Verwaltungsgericht Köln Urteil, 03. Feb. 2015 - 14 K 5928/14.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Oktober 2014 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 100 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Tatbestand
2Der 1985 geborenen Kläger zu 1.) und die 1991 geborene Klägerin zu 2.) sind afgahnische Staatsangehörige schiitischen Glaubens. Sie gehören der Volksgruppe der Hazara an. Die Kläger zu 3.) und 4.) sind ihre Kinder. Sie wurden am 00.00.2010 und am 00.00.2013 in Teheran/Iran geboren. Die Kläger reisten nach eigenen Angaben am 13. Juni 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 23. Juni 2014 Asylanträge. In der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtline (hiernach: BAMF) gaben die Kläger an, vor 10 bzw. 15 Jahren Afghanistan verlassen zu haben und zunächst im Iran gelebt zu haben. Den Iran hätten sie vor ca. 2 Jahren verlassen und seien dann über die Türkei nach Bulgarien gereist, wo sie ca. vier Monate geblieben seien. Schließlich seien sie über Serbien und Ungarn nach Deutschland gekommen.
3Die Überprüfung der Fingerabdrücke der Kläger im EURODAC-System ergab, dass die Kläger zu 1.) und 2.) am 16. November 2011 in Bulgarien um Asyl nachgesucht hatten. Das Bundesamt richtete daher unter dem 15. August 2014 ein Übernahmeersuchen an Bulgarien. Die bulgarischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 2. September 2014 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge Gem. Art. 13 Abs. 1 Verordnung EU Nr. 604/2013.
4Mit Bescheid vom 16. Oktober 2014 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Antragsteller als unzulässig ab und ordnete ihre Abschiebung nach Bulgarien an. Dieser Bescheid wurde den Antragstellern am 19. Oktober 2014 zugestellt.
5Am 28. Oktober 2014 haben die Kläger Klage erhoben und zugleich um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (14 L 2043/14.A) nachgesucht.
6Das Gericht hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom (14 L 2043/14.A) als unzulässig abgelehnt.
7Zur Begründung ihrer Klage machen die Kläger geltend, es lägen systemische Mängel des Asylverfahrens in Bulgarien insbesondere für besonders schutzbedürftige Personen vor. Zudem sei die Klägerin zu 2.) auch erkrankt.
8Die Kläger beantragen,
9den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Oktober 2014 aufzuheben.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Sie nimmt zur Begründung Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
13Die Beteiligten haben den Verzicht auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung erklärt.
14Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren und im Verfahren 14 L 2043/14.A und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
15Entscheidungsgründe
16Das Gericht konnte nach Einverständnis der Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichten (§ 101 Abs. 2 VwGO).
17Die Klage gegen den Bescheid vom 16. Oktober 2014 ist zulässig und begründet.
18Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft. Die Kläger begehren die Aufhebung des sie belastenden Bescheids vom 16. Oktober 2014 in welchem die Beklagte ihren Asylantrag gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt hat. Für die Erhebung einer vorrangigen Verpflichtungsklage - gerichtet auf das eigentliche Rechtsschutzziel des Klägers, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen - besteht kein Raum.
19Vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 16. April 2014 – A 11 K 1721/13 – juris; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A – juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. August 2012 – 4 MC 133/12 – juris.
20Im Falle der Aufhebung eines auf der Grundlage von § 27a AsylVfG ergangenen Bescheids ist daher das Asylverfahren durch die Beklagte weiterzuführen und das Asylbegehren der Kläger von ihr in der Sache zu prüfen.
21Die im Übrigen zulässige Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
22Die Beklagte hat die Asylanträge der Kläger in rechtswidriger Weise als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung angeordnet. Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die dafür erforderlichen Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
23Zwar ist Bulgarien gemäß Art. 13 Abs. 1 Verordnung EU Nr. 604/2013 (hiernach: Dublin III-VO) für die Behandlung des Asylantrags zuständig. Für die Kläger als besonders schutzwürdige Personen muss aber im vorliegenden Einzelfall dennoch von einer Überstellung nach Bulgarien abgesehen werden.
24Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
25vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 –, juris „N. S." (Nrn. 86, 94 und 99 der Entscheidung),
26besteht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Dublin-VO zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
27Das ist der Fall, wenn der Mitgliedstaat die allgemein europaweit vereinbarten Mindeststandards aufgrund von innerstaatlichen systemischen Mängeln des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen nicht (mehr) gewährleistet bzw. gewährleisten kann. Solches kann namentlich dadurch zum Ausdruck kommen, dass der betreffende Mitgliedsstaat dem betroffenen Ausländer keine ausreichende Chance einräumt, dass sein Schutzgesuch überhaupt ernsthaft geprüft wird, und/oder dass die humanitäre, vor allem wirtschaftliche, gesundheitliche und Wohnungssituation nicht dem Art. 4 der Grundrechte-Charta oder den in einschlägigen Richtlinien des Gemeinschaftsrechts vereinbarten Standards entspricht, so dass letztlich die Gefahr besteht, dass die Betroffenen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden.
28Vgl. insoweit OVG NRW, Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A –, juris.
29In diesem Fall ist die Überstellung auch nach nationalem Verfassungsrecht unzulässig, wenn - bezogen auf den Drittstaat bzw. auf den zuständigen Staat - Abschiebungshindernisse durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind.
30Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93 –, juris.
31Vorliegend muss nicht entschieden werden, ob von einer Überstellung der Kläger nach Bulgarien im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO abzusehen ist, weil das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber generell systemische Mängel aufweisen. Die Klägerin zu 4. gehört jedenfalls zu einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe, für die nicht sichergestellt ist, dass eine rechtsverletzungsfreie Rücküberstellung erfolgen kann.
32Vgl. wie hier Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. Dezember 2014 – 2 BvR 450/11 –, juris; VG Magdeburg, Beschluss vom 4. Dezember 2014 – 9 B 438/14 –, juris.
33Die Frage, ob in Bulgarien „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bzw. des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO vorliegen und ob eine Überstellung nach Bulgarien einen Verstoß gegen Art. 4 der EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK darstellt, wird in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unterschiedlich beantwortet,
34systemische Mängel annehmend: VG Köln, Beschlüsse vom 12. Dezember 2014 – 16 L 2408/14.A – und 10. Oktober 2014 – 20 L 1831/14.A. –; VG München, Beschlüsse vom 4. November 2014 – M 16 S 14.50544 – (Familie mit Kleinkindern), und vom 9. Juli 2014 – M 24 S 14.50336 – Rn. 29 ff.; VG Hannover, Beschluss vom 26. September 2014 – 10 B 10989/14 – (Familie mit Kleinstkindern);
35systemische Mängel verneinend: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 – A 11 S 1778/14 – bei nicht ernsthaft erkrankten Alleinstehenden oder Ehepaaren oder Partnern ohne kleine Kinder, bzgl. dieser Gruppe aber ausdrücklich offen gelassen; VG Köln, Beschluss vom 24. Oktober 2014 – 19 L 1801/14.A –; VG Minden, Beschluss vom 23. September 2014 – 1 L 714/14.A. – ; VG Düsseldorf, Beschluss vom 12. September 2014 – 13 L 1690/14.A – ; VG München, Beschluss vom 10. September 2014 – M 6b S 14.50484 – ; VG Bremen, Beschluss vom 1. September 2014 – 3V 644/14; zitiert jeweils nach juris.
36Ausgangspunkt der zu berücksichtigenden Erkenntnislage ist zunächst der einschlägige Bericht des UNHCR vom 2. Januar 2014. Darin wurde damals die Einschätzung geäußert, dass Asylbewerber in Bulgarien aufgrund systematischer Defizite der Aufnahmebedingungen und des Asylverfahrens dem tatsächlichen Risiko einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt seien, und es wurde empfohlen, Überstellungen nach Bulgarien einzustellen. Die Lebensbedingungen in sieben Aufnahmeeinrichtungen seien erbärmlich. Diese seien überfüllt, es werde staatlicherseits keine Nahrung bereitgestellt, es gebe keine Kochgelegenheiten, keine Heizung, kein fließend warmes Wasser und keinen geregelten Zugang zu medizinischer Versorgung. Die sanitären Anlagen seien in einem inakzeptablen Zustand und es gebe keine ausreichende Möglichkeit, Wäsche zu waschen. Es seien keine kindgerechten Einrichtungen und keine Möglichkeiten für (Freizeit-)Aktivitäten vorhanden. Das System zur Betreuung unbegleiteter Kinder funktioniere ebenso wenig wie die Versorgung von Personen mit besonderen Bedürfnissen. Es bestünden keine ausreichenden Verständigungsmöglichkeiten zwischen dem Personal und den Flüchtlingen. In den wenigen Fällen, in denen Sozialarbeiter oder Psychologen zur Verfügung stünden, fehle es an Dolmetschern. Am Schlimmsten seien die Zustände in der Aufnahmeeinrichtung in Harmanli, die als geschlossene Einrichtung geführt werde. Die wenigen Hilfsangebote kämen von privaten Spendern oder Organisationen und würden vom Roten Kreuz verteilt, sie seien insgesamt gesehen ineffektiv.
37vgl. UNHCR, „Bulgaria As a Country of Asylum – UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria“, 2. Januar 2014, S. 10 ff., 16, abrufbar unter http://www.refworld.org/pdfid/52c598354.pdf.
38Aufgrund dieser Einschätzung des UNHCR lehnte die insbesondere im ersten Quartal 2014 ergangene erstinstanzliche Rechtsprechung überwiegend eine Rücküberstellung nach Bulgarien ab. In seinem zwischenzeitlich aktualisierten Berichts vom 1. April 2014 stellt der UNHCR jedoch zahlreiche Verbesserungen fest, die bei den Aufnahmebedingungen und den Asylverfahren in Bulgarien seit Anfang des Jahres erzielt wurden, und kommt auf dieser Grundlage nunmehr zu dem Schluss, dass eine generelle Aussetzung aller Dublin-Überstellungen nach Bulgarien nicht mehr gerechtfertigt sei.
39vgl. UNHCR, „Bulgaria As a Country of Asylum – UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria“, April 2014; S. 7, 17, abrufbar unter: http://www.refworld.org/docid/534cd85b4.pdf, hiernach: UNHCR II.
40Aufgrund der Auswertung der diesbezüglichen Erkenntnisse werden daher nunmehr systemische Mängel des Asylverfahrens in Bulgarien wieder verneint.
41Vgl. etwa: VG Düsseldorf, Beschluss vom 12. September 2014 – 13 L 1690/14.A – n.V.; VG Ansbach, Urteil vom 10. Juli 2014 – AN 11 K 14.30366 –, juris; VG Potsdam, Beschluss vom 14. November 2013 – 6 L 787/13.A –, juris; VG Regensburg, Beschluss vom 20. August 2012 – RN 9 S 12.30284 –, juris, alle m.w.N.; a.A. VG Oldenburg, Beschluss vom 27. Januar 2015 – 12 B 245/15 –, juris.
42Die Kläger haben selbst nichts dazu vorgetragen, was eine andere Bewertung rechtfertigen und auf generelle systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Bulgarien schließen lassen würde.
43Der Bescheid, mit dem die Asylanträge für unzulässig erklärt und die Abschiebung nach Bulgarien angeordnet worden ist, ist aber im hier vorliegenden Fall jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil bei einer Rückführung nach Bulgarien eine angemessene Unterbringung und Gesundheitsversorgung der besonders schutzbedürftigen Klägerin zu 4. seitens der bugarischen Behörden derzeit nicht garantiert ist.
44Ungeachtet der Frage, ob in dem betreffenden Mitgliedsstaat generell systemische (im Sinne eines kompletten Versagens des Asylsystems) Mängel vorliegen, kann es im Einzelfall aus individuellen, in der Person der jeweiligen Kläger liegenden Gründen (jedenfalls) geboten sein, von Überstellungen in den anderen Mitgliedstaat – wenn auch nur vorübergehend – abzusehen. Einen Anhaltspunkt für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls kann geben, ob einer der Kläger eine Personen mit besonderen Bedürfnissen gemäß Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) ist und er nach einer Einzelfallprüfung entsprechend eingestuft wurde,
45vgl. Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juli 2014 – 17 L 1018/14.A –, juris (i. Erg. abgelehnt) und VG Magdeburg, Beschluss vom 04. Dezember 2014 – 9 B 438/14 –, juris,
46bzw. ob es sich um eine sog. „besonders schutzbedürftige Person“ handelt.
47Vgl. zu einer Rückführung nach Italien Tarakhel ./. Switzerland, Application No. 29217/12, juris; siehe auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 – A 11 S 1778/14 –; juris.
48Ein Anhaltspunkt ist jedenfalls dann geben, wenn es sich bei den Klägern um Familien mit Neugeborenen (vgl. Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO) und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren handelt.
49Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. Dezember 2014 – 2 BvR 450/11 –, juris.
50In diesem Fall muss nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auf Grund der Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls (vgl. nunmehr Erwägungsgrund 16 Dublin III-VO) in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sichergestellt sein, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren für diese in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen.
51Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. Dezember 2014 – 2 BvR 450/11 –, juris.
52Fehlt eine derartige Garantie ist von einer Überstellung abzusehen.
53Im Rahmen des Verfahrens auf Erlass einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG hat das BAMF nämlich auch zu prüfen, ob im Sinne der genannten Vorschrift „feststeht“, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Das Bundesamt hat damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen. Es kann daher geboten sein, dass die deutschen Behörden vor einer solchen mit den im Zielstaat zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen, den Sachverhalt klären und gegebenenfalls zum Schutz des Ausländers Vorkehrungen treffen. Bestehen aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen oder des Auswärtigen Amtes belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer im sicheren Drittstaat, hat die auf deutscher Seite für die Abschiebung zuständige Behörde dem jedenfalls angemessen Rechnung zu tragen. Insbesondere besteht eine Verpflichtung der mit dem Vollzug einer Abschiebung betrauten Stelle, von Amts wegen tatsächliche Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten; diese Stelle hat gegebenenfalls durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung (Duldung) oder durch entsprechende tatsächliche Gestaltung derselben die notwendigen Vorkehrungen zu treffen.
54Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. Dezember 2014 – 2 BvR 450/11 –, juris.
55Dies zu Grunde gelegt steht hier nicht fest, dass die Rückführung der Kläger nach Bulgarien im Rahmen des Dublin-Systems rechtmäßig erfolgen kann, so dass von einer Überstellung vorliegend abgesehen werden muss. Zumindest bei der Klägerin zu 4. handelt es sich um ein Kleinstkind, für das gemäß den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eine besondere Überwachungspflicht der deutschen Behörden gilt. Aufgrund von Auskünften des UNHCR und anderer Flüchtlingsorganisationen bestehen Anhaltspunkte für fortbestehende Missstände in Bulgarien für Kleinstkinder. Berichten zufolge ist gerade die systematische und flächendeckende Versorgung von Babys und Kleinstkindern mit ihnen adäquater Nahrung defizitär und teilweise nur durch den Einsatz von Nichtregierungsorganisationen gewährleistet.
56Vgl. Amnesty International, Rücküberstellungen von Asylsuchenden nach Bulgarien sind weiterhin auszusetzen, S. 6 f.; abrufbar unter http://www.amnesty.de/files/Bulgarien-Bericht_0.pdf; UNHCR II, S. 8.
57Auch die medizinische Behandlung von Kindern, insbesondere unbegleiteten Minderjährigen und generell von sog. „vulnerablen Personen“ soll völlig unzureichend sein.
58Vgl. UNHCR II, S. 8 f., vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 – A 11 S 1778/14 –, juris.
59Bei den Unterbringungsbedingungen für Familien mit kleineren Kindern, alleinstehende Frauen mit Kindern und unbegleitete Minderjährige seien zwar Verbesserungen eingetreten, ohne allerdings das erforderliche Minimum an Privatheit zuzulassen und auch immer ausreichenden Schutz vor Übergriffen zu bieten. Nach wie vor seien daher erhebliche Defizite auszumachen.
60Vgl. UNHCR II, S. 7; vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 – A 11 S 1778/14 –, juris.
61Der UNCHR empfiehlt daher angesichts immer noch bestehender Missstände eine individuelle Prüfung insbesondere im Hinblick auf Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen oder Vulnerabilitäten dahingehend, ob eine Überstellung mit der Verpflichtung der Staaten zum Schutz der Grundrechte der Asylbewerber vereinbar wäre.
62vgl. UNHCR II, S. 7, 17; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 – A 11 S 1778/14 –, juris.
63Die danach erforderlichen Maßnahmen hat das BAMF nicht ergriffen. Es hat sich in der angefochtenen Entscheidung bereits nicht mit der persönlichen Situation der Kläger auseinandergesetzt. Es ist auch nicht erkennbar, dass man sich darüber bewusst war, dass es sich bei der 2-Jahre alten Klägerin um ein Kleinstkind und damit um eine Person besonderer Schutzbedürftigkeit handelt. Es wurden daher weder geeigneten Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den bulgarischen Behörden eingeleitet noch Garantien dafür eingeholt, dass eine angemessene Unterbringung und Gesundheitsversorgung der besonders schutzbedürftigen Klägerin zu 4. sichergestellt ist. Kann daher eine Überstellung der Klägerin zu 4. Nicht vorgenommen werden, ist wegen des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls auch von der Überstellung der Kläger zu 1. bis 3. – zumindest derzeit – abzusehen.
64Weil die danach erforderlichen Garantien nicht vorliegen, sind die Abschiebungsanordnung und die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig schließlich als rechtswidrig anzusehen und aufzuheben.
65Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylVfG.
66Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Köln Urteil, 03. Feb. 2015 - 14 K 5928/14.A
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Verwaltungsgericht Köln Urteil, 03. Feb. 2015 - 14 K 5928/14.A zitiert oder wird zitiert von 12 Urteil(en).
(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.
(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Rechtszügen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand
2Der am 22. Januar 1979 in Rimal/Marokko geborene Kläger ist nach seinen Angaben marokkanischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit.
3Er war bereits im Sommer/Herbst 2009 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und wurde am 23. September 2009 in Erfurt von der Polizei aufgegriffen. Am 2. Oktober 2009 stellte er einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gemäß § 25 AsylVfG gab der Kläger an, er sei von Libyen mit dem Schlauchboot nach Sizilien gebracht worden. Von dort aus sei er mit dem Zug nach Mailand, dann weiter nach Paris und von dort nach Deutschland gefahren.
4Das Bundesamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. Dezember 2009 als unzulässig ab; zugleich ordnete es die Abschiebung nach Italien an. In der Begründung hieß es unter anderem: Laut Eurodac sei der Kläger am 24. Mai 2009 illegal über Italien in den Bereich der Mitgliedstaaten der Dublin II-VO eingereist. Auf ein am 16. November 2009 gestelltes Übernahmeersuchen hin habe Italien seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erklärt. Daher werde dieser Antrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.
5Aufgrund des Übernahmeersuchens wurde der Kläger am 22. Dezember 2009 auf dem Luftwege über den Flughafen Rom-Fiumicino nach Italien überstellt.
6Am 11. Januar 2011 wurde der Kläger wegen erneuten illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet wiederum in Erfurt aufgegriffen. Bei seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Thüringer Polizei gab er an, er habe nach der Abschiebung nach Italien dort keinen festen Wohnsitz gehabt. Einen Asylantrag habe er nicht stellen können. Er sei deshalb nach Frankreich weitergereist, habe sich aber auch dort ohne festen Wohnsitz aufgehalten, ohne einen Asylantrag zu stellen. Schließlich sei er – einen Tag zuvor – wieder nach Deutschland gekommen. Er bitte um Asylgewährung, weil er in Marokko von der Familie seiner Freundin, die er geschwängert habe, mit dem Tode bedroht werde.
7Unter dem 17. Januar 2011 ersuchte das Bundesamt Italien unter Bezugnahme auf Art. 16 Satz 1, Art. 13 Dublin II‑VO um Übernahme des Klägers. Das Ersuchen blieb – ebenso wie eine unter Hinweis auf die Annahmefiktion erfolgte Erinnerung vom 18. Februar 2011 – unbeantwortet.
8Mit Bescheid vom 27. April 2011 lehnte das Bundesamt den erneuten Antrag des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens ab und ordnete dessen Abschiebung nach Italien an. Italien sei für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig. Wiederaufgreifensgründe lägen insoweit nicht vor, als diese nicht das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin II-VO beträfen. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO seien ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung liege nicht vor.
9Ausweislich des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes war die Überstellung des Klägers von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino mit einem Flug am 10. Mai 2011 vorgesehen.
10Mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A – hat das Verwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, vorläufig für die Dauer von sechs Monaten Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen.
11Mit seiner am 16. Mai 2011 erhobenen Klage hat der Kläger im Kern geltend gemacht, die tatsächliche Situation für Asylsuchende in Italien lasse unverändert nicht den Schluss zu, dass dort ein Asylverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werde.
12Der Kläger hat beantragt,
13den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag in der Sache zu entscheiden.
14Die Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe der Senat wegen der Einzelheiten Bezug nimmt, hat das Verwaltungsgericht der Klage antragsgemäß stattgegeben. Der Kläger habe einen aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (Selbsteintrittsrecht) folgenden Anspruch darauf, dass ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werde. Das insoweit bestehende Ermessen sei auf Null reduziert. Denn es sei nach den tatsächlichen Verhältnissen in Italien nicht gewährleistet, dass dem Kläger dort ein den Richtlinien der Europäischen Union konformes Asylverfahren zugänglich gemacht werde und namentlich die Erfüllung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse sichergestellt sei. Unabhängig davon sei Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens auch deswegen zuständig, weil die nach der Dublin II-VO geltende Überstellungsfrist von 6 Monaten abgelaufen sei. Diese Frist habe sich infolge des durchgeführten Eilverfahrens nicht verlängert.
17In einem weiteren Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes während des anhängigen Verfahrens auf Zulassung der Berufung hat der Senat durch Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamts vom 27. April 2011 angeordnet.
18Die mit Beschluss vom gleichen Tage zugelassene Berufung hat die Beklagte fristgerecht begründet. Sie hält aus im Einzelnen dargelegten Gründen Italien weiterhin für zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens.
19Der Kläger beantragt, seinen erstinstanzlichen Antrag neu fassend,
20den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2011 aufzuheben.
21Die Beklagte beantragt,
22das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage mit dem neu gefassten Antrag abzuweisen.
