in einem anderen Mitgliedstaat aufhaltender Verwandter für den Antragsteller sorgen kann (vgl. Art. 8 Abs. 2 Dublin III-VO). Der Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 4 der Dublin III-VO ist folglich eröffnet.
15Aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs,
16Urteil vom 6. Juni 2013, M.A. u.a. vs. UK, - C-648/11 -, juris,
17zur inhaltlich vergleichbaren Vorgängerbestimmung des Art. 6 Satz 2 der Dublin II-VO ist Art. 8 Abs. 4 der Dublin III-VO mit Blick auf die besondere Schutzbedürftigkeit Minderjähriger dahingehend auszulegen, dass unbegleitete Minderjährige, die in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt haben, grundsätzlichnicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind, in dem sie den ersten Asylantrag gestellt haben. Unbegleitete Minderjährige bilden eine Kategorie besonders gefährdeter Personen, so dass es nach Auffassung des EuGH wichtig sei, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht länger als unbedingt nötig hinzieht. Unbegleitete Minderjährige sind damit von Wiederaufnahmeverfahren ausgenommen; die Prüfung des Schutzgesuchs ist vom Aufenthaltsstaat selbst - hier von der Bundesrepublik Deutschland - durchzuführen.
18Vgl. OVG Saarland, Urteil vom 9. Dezember 2014– 2 A 313/13 –, VG Berlin, Beschluss vom 8. April 2014– 33 L 81.14.A –, VG Potsdam, Beschluss vom 4. Juli 2014 – 6 L 500/14.A – und VG Aachen, Beschluss vom 22. April 2015 – 5 L 15/15.A -, jeweils juris; vgl. auch Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, ZAR 2015, 81 (88, Fn. 61), wonach sich der Minderjährige gewissermaßen aussuchen könne, wo er sein Asylverfahren durchführen will; a.A.: VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. April 2014– 13 L 247/14.A -.
19Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn der Asylantrag des Antragstellers schon im ersten Mitgliedstaat in der Sache zurückgewiesen wurde und nachfolgend in einem anderen Mitgliedstaat ein „identischer Antrag“ gestellt wird.
20EuGH, Urteil vom 6. Juni 2013 a.a.O., RdNr. 63 und OVG Saarland, Urteil vom 9. Dezember 2014 a.a.O, juris, RdNr. 29 ff.
21Das Vorliegen einer solchen Ausnahmekonstellation ist hier weder auf der Grundlage der Zustimmungserklärung Ungarns zur Wiederaufnahme des Antragstellers noch sonst ersichtlich.
22Die mithin im Fall des Antragstellers einschlägige Regelung des Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO begründet für diesen auch eine subjektive Rechtsposition. Das gilt unbeschadet dessen, dass die Vorschriften des 3. Kapitels der Dublin III-VO dem jeweiligen Antragsteller regelmäßig nicht das subjektive Recht auf ein Verfahren durch einen bestimmten Mitgliedstaat vermitteln.
23Vgl. dazu OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2015– 2 LA 33/15 – und (zur Dublin II-VO) OVG NRW, Beschluss vom 2. Juni 2015 – 14 A 1140/14.A -, jeweils juris.
24Denn angesichts der Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs im zitierten Urteil vom 6. Juni 2013 ist davon auszugehen, dass Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO grundrechtlich „aufgeladen“ ist und im spezifischen Interesse des Asylbewerbers liegt. Der Gerichtshof stellt ausdrücklich auf das in Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundrecht ab, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen „das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss“ (a.a.O., RdNr. 58; vgl. auch Art 6 Abs. 1 Dublin III-VO).
25Die Durchführung des Verfahrens des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland dient seinem Wohl. Das folgt schon aus den genannten generellen Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs zum Minderjährigenschutz. Zudem dürften gerade die spezifischen Verhältnisse in Ungarn ein solches Verständnis gebieten. Das gilt unabhängig davon, dass die Kammer die in der Rechtsprechung umstrittene Frage zum Vorliegen systemischer Schwachstellen i.S.d. Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO in Ungarn bislang verneint hat.
26Vgl. Urteile vom 5. Mai 2015 – 17a K 5916/14.A – und vom 28. Mai 2015 - 17a K 190/15. A – m.w.Nw; so auch - die neueste Auskunftslage auswertend - die 18a. Kammer des erkennenden Gerichts, Beschluss vom 23. Juli 2015– 18a L 1218/15.A -.
27Denn nach der Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass auch Minderjährige, die auf der Grundlage des Dublin-Verfahrens nach Ungarn zurückgeführt werden, dort inhaftiert werden. Hiervon sind selbst (Familien mit) Kleinkinder(n) betroffen.
28Vgl. Country Report – Hungary der Asylum Information Database (aida) mit Stand vom 17. Februar, S. 51, abrufbar unter:http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_-_hungary_thirdupdate_final_february_2015.pdf; vgl. zur Unterbringung/Situation Minderjähriger in Ungarn im Einzelnen: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 10. Juni 2015– 18a L 789/15.A – m.w.Nw.
29Hiernach bestehen sogar Bedenken, ob überhaupt eine mit dem Kindeswohl zu vereinbarende Unterbringung des Antragstellers derzeit in Ungarn gewährleistet wäre und kann jedenfalls nicht zweifelhaft sein, dass die Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland statt in Ungarn dem Wohl des Antragstellers im Sinne des Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO dient.
30Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
moreResultsText
moreResultsText
Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.