23Der Kläger beantragt weiter,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Der Kläger tritt der Berufung entgegen und macht hierzu im Wesentlichen geltend: Jedenfalls im Falle ernsthafter Anhaltspunkte für eine mit Blick auf das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im Zielstaat einer Dublin-Überstellung drohende Verletzung von Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGRCh) habe der betroffene Asylbewerber ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, zumindest aber auf Absehen von einer Überstellung. Was den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO betreffe, lasse sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Sache „Petrosian“ für die Rechtslage in Deutschland kein klares Ergebnis herleiten. Hinsichtlich der tatsächlichen Aspekte des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer in Italien überzeuge die Bewertung der konkreten Situation vor Ort durch die Beklagte sowie in den von dieser zur Stützung ihrer Auffassung in Bezug genommenen Erkenntnismitteln nicht. Es fänden sich dort zum Teil widersprüchliche und/oder ungenaue Aussagen. Zu den Quellen gebe es insbesondere bei den Auskünften des Auswärtigen Amtes nur sehr allgemeine Angaben. Die konkreten Fragen des Senats in dessen Anfrage vom 18. Oktober/27. November 2013 seien unbeantwortet geblieben; das habe der gesetzlich vorgeschriebenen Amtshilfe nicht Genüge getan. Zumindest ein Teil der von der Beklagten außerdem in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen betreffe schon keine hinreichend vergleichbaren Fallkonstellationen; andere Entscheidungen schöpften nicht die Erkenntnisse aus den neuesten vorhandenen Auskünften/Berichten in der gebotenen Weise aus. Auf der Grundlage einer verständigen Würdigung aller vorhandenen und namentlich der besonders aktuellen Erkenntnismittel stelle sich die Lage demgegenüber so dar, dass eine von den tatsächlich zur Verfügung stehenden– hier bei weitem unzureichenden und derzeit auch erheblich überbelegten – Unterbringungskapazitäten schlüssig getragene Sicherstellung einer Versorgung der Asylbewerber und speziell der Dublin-Rückkehrer mit Unterkunft sowie außerdem mit Verpflegung, Kleidung und medizinischer Hilfe – alles gemessen an dem (Mindest-)Schutzniveau des Art. 4 EUGRCh – nicht gewährleistet und auch nicht regelmäßig vorhanden sei. Da das eigentliche Problem des italienischen Asyl-/Aufnahmesystems eine enorme Diskrepanz zwischen dem (nach den Rechtsvorschriften gebotenen) Soll-Zustand und dem (die Praxis und Lebenswirklichkeit bestimmenden) Ist-Zustand sei, umfassende empirische Untersuchungen zu den tatsächlichen Verhältnissen aber in der Regel fehlten, ließen sich zulässigerweise auch aus (etwa Berichten von Nichtregierungsorganisationen zugrunde liegenden) Schilderungen von typischen Einzelfällen Schlüsse auf die im Land vorherrschenden Rahmenbedingungen ziehen. Darauf gründend lägen hier gravierende Defizite vor, die zugleich als strukturell zu bewerten seien. So sei etwa das italienische Asyl- und (daran anknüpfend) Aufnahmesystem dergestalt zweistufig ausgestaltet, dass es nach der ersten Anbringung des Asylgesuchs noch dessen förmlicher Registrierung in einer Questura bedürfe, um überhaupt Leistungen wie Unterkunft o.ä. erhalten zu können. Da diese Registrierung in der Praxis manchmal erst Wochen oder zum Teil sogar Monate später erfolge, ergebe sich eine zeitliche Lücke, welche missachte, dass nach europäischem Recht schon ab Einreise und Asylantragstellung ein Anspruch auf soziale Leistungen bestehe. Bei den in Rede stehenden Aufnahmemodalitäten, darunter insbesondere den massiven Kapazitätsengpässen, handele es sich auch nicht nur um ein temporäres, inzwischen überstandenes Problem. Im Gegenteil habe sich die Situation in der letzten Zeit nicht beruhigt, sondern sogar weiter zugespitzt. Denn zum einen habe der Zustrom von Asylbewerbern nach Italien im Jahr 2013 – und namentlich dessen zweiter Hälfte – wieder dramatisch zugenommen (insgesamt ca. 43.000 Bootsflüchtlinge), andererseits seien die im Zuge des sog. „Notstands Nordafrika“ zusätzlich eingerichteten Unterkunftsmöglichkeiten des Zivilschutzes im Laufe des Jahres 2013 weggefallen und es sei hierfür kein adäquater Ausgleich geschaffen worden. Die insoweit bestehende Lücke zu schließen und zugleich ein – bislang fehlendes – klar überschaubares, möglichst zentrales System der Verteilung von Unterkünften und Verpflegung einzurichten, falle in die staatliche Verantwortung Italiens. Durch die Kirche und etwaige sonstige karitative Einrichtungen erbrachte zusätzliche Nothilfe, auf welche etwa das Auswärtigen Amt immer wieder ergänzend hinweise, könne daher das anzunehmende strukturelle Defizit im Sinne der Rechtsprechung zum „systemischen Mangel“ nicht beseitigen. Das gelte zumal dann, wenn diese Hilfe nicht im staatlichen Auftrag, sondern bezogen auf das Selbstverständnis dieser Organisationen „aus eigenem Antrieb“ erfolge. Das Vorliegen eines „systemischen Mangels“ sei im Übrigen nicht im Sinne einer zusätzlichen Anforderung zu begreifen. Das gelte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Supreme Court des Vereinigten Königreichs jedenfalls dann, wenn kein Zweifel daran bestehe, dass in dem jeweiligen Einzelfall die ernstzunehmende Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gegeben sei. Schließlich habe der Europäische Gerichtshof durch Urteil vom 27. Februar 2014 nochmals klargestellt, dass der Asylbewerber bereits ab dem Zeitpunkt des Asylantrages den Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben habe, was bei Fehlen einer verfügbaren Unterkunft auch die ersatzweise Zurverfügungstellung finanzieller Mittel betreffe.
26In der (ersten) mündlichen Verhandlung des Senats vom 26. September 2013 ist der Kläger ausführlich (u.a.) zu den Umständen seiner 2009 erfolgten Rückführung nach Italien befragt worden; wegen der Einzelheiten seiner Angaben wird auf die betreffende Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verfahrensakte, der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der sonstigen Beiakten (insgesamt 9 Hefte) sowie der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
28E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
30I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig. Der Kläger hat seinen Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat entsprechend klargestellt, die Beklagte hat sich hiermit einverstanden erklärt. Eine Anfechtungsklage bietet den erforderlichen und ausreichenden Rechtsschutz, so dass es einer weitergehenden Klage auf Verpflichtung der Beklagten nicht bedarf. Dies ergibt sich aus Folgendem:
31Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, Art. 49 Satz 3 der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180/31, sog. Dublin III-VO) Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 50/1, sog. Dublin II-VO, ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig. Lehnt vor diesem Hintergrund die Beklagte, wie ihr Terminsvertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in Bezug auf den streitbefangenen Bescheid klargestellt hat, die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ab, kann der Asylbewerber geltend machen, seine Überstellung in eben diesen Staat sei wegen dort gegebener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzulässig. Erweist sich diese Behauptung als zutreffend, so ist die Beklagte schon kraft Unionsrechts verpflichtet zu prüfen, ob nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin II-VO ein anderer Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden und hierzu ausgeführt: „... hat folglich dann, wenn die Überstellung eines Antragstellers an den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht möglich ist, der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ..., die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach Art. 13 der Verordnung für dessen Prüfung zuständig.“
32EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –(Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 33 f.; inhaltlich übereinstimmend ferner Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 u.a. – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 96, 97 u. 107.
33Diese unionsrechtliche Verpflichtung tritt, wenn sich die systemischen Mängel erweisen sollten, automatisch ein. Die Verwaltungsgerichte haben demnach zu prüfen, ob in dem in Betracht kommenden Mitgliedstaat der Europäischen Union die behaupteten systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vorliegen, und bejahendenfalls weiter zu untersuchen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den Regelungen der Dublin II-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Die Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats brauchen die Verwaltungsgerichts nach allgemeinen Grundsätzen aber nicht gleichsam „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern nur insoweit, als sich aus den Akten oder dem sonstigen Vorbringen der Beteiligten hinreichende Anhaltspunkte hierfür ergeben. Dementsprechend erweist sich Ziffer 1 des angefochtenen Bundesamtsbescheides als rechtmäßig entweder, wenn der für die Durchführung des Asylverfahrens als zuständig benannte Staat tatsächlich zuständig ist und nicht wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen ausfällt oder wenn dies auf einen anderen Mitgliedstaat zutrifft, der nach den Zuständigkeitsregelungen der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens vorrangig zuständig ist. Ergibt die verwaltungsgerichtliche Prüfung aber, dass in dem von der Beklagten als zuständig bezeichneten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen, und lässt sich kein anderer vorrangig zuständiger Mitgliedstaat ausmachen, so ist Deutschland nach Art. 13 Dublin II-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil (regelmäßig) jedenfalls hier ein Asylantrag gestellt worden ist. Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs bedarf es daher nicht, weil bei bestehender Zuständigkeit der Asylantrag von Amts wegen sachlich zu prüfen ist. Dementsprechend besteht – ungeachtet der Möglichkeit zum Selbsteintritt – selbst beim Bestehen systemischer Mängel auch keine Verpflichtung zum Selbsteintritt des die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO,
34vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), a.a.O., Rn. 37; Thym, NVwZ 2014, 130,
35und demzufolge auch kein hierauf gerichteter Anspruch des Asylbewerbers.
36Dies gilt nicht nur bei erstmaliger Antragstellung, sondern auch im Wiederholungsfalle und zwar unabhängig davon, ob der Asylbewerber zwischenzeitlich in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat überstellt wurde. Es spielt daher vorliegend keine Rolle, dass die Beklagte den Asylantrag des Klägers als Folgeantrag eingestuft und in dem Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 die Durchführung eines „weiteren“ Asylverfahrens abgelehnt hat. Insbesondere ist im Lichte der vorbezeichneten neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Fällen der vorliegenden Art die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig, derzufolge sich die Verwaltungsgerichte bei Ablehnung der Durchführung eines Asylfolgeverfahrens nicht auf die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung des Folgeverfahrens beschränken dürfen, sondern die Sache im Hinblick auf die begehrte Anerkennung als Flüchtling spruchreif zu machen haben.
37BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 – 9 C 45.97 –, BVerwGE 107, 128 = juris, Rn. 10; dem auch für Fälle folgend, in denen die Prüfung der sog. Dublin-Zuständigkeit inmitten steht, OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2011 – 3 A 133/10.A –, juris.
38Denn die hier zentrale Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist – wie der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 zutreffend ausführt – der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und betrifft nicht das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ein abgeschlossenes (Asyl-)Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen ist. Zuständigkeitsprüfung und inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Dies wird bestätigt durch die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326/13), die sog. Verfahrensrichtlinie, wonach die materielle Prüfung des Asylgesuchs durch eine „Asylbehörde“ erfolgt, deren Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann. Diese Richtlinie betrifft ausweislich ihres Artikels 39 Abs. 1 Buchst. a) i) i.V.m. Art. 25 Abs. 1 sowie ihres 29. Erwägungsgrundes aber nicht das Verfahren der Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II-VO, was belegt, dass die Zuständigkeitsprüfung ein von der materiellen Prüfung des Asylbegehrens abgetrenntes Verfahren darstellt. Noch deutlicher formuliert dies der 53. Erwägungsgrund der nachfolgenden (Verfahrens-)Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180/60, der von einem Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit „zwischen Mitgliedstaaten“ spricht. Auch der Europäische Gerichtshof weist darauf hin, dass die Bestimmungen der Dublin II-VO die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln“.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 56.
40II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
41Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Unabhängig von der formalen Einordnung des Asylantrags des Klägers durch die Beklagte als Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG findet– wie der Sitzungsvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat – der Bescheid hinsichtlich der Ablehnung der Durchführung eines Asylverfahrens seine Rechtsgrundlage in § 27a AsylVfG und hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in § 34a Abs. 1 AsylVfG. Beide Regelungen des Bescheides sind rechtlich nicht zu beanstanden.
421. Das Bundesamt hat richtig entschieden, dass die Beklagte für die sachliche Prüfung und Entscheidung des streitbefangenen Asylantrags nicht zuständig ist. Damit musste dieser Antrag, wie in Ziffer 1 des Bescheides vom 27. April 2011 geschehen, abgelehnt werden, weil er unzulässig ist (§ 27a AsylVfG). Maßgebend hierfür ist die Dublin II-VO (nachfolgend a)). Die danach bestehende ursprüngliche Zuständigkeit Italiens zur Durchführung des Asylverfahrens ist nicht nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen (nachfolgend b)). Schließlich fällt Italien als zuständiger Staat auch nicht aus, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des der Dublin II-VO zugrunde liegenden Prinzips gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist (nachfolgend c)).
43a) Grundlage der Prüfung dieser Zuständigkeit ist für das im Januar 2011 angebrachte Gesuch des Klägers (noch) die Dublin II-VO. Diese wurde zwar gemäß Art. 48 Satz 1 der Dublin III-VO zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 angebrachte Schutzgesuche bleibt jedoch gemäß Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO die Vorläufer-Verordnung weiterhin anwendbar (siehe bereits oben I.).
44b) Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Maßgabe der Dublin II-VO hat prinzipiell allein auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge gilt (Art. 5 ff. Dublin II-VO). Hiernach war im vorliegenden Falle Italien zuständig (dazu aa)). Diese Zuständigkeit hat Italien nicht verloren; sie ist nicht während des Asylverfahrens nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die beklagte Bundesrepublik Deutschland übergegangen (dazu bb) bis ee)).
45Inwieweit diesen Zuständigkeitsvorschriften (und ob allen bzw. gegebenenfalls welchen) dabei überhaupt subjektive Rechte des Asylsuchenden entnommen werden können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Allerdings spricht auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
46vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 60,
47viel dafür, dass die subjektive Rechtsstellung von Asylbewerbern in sog. „Dublin-Verfahren“ nur insofern betroffen ist, als es darum geht, ob diese auf der Grundlage von ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen in dem Mitgliedstaat, in den sie überstellt werden sollen, tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 (ABl. C 303/1) (EUGRCh) ausgesetzt zu werden. Keine subjektiven Rechte seien hingegen von der Prüfung berührt, ob in dem jeweiligen Fall die Rangkriterien der Dublin II-VO wie etwa Art. 10 Abs. 1 in Verbindung mit dem in Art. 19 Abs. 2 Satz 3 vorgesehenen Rechtsbehelf richtig angewendet oder aber damit verbundene Form- und Fristerfordernisse korrekt beachtet wurden. Eine solche Begrenzung der subjektiven Rechtsstellung soll namentlich dann gelten, wenn der für zuständig befundene Mitgliedstaat der Überstellung zugestimmt hat. Sie dürfte konsequenterweise dann auch den hier gegebenen Fall der Fiktion dieser Zustimmung nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO erfassen, was aber der Europäische Gerichtshof nicht ausdrücklich (mit)entschieden hat. Mit Blick darauf geht der Senat im Folgenden vorsorglich auf die Zuständigkeitsbestimmung nach den Maßgaben der Dublin II-VO ein:
48aa) Die ursprüngliche Dublin-Zuständigkeit Italiens ist hier unstreitig. Sie ergibt sich (mangels vorrangiger Dublin-Kriterien) aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO. Denn ausgehend von seinen eigenen, insofern von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Angaben hat der Kläger aus einem Drittstaat (Libyen) kommend als erstes die (See-)Grenze zu dem Mitgliedstaat Italien überschritten. Dies erfolgte ohne einen Aufenthaltstitel und insofern illegal. Der betreffende Sachverhalt wird durch den im Bescheid des Bundesamtes vom 11. Dezember 2009 erwähnten Eurodac-Treffer der Kategorie „2“ (Kennzeichnung für illegal Eingereiste ohne Status des Asylbewerbers) bestätigt. Dementsprechend hat Italien im Jahre 2009 auch der Aufnahme des Klägers zugestimmt.
49bb) Die Zuständigkeit Italiens hat nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO geendet. Zwar endet nach dem Wortlaut dieser Vorschrift die Zuständigkeit (eines Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens) zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Damit ist aber lediglich gemeint, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der genannten Frist in keinem der Mitgliedstaaten ein Asylantrag gestellt wurde. Diese Auslegung ergibt sich zwingend vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, der als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Kriterien für die Bestimmung der sog. Dublin-Zuständigkeit denjenigen vorgibt, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Deshalb ist es unschädlich, wenn nicht (auch) in dem Einreisestaat innerhalb der in Rede stehenden Frist ein Asylantrag gestellt wurde. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob der Zwölfmonatszeitraum im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgelaufen ist.
50Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 8), siehe auch (im Wesentlichen gleichlautend und nachfolgend nicht mehr gesondert zitiert) Urteil jenes Gerichts vom gleichen Tage – 3 L645/12 –, n.v.; ferner Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012 – 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 9.
51Hieran gemessen war die Zwölfmonatsfrist bei der ersten Asylantragstellung des Klägers in Deutschland (2. Oktober 2009) noch nicht abgelaufen. Denn der Eurodac-Treffer zu Italien datiert vom 24. Mai 2009. Dafür, dass der Kläger das italienische Staatsgebiet deutlich früher betreten hätte, gibt es auch bei Einbeziehung seiner eigenen vorprozessualen und in diesem Verfahren gemachten Angaben keinen Anhalt. So hat der Kläger in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, nach seiner Einreise über Lampedusa nach Sizilien gebracht worden zu sein und dort in einer „Sammelstelle für Illegale“ gelebt zu haben. Dies zugrunde gelegt, ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort auch – zeitnah zur Einreise – erkennungsdienstlich behandelt wurde.
52cc) Die beklagte Bundesrepublik ist auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nachträglich für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden. Denn sie hat das dort angesprochene Gesuch um Aufnahme innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags noch in dem Monat der Asylantragstellung (Januar 2011) gestellt. Dass eine Antwort darauf ausblieb, ist im Rahmen der vorgenannten Vorschrift unerheblich, begründet vielmehr nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO (umkehrt) nach Ablauf von zwei Monaten aufgrund fingierter Annahme eine wohl eigenständig hinzutretende Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaates, die in Rede stehende Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Gegebenenfalls ergäbe sich Entsprechendes aus Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) und c) Dublin II-VO, wenn keine Aufnahme, sondern eine Wiederaufnahme vorläge.
53dd) Die vom Kläger mit angesprochene Frage, ob die Zuständigkeit Italiens eventuell nach Art. 4 Abs. 5 Satz 2 Dublin II-VO erloschen ist, stellt sich hier bereits deshalb nicht, weil die in der Vorschrift geregelte Frist von drei Monaten allein den (hier nicht gegebenen) Fall erfasst, dass der Asylbewerber zwischenzeitlich das Gebiet „der“ (also aller) Mitgliedstaaten verlassen hat. Die Dauer des Aufenthalts des Klägers in Frankreich ist hierfür also nicht von Belang.
54ee) Schließlich ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, d.h. wegen Überschreitung der sog. Überstellungsfrist, auf die Beklagte übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Das knüpft an Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO an, welcher unter anderem bestimmt, dass die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist ist hier nicht abgelaufen, wobei es maßgeblich auf den Fall 2 („oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf“) ankommt.
55Mit „Entscheidung über den Rechtsbehelf“ ist nicht die gerichtliche Entscheidung in dem zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemeint, mit der die Durchführung der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgesetzt wird, sondern die Entscheidung, mit der das Gericht „über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens“ entscheidet und die der Durchführung des Überstellungsverfahrens nicht mehr entgegenstehen kann.
56Vgl. insoweit zu entsprechenden Frist in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO: EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 – (Petrosian), NVwZ 2009, 639 = juris, Rn. 53.
57Das bezieht sich – jedenfalls wenn und solange die Vollziehung der Überstellung (weiter) ausgesetzt ist – nach allgemeiner Auffassung auf die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in dem Hauptsacheverfahren.
58Vgl. statt vieler etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 35; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 – A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 24; Hessischer VGH,Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A –, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 7; VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012– A 4 K 2203/11 –, juris, Rn. 14; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 39, m.w.N.
59Für die Auslegung des Merkmals „aufschiebende Wirkung“ macht es keinen relevanten Unterschied, ob nach dem hier innerstaatlich einschlägigen deutschen Recht – rechtstechnisch gesehen – die Durchführung der Überstellung in Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO oder des § 123 VwGO durch das Gericht vorläufig gestoppt wird. Denn die Wirkung beider Entscheidungstypen des vorläufigen Rechtsschutzes ist mit Blick auf das praktische Ergebnis die gleiche: Die Überstellung darf zunächst einmal kraft gerichtlicher Anordnung nicht erfolgen. Das bedeutet jeweils, dass eine Abstimmung hinsichtlich der näheren Modalitäten der Überstellung, für welche die Frist eingeräumt ist, noch nicht erfolgen kann bzw. noch keinen Sinn ergäbe.
60Vgl. zur Gleichbehandlung der verschiedenen Arten der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 ‑ A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 25; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 40.
61Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom Kläger hervorgehobenen Umstand, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG in seiner bis zum 5. September 2013 gültig gewesenen, also im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides anwendbaren Fassung eine Aussetzung der Abschiebung im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowohl nach § 80 als auch § 123 VwGO kraft Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Dieser Umstand führt nicht darauf, dass hier Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Fall 2 Dublin II-VO gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne eines Einsetzens der Überstellungsfrist erst mit dem Ergehen einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung anzuwenden wäre, wenn Gerichte den Vollzug ausgesetzt haben. Denn was nach dem (sachlich zusammenhängend) in Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO in Bezug genommenen „innerstaatlichen Rechtzulässig“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsordnung des betroffenen Staates insgesamt und nicht allein nach dem Wortlaut des geschriebenen (einfachen) Gesetzesrechts. Namentlich geht das Verfassungsrecht in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzesrecht vor. Dies zugrunde gelegt, fordert die unionsrechtliche Zweckbestimmung der in Rede stehenden Frist, dass diese auch in den hier interessierenden Fällen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nicht anläuft bzw., sofern sie schon angelaufen ist, gehemmt wird.
62Vgl. – in diesem Sinne – etwa auch Hessischer VGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A -, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 5, 6; Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012– 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 17; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L643/12 –, juris (UA S. 11 f.).
63Eine etwa entgegen Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO nicht erfolgte Angabe der Frist für die Durchführung der Überstellung hat entgegen der Auffassung des Klägers keine Bedeutung dafür, ob in Bezug auf den Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO der Überstellungszeitraum von sechs Monaten überschritten ist. Auch die zeitlich begrenzte Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO betrifft ganz andere Situationen und hat mit dem Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nichts zu tun.
64Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGMeiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 41 f.
65Für die Beurteilung des konkreten Falles anhand des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO folgt daraus: Das Verwaltungsgericht Köln hat mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A –, zugestellt am 6. Mai 2011, der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für die Dauer von sechs Monaten aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen. Diese gerichtliche Entscheidung hat zunächst verhindert, dass die Überstellungsfrist nach Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO überhaupt anlaufen konnte. Selbst wenn die Sechsmonatsfrist für die Überstellung danach (ab 7. November 2011) angelaufen sein sollte, war sie in dem Zeitpunkt, in welchem der Senat mit Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 27. April 2011 (neuerlich) angeordnet hat, noch nicht abgelaufen. Da diese Anordnung nicht befristet gewesen ist, ist die hier interessierende Frist seitdem jedenfalls gehemmt und im Ergebnis auch im Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht abgelaufen.
66Vorstehende Überlegungen gelten entsprechend für die in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO für den Fall der Wiederaufnahme geregelten Frist von sechs Monaten.
67c) Die Zuständigkeit Italiens zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers entfällt nicht ausnahmsweise deswegen, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin II-VO zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist.
68aa) Im Ausgangspunkt liegt dem im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – und dabei gerade auch der Dublin II-VO – die Vermutung zugrunde, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II, S. 559) (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II, S. 1198)) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – steht. Das wird vom Europäischen Gerichtshof als „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“,
69vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 78 ff.,
70bzw. entsprechend in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Konzept der normativen Vergewisserung“,
71vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49 = NJW 1996, 1665 = juris, Rn.181,
72bezeichnet. Die betreffende Vermutung kann allerdings in Sonderfällen widerlegt sein, nämlich dann, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass in dem nach Maßgabe der Dublin II-VO für die Prüfung eines Asylgesuchs an sich zuständigen Mitgliedstaat das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGRCh implizieren. Dabei ist der Inhalt dieses Grundrechts an der Auslegung des Art. 3 EMRK auszurichten (vgl. insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh einschließlich der gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 EUV zu berücksichtigenden Erläuterungen).
73Vgl. statt vieler OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 16 mit Hinweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
74Jedenfalls im Kern Entsprechendes ergibt sich auch unmittelbar aus der für das vorliegende Verfahren in erster Linie maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dort wird – wohl letztlich nicht in einem (wesentlich) anderen Sinne – gefordert, dass es sich bei den Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber um „systemische“ Mängel bzw. Unzuträglichkeiten handeln muss. Diesbezüglich ist in dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011 – Rs C-411/10 und C-493/10 – (NVwZ 2012, 417 = juris) ausgeführt worden:
75Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System (gemeint: das System der Behandlung der Asylanträge) in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. (Rn. 81)
76Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. (Rn. 82)
77Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet. (Rn. 83)
78Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. (Rn. 84)
79Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen der Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. (Rn. 86)
80Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. (Rn. 94)
81Daraus ergibt sich im Ergebnis:
82Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. (Rn. 106)
83Diese Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof auch in der nachfolgenden Zeit im Kern bestätigt.
84Vgl. etwa Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 30.
85Für die Annahme eines systemischen Mangels im vorgenannten Sinne reicht die Verletzung einzelner Grundrechte außerhalb von Art. 4 EUGRCh ebenso wenig wie die „geringste“ Verletzung von Bestimmungen des zum Asylrecht ergangenen Sekundärrechts.
86Vgl. auch Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online Kommentar Ausländerrecht, AEUV Art. 78, Rn. 27 (Stand 1. Februar 2013).
87Vielmehr erfordern systemische Mängel eine in den vom Gericht empirisch gewonnenen Erkenntnissen zum Ausdruck kommende „reelle Unfähigkeit des Verwaltungsapparates zur Beachtung des Art. 4 EUGRCh“,
88vgl. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406, 408,
89liegen also vor bei „strukturellen Störungen, die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens“ haben, ohne dass es auf eine hierauf bezogene Zielsetzung des betreffenden Mitgliedstaats ankommt.
90Vgl. Marx, NVwZ 2012, 409, 411.
91Zwar setzt dies nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen und der zugehörigen Verfahren schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern „in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“.
92Vgl. Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182, 186.
93Das kann darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern (objektiv) vorhersehbar von ihnen betroffen sind. Ein systemischer Mangel kann daneben aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem – mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis – faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
94Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46.
95Ob der Auffassung des Klägers zuzustimmen ist, dass es auf das Vorliegen systemischer Mängel nicht ankomme, wenn im Einzelfall bei Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh anzunehmen sei,
96in diesem Sinne Supreme Court des Vereinigten Königreichs, R v Secretary of State for the Home Department, Entscheidung vom 19. Februar 2014, UKSC 12, im Internet abrufbar unter www.supremecourt.uk; ebenso Marx, a.a.O., S. 412; a.A. Hailbronner/Thym, a.a.O.,
97bedarf keiner Entscheidung. Denn im Falle des Klägers geht es nicht um die individuell an seine Person anknüpfende Besorgnis einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh, etwa deshalb, weil er innerhalb der Gruppe der asylsuchenden Dublin-Rückkehrer eine in besonderem Maße verletzliche und/oder gefährdete Person wäre. Vielmehr steht die Frage möglicher struktureller Defizite insbesondere der (allgemein für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern geltenden) Aufnahmebedingungen in Italien im Zentrum des Verfahrens.
98Der Prognosemaßstab für das Vorliegen systemischer Mängel ist einheitlich zu bestimmen sowohl, was die (empirischen) Voraussetzungen für das Vorliegen systemischer Mängel betrifft, als auch hinsichtlich der darauf gründenden Einschätzung, ob diese Mängel die begründete Erwartung rechtfertigen, dass der Betroffene im Falle seiner Überstellung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
99Die oben angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt insofern zunächst, dass die Annahme einer mit Blick auf bestehende systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh durch „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe“ gestützt und abgesichert sein muss. Die anzustellende Prognose bedarf somit einer konkret nachvollziehbaren und in der Sache fundierten („ernsthaften“) Tatsachengrundlage. Namentlich im Fall von sich (zum Teil) widersprechenden Auskünften oder sonstigen Erkenntnismitteln müssen die vom Gericht für die Widerlegung der Vermutung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens als „richtig“ zugrunde gelegten Tatsachen hinreichend belastbar sein. Das setzt voraus, dass für ihr Zutreffen, dabei u.a. auch für die Verallgemeinerungsfähigkeit von Erkenntnissen über beobachtete oder berichtete Einzelfälle, ein beachtlicher Grad von Wahrscheinlichkeit spricht.
100Das entspricht dem Maßstab, der auch für die Prognose des voraussichtlichen Eintretens der Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh selbst anzuwenden ist. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ergibt sich insofern aus der vom Europäischen Gerichtshof für die drohende Grundrechtsverletzung verwendeten Formulierung der „tatsächlichen Gefahr“, im Englischen „real risk“. Zu dieser Formulierung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der diese Formulierung entlehnt ist,
101vgl. etwa Urteile vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 125, 128 f., z.B. NVwZ 2008, 1330 (1331), und vom 11. Juli 2000– 40035/98 – (Jabari), Rn. 38, 42, u.a. InfAuslR 2001, 57 (58),
102festgestellt, dass damit der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gemeint ist.
103Vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013– 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32, und vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 –, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, m.w.N.
104Dieser besagt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (hier: eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh) sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
105Vgl. dazu, dass es dabei allerdings nicht auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im rein mathematischen Sinne („mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich“) ankommt, EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 140.
106Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung (hier: einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh) hervorgerufen werden kann.
107Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32.
108Von dem in Rede stehenden Überstellungsverbot zweifelsfrei erfasst werden nach alledem (in der Regel) nur solche Verhältnisse, in denen es – hier im Zusammenhang mit Überstellungen von Asylbewerbern nach dem „Dublin-Regime“ – in dem Zielstaat der Überstellung aufgrund entsprechender, hinreichend gesicherter Erkenntnisse nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder zu einer Verletzung der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 4 EUGRCh kommen kann.
109Vgl. sinngemäß auch OVG Sachsen-Anhalt,Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 18); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46, 48.
110Die bloße Möglichkeit derartiger Verletzungshandlungen – auch bei einer allgemein unsicheren Lage in dem betreffenden Staat – reicht dagegen nicht.
111Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 131, u.a. NVwZ 2008, 1330 (1331 f.).
112An dem vorgenannten Maßstab ist im Prinzip auch dann festzuhalten, wenn der Betroffene in der Vergangenheit – wie hier der Kläger – schon einmal in den in Rede stehenden Mitgliedstaat überstellt worden war und er seinerzeit auf der Grundlage seiner Angaben ins Gewicht fallende Mängel und Unzuträglichkeiten der Aufnahmebedingungen tatsächlich erlebt hat. Dieser Umstand ist – je nach der Bedeutsamkeit des Erlebten und den sonstigen Umständen des Einzelfalles mit ggf. unterschiedlichem Gewicht – in die oben erwähnte umfassende Abwägung aller Umstände einzubeziehen. Er rechtfertigt demgegenüber – anders als der Umstand der Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, ABl. L 337/9, sog. Qualifikationsrichtlinie – nicht generell eine den Prognosemaßstab faktisch verschiebende Beweiserleichterung, wie sie der Kläger wohl sinngemäß auch für den vorliegenden Fall geltend macht. Solches muss insbesondere dann gelten, wenn wie hier keine individuellen Besonderheiten des Asylsuchenden bzw. spezifische Besonderheiten der Gruppe, der er zugehört, gefährdungsrelevant sind, sondern die vorzunehmende Prognose maßgeblich an den allgemein bestehenden – und zwar den aktuellen – Aufnahmebedingungen auszurichten ist. Eine andere Sichtweise wäre nach Auffassung des Senats nicht mit dem nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich aufrecht zu erhaltenden und schützenswerten Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zu vereinbaren. Es würde nämlich den konkreten Erfahrungen, welche Einzelpersonen in der Vergangenheit vielleicht mehr oder weniger zufällig gemacht haben, ein zu starres und auch tendenziell zu großes Gewicht im Rahmen der (Gesamt-)Würdigung zumessen, ob ausgehend von den allgemein vorherrschenden Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Mitgliedstaat auch (noch) aktuell mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gerechnet werden muss.
113Vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 133: „Die historischen Tatsachen sind zwar insoweit von Bedeutung, als sie die jetzige Lage und die Art, wie sie sich wahrscheinlich entwickelt, beleuchten, entscheidend sind aber die jetzigen Verhältnisse.“
114Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale von Art. 4 EUGRCh ist wegen der korrespondierenden Gewährleistungsinhalte (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh) auf die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen.
115Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 338.
116Nach der Rechtsprechung des EGMR ist (allgemein) eine Behandlung dann „unmenschlich“, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als „erniedrigend“ ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von allen Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.
117Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 219, 220.
118Das kann – etwa bei Asylsuchenden als Angehörige einer besonders benachteiligten und verletzlichen und damit besonders schutzwürdigen Bevölkerungsgruppe – auch die Verhältnisse der Unterbringung, die hygienischen Verhältnisse und die Versorgung mit ausreichender Nahrung betreffen.
119Vgl. das vorgenannte Urteil vom 21. Januar 2011, Rn. 222, 251 und 254.
120Allerdings kann Art. 3 EMRK nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er (aus sich heraus) die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen.
121Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 – (Mohammed Hussein), ZAR 2013, 336 f. (Rn. 70).
122Anders zu beurteilen ist aber bei Erreichen des erforderlichen Schweregrades (möglicherweise) der Fall, dass in dem betreffenden Staat auf Grund des positiven Rechts die Pflicht zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung tatsächlich besteht oder jedenfalls zu bestehen hat, weil einschlägiges Unionsrecht entsprechend umgesetzt werden muss. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), welche die zuvor gültig gewesene Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 (ABl. L 31/18) inzwischen abgelöst hat. Die genannten Richtlinien haben Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten festgelegt.
123Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 250; siehe auch VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 21; eher kritisch hinsichtlich einer damit ggf. einhergehenden Überdehnung der Reichweite des Art. 3 EMRK, welche in Widerspruch zu der Auslegung des Art. 4 EUGRCh durch den EuGH geraten könnte, aber etwa Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.).
124Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nach der Aufnahmerichtlinie erforderlichen Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, beginnt mit der Stellung des Asylantrags. Systematik und Zweck der Richtlinie und auch die Wahrung der Grundrechte verbieten es, dass einem Asylbewerber der mit den in der Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird, und sei es auch nur vorübergehend nach Asylantragstellung.
125Vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014 – C-79/13 – (Saciri u. a.), juris, Rn. 33 – 35, und Urteil vom 27. September 2012 – C-179/11 – (Cimade), NVwZ 2012, 1529 = juris, Rn. 39, 56, jeweils zur Richtlinie 2003/9/EG.
126Davon ausgehend kann ein Staat im Rahmen von Art. 3 EMRK (bzw. entsprechend Art. 4 EUGRCh) – zumindest in Gestalt einer in Betracht kommenden Möglichkeit – für eine Behandlung verantwortlich sein, bei der sich ein von staatlicher Unterstützung vollständig abhängiger Asylsuchender in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Asylsuchender erkanntermaßen mehrere Monate obdachlos auf der Straße gelebt hat, ohne Einnahmen oder Zugang zu Sanitäreinrichtungen und ohne die Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.
127EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 253, 263.
128Hiernach ergibt sich: Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK liegt (insbesondere) vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO „zuständigen“ Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann.
129Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen. Das betrifft in vorliegenden Zusammenhang insbesondere die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie in Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung 2013) für bedürftige Personen unter den Asylantragstellern prinzipiell festgelegt sind. Dabei erlauben diese in bestimmten Ausnahmesituationen, wie etwa bei vorübergehender Erschöpfung der üblicherweise zur Verfügung stehenden Unterbringungskapazitäten, aber auch zeitlich begrenzte Einschränkungen (Art. 18 Abs. 9 Satz 1 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie). Auch dann muss aber das absolut garantierte Minimum (hier: Deckung der „Grundbedürfnisse“) gewährleistet bleiben (Art. 18 Abs. 9 Satz 2 der Aufnahmerichtlinie).
130Die sich aus der Aufnahmerichtlinie ergebenden Verpflichtungen hat Italien in innerstaatliches Recht übernommen.
131bb) Auf der Grundlage des im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in dem Berufungsverfahren vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern – und darunter namentlich von Dublin-Rückkehrern – in Italien steht zur Überzeugung des Senats fest, dass keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe dafür vorliegen, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, ausgehend von systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh ausgesetzt zu werden.
132Bei der Bewertung der in Italien anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind diejenigen Umstände heranzuziehen, die auch auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können). Demgemäß ist in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehrern zu beleuchten, die – wie der Kläger – in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt haben. Ferner ist davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner (unterstellten) Ankunft in Italien einen Asylantrag stellt und die dort zur Verfügung stehenden Angebote der Versorgung im Rahmen des Möglichen tatsächlich nutzt. Nicht maßgeblich ist demnach z. B. die Situation von Rückkehrern, die bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatten, über den schon entschieden worden ist, die sich also aktuell nicht mehr in einem Asylverfahren befinden und die ein solches, auch wenn der ursprüngliche Antrag abgelehnt worden war, regelmäßig nicht mehr (unter den gleichen Voraussetzungen wie bei einem Erstantrag) neu einleiten können. Dies gilt ebenso für in Italien verbliebene Flüchtlinge, deren Asylverfahren abgeschlossen ist. Es betrifft weiter Flüchtlinge, die keine (in der Regel zuvor angekündigten) Dublin-Rückkehrer sind, sondern – wie beispielsweise die sog. Bootsflüchtlinge – außerhalb eines geordneten Verfahrens in Italien ankommen und um Schutz nachsuchen. Schließlich betrifft dies Flüchtlinge, die sich dem Asylsystem komplett entzogen haben, etwa weil sie überhaupt keinen Asylantrag gestellt haben (und u.U. auch gar nicht stellen wollen), demzufolge auch nicht registriert sind und folglich auch keine der Aufnahmerichtlinie entsprechenden Leistungen erhalten können.
133Hiervon ausgehend kommt der Senat bei der Würdigung des Erkenntnismaterials in einer Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass Italien – mit Blick sowohl auf das dortige Rechtssystem als auch insbesondere die Verwaltungspraxis – über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz ggf. vorliegender einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der „vor Ort“ tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber „im Normalfall“, also bei nach der Erkenntnislage vorhersehbarem Verlauf der Dinge, nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen, namentlich nicht solchen i.S.d. Gewährleistung aus Art. 4 EUGRCh, rechnen muss.
134Obwohl sich in Teilbereichen der tatsächlichen Aufnahmebedingungen (nach wie vor) durchaus Mängel und Defizite nicht ganz unwesentlicher Art feststellen lassen, sind diese weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes, systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer wie den Kläger nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad impliziert.
135Im Einzelnen gilt hierzu:
136(1) Dublin-Rückkehrer werden zurzeit unter Bedingungen nach Italien überstellt, welche in der Regel den ungehinderten Zugang zum Asylverfahren und in der ersten Zeit nach der Überstellung auch ein (in dem zu fordernden Mindestmaß) geordnetes Aufnahmeverfahren mitsamt den zugehörigen Leistungen zur Sicherung der Grundbedürfnisse gewährleisten. Soweit Probleme wesentlich erst durch ein eigenmächtiges (Anders-)Verhalten der Betroffenen (z.B. fehlendes Hinbegeben zu den als zuständig mitgeteilten Stellen, Untertauchen, bewusste Nichtinanspruchnahme von Beratung bzw. Vermittlung von Unterkunft, vorzugsweises Wohnen in „besetzten Häusern“ oder Slums statt in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen aufgrund eigener Willensentscheidung) ausgelöst werden, kann dies – das sei hier vorangestellt – nicht dem italienischen Staat als Systemfehler und Auslöser einer Grundrechtsverletzung angelastet werden.
137Dublin-Rückkehrer werden in der Regel auf dem Luftweg nach Italien überstellt. Sie treffen zumeist auf den Flughäfen Fiumicino in Rom oder Malpensa in Mailand (vgl. z.B. UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, Juli 2013 – nachfolgend zitiert: Bericht Juli 2013 –, S. 7), in begrenzter Anzahl auch auf einigen weiteren Flughäfen ein. Für den Kläger war im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Bescheid (wie zuvor auch schon in 2009) eine Überstellung nach Rom konkret vorgesehen. Insofern spricht hier eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine künftige Überstellung ebenfalls nach Rom (oder sonst voraussichtlich nach Mailand) erfolgen wird.
138Nach Rom-Fiumicino (rück-)überstellte Personen werden – regelmäßig nach entsprechender Vorankündigung (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7) – von der Grenz- bzw. Luftpolizei beim Flugzeug abgeholt und zur Questura am Flughafen begleitet. Dort werden Fotos und Fingerabdrücke genommen. Haben die Betroffenen in Italien noch keinen Asylantrag gestellt, so können sie einen solchen Antrag sogleich im Büro der Questura am Flughafen registrieren lassen (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7, und an VG Freiburg, Dezember 2013, S. 7, zu Rom-Fiumicimo); andernfalls erhalten sie ein Schreiben, aus dem sich die für sie zuständige Questura ergibt, wo sie ihren Antrag formalisieren lassen können, einen Termin hierfür sowie ein Zugticket dorthin (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013 – im Folgenden zitiert: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013 –, S. 13 f., 16; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7; Auswärtiges Amt (AA) an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Fragen 2 und 8).
139Vgl. hierzu und zum Folgenden ferner etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013– 3 L 643/12 –, juris (UA S. 21); VG Stuttgart, Beschluss vom 31. Januar 2014 – A 11 K 3470/13 –, UA S. 13 f.
140Von der Questura aus werden die Ankömmlinge weiter zu der jeweils zuständigen Nichtregierungsorganisation (NGO) begleitet, die sich im Transitbereich der Nicht-Schengen-Zone des Flughafens befindet. Diese NGO – in Rom ist nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Oktober 2013, S. 14) zurzeit die „Badia Grande“ zuständig – bietet dort im Auftrag der Präfektur Beratung mit Blick auf das weitere Verfahren an. Dolmetscher und Informationsbroschüren stehen zur Verfügung. Die betreffende NGO kümmert sich in der Regel auch um die zumindest vorläufige Unterbringung der Dublin-Rückkehrer, jedenfalls derjenigen, die einen Asylantrag gestellt haben bzw. stellen wollen. Das kann eine Übergangsunterkunft (transit accommodation, z.B. FER-Unterkünfte als mit EU-Mitteln finanziertes Projekt speziell für Dublin-Überstellte, nur teilweise begrenzt auf „vulnerable cases“), eine (Not-)Unterkunft in einer kommunalen oder karitativen Einrichtung), ggf. aber auch schon eine längerfristige Unterkunft in einer der „regulären“ Systeme staatlicher Aufnahmeeinrichtungen (namentlich CARA oder SPRAR) betreffen. Ob Letzteres schon möglich ist, hängt davon ab, ob im Einzelfall die örtliche oder eine andere Präfektur für den Betroffenen zuständig ist. Bis es auf diese Weise gelingt, für die Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft zu finden, müssen diese allerdings unter Umständen einige Tage am Flughafen verbleiben und dort (ohne besondere Schlafplätze, aber wohl geduldet) auch übernachten (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14 f., 15 f.; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11 f.; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 2; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 3. und 7., welche u.a. darauf hinweist, die überstellten Asylbewerber würden an den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa nach eigenen Feststellungen „sehr intensiv betreut“; zu „temporary reception systems“ für Dublin-Rückkehrer etwa auch European Network for technical cooperation on the application of the Dublin II Regulation, Dublin II Regulation National Report, Dezember 2012, S. 48; aida – Asylum Information Database -, National Country Report Italy, Update November 2013, nachfolgend zitiert: aida-Report, November 2013, S. 42, wo andererseits aber auch kritisch angemerkt wird, dass die Unterbringung der Dublin-Rückkehrer insgesamt noch zu lange dauere und es vorkomme, dass einzelne Betroffene am Ende nicht mit einer Unterkunft versorgt würden und in alternativen/selbstorganisierten Unterkunftsformen eine Bleibe fänden).
141Richtig ist allerdings auch, dass die beschriebenen Abläufe wohl nicht in jedem Einzelfall sichergestellt sind. Das mag damit zusammenhängen, dass nach vorliegenden Erkenntnissen Grenzpolizei und NGOs von der italienischen Dublin-Unit nicht immer rechtzeitig und ausreichend informiert werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 15). Im Prinzip werden die NGOs aber über die Ankunft von Dublin-Fällen vorab informiert (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7). Ein Versagen des Systems kann daher insoweit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden.
142Dass der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat in der ersten mündlichen Berufungsverhandlung vom 26. September 2013 die Abläufe im Bereich des Flughafens Rom-Fiumicino für seine Ende 2009 und damit vor über vier Jahren erfolgte Rücküberstellung anders geschildert hat, als es der vorstehend zusammengefassten, im Kern übereinstimmenden aktuellen Auskunftslage entspricht, vermag die prinzipielle Belastbarkeit des Inhalts dieser Auskünfte nicht durchgreifend in Frage zu stellen. Denn die aktuellen Erkenntnisquellen zu den derzeitigen Verhältnissen nach der Ankunft von Dublin-Rückkehrern am Flughafen geben für den Regelfall hierfür keinen Anhalt.
143Sollte die Überstellung des Klägers nach Mailand-Malpensa erfolgen, ergäbe sich hiervon keine beachtliche Abweichung. Denn die grundlegenden Strukturen und Verhältnisse der Aufnahme am Flughafen Mailand-Malpensa entsprechen weitgehend denjenigen am Flughafen Rom-Fiumicino (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 13 ff.).
144Allerdings ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch, dass die in Italien notwendige „Formalisierung“ eines gestellten Asylantrags – die sog. Verbalizzazione – nicht nur in Einzelfällen, sondern auch übergreifend und insofern einem in der Praxis auftretenden strukturellen Mangel zumindest nahekommend – zu Problemen für Asylbewerber (im Allgemeinen) führt bzw. zumindest geführt hat. Diese sind nämlich in dem Zeitraum bis zur Verbalizzazione nicht immer hinreichend vor Obdachlosigkeit geschützt. Denn Bemühungen um ihre Unterbringung, soweit sie durch die zuständige Questura getätigt werden, setz(t)en in der Regel erst nach der Verbalizzazione ein. Dieser Zwischenzeitraum kann – je nachdem, welche Stadt oder Region betroffen ist und ob es sich um ein Ballungszentrum mit einer Vielzahl zu bearbeitender Anträge oder um einen ländlich geprägten Raum handelt – von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen oder ggf. sogar Monaten reichen (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 6, 11, und auch schon Bericht Juli 2012, S. 7; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage b, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 9; siehe für die damaligen Zeitpunkte auch Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 9, und Associazione per gli Studi Giuridici sull‘ Immigrazione (ASGI), Die derzeitige Situation von Asylbewerbern in Italien, November 2012, S. 5 der deutschen Übersetzung). Exakte und zugleich zuverlässige Angaben lassen sich insoweit aber nicht mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen (vgl. aida-Report, November 2013, S. 42). Den Auskünften ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die beschriebene Verzögerung der Regelfall ist (Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1.: teilweise mit Verzögerung; UNHCR vom Dezember 2013, S. 7: in der Regel Zugang zu Transitunterbringungseinrichtungen; evtl. einige Tage an Flughäfen warten; kann passieren, dass gemäß der Dublin-Verordnung überstellte Personen mehrere Tage am Flughafen verbringen; S. 11: UNHCR erhält Berichte über Fälle, in denen Asylsuchende nicht sofort Zugang zu Aufnahmemaßnahmen gewährt wird, sondern erst Wochen und Monate später; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14: Dublin-Rücküberstellte übernachten manchmal ein paar Tage am Flughafen [ohne Schlafplätze]; aida-Report, November 2013, S. 42: in den meisten Fällen [„in most of the cases“] dauert es zu lange, bis eine Unterkunft gefunden ist, mangels genereller Praxis lässt sich die Wartezeit nicht allgemein angeben, es kommt vor [„it happens“], dass Dublin-Rückkehrer nicht untergebracht werden).
145Der darin zum Ausdruck kommende Mangel ist vom italienischen Staat zudem nicht einfach untätig hingenommen worden. So hat das italienische Innenministerium in der ersten Jahreshälfte 2013 die nachgeordneten Behörden angewiesen, dass die Verbalizzazione zeitgleich mit der Asylgesuchstellung zusammenfallen soll. Zugleich ist ein neues Informatiksystem (Vestanet) eingeführt worden, von dem man sich ebenfalls eine Verkürzung der Wartezeiten erhofft. Allerdings benötigt die landesweite Implementierung noch Zeit und leidet unter technischen Anfangsschwierigkeiten, so dass die Prognose, ob dies zu einer Verbesserung führen wird, noch schwierig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). Jedenfalls liegen dem Senat aber keine Erkenntnisse darüber vor, dass diese Weisung generell oder zumindest in einer Vielzahl von Fällen nicht befolgt würde.
146Unabhängig davon sind für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern die nachfolgenden Ausführungen bedeutsam, welche den hier in Rede stehenden Mangel noch weiter relativieren: Wenngleich häufig betont wird, dass für Dublin-Rückkehrer insoweit prinzipiell keine Besonderheiten gelten bzw. diese in gleicher Weise von den in Rede stehenden Verzögerungen durch die erst später durchgeführte Registrierung des Asylantrags betroffen sein sollen (vgl. etwa AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 1.4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 12), ist dies bei verständiger Würdigung (nur) dahin zu verstehen, dass das System des Asylverfahrens für diese Personengruppe in gleicher Weise ausgestaltet ist/war wie bei den sonstigen Asylsuchenden. Das meint hier im Besonderen die „Zweistufigkeit“ des Verfahrens, d.h. das Auseinanderfallen von erster Äußerung eines Asylbegehrens und davon (in der Regel auch zeitlich) getrennter Formalisierung/Registrierung des Asylantrags. Mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh ernstlich bedenklich ist aber in diesem Zusammenhang nicht die hierdurch ggf. mit herbeigeführte Verzögerung des Beginns des Asylverfahrens als solche, sondern nur deren Folge, die die Einhaltung richtlinienkonformer Aufnahmebedingungen betrifft. Dabei geht es namentlich um eine nicht durch systemische Mängel des Verfahrens zeitlich verzögerte Zurverfügungstellung einer Unterkunft und einer daran anknüpfenden weiteren Versorgung mit Kleidung, Essen, Hygieneartikeln etc. Gerade insoweit ist einschlägigen Erkenntnismitteln – zum Teil sogar sehr detailreich (siehe namentlich den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, S. 13 ff.) – aber zu entnehmen, dass speziell für die Dublin-Rückkehrer, die noch kein Asylgesuch in Italien gestellt hatten, zumindest an den italienischen Hauptflughäfen Einrichtungen zur Verfügung stehen, welche diese (anders als ggf. auf anderem Wege nach Italien einreisende Asylbewerber) bei Bedarf anleitend betreuen und die sich dabei gerade auch – schon in diesem Stadium – um die Suche nach einem (Interims-)Unterkunftsplatz bemühen, was ihnen – bei Wartezeiten von nur wenigen Tagen an den Flughäfen (siehe oben) – in der Regel auch gelingt. Das alles lässt jedenfalls für die Gruppe der Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Schutzstatus haben, wie hier den Kläger, systemische Mängel i.S. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche – bezogen auf den Schweregrad ausreichend – zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh implizieren, am Ende nicht hervortreten. Das gilt jedenfalls, soweit es (was bisher behandelt wurde) um die Aufnahmebedingungen unmittelbar nach der Überstellung nach Italien geht.
147Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die durchaus organisierte Einbeziehung auch nichtstaatlicher, kirchlicher und sonstiger karitativer Einrichtungen in die Betreuung und Hilfeleistung auch dem italienischen Staat zurechnen. Denn die in Rede stehenden Organisationen werden in dem hier interessierenden Zusammenhang – auch die Zurverfügungstellung von (Not‑)Unterkünften betreffend – jedenfalls nicht ausschließlich allein aus eigenem Antrieb tätig, sondern in der Regel im Auftrag staatlicher Stellen wie der Präfektur (staatliche Mittelbehörde in den Provinzen) oder der Kommunen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 22, 33). Auch die letztlich fehlende zentrale Koordinierung der nebeneinander bestehenden Systeme zur Unterbringung von Asylbewerbern und hier insbesondere Dublin-Rücküberstellten unter Einbeziehung staatlicher und nichtstaatlicher Stellen bzw. Organisationen mag zwar gewisse Defizite und Reibungsverluste begünstigen, sie stellt aber für sich genommen noch keinen systemischen und auch keinen auf eine zu befürchtende Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh führenden Mangel mit dem dafür erforderlichen Gewicht dar.
148(2) Dublin-Rückkehrer müssen nach der aktuellen Erkenntnislage auch während der (weiteren) Durchführung ihres Asylverfahrens in Italien nicht beachtlich wahrscheinlich damit rechnen, dass sie in ihrem Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh verletzt werden, indem ihnen durch den italienischen Staat wegen von der Zahl her offensichtlich nicht ausreichender angemessener Unterkunftsmöglichkeiten ein Leben „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ (bekanntermaßen) zugemutet würde und damit ihr Recht auf Unterkunft (vgl. hierzu Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Buchst. g der Aufnahmerichtlinie) systematisch unbeachtet bliebe. Eine solchermaßen dramatische Lage lässt sich aktuell für Italien aufgrund belastbarer Tatsachen nicht feststellen. Im Ergebnis unerheblich ist dabei, dass es in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigende Mängel und Defizite gibt, auf die verbreitet hingewiesen wird und deren Abstellen bzw. (weiteres) Verringern sicherlich wünschenswert ist. In diese Richtung hat die italienische Regierung aber auch bereits von den Flüchtlingsorganisationen gewürdigte Schritte unternommen.
149Es fehlt zunächst nicht grundlegend an einem planvollen System bzw. (genauer) an verschiedenen, sich ergänzenden Systemen von Aufnahmeeinrichtungen, in denen Dublin-Rückkehrer, sei es zum Teil auch neben anderen Personengruppen (sonstige Asylbewerber, schon anerkannte Flüchtlinge), während eines in Italien durchgeführten Asylverfahrens nicht nur als vorübergehender „Notbehelf“, sondern prinzipiell für die gesamte Dauer dieses Verfahrens (im Einzelfall auch über 6 Monate hinaus) eine Unterkunft finden können. Diese wird den Betroffenen im Rahmen eines ebenfalls in den Grundstrukturen geordneten Vermittlungs-/Zuweisungsverfahrens – in der Regel durch die jeweils örtlich zuständige Präfektur oder Questura – zugeteilt. Wesentliche Bestandteile dieses Aufnahmesystems sind – insbesondere für die Erstaufnahme – die als CARA bezeichneten, in der Regel größeren Aufnahmezentren sowie – in einer zweiten Phase, ggf. aber auch schon für die Erstaufnahme u.a. von Dublin-Rückkehrern – die Einrichtungen des Aufnahmesystems SPRAR. Letztere umfassen nicht nur eine Wohnmöglichkeit, sondern stellen sich als ein individualisiertes Integrationsprojekt mit Sprachkursen, Berufsbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche dar, welches nicht nur Asylsuchenden offen steht, sondern auch anerkannten Schutzberechtigten (siehe Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22; aida-Report, November 2013, S. 46; borderline-europe, Gutachten Dezember 2012, S. 15 f.)
150Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 43.
151Hinzu treten namentlich in den größeren Städten wie Rom und Mailand noch kommunale oder (im Auftrag der Gemeinden) von NGOs betriebene Unterkünfte, die allerdings ebenfalls nicht exklusiv der Unterbringung von Asylbewerbern bzw. der Dublin-Rückkehrer unter ihnen zur Verfügung stehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 26 ff., 33 ff.).
152Allerdings können Unterkunftsplätze in allen diesen Einrichtungen nur dann konkret angeboten und belegt werden, soweit sie auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Blick auf die vorhandenen Kapazitäten zu lenken. Diesbezüglich wird, was sich mit gewissen Unterschieden auf alle zur Verfügung stehenden Systeme/Unterbringungsarten erstreckt und schon die Übergangsunterkünfte (FER-Projekte) mit einbezieht, von einem Großteil der dem Senat vorliegenden Auskünfte und Berichte namentlich der Flüchtlingsorganisationen das Gesamtangebot als unzureichend kritisiert (vgl. etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18, 20, 26, 29, 35; aida-Report, November 2013, S. 45, 47; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11: „lack of capacity in the existing reception system“). Zum Teil wird auch auf aktuelle Engpässe der Belegungssituation gerade in bestimmten Unterkunftsarten, wie etwa in den CARA, hingewiesen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18 ff.). Insofern überzeugt es wenig, wenn demgegenüber das Auswärtige Amt in seinen Auskünften (z.B. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3., erster Absatz und am Ende, sowie in seiner Auskunft an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage c)) auch auf Nachfrage des Senats ohne konkret nachvollziehbare Begründung davon ausgeht, es gebe landesweit ausreichende Kapazitäten, um in Italien alle Asylbewerber und Flüchtlinge und darunter insbesondere auch die Dublin-Rückkehrer sofort mit einer Unterkunft zu versorgen (Hervorhebung durch den Senat).
153Die vorstehend thematisierten Erkenntnisse sind in die Gesamtwürdigung mit einzustellen, soweit es um die Frage geht, ob in der Zurverfügungstellung eines solchen begrenzten Gesamtangebots ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen zu sehen ist, und ob dieser zugleich die Prognose rechtfertigt, dass überstellte Dublin-Rückkehrer derzeit konkret der Gefahr ausgesetzt sind, obdachlos zu werden. Die Auskünfte sind allerdings unter den nachfolgenden Gesichtspunkten näher zu hinterfragen und im Gefolge dessen auch zu relativieren:
154Was die Zahl der insgesamt oder in den jeweiligen Unterkunftssystemen für sich genommen vorhandenen Plätze betrifft, gibt es in den Erkenntnismitteln Angaben, die sich hinsichtlich der zugrunde gelegten Zahlen jedenfalls zum Teil voneinander unterscheiden (vgl. AA an VG Minden vom 24. Mai 2013 zu Frage 8. in Bezug auf das Gutachten von borderline-europe; Liaisonbeamtin des Bundesamtes in ihrer Stellungnahme vom 21. November 2013 zu Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, zu 1.). Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass – zumindest die CARA betreffend – derzeit faktisch wohl Überbelegungen stattfinden, d.h. mehr Personen dorthin zugewiesen werden als diejenige Zahl, für die die jeweilige Einrichtung ausgelegt ist (vgl. Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1. mit nach einzelnen CARA aufgeschlüsselter Tabelle). Insofern kommen namentlich in den staatlichen Unterkunftseinrichtungen wahrscheinlich mehr Betroffene unter, als es die nackten Zahlen über die Kapazität dieser Einrichtungen annehmen lassen; die „Soll-Belegung“ muss insofern nicht die „Ist-Belegung“ widerspiegeln. Dies mag als unterstützender Beleg für eine insgesamt unzureichende Unterbringung von Flüchtlingen gewertet werden können, zeigt andererseits aber auch anschaulich, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig ist, sie vielmehr in großer Zahl unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten und deshalb nicht vollkommen schutzlos auf sich selbst gestellt sind.
155Vgl. zur Abgrenzung etwa EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 263, wo der betroffene Mitgliedstaat – dort Griechenland – gerade auch wegen seiner Untätigkeit für die Lage verantwortlich gemacht wurde, aus der die tatsächliche Gefahr, Opfer einer erniedrigenden Behandlung zu werden, erwuchs.
156Und noch ein Weiteres erschwert in diesem Zusammenhang die Betrachtung: Die Zahlen zur (Soll-)Aufnahmekapazität einzelner oder auch aller Einrichtungen geben für sich genommen schon deswegen kein vollständiges Bild, weil es daneben wesentlich darauf ankommt, wie oft (etwa pro Jahr) ein Wechsel erfolgt, also ein vorhandener Platz wieder frei und neu besetzbar wird. Gerade zu Letzterem und auch (als Indiz hierfür) zur Länge der Asylverfahren gibt es aber keine eindeutigen, durch statistisches Material belegten und verfügbaren Erkenntnisse, obwohl gerade dies für eine gesicherte Annahme von etwaigen Rückkoppelungseffekten (Blockierung von Plätzen durch eine längere als die gewöhnliche Aufenthaltsdauer der „Vorgänger“) von Interesse wäre. Man ist deshalb im Wesentlichen auf überschlägige Schätzungen angewiesen. Der aida-Report, November 2013, S. 43, geht von einer durchschnittlichen Verweildauer in CARAs von 8 bis 10 Monaten aus, in SPRARs könne der Aufenthalt 6 bis 12 Monate andauern. In den Auskünften des Auswärtigen Amtes wird typisierend davon ausgegangen, dass ein Unterkunftsplatz (insbesondere in den SPRAR-Einrichtungen) zwei Mal im Jahr neu belegt werden kann; insofern werden die Zahlen zur Aufnahmekapazität – zum Teil ohne die gebotene Erläuterung – schlicht verdoppelt (siehe AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 8; dazu auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 23)). Das verzerrt allerdings das Zahlenmaterial für den notwendigen Vergleich mit anderen Erkenntnismitteln, die häufig eine entsprechende statistische Erhöhung der Kapazität in ihren Zahlenangaben nicht berücksichtigt haben. Die Angabe eines „typischen“ Belegungszeitraums erweist sich bezogen auf nicht staatliche Unterkünfte, die von Kommunen oder NGOs getragen werden, als noch schwieriger und unsicherer im Aussagegehalt. Bezieht man dabei zusätzlich zu festen kommunalen Aufnahmezentren auch die diversen Notschlafstellen bei kirchlichen Einrichtungen oder NGOs mit ein, so ist es unmöglich, überhaupt nur einen Überblick auch schon über die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze zu gewinnen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 35). Diese Plätze stehen darüber hinaus nicht speziell Asylbewerbern zur Verfügung, obschon auch solche dort inzwischen vermehrt unterkommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27).
157Schließlich kommt Folgendes noch relativierend hinzu, und zwar mit Blick darauf, ob dem Bestand an Unterkunftsplätzen ohne Weiteres die Gesamtzahl der in Italien pro Jahr ankommenden Flüchtlinge vergleichend gegenüber gestellt werden kann, um auf diese Weise ein konkret bestehendes Unterkunftsdefizit hinreichend plausibel zu machen: Insofern muss man sich vergegenwärtigen, dass ein nicht exakt bezifferbarer Teil der in Italien anlandenden Flüchtlinge und auch der nach der Dublin II-VO überstellten Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) einen Asylantrag gestellt hatten, unabhängig von der unter Umständen gegebenen Möglichkeit ihrer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung selbst die Entscheidung trifft, im Land unterzutauchen und/oder Italien wieder zu verlassen und – ggf. zum wiederholten Male – in einen anderen Mitgliedstaat der EU, in dem (vermeintlich) bessere Aufnahmebedingungen herrschen, weiterzureisen. Insbesondere Letzteres hat zur Folge, dass diese Personen zumindest vorübergehend die italienischen Aufnahmeeinrichtungen nicht belasten. Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Asylbewerber bzw. Flüchtlinge ein solches Verhalten immer erst dann an den Tag legen, wenn die Aufnahmebedingungen, die sie erwarten, objektiv dem Maßstab des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh nicht genügen. Vielmehr können die Gründe für das angeführte Verhalten unterschiedlichster Art sein, und sie müssen auch nicht stets nachvollziehbar sein. So wird etwa in dem schon an anderer Stelle zitierten aida-Report von November 2013 (S. 42) von einem Vorkommnis im Oktober 2013 berichtet, bei dem von 155 geretteten Bootsflüchtlingen 89 nach Rom transferiert worden seien; diese seien sämtlich aus dem dortigen Aufnahmezentrum verschwunden, ohne dem Leiter des Zentrums vorher eine Mitteilung zu machen. Ein anderer Teil der Gesamtzahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge kommt– wie schon dargelegt – bei kommunalen und karitativen Einrichtungen unter. Auch dieser nicht gering zu schätzende Teil kann im Rahmen einer vergleichenden (Zahlen-)Betrachtung nicht einfach der Gesamtanzahl der vorhandenen staatlichen Unterkünfte mit gegenübergestellt werden.
158Vgl. zu dem (u.a.) aus beiden vorstehenden Gründen als gering einzustufenden Aussagewert der Zahlen zur Kapazität der öffentlichen (staatlichen) Aufnahmeeinrichtungen auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013– OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 27.
159Aber selbst unterstellt, es gäbe einen geeigneten und hinreichend belastbaren Anhalt dafür, dass die in Italien aktuell vorhandenen Kapazitäten zur Unterbringung von Asylbewerbern – und hier insbesondere der Dublin-Rückkehrer unter ihnen – insgesamt nicht ausreichen würden, um für alle Betroffenen die Zuteilung einer (nicht nur nach der Ankunft in Italien übergangsweise vermittelten) Unterkunft regelmäßig ohne Wartezeiten von Belang sicherzustellen, ergäbe sich allein daraus nach Auffassung des Senats noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EUGRCh überschreitendes Versagen des Staates im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Hierzu gilt:
160Die Frage, in welchem Umfang ein Staat für Asylbewerber bzw. Flüchtlinge aus anderen Ländern angemessene Unterkunftsmöglichkeiten konkret vorsehen (schaffen und aufrechterhalten) muss, lässt sich nicht abstrakt in einem bestimmten Sinne – etwa durch Festlegung einer genauen Mindestanzahl – bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass die betreffende Aufgabe sich erst als Reaktion auf bestimmte andere, den Handlungsauftrag auslösende Umstände ergibt. Das sind hier konkret absehbare oder schon vorhandene Flüchtlingsströme in die EU, welche den in Rede stehenden Mitgliedstaat berühren. Die diesbezügliche Situation kann sich ggf. sehr schnell zuspitzen, kann sich dann aber auch wieder deutlich entspannen, um dann evtl. wieder durch neu entstandene politische Konflikte oder Bürgerkriegssituationen z.B. im Mittelmeerraum zu eskalieren. Da die ständige Vorhaltung von Unterkünften für Asylbewerber und Flüchtlinge in großer Zahl nicht unerhebliche finanzielle Mittel bindet, kann in diesem Zusammenhang zumal von Staaten, die wie Italien aktuell eine Wirtschaftskrise durchgemacht haben, nicht strikt verlangt werden, dass sie rein vorsorglich Unterkunftskapazitäten für Asylbewerber in einem Umfang bereithalten müssen, der nicht ständig, sondern nur bei einer ggf. auftretenden Spitzenbelastung benötigt wird. Vielmehr reicht es grundsätzlich aus, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat erfolgversprechend bemüht, den sich aus dem Dublin-System ergebenden europarechtlichen Anforderungen je nach der auftretenden Lage im Wege flexibler Anpassung seines Aufnahmesystems zu entsprechen. Dies kann etwa in der Weise geschehen, dass in „ruhigeren Zeiten“ Kapazitäten maßvoll zurückgefahren, diese bei einer neu auftretenden Belastungssituation dann aber wieder in prinzipiell ausreichendem Maße aufgestockt werden.
161Ähnlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 18, 19; für die Berücksichtigung erkennbarer, realer Bemühungen eines Mitgliedstaates im Zusammenhang mit der Bewertung, ob ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen angenommen werden kann, auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 47.
162Hiervon ausgehend hat sich Italien – unbeschadet mancherseits, auch von UNHCR, zu Recht angebrachter (Teil-)Kritik – im Wesentlichen (noch) so verhalten, dass weder die Funktionsfähigkeit des Systems als solches in Frage gestellt worden ist noch die aktuell vorhandenen Mängel ein Ausmaß und Gewicht erreichen, von dem ausgehend die Prognose der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gerechtfertigt erscheint:
163Nachdem im Zuge insbesondere der Ereignisse in Tunesien und in Libyen die Zahl der über das Mittelmeer nach Italien geflüchteten Personen im Jahr 2011 einen Höchststand erreicht hatte (ca. 62.000 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 34.115 Asylgesuchen in jenem Jahr; Zahlenangaben nach AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2, und Schweizerischer Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 7, m.w.N.) trat im Jahr 2012 eine deutliche Entspannung der Situation ein (ca. 13.300 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 15.715 Asylgesuchen; Quellen für die Angaben wie vorstehend). Diese hat vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2013 zwar nicht fortgedauert, sondern es hat wieder eine deutliche Zunahme des Flüchtlingsstroms (auch) nach Italien gegeben. So gab es nach Angaben des Auswärtigen Amtes allein im ersten Halbjahr 2013 ca. 12.000 Anlandungen in Süditalien (AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2), nach Schätzungen von UNHCR für den gleichen Zeitraum allerdings nur ca. 7.800 (Nachricht vom 6. Juli 2013 auf der Internet-Seite http://www.unhcr.de/archiv/nachrichten/artikel). Auf diese Zahlendivergenz kommt es hier nicht an, denn die Entwicklung des Wiederanstiegs hat sich im zweiten Halbjahr des Jahres 2013 unstreitig fortgesetzt und sogar noch verstärkt. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe darüber, dass die Zahl der Bootsflüchtlinge, welche in Süditalien angekommen seien, „im Sommer 2013“ stark angestiegen sei (Bericht von Oktober 2013, S. 7). Insgesamt haben im Jahr 2013 knapp unter 43.000 Bootsflüchtlinge Italien erreicht (Luise Amtsberg, Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien, Januar 2014, S. 5 f., abrufbar unter www.luise-amtsberg.de; Bericht Spiegel Online vom 17. Februar 2014 = Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 4. März 2014). Die sich daraus wieder ergebende deutliche Verschärfung der Lage, welche der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, ist somit eher plötzlich entstanden und konnte nicht ohne Weiteres vorhergesehen werden.
164Vor dem Hintergrund dieser seit 2011 in unterschiedliche Richtungen gehenden Entwicklungen und daran anknüpfender organisatorischer Planungen und Entscheidungen, die immer einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigen, ist zunächst kein durchgreifendes Fehlverhalten Italiens darin zu sehen, dass die zur Bewältigung des sog. „Notstand(es) Nordafrika“ seinerzeit von vornherein für einen vorübergehenden Zeitraum geschaffenen zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten des Zivilschutzes in der Größenordnung von (ursprünglich) 50.000 Plätzen nach dem Auslaufen jenes Projekts Anfang 2013 nahezu vollständig wieder weggefallen sind. Denn als die Planungen für diesen Wegfall erstellt und ins Werk gesetzt wurden, war kein neuerlicher dramatischer Anstieg der Zahl von Bootsflüchtlingen und damit mittelbar zugleich von (künftigen) Dublin-Rückkehrern absehbar. Ob und inwieweit jene Unterbringungsmöglichkeiten, welche von vornherein nur vorübergehend zusätzlich zur Verfügung stehen sollten, über eventuelle Verdrängungseffekte (Hineinströmen neuer Bootsflüchtlinge in die für alle nur begrenzt vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen) für die Chance von Dublin-Rückkehrern, untergebracht zu werden, überhaupt von Bedeutung gewesen sind (verneinend AA an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage e), bedarf insofern keiner Klärung. Denn das inzwischen ausgelaufene Notstandsprogramm belegt jedenfalls, dass Italien in erheblichem Umfang zusätzliche Unterkunftsplätze einrichten und zur Verfügung stellen will und kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Daraus lässt sich zugleich schließen, dass bei einem aktuell oder künftig ansteigenden Bedarf an Unterkünften voraussichtlich ebenfalls (zumindest im Prinzip) eine Reaktion in Form der gebotenen Anpassung der zur Verfügung gestellten Unterbringungskapazität erfolgen wird.
165Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 26 f.); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 19.
166Es gibt darüber hinaus aber auch konkrete Hinweise dafür, dass Italien sich seiner „Dublin-Verantwortung“ auch aktuell bewusst ist und bereits Anstrengungen unternommen sowie weitere Schritte eingeleitet hat, um die von Flüchtlingsorganisationen als zu knapp bemessen kritisierten Unterkunftskapazitäten in einem beachtenswerten und für ein Auffangen der meisten Fälle wohl ausreichenden Umfang wieder auszubauen.
167So ist die Zahl der SPRAR-Unterkünfte von ursprünglich 3.000 auf inzwischen mindestens 5.000 erhöht worden; zumindest im Aufbau begriffen, wenn nicht bereits erreicht oder sogar schon übertroffen (im letztgenannten Sinne aida-Report, November 2013, und die Liaisonbeamtin, siehe unten), ist eine weitere Erhöhung auf 8.000 Plätze. Aufgrund von Dekreten des Innenministeriums von Juli und September 2013 soll in dem Zeitraum von 2014 bis 2016 eine nochmalige Erhöhung auf 16.000 Plätze erfolgen. Mit weiterem Dekret von Oktober 2013 hat das Innenministerium speziell auf die durch den deutlichen Anstieg der auf dem Seeweg ankommenden Flüchtlinge eingetretene Notlage („emergency situation“) reagiert und aufgrund der Bewilligung außerordentlicher Geldmittel eine (wohl unmittelbar in Angriff zu nehmende) Erhöhung der Unterkunftsplätze beschlossen (vgl. insbesondere zu Letzterem aida-Report, November 2013, S. 42; zum Ganzen mit nur geringfügigen Unterschieden, die wohl in erster Linie durch die etwas auseinanderfallenden Zeitpunkte der Erkenntnisgewinnung zu erklären sind, auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22 f.; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Auskunft vom 21. November 2013, zu 1.; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 5, und an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 10). Allerdings hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O.) in diesem Zusammenhang einschränkend darauf hingewiesen, dass durch den Ausbau der SPRAR-Unterkünfte die Gesamtkapazität nicht in gleichem Umfang steige (gestiegen sei), weil beispielsweise bisher unter kommunaler Verantwortung stehende Plätze in das Vorhaben integriert würden.
168Addiert man zu den in den (wenn auch zurzeit überbelegten) CARA laut Liaisonbeamtin des Bundesamtes mit ca. 11.000 untergebrachten Personen eine Kapazität der SPRAR-Projekte von laut aida bzw. der Liaisonbeamtin derzeit zwischen 8.000 und 9.500 Plätzen hinzu, so beträgt die Summe bereits ca. 20.000 staatliche Plätze. Dabei sind die kommunalen oder durch NGOs bereitgestellten Unterbringungsmöglichkeiten nicht mitgezählt, von denen es allein in Rom zusammen ca. 1.500 gibt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27). Nimmt man hinzu, dass nicht alle Flüchtlinge über die Dauer von 12 Monaten in den Unterkünften verbleiben, können während eines Jahres tatsächlich mehr Flüchtlinge untergebracht werden, als es die Zahl der Unterkunftsplätze annehmen lässt (z.B. beträgt die durchschnittliche Verweildauer in CARAs 8 bis 10 Monate, aida-Report, November 2013, S. 43). Auch vor diesem Hintergrund und weil dies nicht einmal die bis 2016 angestrebte weitere Erhöhung der SPRAR-Plätze berücksichtigt, lassen auch schon die aktuellen Zahlen – unbeschadet der hierzu oben aufgezeigten Schwierigkeiten einer allein an diesen Zahlen orientierten Vergleichsrechnung – jedenfalls kein dramatisches Missverhältnis in Gestalt einer sich nach den empirischen Grundlagen aufdrängenden Kapazitätsunterdeckung erkennen. Das gilt selbst dann, wenn man richtigerweise einbezieht, dass ein Teil der Unterkünfte auch anerkannten Flüchtlingen, die sich schon im Land befinden, (für einen gewissen Zeitraum) zur Verfügung steht. Damit unterscheidet sich die Situation auch deutlich von der seinerzeitigen Lage in Griechenland, in welcher auch ein erwachsener männlicher Asylsuchender praktisch keine Chance auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung hatte, weil es weniger als 1000 Unterkünfte gab, um zehntausende Asylsuchende unterzubringen.
169Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 258.
170Auch im Übrigen wird an den Strukturen der Aufnahme in Gestalt von Verbesserungen bzw. zumindest der Sicherung vorhandener Kapazitäten weiter gearbeitet. So soll etwa das am Stadtrand von Rom gelegene Centro Enea, eine zunächst von der Arcofraternita betriebene Einrichtung insbesondere für Dublin-Rückkehrer, die in Rom-Fiumicino ankommen, deren Fortbestand zwischenzeitlich unklar gewesen ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 20 oben), ab Januar 2014 in eine staatliche Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt werden. Dies ergibt sich aus einem Bericht des Mitglieds des Deutschen Bundestags Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen) vom 16. Januar 2014 („Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien“, abrufbar unter www.luise-amtsberg.de).
171Es wird insoweit auf eine gute Infrastruktur des Hauses, auf verschiedene Kultur- und Bildungsangeboten sowie auf engagiert wirkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingewiesen. Zwar wird auch angemerkt, dass das betreffende Haus, welches 410 Menschen im Asylverfahren aus 35 verschiedenen Ländern beherberge, isoliert von der Außenwelt und viel zu groß für die individuelle Betreuung der Menschen sei. Das mag einen noch möglichen Verbesserungsbedarf anzeigen, lässt allerdings gewichtige Mängel des bestehenden bzw. im Aufbau begriffenen Zustandes nicht hervortreten. In dem vorgenannten Bericht wird im Übrigen an anderer Stelle (S. 6) auch darauf hingewiesen, dass angesichts des aktuell hohen Zustroms an Flüchtlingen sowie der Überfüllung der CARAs inzwischen alle Regionen Italiens aufgefordert seien, weitere (Aufnahme-)Zentren zu bauen.
172Dass Italien den in Bezug auf die tatsächlichen Aufnahmebedingungen bestehenden Mängeln und Defiziten nicht etwa schlechthin tatenlos zusieht, sondern (namentlich seit Ende 2012) durchaus anerkennenswerte Bemühungen unternimmt, die insoweit bestehende Situation zu verbessern, wird ferner – trotz zugleich geübter, auch struktureller Kritik, auch in dem letzten Bericht von UNHCR von Juli 2013 gewürdigt (S. 10 unten: „UNHCR welcomes the decision of the Ministry of Interior …“, „SPRAR projects … are able to provide for the reception needs of a significant number of asylum-seekers“). Als „äußerst unzureichend“– und damit wohl wesentlicher Grund für eine umfassende Reform des Aufnahmesystems – werden in jenem Zusammenhang allein die Unterstützungsmaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge beschrieben (vgl. UNHCR an VG Freiburg von Dezember 2013, S. 6 oben, basierend auf dem UNHCR-Bericht über Italien von Juli 2013, dort S. 10 unten).
173Anders als für andere Staaten wie zuletzt Bulgarien und trotz inzwischen mehrfacher eingehender Befassung mit dem Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Italien auch für Dublin-Rückkehrer hat UNHCR bislang nicht explizit eine Empfehlung ausgesprochen, von der Überstellung von Asylbewerbern nach Italien abzusehen. In der Anlage zu dem beim Oberverwaltungsgericht etwa zweieinhalb Stunden vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schreiben an den Senat vom 7. März 2014 (Ergänzende Informationen zur Veröffentlichung „UNHCR-Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien – Juli 2013“) hat er hierzu erläuternd darauf hingewiesen, der Umstand, dass in dem betreffenden Papier keine Äußerung enthalten sei, ob systemische Mängel einer Überstellung nach Italien entgegenstünden, könne keine Grundlage für die Annahme bilden, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehende Umstände vorlägen. Ob solches der Fall sei, hätten vielmehr die Behörden und Gerichte im Einzelfall mit Blick darauf zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung ausschlössen. Dabei weiche der Prüfungsmaßstab in den Dublin-Fällen nicht von dem allgemein gültigen Maßstab des Schutzes des Art. 3 EMRK ab.
174Auf der Grundlage dieser Ausführungen ergibt sich weder eine Indizwirkung dafür noch eine solche dagegen, dass die in Italien derzeit vorzufindenden Aufnahmebedingungen die Überstellung eines Dublin-Rückkehrers, der wie der Kläger dort noch kein Asyl beantragt hatte und für den keine individuellen Besonderheiten gelten, allgemein hindern. Somit bleibt der Senat auch im Hinblick auf diese neue Stellungnahme aufgefordert, sich in der gebotenen Gesamtschau aller für und gegen eine drohende Verletzung des Klägers in seinen Grundrechten aus Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK sprechenden Gründe ein eigenes Urteil zu bilden, ob die u.a. von UNHCR in der Sache angeführten Mängel und Defizite in Bezug auf das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen gewichtig genug sind, um eine belastbare tatsächliche Grundlage für die Prognose zu bilden, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft finden und obdachlos sein. Eine solche Grundlage ist aus den vorstehend angeführten Gründen nicht vorhanden.
175Allerdings merkt der Senat sein Befremden darüber an, dass UNHCR seine jetzige Interpretation des eigenen Berichts von Juli 2013 maßgeblich darauf stützt, dieser richte sich in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die italienische Regierung. Ohne diese Intention anzweifeln zu wollen, gründet das Befremden des Senats darin, dass UNHCR nicht unbekannt sein kann, dass die dort erstellten Berichte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „besonders relevant“ sind auch bei der Bewertung des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zuge der Rückführung von Asylsuchenden nach der Dublin II-VO.
176Vgl. EuGH, Urteile vom 30. Mai 2013– C-528/11 – (Halaf), NVwZ-RR 2013, 660 =juris, Rn. 44, und vom 21. Dezember 2011– C-411/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris,Rn. 90 f.
177Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr wesentlich auf die nicht durch prüffähige Einzelangaben belegte Darstellung der Liaisonbeamtin des Bundesamtes an, dass die in dem Bericht von UNHCR von Juli 2013 registrierten Mängel bereits zum großen Teil beseitigt worden seien, was ihr am 16. September 2013 die Capo Dipartimento, Angela Pria, versichert habe (vgl. die Stellungnahme der Liaisonbeamtin vom 21. November 2013, zu 7.).
178(3) Es gibt auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel ferner keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass die den Asylbewerbern und darunter insbesondere den Dublin-Rückkehrern während der Durchführung des Asylverfahrens zur Verfügung gestellten Unterkünfte gleich welcher Art wegen ihrer Beschaffenheit und Ausstattung (z.B. der hygienischen Verhältnisse) oder auch wegen der dort herrschenden Zustände (insbesondere der Gefahr, das Opfer von Gewalttätigkeit und anderer krimineller Delikte zu werden) typischerweise unzureichend oder in Bezug auf das Zusammenleben mit anderen Personen auf ggf. engem Raum in einer Weise unzumutbar wären, dass daraus auf die konkrete Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Falle der Überstellung des Klägers nach Italien geschlossen werden könnte.
179Vgl. dazu allgemein auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 28 f., m.w.N.).
180Gegenteiliges lässt sich insbesondere auch nicht aus den Angaben des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat herleiten. Dies schon deshalb nicht, weil sich diese Angaben auf einen anderen Zeitpunkt und im Übrigen auch ausschließlich auf die Verhältnisse in einer Art „Sammelstelle“ auf Sizilien – und damit allenfalls auf die seinerzeitigen Bedingungen in Süditalien – beziehen. Die konkrete Unterkunftsart konnte der Kläger weder näher bezeichnen noch irgendwie klar umschreiben. Was die angeblich angetroffenen „schlechten“ Lebensbedingungen betrifft, fehlt es im Übrigen auch an der Relevanz, solange die Grenze des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts des Art. 4 EUGRCh nicht berührt wird. Namentlich ist es unerheblich, wenn die Aufnahmebedingungen nicht den Standard erreicht haben bzw. erreichen, wie er bei einer Aufnahme von Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland üblich ist. Für die nicht weiter belegte Annahme des Klägers, infolge der derzeitigen Überbelegung vieler Aufnahmeeinrichtungen herrschten dort gemeinhin menschenunwürdige Zustände, geben die Erkenntnisse nichts her. Darauf, ob dies vielleicht in Einzelfällen anders sein mag, kommt es nicht an.
181(4) Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass Dublin-Rückkehrer, welche in Italien einen Asylantrag stellen, während des Verfahrens bis zur Entscheidung über diesen Antrag materielle Not leiden müssen, weil sie gemessen an den Vorgaben des Unionsrechts nicht das zum Leben Benötigte – wie insbesondere Nahrung, Wäsche, Kleidung und Hygieneartikel – erhalten. Vielmehr wird dem Rechtsanspruch der Asylsuchenden auf Verpflegung und Versorgung im Allgemeinen auch in Italien nachgekommen. Dies geschieht bei denjenigen Personen, die in staatlichen/öffentlichen Unterkünften untergebracht sind, in der Regel dadurch, dass die Aufnahmeeinrichtungen/-zentren auch die Verpflegung und Versorgung mit übernehmen. Aber auch für diejenigen Asylbewerber, die in nichtstaatlichen, namentlich in karitativen oder kirchlichen Unterkünften leben, wird grundsätzlich ausreichend gesorgt, wobei insoweit auch private Dienstleister herangezogen werden (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 5.; für seitdem eingetretene Änderungen ist nichts ersichtlich). Dass die Asylbewerber und hier insbesondere die Dublin-Rückkehrer unter ihnen typischerweise in extremer Armut leben und ihren Lebensunterhalt dabei beispielsweise durch Betteln oder Prostitution sichern müssten, kann folglich nicht festgestellt werden.
182Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UAS. 29 ff.).
183Das schließt es nicht aus, dass im Einzelfall solches namentlich bei obdachlosen Personen hin und wieder vorkommen mag. Denn ein staatliches Sozialhilfesystem existiert in Italien nur sehr eingeschränkt. Das reicht indes nicht für die Annahme aus, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung nach Italien ernstlich der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh ausgesetzt sein.
184(5) Soweit es um die medizinische Versorgung der Dublin-Rückkehrer nach Italien geht, die dort ein Asylverfahren einleiten, unterscheidet sich die Situation nicht von derjenigen, die in Italien allgemein für Asylbewerber während ihres Verfahrens gilt. Als unionsrechtliche Vorgabe ist insoweit Art. 19 der Neufassung der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) zu beachten. Dieser garantiert allerdings für Antragsteller ohne besondere medizinische Bedürfnisse – wie hier den Kläger – nur einen Mindeststandard (Notversorgung, unmittelbar erforderliche Behandlungen). Dass Asylbewerber in Italien in der Regel eine medizinische Versorgung kostenfrei erhalten können, welche zumindest diesem Mindeststandard entspricht, wird vom Kläger und auch in den dem Senat vorliegenden (einschlägigen) Erkenntnismitteln nicht prinzipiell in Frage gestellt. In den Erkenntnissen wird allenfalls in Zweifel gezogen, ob auch jenseits der Not- bzw. Akutversorgung der allgemeine Zugang zum italienischen Gesundheitssystem, zu dem eine Gesundheitskarte nötig ist, den Asylbewerbern bereits – ggf. landesweit – dann eröffnet ist, wenn sie (noch) nicht über einen ständigen Wohnsitz bzw. eine feste Adresse verfügen, und inwiefern insoweit eine sog. fiktive bzw. virtuelle Adresse ausreicht und erlangt werden kann (siehe etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 49 f., 52; AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 6., und – dort entsprechend für anerkannte Schutzberechtigte – an VG Gießen vom 26. März 2013, zu Frage 4.; zu einzelnen Defiziten hinsichtlich der praktischen Anwendung der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern seinerzeit Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 45 ff.). Mängel der Aufnahmebedingungen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, lassen sich somit auch in diesem Zusammenhang nicht feststellen. Individuelle Besonderheiten im Sinne einer besonderen Verletzlichkeit oder medizinische Behandlungsbedürftigkeit des Klägers bestehen im Übrigen nicht.
185Vgl. zum Zugang zum Gesundheitssystem auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 31 f.).
186(6) Durchgreifende Mängel gibt es auch nicht in Bezug auf die Qualität und Dauer der Asylverfahren in Italien. Die Rechtsstellung der Betroffenen wird insoweit auch, was die faktische Umsetzung in der behördlichen Praxis einschließlich der Gewährung von Rechtsberatung und Rechtsschutz betrifft, nicht in einer nennenswerten Weise beeinträchtigt. Der Senat schließt sich insoweit der (vom Kläger nicht in Zweifel gezogenen) Bewertung durch das OVG Sachsen-Anhalt an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen einschlägigen Ausführungen Bezug, welche sich auch dazu verhalten, dass es in Italien keine unverhältnismäßig restriktive Asylpraxis gibt.
187Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 32 ff.).
188(7) Die in Gesamtwürdigung der Verhältnisse gewonnene Einschätzung des Senats, dass das Asylverfahren und namentlich auch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber – darunter hier speziell Dublin-Rückkehrer – in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden, welche darauf führen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, stimmt schließlich mit der Bewertung überein, welche für dessen Entscheidungszeitpunkt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Beschluss vom 2. April 2013– 27725/10 – (Mohammed Hussein u.a.), insb. Rn. 78, unter Würdigung zahlreicher Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen getroffen hat. Dieser Entscheidung lag durchaus jedenfalls auch eine Betrachtung der allgemeinen Situation und der Lebensbedingungen in Italien zugrunde; keineswegs erfolgte sie maßgeblich (nur) vor dem Hintergrund etwaiger besonderer Umstände des zugrunde liegenden Falles wie namentlich des Umstandes, dass die Klägerin in dem Verfahren grundlegend falsche Angaben zum Sachverhalt gemacht hatte; ebenso wenig lässt sich ihr entnehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe eigentlich etwas anderes, nämlich in Richtung auf das Bestehen systemischer Mängel, sagen wollen.
189In diesem Sinne (zu Unrecht) VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 61 f.; VG Gießen, Urteil vom 25. November 2013 – 1 K 844/11. GI.A –, juris, Rn. 36.
190Hierfür spricht nicht zuletzt auch, dass der EGMR seine Linie zu Italien auch in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt hat.
191Vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 2013 – 53852/11 – (Halimi), ZAR 2013, 338 (339, Rn. 68), und vom 10. September 2013 – 2314/10 – (Hussein Diirshi), Rn. 138, 139.
192Wie ein zwischenzeitlich vor der Großen Kammer des EGMR anhängiges und im Februar 2014 verhandeltes (weiteres) Verfahren zu Italien, das der Kläger angesprochen hat, ausgehen wird und inwiefern der EGMR in jenem Verfahren fallübergreifende Feststellungen zu den Verhältnissen in Italien treffen oder die konkreten Verhältnisse des zu entscheidenden Falles in den Vordergrund stellen wird, ist ungewiss; die Entscheidung hierzu steht noch aus.
193(8) Der Senat hatte auch mit Blick auf die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren schriftsätzlich vorgebrachten Beweisanregungen keine Veranlassung, zur Gewinnung der für die Entscheidungsfindung erforderlichen Überzeugung noch weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation der Asylbewerber in Italien einzuholen. Denn die vorliegenden Erkenntnismittel haben im Ergebnis ausgereicht, ihm diese Überzeugung bereits in einem ausreichenden Maße zu vermitteln.
194Dem steht zunächst nicht durchgreifend entgegen, dass der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2013 die Sache zunächst vertagt hat. Denn zu jenem Zeitpunkt standen wesentliche aktuelle Erkenntnismittel, wie namentlich der damals bereits angekündigte ausführliche Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Oktober 2013, noch nicht zur Verfügung. Der zusätzliche Umstand, dass der Senat unter dem 18. Oktober 2013 ein weiteres, trotz des Umfangs der gestellten Fragen im Wesentlichen die Erläuterung bzw. Konkretisierung/Substantiierung bereits vorliegender Aussagen betreffendes Auskunftsersuchen an das Auswärtige Amt gerichtet hat, welches das Auswärtige Amt dann angeblich mit den eigenen Möglichkeiten nicht beantworten konnte (vgl. die Antwortschreiben vom 5. November und 18. Dezember 2013), hinderte den Senat nicht, sich (aufgrund der insofern neuen Situation) noch einmal neu mit der Frage zu befassen, ob es für seine Entscheidung – etwa auch vor dem Hintergrund des ausführlichen aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – der Beantwortung der gestellten Fragen (bzw. aller davon) notwendig bedurfte, und diese Frage zu verneinen. Eine etwaige Bindung war durch die rein vorsorgliche Anfrage vom 18. Oktober 2013 nicht eingetreten; zudem hatte sich die Sachlage inzwischen wesentlich geändert. Denn das Auswärtige Amt hat in dem Schreiben vom 18. Dezember 2013 unmissverständlich mitgeteilt, dass (ergänzende) eigene Erkenntnisse oder Unterlagen nicht vorhanden seien.
195Der Anregung im Schriftsatz des Klägers vom 14. Januar 2014, bestimmte Angehörige der Organisationen „borderline europe“ und Schweizerische Flüchtlingshilfe als sachverständige Zeugen zu hören, musste der Senat nicht entsprechen. Denn es ist nicht dargetan oder sonst ersichtlich, dass „borderline europe“ die Erkenntnisse aus dem im Dezember 2012 erstellten Bericht bzw. Gutachten inzwischen auf der Grundlage neuerer konkreter Erkenntnisse sozusagen „fortgeschrieben“ hätte und/oder dass Angehörige der Schweizerischen Flüchtlingshilfe aus eigener Kenntnis heraus wesentliche zusätzliche Informationen über das hinaus geben könnten, was schon in dem sehr ausführlichen Bericht von Oktober 2013 unter (in der Regel) spezifizierter Offenlegung der Quellen schriftlich niedergelegt ist. Schließlich musste der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nicht Gelegenheit gegeben werden, auf ihr in der Stellungnahme der Liaisonbeamtin des Bundesamtes vorgehaltene (vermeintliche) Mängel ihres Oktober-Berichts zu erwidern.
1962. Die Abschiebungsanordung in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides ist hiernach ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Grundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
197Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
198Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Gründe
- 1
-
Der Beschwerdeführer wendet sich unter Berufung auf Art. 31 Abs. 1 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl II 1953, S. 560 ff., Genfer Flüchtlingskonvention, nachfolgend: GFK) gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen des Gebrauchens unechter Personaldokumente bei der Einreise nach Deutschland.
-
I.
- 2
-
1. Der Beschwerdeführer verließ im Oktober 2009 gemeinsam mit seiner Ehefrau den Iran, um in Deutschland Asyl zu beantragen. Hierzu flogen beide zunächst von Teheran nach Istanbul und setzten von dort aus die Reise unter Inanspruchnahme einer Schlepperorganisation per Kleinbus und Schlauchboot zur Insel Samos/Griechenland fort, wo der Beschwerdeführer durch die Behörden für etwa zehn Tage in Gewahrsam genommen wurde. Nach seiner Freilassung begab er sich zusammen mit seiner Ehefrau nach Athen, wo sich beide für weitere 40 Tage aufhielten. In dieser Zeit bemühte sich der Beschwerdeführer um eine Möglichkeit zur Weiterreise nach Deutschland.
- 3
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Am 27. November 2009 flog der Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau von Athen nach Berlin-Schönefeld. Zum Zweck der Einreise in das Bundesgebiet hatte er in Griechenland für sich und seine Ehefrau gefälschte Personaldokumente - einen angeblich durch die Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Flüchtlingspass sowie eine rumänische Identitätskarte - käuflich erworben. Auf Anraten des Verkäufers zeigte der Beschwerdeführer bei der Einreisekontrolle durch die Bundespolizei die rumänische Identitätskarte vor. Da es sich bei dieser offensichtlich um eine Totalfälschung handelte, wurde der Beschwerdeführer in Gewahrsam genommen. Zu Beginn der Beschuldigtenvernehmung erklärte er, dass er für sich und seine Ehefrau Asyl beantragen wolle. Eine Anordnung der Sicherungshaft zu Zwecken der Zurückschiebung nach Griechenland wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Zossen vom 28. November 2009 abgelehnt, weil der Beschwerdeführer durch das Erstasylbegehren eine gesetzliche Aufenthaltsgestattung erworben hatte (vgl. § 55 Abs. 1 AsylVfG).
- 4
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2. Aufgrund der Umstände seiner Einreise nach Deutschland wurde gegen den Beschwerdeführer Anfang 2010 ein Strafverfahren eingeleitet.
- 5
-
a) Durch Strafbefehl vom 25. März 2010 setzte das Amtsgericht Chemnitz eine Geldstrafe von 75 Tagessätzen à 5,00 Euro wegen unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt und Urkundenfälschung gegen den Beschwerdeführer fest.
- 6
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b) In der auf den Einspruch des Beschwerdeführers durchgeführten Hauptverhandlung beschränkte das Gericht gemäß § 154 Abs. 2 StPO die Strafverfolgung auf das Urkundsdelikt, sprach den Beschwerdeführer durch angefochtenes Urteil vom 22. Juli 2010 der Urkundenfälschung in der Tatbestandsvariante des Gebrauchens einer unechten Urkunde schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 8,00 Euro. Eine Auseinandersetzung mit einer möglichen Straffreiheit des Beschwerdeführers gemäß § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK erfolgte nicht.
- 7
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c) Gegen das erstinstanzliche Urteil legte der Beschwerdeführer am 29. Juli 2010 Sprungrevision zum Oberlandesgericht Dresden ein, die er mit Schriftsätzen vom 21. und 22. September 2010 begründete. Hierzu machte er geltend, nach seiner Auffassung erstrecke sich der persönliche Strafaufhebungsgrund des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf mögliche Begleitdelikte aufenthaltsrechtlicher Straftaten, die tateinheitlich mit diesen begangen worden seien. Im Ergebnis sei er daher freizusprechen.
- 8
-
d) Das Oberlandesgericht Dresden verwarf die Revision mit angefochtenem Beschluss vom 18. Januar 2011 einstimmig gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet.
- 9
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Unter Hinweis auf eine Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Dresden führte das Gericht aus, dass Art. 31 Abs. 1 GFK als persönlicher Strafaufhebungsgrund lediglich das Delikt der unrechtmäßigen Einreise erfasse, wohingegen die Strafbarkeit von Begleitdelikten grundsätzlich unberührt bleibe. Insoweit schließe sich der Senat der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts München in seiner Entscheidung vom 29. März 2010 - 5 StRR(II) 79/10 - an. Es liege nicht im Schutzbereich von Art. 31 Abs. 1 GFK, kriminellem Tun Vorschub zu leisten, wie es bei Gebrauch von falschen Personaldokumenten, die entgeltlich von Schleusern erworben worden seien, der Fall sei. Daher könne auch dahinstehen, ob die weiteren Voraussetzungen von Art. 31 Abs. 1 GFK, insbesondere im Hinblick auf die Unmittelbarkeit der Einreise in Anbetracht des längeren Aufenthalts in Griechenland und die Unverzüglichkeit der Antragstellung aufgrund der Möglichkeit zur dortigen Stellung eines Asylantrags, vorliegend überhaupt gegeben seien. Auch die Annahme eines rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB bei der Einreise nach Deutschland und dem Gebrauch der unechten Urkunde komme aus diesem Grund nicht in Betracht.
-
II.
- 10
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Mit seiner fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG). Er sei verurteilt worden, obschon der persönliche Strafaufhebungsgrund des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK zu seinen Gunsten zu berücksichtigen gewesen wäre.
- 11
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1. Das Amtsgericht Chemnitz habe sich überhaupt nicht mit der Möglichkeit der Straffreiheit auseinandergesetzt; die rechtlichen Erwägungen des Oberlandesgerichts Dresden würden demgegenüber inhaltlich nicht überzeugen.
- 12
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a) Dies gelte zunächst für die Annahme, er - der Beschwerdeführer - habe bereits in Griechenland als sicherem Drittstaat um Asyl nachsuchen können. Dies sei abwegig. Die Unzulänglichkeiten des griechischen Asylverfahrens seien seinerzeit bekannt gewesen. Dies zeige sich bereits daran, dass die zuständige Fachgerichtsbarkeit eine Rückführung nach Griechenland ausgesetzt habe. Deutschland sei zum Zeitpunkt seiner Einreise verpflichtet gewesen, von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II) Gebrauch zu machen, weil Griechenland aufgrund der Finanzkrise nicht mehr in der Lage gewesen sei, die gemeinschaftlichen Mindeststandards für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Wahrung ihrer Rechte im Asylverfahren zu gewährleisten.
- 13
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b) Auch die Qualifizierung seines Verhaltens als "kriminelles Tun" und der Ausschluss einer Prüfung des § 34 StGB gehe an der tatsächlichen Sachlage und Notsituation eines Flüchtlings vorbei. Es sei bei der Prüfung des Vorliegens der Notstandslage nicht auf die Situation der konkreten Einreise, sondern auf die Lage im Heimatland abzustellen. Es sei ohnehin schon sehr schwierig, überhaupt ein Asylgesuch anzubringen. Die Vorgehensweise in seinem Fall zeige deutlich, dass die Bearbeitung von Asylgesuchen im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Grenzübertritt nicht immer den rechtlichen Vorgaben entspreche. Zudem sei ihm auch ein Einzelfall bekannt, in dem die Kontrolle der Einreise durch einen privaten Sicherheitsdienst erfolgt sei. In dieser Konstellation habe erst die Vorlage des unechten Personaldokuments zur Weiterleitung an die Bundespolizei und zur Möglichkeit, einen Asylantrag anzubringen, geführt.
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c) Von Verfassungs wegen sei es geboten, den Anwendungsbereich des Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf Begleitdelikte zu erstrecken, die tateinheitlich mit den Einreise- oder Aufenthaltsdelikten verwirklicht würden. Dabei habe eine an den Maßstäben des Völkerrechts orientierte Auslegung zu erfolgen.
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Hierbei sei auch die Übung der Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention zu berücksichtigen. Diese richte sich maßgeblich nach den Vorgaben des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), welcher in einer Stellungnahme vom Mai 2004 von einer Erstreckung auf die Begleitdelikte ausgegangen sei (vgl. hierzu die "Überarbeitete UNHCR-Stellungnahme zur Auslegung und Reichweite des Art. 31 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom Mai 2004", S. 8 f.). Die Vertragsstaaten seien bei der Schaffung der Genfer Flüchtlingskonvention davon ausgegangen, "dass die Einreise mit gefälschten Papieren selbstverständlich von der Straffreiheit umfasst sein müsse". Gleiches gehe auch aus einer Empfehlung des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zur Situation von Flüchtlingen in Ungarn vom November 2010 hervor.
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2. Hilfsweise sei zumindest eine Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit von Verfassungs wegen geboten gewesen.
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III.
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen einer notwendigen Annahme (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor; eine Annahme ist auch nicht aus anderen Gründen angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, da sie offensichtlich unbegründet ist. Die angefochtenen Entscheidungen des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts beruhen nicht auf einer Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG).
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Auch die Anwendung oder Nichtanwendung eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes auf einen strafrechtlich zu würdigenden Sachverhalt muss sich an Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen (nachfolgend 1.). Zwar haben die staatlichen Gerichte im Falle des Beschwerdeführers die Nichtanwendung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK zumindest teilweise mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt (nachfolgend 2.). Auf einem hierdurch möglicherweise indizierten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG beruhen die Entscheidungen jedoch nicht, weil die Begründung des Oberlandesgerichts die Nichtanwendung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK im Ergebnis noch trägt und bereits nach dem Verfassungsbeschwerdevortrag die Anwendung des persönlichen Strafaufhebungsgrunds auf den konkreten Sachverhalt aus anderen Gründen erkennbar ausscheidet (nachfolgend 3.).
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1. a) Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Für die Rechtsprechung folgt aus diesem Erfordernis ein Verbot strafbegründender oder strafverschärfender Analogie (vgl. BVerfGK 4, 261 <265>; 9, 169 <170>; 14, 12 <15>). Dabei ist Analogie nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht (vgl. BVerfGE 71, 108 <115>), wobei der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist (vgl. BVerfGE 71, 108 <115>; 87, 209 <224>; 92, 1 <12>; 126, 170 <197>).
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b) Auch die in den angefochtenen Entscheidungen der Strafgerichte erfolgte Nichtanwendung des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK muss sich an den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen.
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"Strafbarkeit" im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG bedeutet sowohl die Festlegung des gesetzlichen Tatbestands als auch der Rechtsfolgen, soweit es sich bei diesen um Strafen im Sinne der Auferlegung eines Rechtsnachteils wegen einer schuldhaft begangenen rechtswidrigen Tat handelt. Die Bestimmung des Tatbestands umfasst dabei nicht nur die Regelungen des Allgemeinen Teils und der Tatbestandsmerkmale des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs sowie der Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe (vgl. BVerfGE 104, 92 <108>), sondern auch von Strafbarkeitsbedingungen und Strafausschließungsgründen. Daneben sind auch die Art und Weise der Bestrafung sowie die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolgen in den Garantiegehalt des Art. 103 Abs. 2 GG einbezogen (vgl. BVerfGE 105, 135 <156>). Zusammenfassend gilt das Verbot strafbegründender oder strafverschärfender Analogie damit umfassend auch für die Strafandrohung (vgl. Degenhart, in: Sachs, GG-Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 103, Rn. 61).
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Die völkerrechtlich gemäß Art. 31 Abs. 1 GFK begründete Pflicht der Vertragsstaaten zur strafrechtlichen Privilegierung von Flüchtlingen unter bestimmten, vertraglich festgelegten Voraussetzungen ist von dem deutschen Gesetzgeber durch Schaffung des persönlichen Strafaufhebungsgrunds in § 95 Abs. 5 AufenthG, der auf Art. 31 Abs. 1 GFK verweist, umgesetzt worden (vgl. zur dogmatischen Einordnung als persönlicher Strafaufhebungsgrund: Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 188. Erg. 2012, § 95 AufenthG, Rn. 68; Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 95 AufenthG, Rn. 8; Gericke, in: MüKo-StGB, 2. Aufl. 2013, § 95 AufenthG, Rn. 118). Durch die unverzügliche Meldung des Flüchtlings bei den Behörden und die Darlegung der Gründe, die seine unrechtmäßige Einreise oder seinen unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen, wird zwar weder das bereits verwirklichte Unrecht noch die Verantwortlichkeit des Täters beseitigt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. März 1999 - 1 StR 344/98 -, juris, Rn. 18, zur inhaltsidentischen Vorgängervorschrift in § 92 Abs. 4 AuslG a.F.). Allerdings entfällt im konkreten Fall das staatliche Strafbedürfnis (vgl. Aurnhammer, Spezielles Ausländerstrafrecht, 1. Aufl. 1996, S. 163). Die Flüchtlingseigenschaft in Kombination mit der den Anforderungen entsprechenden Meldung bei den zuständigen Behörden des Gaststaats führt zur persönlichen Straflosigkeit des Täters (vgl. Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 188. Erg. 2012, § 95 AufenthG, Rn. 68).
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Damit wirkt der Tatbestand des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK unmittelbar auf die Verknüpfung zwischen Tathandlung und Strafe ein, indem er die Bestrafung trotz Vorliegens einer vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft begangenen Straftat aus in der Person des Täters und in seinem Nachtatverhalten liegenden Gründen ausschließt. Eine Verurteilung, die unter Verkennung des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen des persönlichen Strafaufhebungsgrunds erfolgt, nimmt daher im Ergebnis das Bestehen eines staatlichen Strafbedürfnisses wegen einer Handlung oder Unterlassung an, bei der sich der Gesetzgeber jedoch - in völkervertraglicher Übereinkunft mit anderen Staaten - aufgrund besonderer Umstände in der Person und dem Verhalten des Täters dazu entschieden hat, von der Auferlegung einer missbilligenden hoheitlichen Reaktion (vgl. BVerfGE 26, 186 <204>) ausnahmsweise abzusehen, weil nach seiner Einschätzung kein Strafzweck im Sinne des ultima ratio-Grundsatzes (vgl. BVerfGE 120, 224 <239 f.>) eine Ahndung als erforderlich erscheinen lässt.
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2. Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts sind in erster Linie den Fachgerichten überlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch in besonderem Maße darauf zu achten, dass Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Normen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit begründen könnten, nach Möglichkeit verhindert werden. Dies kann im Einzelfall eine insoweit umfassende Nachprüfung gebieten (vgl. BVerfGE 58, 1 <34>; 111, 307 <328>; BVerfGK 9, 198 <201>).
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Sowohl das Amtsgericht Chemnitz im Urteil vom 22. Juli 2010 als auch das Oberlandesgericht Dresden im Beschluss vom 18. Januar 2011 haben die Anwendung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK auf den Sachverhalt des Beschwerdeführers zumindest mit teilweise rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt. Während das Amtsgericht den persönlichen Strafaufhebungsgrund gänzlich unerwähnt gelassen hat, ist das Oberlandesgericht pauschal der Erstreckung von dessen Anwendungsbereich auf tateinheitlich verwirklichte Begleitdelikte entgegen getreten und hat ergänzend sowohl die Unmittelbarkeit der Einreise in Anbetracht des längeren Aufenthalts in Griechenland - und damit mittelbar die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers - als auch die Unverzüglichkeit der Antragstellung aufgrund der Möglichkeit zur dortigen Stellung eines Asylantrags angezweifelt. Jedenfalls die Zweifel hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers (nachfolgend a.) und der Unmittelbarkeit der Einreise (nachfolgend b.) sind unberechtigt.
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a) Der Beschwerdeführer ist am 27. November 2009 als "Flüchtling" im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nach Deutschland eingereist und fällt daher unter den persönlichen Anwendungsbereich des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK. Die inzident formulierte Annahme des Oberlandesgerichts Dresden, der Beschwerdeführer habe seinen Flüchtlingsstatus durch den vorübergehenden Aufenthalt in Griechenland verloren, ist unzutreffend.
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aa) Nach überwiegender Auffassung fallen - gemessen an Kategorien des deutschen Ausländerrechts - unter den Flüchtlingsbegriff im Sinne von Art. 1 lit. A GFK erstens gemäß § 2 Abs. 1 AsylVfG durch das Bundesamt anerkannte Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG, zweitens gemäß § 3 AsylVfG Personen, bei denen das Bundesamt oder ein Gericht unanfechtbar festgestellt hat, dass ihnen die in § 60 AufenthG bezeichneten Gefahren drohen, und drittens Asylbewerber (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, 71. Erg. 2010, § 95 AufenthG, Rn. 106, m.w.N.). Dabei ist der Begriff des "Asylbewerbers" im Zusammenhang mit der Auslegung des Flüchtlingsbegriffs nicht in einem streng verfahrensrechtlichen Sinne zu verstehen, der dazu führen würde, dass erst die Stellung eines förmlichen Asylantrags bei der zuständigen Stelle den Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention begründet. Vielmehr fallen auch Personen darunter, die sich nach Deutschland begeben haben, um dort bei der ersten sich bietenden Gelegenheit um Asyl nachzusuchen. Eine anderslautende Auslegung des deutschen Rechts - die Personen erst nach der Stellung des förmlichen Asylantrags in den persönlichen Schutzbereich des Abkommens einbezöge - würde den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention jedenfalls während des Zwischenzeitraums bis zum ersten Kontakt mit den staatlichen Stellen lückenhaft ausgestalten und liefe erkennbar dem Sinn und Zweck der Konvention zuwider. Das deutsche Asylverfahrensrecht sieht daher für Personen, die auf dem Luftweg einreisen, das Flughafenverfahren nach § 18a AsylVfG vor. Dieses ermöglicht es dem Flüchtling, sogar noch vor der Einreise einen Asylantrag zu stellen und hierdurch den Status eines Asylbewerbers und die damit verbundene Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylVfG zu erlangen.
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bb) Der Status als Flüchtling wird im konkreten Einzelfall nicht durch den vorherigen Aufenthalt des Beschwerdeführers in Griechenland in Zweifel gezogen. Griechenland ist als Mitglied der Europäischen Union zwar grundsätzlich ein "sicherer Drittstaat" (vgl. § 26a Abs. 2 AsylVfG), so dass ein hierüber nach Deutschland Einreisender im Regelfall weder den Schutz des Art. 16a Abs. 1 GG noch die Eigenschaft als "Flüchtling" im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention für sich beanspruchen kann, weil derjenige politisch oder aus sonstigen Gründen Verfolgte, der über einen sicheren Drittstaat einreist, in dem die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK) sichergestellt ist, keines ergänzenden Schutzes durch das deutsche Asylrecht mehr bedarf (vgl. BTDrucks 12/4152, S. 4). Die Möglichkeit, Sicherheit in Gestalt von Asyl im Drittstaat zu erlangen, wird dabei bei Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterstellt (vgl. BTDrucks 12/4152, S. 4). Da durch die Einreise aus einem sicheren Drittstaat zudem die Berufung auf das Asylgrundrecht ausgeschlossen ist, erwirbt der Betroffene auch kein vorläufiges Bleiberecht und hat die Zurückschiebung zu dulden.
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Allerdings waren zum Zeitpunkt der Einreise des Beschwerdeführers über Griechenland im November 2009 die Voraussetzungen einer Zurückschiebung nicht mehr gegeben, da seinerzeit vorübergehend nicht mehr davon ausgegangen werden konnte, dass dort die Schutzmechanismen für Flüchtlinge entsprechend den Standards der Genfer Flüchtlingskonvention umgesetzt wurden. Dies war einer Überlastung der Einrichtungen sowie der Ausschöpfung der administrativen Kapazitäten aufgrund der durch die Eurokrise bedingten Einsparmaßnahmen geschuldet. Deutschland hat aufgrund dieser strukturellen Defizite des griechischen Asylverfahrens zu einem späteren Zeitpunkt von seinem Eintritts- beziehungsweise Übernahmerecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II) Gebrauch gemacht und die Asylanträge von Personen, die über Griechenland eingereist waren, in eigener Zuständigkeit bearbeitet. Griechenland war vor diesem Hintergrund zum Zeitpunkt der Einreise des Beschwerdeführers nicht mehr uneingeschränkt als "sicherer Drittstaat" im asylverfahrensrechtlichen Sinne einzuordnen (vgl. dazu BVerfG, Einstweilige Anordnungen der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 - juris; vom 23. September 2009 - 2 BvQ 68/09 - juris; vom 5. November 2009 - 2 BvQ 77/09 -, juris; EGMR (GK), M.S.S. v. Belgien und Griechenland, Urteil vom 21. Januar 2011, Nr. 30696/09, juris), so dass der Beschwerdeführer - ebenso wie seine Frau - trotz seiner Einreise über Griechenland weiterhin als "Flüchtling" im Sinne des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK anzusehen war (vgl. auch: OLG Stuttgart, Urteil vom 2. März 2010 - 4 Ss 1558/09 -, juris, Rn. 11, zu einer ähnlichen Sachverhaltskonstellation).
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b) Der Beschwerdeführer ist auch "unmittelbar" im Sinne des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK aus einem Gebiet gekommen, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht war. Die - nicht näher konkretisierten - Zweifel des Oberlandesgerichts Dresden an der Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals greifen nicht durch.
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aa) Ein Flüchtling geht seines Schutzes durch Art. 31 Abs. 1 GFK grundsätzlich nicht schon dadurch verlustig, dass er aus einem Drittstaat einreist und nicht direkt aus dem Herkunftsstaat, sofern er diesen Drittstaat nur als "Durchgangsland" nutzt und sich der Aufenthalt in diesem nicht schuldhaft verzögert (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 2. März 2010 - 4 Ss 1558/09 -, juris, Rn. 12; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 1. Juli 2008 - 5 Ss 122/08 -, juris, Rn. 4). Art. 31 Abs. 1 GFK will durch das Tatbestandsmerkmal der "Unmittelbarkeit" lediglich verhindern, dass Flüchtlinge, die sich bereits in einem anderen Staat niedergelassen haben, unter Berufung auf die Genfer Flüchtlingskonvention ungehindert weiterreisen können. Eine Gefährdung dieses Schutzzwecks besteht bei einer bloßen Durchreise hingegen nicht (vgl. umfassend: Hailbronner, Ausländerrecht, 71. Erg. 2010, § 95 AufenthG, Rn. 109, m.w.N.).
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bb) Der Beschwerdeführer hat sich zwar für einen Zeitraum von circa 40 Tagen in Griechenland aufgehalten, in dieser Zeit dort jedoch nicht niedergelassen. Sein Ziel war stets die Weiterreise nach Deutschland. In dem besagten Zeitraum hat er sich seinen Angaben zufolge um eine Weiterreisemöglichkeit dorthin bemüht. Da er Griechenland folglich lediglich als "Durchgangsland" nutzte, erfolgte seine Einreise nach Deutschland auch "unmittelbar".
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3. Auf dem hierdurch möglicherweise begründeten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG beruhen die angefochtenen Entscheidungen jedoch nicht, weil die Begründung des Oberlandesgerichts die Nichtanwendung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK jedenfalls im Ergebnis noch trägt und im konkreten Einzelfall selbst nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Anwendung des persönlichen Strafaufhebungsgrunds auf den verfahrensgegenständlichen Sachverhalt aus anderen Rechtsgründen ausscheidet.
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Die Auslegung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK hat primär nach völkerrechtlichen Interpretationsgrundsätzen zu erfolgen, die vor dem Hintergrund der deutschen Rechtsordnung "methodisch vertretbar" sein müssen (nachfolgend a.). Eine völkerrechtlich veranlasste Erstreckung der strafbefreienden Wirkung des Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf Begleitdelikte, die tateinheitlich mit einreise- oder aufenthaltsrechtlichen Straftaten begangen werden, ist nach Auslegung der völkervertraglichen Grundlagen jedenfalls nicht voraussetzungslos geboten. Deren völkerrechtliche Gebotenheit unterstellt, wäre jedenfalls vorauszusetzen, dass eine notstandsähnliche Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit, angesichts einer aktuellen Verfolgungssituation die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen, vorliegt, welche die Begehung (auch) des Begleitdelikts als geeignet, erforderlich und angemessen erscheinen lässt, die notstandsähnliche Lage zu beenden (nachfolgend b.). Diese Voraussetzung war im Falle des Beschwerdeführers offensichtlich nicht erfüllt (nachfolgend c.).
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a) § 95 Abs. 5 AufenthG verweist mit Art. 31 Abs. 1 GFK auf die Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrages. Dieser ist aufgrund des Zustimmungsgesetzes vom 1. September 1953 (BGBl II 1953, S. 559) für die deutsche hoheitliche Gewalt bindend (vgl. Nettesheim, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 72. Erg. 2014, Art. 59, Rn. 185) und steht im Rang eines Bundesgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 111, 307 <317>, jeweils zur EMRK). Da die Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt sind, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, sind die Normen auch unmittelbar anwendbar (self-executing, vgl. BVerwGE 4, 309 <310 f.>; 49, 202 <207>; BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1991 - 1 C 42.88 -, juris, Rn. 14). Im Falle des Art. 31 Abs. 1 GFK wird der Rechtsanwendungsbefehl zudem ergänzend durch § 95 Abs. 5 AufenthG erteilt.
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Die Rangzuweisung als Bundesgesetz führt über Art. 59 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG dazu, dass das Völkervertragsrecht durch deutsche Gerichte im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <317>; BVerfGK 9, 174 <189>). Gleiches gilt für Vorschriften, die wie § 95 Abs. 5 AufenthG auf die Genfer Flüchtlingskonvention verweisen (vgl. Masing, in: Grawert/Schlink/Wahl/Wieland, Offene Staatlichkeit - Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995, S. 51 <58 f.>).
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Die Auslegung dieser Vorschriften hat ausgehend von ihrem Wortlaut im Zusammenhang nach Sinn und Zweck unter Berücksichtigung des allgemeinen Völkerrechts zu erfolgen (vgl. BVerfGE 4, 157 <168>; 46, 342 <361 f.>). Für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention sind daher primär die in Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl II 1985 S. 926 ff., Wiener Vertragsrechtskonvention, nachfolgend: WVRK) zum Ausdruck kommenden Interpretationsgrundsätze maßgeblich. Diese völkervertraglich festgeschriebenen Auslegungsregeln sind dabei zwar nicht unmittelbar auf die Genfer Flüchtlingskonvention zur Anwendung zu bringen, weil die WVRK erst am 27. Januar 1980 in Kraft getreten und auf früher geschlossene Vereinbarungen ratione temporis unanwendbar ist (vgl. Art. 4 WVRK). Da die einschlägigen Auslegungsregeln der Art. 31 und 32 WVRK jedoch bereits bestehendes Völkergewohnheitsrecht inhaltsgleich kodifizieren (vgl.IGH, Oil Platforms, Islamic Republic of Iran v. United States of America, Preliminary Objection, Judgment of 12 December 1996, ICJ Reports 1996, S. 803 <812>; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl. 2012, Rn. 81), kann für die Auslegung früher entstandener Verträge auf dieses zurückgegriffen werden (vgl. Aust, Vienna Convention on the Law of Treaties (1969), in: Wolfrum (ed.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Volume X, S. 709 <712>).
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b) Ausgehend hiervon spricht - insoweit jedenfalls im Ergebnis in Übereinstimmung mit der Begründung des Oberlandesgerichts - Überwiegendes gegen eine Erstreckung der strafbefreienden Wirkung des Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf Begleitdelikte, die tateinheitlich mit einreise- oder aufenthaltsrechtlichen Straftaten begangen werden. Letztlich kann der Umfang einer möglichen Erstreckung vorliegend jedoch offen bleiben, da Voraussetzung einer solchen jedenfalls das Vorliegen einer notstandsähnlichen Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit wäre, angesichts einer aktuellen Verfolgungssituation die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen, die die Begehung (auch) eines Begleitdelikts als geeignet, erforderlich und angemessen erscheinen ließe, die notstandsähnliche Lage zu beenden.
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aa) Der nach Art. 31 Abs. 2 WVRK und dem hierzu parallelen Völkergewohnheitsrecht zur Auslegung heranzuziehendeWortlaut von Art. 31 Abs. 1 GFK deutet auf eine Beschränkung der strafbefreienden Wirkung auf einreise- oder aufenthaltsrechtliche Delikte im Sinne einer engen Auslegung hin.
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In den nach Art. 46 GFK verbindlichen englischen und französischen Sprachfassungen, die nach Art. 33 WVRK und dem hierzu parallelen Völkergewohnheitsrecht gleichen Rangs sind, ist nach der grammatikalischen Auslegung die Straffreiheit (lediglich) wegen unrechtmäßiger Einreise oder oder unrechtmäßigen Aufenthalts vorgesehen("on account of their illegal entry or presence" / "du fait de leur entrée ou de leur séjour irréguliers"). Dies beinhaltet eine Beschränkung auf Delikte, mit denen gegen die speziellen nationalen einreiserechtlichen oder aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen verstoßen wird. Die Vorlage etwa eines unechten Personaldokuments als Verstoß gegen Strafvorschriften anderer Schutzrichtung ist - selbst wenn sie zum Zwecke der Einreise oder des Aufenthalts erfolgt - demzufolge hiervon nach dem Wortlaut grundsätzlich nicht erfasst.
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bb) Die nach Art. 31 Abs. 1 und 2 WVRK und dem hierzu parallelen Völkergewohnheitsrecht zulässigesystematische Auslegung führt demgegenüber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Eine Auslegung des "Zusammenhangs" erfordert nach Art. 31 Abs. 2 WVRK die Berücksichtigung des Vertragswortlauts "samt Präambel und Anlagen".
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(1) Die Art. 31 Abs. 1 GFK nachfolgenden Vorschriften postulieren zwar einen hohen Schutz für den Flüchtling, der allgemein für eine weite Auslegung der Strafbefreiung spricht. Dass dieser Schutz jedoch nicht schrankenlos gewährt werden soll, sondern aus einer Abwägung zwischen humanitären und staatlichen Interessen erwächst, ist bereits in der Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention angelegt, nach der die vertragsschließenden Staaten mit dem Willen handelten, den Flüchtlingen "in möglichst großem Umfange die Ausübung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten zu sichern (…), dass sich aus der Gewährung des Asylrechts nicht zumutbare schwere Belastungen für einzelne Länder ergeben können (…), in dem Wunsche, dass alle Staaten in Anerkennung des sozialen und humanitären Charakters des Flüchtlingsproblems alles in ihrer Macht stehende tun (…)".
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(2) Innerhalb des Regelungsgehalts von Art. 31 Abs. 1 GFK deutet systematisch Überwiegendes auf eine enge Auslegung hin. Im letzten Halbsatz werden dem Flüchtling lediglich die Meldung bei der Behörde und die Mitteilung der die "unrechtmäßige Einreise" oder den "unrechtmäßigen Aufenthalt" rechtfertigenden Gründe abverlangt, nicht jedoch die Mitteilung derjenigen Umstände, die die etwaige Begehung von Begleitdelikten erforderlich erscheinen ließen. Dies spricht gegen eine weite Auslegung des Art. 31 Abs. 1 GFK, da anderenfalls nicht plausibel erklärbar wäre, weshalb der Flüchtling allein die den Verstoß gegen einreise- und aufenthaltsrechtliche Bestimmungen rechtfertigenden Umstände darlegen müsste, nicht aber die Rahmenbedingungen, die ihn nach seiner Einschätzung gezwungen haben, sonstige - möglicherweise schwerwiegendere - Verstöße gegen die sonstige Rechtsordnung seines Gaststaats zu begehen.
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cc) Die nach Art. 31 Abs. 3 WVRK und dem parallelen Völkergewohnheitsrecht ebenfalls auslegungsrelevantespätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien oder spätere Übung, aus der eine bestimmte Auslegung hervorgeht, spricht ebenfalls für eine enge Auslegung von Art. 31 Abs. 1 GFK. Wesentliche Voraussetzung für die Annahme späterer Übereinkunft oder Übung im genannten Sinne sind ein übereinstimmender Wille unter den Vertragsparteien, der in der Übereinkunft oder späterer Staatenpraxis zum Ausdruck kommt und - so er durch ständige Übung begründet wird - von der Überzeugung der Staaten getragen ist, hierzu völkerrechtlich verpflichtet zu sein (opinio juris).
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(1) Die Stellungnahmen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) oder die Beschlüsse des Exekutiv-Komitees des UNHCR fallen entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht unter die Alternative der späteren Übereinkunft (so auch: Mananashvili, Möglichkeiten und Grenzen zur völker- und europarechtlichen Durchsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention, 2009, S. 97 ff.). Sie stellen lediglich eine beachtliche Rechtsauffassung zur Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention dar, so dass, wenn diese im Widerspruch zur bisherigen Rechtsauslegung steht und keine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt, jedenfalls dann die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage indiziert ist, wenn die ihnen zugrunde liegende Rechtsauffassung mit dem Wortlaut der betroffenen Norm vereinbar ist.
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Aus einer abweichenden Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention in Publikationen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge lässt sich jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein Verstoß der Fachgerichte gegen eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Beachtung des Völkerrechts folgern, auch nicht in der Ausprägung des Gebots der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Bundesrechts. Es steht den nationalen Gerichten der Vertragsstaaten frei, zur Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention die einschlägigen Publikationen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge heranzuziehen. Wenngleich die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung in den Vertragsstaaten als ein erstrebenswertes Ziel angesehen werden kann, zu dem das Hochkommissariat wesentlich beiträgt, führt dies nicht dazu, dass es auch eine verfassungsrechtlich verankerte Pflicht der nationalen Gerichte zur Anwendung der Richtlinien bei der Auslegung des materiellen Flüchtlingsrechts oder des Asylverfahrensrechts gibt (vgl. BVerfGE 52, 391 <404>; BVerfGK 9, 198 <202>).
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(2) Auch lässt sich keine spätere Übung der Konventionsstaaten feststellen, die zu einem gegenteiligen Ergebnis führt und eine weite Auslegung als geboten erscheinen ließe.
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Nach einer im Jahr 2003 durchgeführten Untersuchung von Goodwin-Gill erstrecken nur 29 % der untersuchten Konventionsstaaten den Tatbestand von Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf die Strafbarkeit wegen der Einreise mit gefälschten Personaldokumenten; in weiteren 19 % der Konventionsstaaten soll es ausdrückliche Regelungen geben, die eine dahingehende Straffreiheit vorsehen. In den übrigen untersuchten Staaten findet die Erstreckung nicht statt, sondern wird von einer engen Auslegung des Art. 31 Abs. 1 GFK ausgegangen (vgl. Goodwin-Gill, Article 31 of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees: non-penalization, detention, and protection, in: Feller/Türk u.a. (ed.), Refugee Protection in International Law, 2003, S. 207). Andere Begleitdelikte werden sogar im Regelfall nicht von der Strafbefreiung erfasst.
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Zwar ist Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK nicht dahingehend zu verstehen, dass sämtliche Vertragsstaaten eine einheitliche Praxis vorweisen müssten. Es muss sich allerdings um eine überwiegend "gebilligte Rechtspraxis" handeln (vgl. Masing, in: Grawert/Schlink/Wahl/Wieland, Offene Staatlichkeit - Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995, S. 51 <70 f.>). Eine derart konträre Handhabung der Konventionsnorm, wie sie durch Goodwin-Gill festgestellt worden ist, vermag jedoch keine "ständige Übung" darzustellen. Ebenso wenig kann unterstellt werden, dass die Staaten, die den Anwendungsbereich der Strafbefreiung in Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf (einzelne) Begleitdelikte erstrecken, sich hierzu völkervertraglich verpflichtet gefühlt haben. Zur opinio juris dieser Staaten enthält die Untersuchung von Goodwin-Gill keine Anhaltspunkte, so dass die Entscheidung für die weite Auslegung ebenso gut auf die nationale politische Entscheidung zu Gunsten der Gewährung eines höheren Schutzniveaus - als es in der Genfer Flüchtlingskonvention als Mindeststandard gefordert ist - zurückführbar sein kann.
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dd) Schließlich gebietet auch die nach Art. 31 Abs. 1 WVRK und dem parallelen Völkergewohnheitsrecht maßgeblicheAuslegung nach Sinn und Zweck der Vorschrift keine zwingende, jedenfalls aber keine voraussetzungslose Erstreckung des persönlichen Strafaufhebungsgrunds auch auf Begleitdelikte (a.A. Fischer-Lescano/Horst, ZAR 2011, S. 81 <87>).
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(1) Aus der Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention ergibt sich das Ziel der Konvention, den Flüchtlingen in Anbetracht ihrer Situation die Ausübung ihrer Rechte zu sichern und ihnen größtmöglichen Schutz zukommen zu lassen. Diese soll jedoch nicht schrankenlos gewährt werden, sondern aus einer Abwägung zwischen humanitären und staatlichen Interessen erwachsen (vgl. bereits oben III.3.b) bb)).
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(2) Dies wird auch durch die travaux préparatoires (Art. 32 WVRK und paralleles Völkergewohnheitsrecht) zu Art. 31 Abs. 1 GFK im Ergebnis bestätigt (vgl. Memorandum by the Secretary-General to the Ad Hoc Committee on Statelessness and Related Problems, E/AC.32/2, 3. Januar 1950, S. 46 zu Artikel 24 Absatz 2 des damaligen Konventionsentwurfs: "A refugee whose departure from his country of origin is usually a flight, is rarely in a position to comply with the requirements for legal entry (possession of national passport and visa) into the country of refuge. It would be in keeping with the notion of asylum to exempt from penalties a refugee, escaping from persecution, who after crossing the frontier clandestinely, presents himself as soon as possible to the authorities of the country of asylum and is recognized as a bona fide refugee.").
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(3) Art. 31 Abs. 1 GFK liegt damit der Gedanke zugrunde, dass einem Flüchtling die Verletzung von Einreise- und Aufenthaltsvorschriften nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn ernur auf diese Weise Schutz vor politischer oder sonstiger Verfolgung erlangen kann (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, 71. Erg. 2010, § 95 AufenthG, Rn. 109). Hierdurch will Art. 31 Abs. 1 GFK Flüchtlinge davor bewahren, für ihre Flucht (und damit verbunden die Einreise und den Aufenthalt in einem anderen Land) bestraft zu werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, dass eine Strafbefreiung jedenfalls dann ausscheidet, wenn der Schutz vor Verfolgung auch in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung des Gaststaats hätte erlangt werden können. Daher erfordert Art. 31 Abs. 1 GFK allgemein eine notstandsähnliche Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit, angesichts einer bestehenden Verfolgungssituation("escaping from persecution") die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen. Dies müsste über die unstreitig von Art. 31 Abs. 1 GFK erfassten Einreise- und Aufenthaltsdelikte hinaus auch für etwaige Begleitdelikte gelten, sofern diese in den Anwendungsbereich des persönlichen Strafaufhebungsgrunds einbezogen wären. Allein der Wunsch nach unbedingter "Effektivierung des (…) Schutzes von Flüchtlingen" (Fischer-Lescano/Horst, ZAR 2011, S. 81 <87>) kann demgegenüber - auch nach dem Sinn und Zweck der Konvention - nicht zu einer carte blanche für sämtliche deliktischen Handlungen und Unterlassungen des Flüchtlings, die im Zusammenhang mit der Einreise vorgenommen werden, generiert werden.
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c) Eine notstandsähnliche Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit, angesichts einer bestehenden Verfolgungssituation die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen, ist bei der Ankunft eines Flüchtlings auf dem Luftweg nach dem deutschen Asylverfahrensrecht im Regelfall strukturell ausgeschlossen. Auch die Umstände des konkreten Einzelfalls rechtfertigen keine andere rechtliche Bewertung. Der Schutz vor Verfolgung hätte auch in Übereinstimmung mit der deutschen Rechtsordnung erlangt werden können.
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aa) Eine strukturelle Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Einreise ohne Vorlage des unechten Personaldokuments wäre etwa anzunehmen, wenn das deutsche Asylverfahrensrecht die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis - die den Flüchtling zumindest vorübergehend der Verfolgung entzieht - von der Einreise oder sonstigen, innerhalb des Gaststaats vorzunehmenden Verfahrensschritten abhängig machen würde, so dass der Flüchtling sich beim Grenzübertritt in der notstandsähnlichen Lage sieht, entweder von der illegalen Einreise unter Verwendung der unechten Dokumente abzusehen und damit weiterhin der Verfolgung ausgesetzt zu sein oder das Begleitdelikt des Gebrauchmachens unechter Personaldokumente zu begehen, um die Notstandslage zu beenden.
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Eine derartige Notstandslage besteht jedenfalls für auf dem Luftweg ankommende Flüchtlinge nach dem deutschen Asylverfahrensrecht nicht. Gemäß § 13 Abs. 1 AsylVfG liegt ein wirksamer Asylantrag unter anderem bereits dann vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht. Mit jedem Asylantrag wird die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG beantragt (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG); hierunter fallen auch die Schutzgarantien der Genfer Flüchtlingskonvention. Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erlangt der Ausländer, der um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens unmittelbar mit der Antragstellung die Gestattung des Aufenthalts im Bundesgebiet. Daher endet die notstandsähnliche Lage spätestens mit der gegenüber dem ersten Hoheitsträger geäußerten Erklärung, in Deutschland Asyl beantragen zu wollen. In Übereinstimmung hiermit bestimmt § 13 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG, dass ein Ausländer, der nicht im Besitz der erforderlichen Einreisepapiere ist - also unerlaubt einreisen müsste -, bereits an der Grenze um Asyl nachzusuchen hat.
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Für Ausländer, die auf dem Luftweg nach Deutschland gelangen, sieht § 18a AsylVfG das sogenannte Flughafenverfahren vor. Der erste Hoheitsträger, mit dem ein auf diesem Weg einreisender Ausländer konfrontiert wird, ist in der Regel der den Grenzübertritt kontrollierende Beamte der Bundespolizei, welcher gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 BPolG der grenzpolizeiliche Schutz des Bundesgebiets obliegt. Bei diesem hat der Ausländer bereits die Möglichkeit, Asyl zu beantragen und die Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu erlangen. Die Bundespolizei trifft in diesem Fall die Pflicht, den Ausländer unverzüglich an die zuständige oder nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Einleitung des förmlichen Asylverfahrens weiterzuleiten (vgl. § 18 Abs. 1 AsylVfG). Das Passieren der Grenzkontrolle unter Vorlage eines unechten Personaldokuments ist daher weder zur Beantragung von Asyl noch zur Erlangung einer Aufenthaltsgestattung erforderlich; eine notstandsähnliche Lage, die die Straffreiheit der Begehung eines derartigen Begleitdelikts aufgrund von Sinn und Zweck des Art. 31 Abs. 1 GFK erfordern würde, liegt nach deutscher Rechtslage in aller Regel nicht vor.
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Dies findet völkerrechtlichen Rückhalt in der Tatbestandsvoraussetzung der "Unverzüglichkeit" der Meldung in § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK. Der Flüchtling hat hiernach die erste Gelegenheit zu nutzen, um die Gründe darzulegen, welche die unrechtmäßige Einreise oder den unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne auch: OLG Stuttgart, Urteil vom 2. März 2010 - 4 Ss 1558/09 -, juris, Rn. 13). Dabei ist das Tatbestandsmerkmal der Unverzüglichkeit im Sinne von § 121 BGB zu verstehen, so dass die Meldung bei der Behörde "ohne schuldhaftes Zögern" zu erfolgen hat (vgl. Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 95 AufenthG, Rn. 8; siehe auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Juni 1987 - 2 BvR 911/85 -, juris, Rn. 6).
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bb) Auch die konkreten Umstände des Einzelfalls rechtfertigen keine ausnahmsweise andere rechtliche Beurteilung der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Handlung.
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(1) Es war für den Beschwerdeführer am 27. November 2009 nicht zwingend erforderlich, das unechte Identitätsdokument vorzulegen, um eine Aufenthaltsgestattung in Deutschland zu erlangen. Vielmehr hätte er bereits bei dem Beamten der Bundespolizei, den er durch die Vorlage des Dokuments zu täuschen versuchte, um Asyl nachsuchen können, wodurch ein - gegebenenfalls im Wege des Flughafenverfahrens nach § 18a AsylVfG durchzuführendes - Asylverfahren eingeleitet worden wäre. Spätestens dieses Gesuch hätte eine etwaig bestehende notstandsähnliche Fluchtsituation beendet. Auf diese Weise hätte der Beschwerdeführer auch in Übereinstimmung mit der deutschen Rechtsordnung Schutz vor der politischen Verfolgung in seiner Heimat erlangen können (vgl. hierzu: Hailbronner, Ausländerrecht, 71. Erg. 2010, § 95 AufenthG, Rn. 109; ebenso im Ergebnis: Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 188. Erg. 2012, § 95 AufenthG, Rn. 68). Aus diesem Grund scheidet auch die Berufung auf § 34 StGB aus.
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(2) Soweit der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang vorträgt, in Einzelfällen werde die Einreisekontrolle durch private Sicherheitsdienste vorgenommen, bei welchen die Beantragung von Asyl nicht möglich sei, so dass der einreisende Flüchtling gezwungen werde, die kontrollierende Person zu täuschen, um überhaupt ins Land zu gelangen und Zugang zu einem Hoheitsträger zu finden, bestehen bereits erhebliche Zweifel daran, dass diese Behauptung den Tatsachen entspricht. Der Schutz der Bundesgrenzen ist eine originär hoheitliche Aufgabe, die gemäß § 2 Abs. 1 BPolG alleine der Bundespolizei obliegt. Unbeschadet dessen kann dies jedenfalls im vorliegenden Verfahren dahinstehen, weil der Beschwerdeführer bei seiner Einreise unstreitig durch einen Bundespolizisten und nicht durch einen privaten Sicherheitsdienst kontrolliert wurde.
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(3) Soweit der Beschwerdeführer schließlich behauptet, die Beantragung von Asyl bereits bei der Einreise sei unzumutbar, da in der Praxis die rechtlichen Vorgaben für die Durchführung des Verfahrens teilweise missachtet würden und er sich hierdurch dem beschleunigten Flughafenverfahren nach § 18a AsylVfG hätte aussetzen müssen, hat sein Vorbringen ebenfalls keine verfassungsrechtliche Relevanz. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 genügt das Flughafenverfahren trotz seines beschleunigten Charakters allen verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfGE 94, 166 ff.). Die Ablehnung der Sicherungshaft zum Zwecke der Zurückschiebung nach Griechenland durch das Amtsgericht Zossen mit Beschluss vom 28. November 2009 belegt zudem, dass im konkreten Einzelfall jedenfalls die gerichtlichen Schutzmechanismen in ausreichendem Maße zu Gunsten des Flüchtlings gegriffen haben.
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cc) Die gerichtlichen Entscheidungen können daher - trotz unzureichender Begründung und teilweise bedenklicher Rechtsanwendung - jedenfalls nicht auf einem etwaigen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG beruhen. Selbst unter der Annahme, dass die Zweifel des Oberlandesgerichts an der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers und der Unmittelbarkeit der Einreise unter Verstoß gegen das Analogieverbot zustande gekommen wären, fehlt es jedenfalls - auch ausweislich des Verfassungsbeschwerdevortrags - erkennbar an sonstigen Tatbestandsmerkmalen des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK, die eine persönliche Strafaufhebung zu Gunsten des Beschwerdeführers hätten begründen können.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Gründe
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Die Antragsteller wenden sich mit ihrem - gleichzeitig mit der Klage (9 A 437/14 MD) - am 14.11.2014 beim Gericht eingegangenen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.11.2014, mit welchem festgestellt wird, dass den Antragstellern in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zusteht (Ziffer 1) sowie die Abschiebung der Antragsteller nach Bulgarien angeordnet wurde (Ziffer 2).
- 2
Der neben einem Prozesskostenhilfegesuch am 14.11.2014 sinngemäß gestellte Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der Klage (Az.: 9 A 437/14 MD) der Antragsteller vom 14.11.2014 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.11.2014 anzuordnen, soweit hiermit die Abschiebung nach Bulgarien angeordnet wird,
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hat Erfolg.
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Der Antrag ist zulässig, insbesondere gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG in der Fassung des Artikel 1 Nummer 27 des Gesetzes zur Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl I vom 5. September 2013, S. 3474) i. V. m. § 80 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 S. 1 1. Alt. VwGO statthaft, soweit er sich gegen die unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides angeordnete Abschiebung nach Bulgarien richtet.
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Der Antrag ist auch begründet. Für eine nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffende Entscheidung ist maßgebend, ob das private Interesse der Antragsteller, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse am Vollzug des Verwaltungsaktes überwiegt. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs vorrangig zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, B. v. 14.04.2005, 4 VR 1005/04, Juris). Hat der Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg, weil der angegriffene Verwaltungsakt fehlerhaft ist, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das öffentliche Vollzugsinteresse. Der Antrag ist dagegen in aller Regel unbegründet, wenn der Antragsteller im Verfahren der Hauptsache aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben wird, insbesondere, wenn die angegriffene Verfügung derzeit als rechtmäßig zu beurteilen ist. Denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes besteht jedenfalls dann regelmäßig ein besonderes öffentliches Interesse, wenn diese Rechtswirkungen bereits kraft Gesetzes bestehen.
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Bei einem offenem Ausgang des Klageverfahrens ist im Rahmen der Interessenabwägung zwar stets zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber in den Fällen, die – wie hier – nicht von § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfasst werden, einen grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses angeordnet hat (s. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) und es deshalb besonderer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen. Gleichwohl ist der Rechtsschutzanspruch umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die dem Einzelnen auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Behörde Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfG, B. v. 10. 10. 2003, 1 BvR 2025/03, Juris). Deshalb ist wegen der mit der Abschiebung verbundenen (relativen) Unabänderbarkeit bereits dann das Aussetzungsinteresse höher als das nur zeitweilige Absehen von der Abschiebung zu bewerten, wenn infolge derselben eine Verletzung von Grundrechten nach der EU-Grundrechte-Charta nicht ausgeschlossen werden kann (so auch VG Siegmaringen, Beschluss vom 14.07.2014, A 1 K 254/14). Für einen offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens kann auch sprechen, wenn die beachtliche Frage in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (derzeit noch) gegensätzlich beurteilt wird (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 24.07.2014, A 1 B 131/14, juris).
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Die Abschiebungsanordnung begegnet bei summarischer Prüfung jedenfalls derzeit ernstlichen Zweifeln hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit. Zwar dürften die Verhältnisse in Bulgarien nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln einer Abschiebung von anerkannten Flüchtlingen nach Bulgarien nicht entgegenstehen (1.). Die konkrete Situation der Familie der Antragsteller lässt es hier aber nicht ausgeschlossen erscheinen, dass die besonderen Bedürfnisse der schutzbedürftigen Personengruppen nach Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU im Fall der Rückführung nicht hinreichend beachtet werden, mithin nicht sichergestellt ist, dass eine rechtsverletzungsfreie Rücküberstellung der Antragsteller zu 3. und 4., die dieser Personengruppe angehören, erfolgt, was zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führt (2.).
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1. Gleichwohl ist Folgendes voranzustellen:
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Die Antragsgegnerin hat die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung dem Grunde nach zu Recht auf § 34a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 26a Abs. 1 AsylVfG gestützt. Zuvorderst ist bei summarischer Prüfung festzustellen, dass aufgrund der erfolgten Asylantragstellung (vgl. § 13 AsylVfG) die Zuständigkeit der Antragsgegnerin zu bejahen ist und es damit keiner Rückkehrentscheidung nach Art. 6 der Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bedarf.
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Soll ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat i.S.d. § 26a AsylVfG abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG kann sich ein Ausländer, der aus einem Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG (sicherer Drittstaat) eingereist ist, nicht auf das Asylgrundrecht berufen. Er wird nicht als Asylberechtigter anerkannt (vgl. § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylVfG).
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a. Die Möglichkeit der Anordnung der Abschiebung in den sicheren Drittstaat wird nicht nach § 26a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG durch europarechtliche Vorschriften – insbesondere nicht die Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO) – verdrängt. Voranzustellen ist insoweit, dass gemäß Art. 49 Satz 2 Dublin-III-VO die Verordnung zwar auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar ist, die ab dem 01.01.2014 gestellt werden, wobei unter Antrag i.S.v. dieser Vorschrift derjenige zu verstehen ist, der Anlass für die Frage nach der Geltung des Dublinsystems ist (vgl. VG Magdeburg, Beschuss vom 21.10.2014 – 9 B 373/14 MD –, n.v.), mithin der von den Antragstellern am 07.05.2014 gestellte Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland. Die Dublin-III-VO findet jedoch auf Personen, denen – wie den Antragstellern mit Entscheidung vom 31.01.2014 – die Flüchtlingseigenschaft i.S.d. Art. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zuerkannt worden ist, keine Anwendung (vgl. (VG Berlin, Beschluss vom 14.10.2014 – 23 L 489.14 A –, m.w.N., juris; Bender/Bethke, Dublin III, Eilrechtsschutz und das Comeback der Drittstaatenregelung - Elf Thesen zu den aktuellen Änderungen bezüglich innereuropäischer Abschiebungen, Asylmagazin 11/2013, Seite 358, 359). Aus der Systematik der Dublin-III-VO ergibt sich, dass sie nur auf Personen anwendbar ist, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, über den entweder noch nicht oder - zumindest teilweise - negativ entschieden wurde. So lässt sich der Dublin III-Verordnung keine Bestimmung entnehmen, die den zuständigen Mitgliedstaat dazu verpflichtet, eine Person aufzunehmen, deren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes – wie hier – bereits vollumfänglich stattgegeben wurde. Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO sieht eine Verpflichtung zur Aufnahme vielmehr nur dann vor, wenn und soweit die betreffende Person in dem zuständigen Staat noch nicht oder abschlägig beschieden wurde. Nicht geregelt ist hingegen der Fall, dass der zuständige Staat dem Schutzbegehren bereits entsprochen hat. Bei dem erneuten Asylantrag einer Person, die bereits als Flüchtling i.S.d. Art. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2011/95/EU anerkannt wurde, handelt es sich folgerichtig auch nicht um einen Folge- oder einen Zweitantrag im Sinne der §§ 71, 71a AsylVfG, die vom Anwendungsbereich der Dublin-III-VO erfasst werden (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 14. 14.10.2014 – 23 L 489.14 A –, juris VG Cottbus, Beschluss vom 11. Juli 2014 – 5 L 190/14.A, zit. nach juris, Rn. 15). Denn der Folge- und der Zweitantrag beziehen sich auf Konstellationen, in denen ein früherer Asylantrag zurückgenommen, unanfechtbar abgelehnt bzw. in denen ein Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat erfolglos abgeschlossen wurde. Diese Fallgestaltungen sind bei einer vollumfänglichen Stattgabe des Schutzgesuchs nicht einschlägig (VG Berlin, Beschluss vom 14.10.2014 – 23 L 489.14 A –, juris). Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch die Vorgängerverordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO) kein anderes Ergebnis begründet hätte. Denn die Zuständigkeitsnormen der Dublin II-VO fanden ebenfalls keine Anwendung, wenn ein erneut Schutzsuchender bereits in einem anderen Mitgliedsstaat als Flüchtling anerkannt wurde (anders bei lediglich subsidiär Schutzberechtigen, vgl. hierzu: VG Magdeburg, Beschluss vom 21.10.2014 – 9 B 373/14 MD – n.v.).
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Ergibt sich danach, dass insbesondere die Dublin III-VO auf den vorliegenden Fall keine Anwendung findet, kommt es auf die Einhaltung der dort festgelegten Verfahrensvorschriften nicht an.
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b. Bulgarien ist nach dem im Eilverfahren anzulegenden Prüfungsmaßstab dem Grunde nach "sicherer Drittstaat" im Sinne von § 26a AsylVfG i.V.m. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG.
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Konsequenz des mit der Einreise über einen sicheren Drittstaat verbundenen materiellen Asylausschlusses ist, dass es der Antragsgegnerin nicht prüft, ob das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Bulgarien systemische Mängel aufweist. Denn der Bezugspunkt für die Beurteilung des hinreichenden Schutzes hängt davon ab, ob der Ausländer bereits einen Schutzstatus in dem Land, in das er abgeschoben werden soll, erhalten hat oder nicht. Nur in letzterem Fall ist darauf abzustellen, ob das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische, dem ersuchenden Mitgliedstaat nicht unbekannte Mängel aufweisen, die für den Asylbewerber eine tatsächliche Gefahr begründen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem ersuchten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 / Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) bzw. dem inhaltsgleichen Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, juris Rn. 78 f., 84 ff. und 94; VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 – 17 L 1018/14.A –, juris).
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Hat der Ausländer indes – wie hier – bereits einen Schutzstatus erhalten, kommt es allein darauf an, ob der gebotene Inhalt des jeweiligen Schutzstatus hinreichend eingehalten wird oder ein Verstoß gegen die GFK vorliegt bzw. für den Inhaber des Schutzstatus eine tatsächliche Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem ersuchten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 / Art. 19 Abs. 2 Grundrechtecharta bzw. dem inhaltsgleichen Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Der Umfang/Inhalt des gewährten Schutzes richtet sich nach Art. 20 ff. Flüchtlingsschutz-Richtlinie 2011/95 EU.
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Wegen des allein summarischen Prüfungsmaßstabes soll hier offenbleiben, ob die „sichere Drittstaatenregelung“ des § 26a AsylVfG in Entsprechung des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93) bzw. des unionsrechtlichen Prinzips des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 –, juris) dazu führt, dass die Annahme besteht, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Richtlinie 2011/95/EU, der GFK sowie in der EMRK finden, beachten und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen, mit der Folge, dass unter diesen Bedingungen die - freilich widerlegbare - Vermutung gilt, die Behandlung der Antragsteller als schutzberechtigt anerkannte Ausländer stehe in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den genannten Rechten (zustimmend: VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 – 17 L 1018/14.A –, juris; a.A. Marx, Spontane Binnenwanderung international Schutzberechtigter in der Union, InfAuslR 2014, 227 ff.). Denn es bestehen nach der aktuellen Auskunftslage bei der gebotenen summarischen Prüfung keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Verhältnisse in Bulgarien – mit Ausnahme solcher für besonders schutzbedürftige Personengruppen (vgl. Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95 (EU)) – hinter dem unionsrechtlich vorgesehenen Flüchtlingsschutz zurückbleiben, mithin tatsächlich die Gefahr besteht, dass anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung ausgesetzt sind. Dies hat im Regelfall zur Folge, dass eine Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylVfG erlassen werden darf.
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Soweit die Genfer Flüchtlingskonvention für anerkannte Flüchtlinge Wohlfahrtsregelungen enthält (Art. 20 ff. GFK), die vom anerkennenden Drittstaat zu beachten sind, gehen diese im Wesentlichen über Diskriminierungsverbote gegenüber den jeweiligen Inländern nicht hinaus. Namentlich im Bereich der öffentlichen Fürsorge und der sozialen Sicherheit verpflichtet die GFK den Drittstaat zur Inländergleichbehandlung (vgl. Art. 23, 24 GFK). Anhaltspunkte dafür, dass die Verpflichtung zur Inländergleichbehandlung nicht beachtet wird, sind vorliegend weder ersichtlich noch werden sie von den Antragstellern substantiiert behauptet.
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Für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anerkannter Flüchtlinge in Bulgarien im Sinne von Art. 3 EMRK ist gleichfalls nichts ersichtlich. Der Inhalt des internationalen Flüchtlingsschutzes wird unionsrechtlich vorgegeben durch die Regelungen in Art. 20 bis 35 der Richtlinie 2011/95/EU. So gelten einheitliche Vorgaben etwa für die Erteilung des Aufenthaltstitels (Art. 24) und der Reisedokumente (Art. 25 Abs. 1). Einem anerkannten Schutzberechtigten stehen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung (Art. 26), zur Bildung (Art. 27), zum Erhalt von Sozialhilfeleistungen (Art. 29) und medizinischer Versorgung (Art. 30) dieselben Rechte wie den jeweiligen Staatsangehörigen zu (VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juli 2014 – 17 L 1018/14.A –, juris).
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Im Hinblick auf Bulgarien ist zwar festzustellen, dass die Lebensbedingungen (auch) für Personen mit zuerkannter Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiärem Schutzstatus dort nach den gegebenen Erkenntnissen prekär sind. Weder ist aber eine Verletzung der in Art. 26 ff. der Richtlinie 2011/95/EU vorgesehenen Gleichbehandlungsgebote erkennbar noch herrschen in Bulgarien derart handgreiflich eklatante Missstände, die die Annahme rechtfertigten, anerkannte Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigte würden einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt und den Antragstellern müsste unabweisbar Schutz gewährt werden. Eine solche Behandlung muss vielmehr ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK zu gelten. Dieses Mindestmaß erreichen die Verhältnisse, denen anerkannte Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigte in Bulgarien ausgesetzt sind, nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht. Der UNHCR schildert in seinem Bericht "Current Situation of Asylum in Bulgaria" zwar Schwierigkeiten anerkannter Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigter in Bulgarien (vgl. UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria, Stand: April 2014, Ziff. 2.7.). So bestünde eine bis zu zweimonatige Lücke bei der Gesundheitsversorgung in der Zeit zwischen Anerkennung als Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte aufgrund der Änderung ihres Status im System. Sie hätten außerdem - wie die bulgarischen Staatsangehörigen auch - einen monatlichen Beitrag von umgerechnet 8,70 Euro für die Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen, von der indes Medikamente und psychologische Betreuung nicht eingeschlossen seien. Berichtet wird außerdem von Schwierigkeiten, eine gesicherte Beschäftigung zu erlangen. Neben der schwierigen wirtschaftlichen Situation seien einige strukturelle Hindernisse wie etwa die fehlende Anerkennung von Vorkenntnissen zu überwinden. Es fehle an gezielter Unterstützung. Außerdem mangele es an angemessenem und bezahlbarem Unterkünften, was eine Integration erschwere. Ohne externe Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Unterkünften seien die Statusinhaber auf die weitere Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen angewiesen, wo sie kaum Möglichkeit zur Integration in die bulgarische Gesellschaft hätten. Auch die für eine erfolgreiche Integration erforderliche Bildung der Schutzberechtigten, insbesondere der Kinder, sei verbesserungswürdig. Zwar hätten die Statusinhaber – wie Asylsuchende – unter 18 Jahren nach bulgarischem Recht im gleichen Maße Zugang zu Bildung wie bulgarische Staatsbürger. Voraussetzung für den Antritt des Schulbesuchs sei jedoch die erfolgreiche Teilnahme an einem SAR-Sprachkurs, der nur in einer Aufnahmeeinrichtung vorgehalten werde. In den übrigen Einrichtungen würden informelle Sprachkursen erteilt, die vom UNHCR finanziert und von der Caritas durchgeführt würden. Deren Anerkennung sei derzeit noch nicht sichergestellt.
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Die aufgezeigten Defizite lassen nicht den Schluss zu, dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vorliegt, zumal der UNHCR die Bemühungen Bulgariens an der Einrichtung eines neuen Integrationsprogramms begrüßt und zur raschen Umsetzung des Programms, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Bildung, Unterkunft und Lebensunterhalt aufruft. Art. 3 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten nicht etwa dazu, Schutzberechtigte finanziell zu unterstützen, um ihnen einen gewissen Lebensstandard einschließlich bestimmter Standards medizinischer Versorgung zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30969/09 -, juris dort Rdnr. 249). Generell reicht die drohende Zurückweisung in ein Land, in dem die eigene wirtschaftliche Situation schlechter sein wird als in dem ausweisenden Vertragsstaat nicht aus, die Schwelle der unmenschlichen Behandlung, wie sie von Art. 3 EMRK verboten wird, zu überschreiten (vgl. EGMR, Beschluss vom 2.04.2013 - 27725/10 -, juris). Art. 3 EMRK ist im Kern ein Abwehrrecht gegen unwürdiges Staatsverhalten im Sinne eines strukturellen Versagens bei dem durch ihn zu gewährenden angemessenen materiellen Mindestniveau und weniger ein individuelles Leistungsrecht einzelner Antragsteller auf bestimmte materielle Lebens- und Sozialbedingungen selbst (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15.04.2013 - 17 L 660/13.A -, juris Rn. 43, m.w.N.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 04.11.2014 – 17 L 2342/14.A –, juris). Anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien müssen sich nach alledem auf den dort für alle bulgarischen Staatsangehörigen geltenden Versorgungsstandard verweisen lassen, auch wenn dieser dem hiesigen Niveau nicht entspricht (zu Italien: VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 – 17 L 1018/14.A –, juris, m.w.N.). Dass einem anerkannten Flüchtling in Bulgarien hinsichtlich Aufenthalts, Freizügigkeit, Zugang zu Arbeit und medizinischer Versorgung nicht dieselben Rechte wie bulgarischen Staatsangehörigen zustehen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
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2. Die Antragsteller zu 3. und 4. gehören jedoch zu einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe, was derzeit dem Erlass der Abschiebungsanordnung entgegensteht. Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen kann es im Einzelfall aus individuellen, in der Person der Antragsteller liegenden Gründen – wenn auch nur vorübergehend – geboten sein, von Überstellungen in den anderen Mitgliedstaat abzusehen. Anhaltspunkt für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls kann geben, ob einer der Antragsteller Personen mit besonderen Bedürfnissen gemäß Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU ist und er nach einer Einzelfallprüfung (Art. 20 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU) entsprechend einzustufen ist (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 – 17 L 1018/14.A –, juris).
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Dies ist vorliegend der Fall. Denn die Antragsgegnerin hat beim Erlass der Abschiebungsanordnung nicht berücksichtigt, dass der dreijährige Antragsteller zu 3. und der elf Monate alte Antragsteller zu 4. als Minderjährige einer schutzbedürftigen Personengruppe nach § 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU angehören. Nach der aktuellen Auskunftslage (s.o. UNHCR-Bericht von April 2014) bestehen jedoch greifbare Anhaltspunkte dafür, dass eine gesicherte Unterkunft der Antragsteller bei ihrer Rückkehr nach Bulgarien nicht zur Verfügung steht. Dementsprechend hat die Antragsgegnerin in Abstimmung mit den bulgarischen Behörden Vorkehrungen für die Rückkehr der Antragsteller zu treffen, die eine gesicherte Unterkunft einschließen, um insbesondere erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren für diese in besonderen Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Nichtannahmebeschluss vom 17.09.2014 – 2 BvR 732/14 – juris) geht das Gericht davon aus, dass geeignete Vorkehrungen zum Schutz der von der Rückführung betroffenen Kleinkinder zu treffen sind; so ist es – wie hier – im Einzelfall geboten, dass die deutschen Behörden vor einer Rückverbringung mit den im Zielstaat zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen, den Sachverhalt klären und zum Schutz der Ausländer Vorkehrungen treffen. Bereits im Rahmen des Verfahrens auf Erlass einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylVfG ist mit Blick auf den Wortlaut der Vorschrift zu prüfen, ob „feststeht“, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Die Antragsgegnerin hat damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt (vgl. BVerfG, a.a.O.). Dies gilt nicht nur hinsichtlich – wie hier – bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen (vgl. BVerfG, a.a.O.).
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Zwecks Sicherstellung effektiven Rechtschutzes ist es wegen der nicht ausschließlich in der Sphäre der Antragsgegnerin liegenden Maßnahmen, die eine zureichende Abstimmung/Zusicherung der bulgarischen Behörden voraussetzt, im vorliegenden Einzelfall notwendig und angemessen, nicht lediglich ein bloßes Maßnahmengebot i.S.d. § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO bei Ablehnung des vorläufigen Rechtschutzantrags zu statuieren, sondern vor der beabsichtigen Abschiebung deren Durchführung und Überwachung (insbesondere durch Garantien der bulgarischen Behörden) einzufordern. Das bisherige Vorbringen der Antragsgegnerin – insbesondere auch in parallel gelagerten Fällen – zugrunde gelegt, ist nämlich nicht erkennbar, dass sie bereits geeignete Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den bulgarischen Behörden eingeleitet hat, zumal sie sich der besonderen Schutzbedürftigkeit der Personengruppe nicht hinreichend bewusst ist.
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Abschließend weist das Gericht darauf hin, dass dem Umstand, dass Bulgarien zwecks Rückführung der Antragsteller auf die Grenzpolizei/das Ministerium des Innern in seinen undatierten Schreiben (Beiakte A, Bl. 132 und 133) unter Ablehnung der Rückführung nach Dublin III-VO verweist, nicht zu entnehmen ist, dass die Abschiebung – bei Beachtung des oben dargestellten vorab zu treffenden Maßnahmen – als solche nicht durchgeführt werden kann. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG verlangt für den Erlass der Abschiebungsanordnung, dass feststehen muss, dass die Abschiebung auch tatsächlich durchgeführt werden kann. Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsanordnung ist danach, dass die Übernahmebereitschaft des Drittstaates, in den abgeschoben werden soll, abschließend geklärt ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 01.02.2012 – OVG 2 S 6.12 – juris, Rdnr. 4; vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 – 2 BvR 19398/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 – juris, Rdnr. 156). Dies ist hier der Fall. Denn die Rückführung der Antragsteller richtet sich nach dem bilateralen deutsch-bulgarischen Abkommen über die Übernahme und Durchbeförderung von Personen (Rücknahmeabkommen) vom 07.03.2006 (BGBl. 2006 Teil II Nr. 8 Seite 259 ff.). Danach ist Bulgarien grundsätzlich verpflichtet, auch die Antragsteller wieder aufzunehmen. Nach Art. 5 ff. Rücknahmeabkommen, der die Übernahme von Personen betrifft, die – wie die Antragsteller – nicht die deutsche oder bulgarische Staatsangehörigkeit besitzen, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen für ein Übernahme der Antragsteller nicht vorliegen, insbesondere die sich danach ergebenen Fristen nicht mehr eingehalten werden können. Danach muss innerhalb von 12 Monaten nach Kenntnis der zuständigen Behörden ein Übernahmeersuchen gestellt werden, dessen Beantwortung spätestens innerhalb von 14 Tagen zu erfolgen hat, wobei die Zustimmung nach Ablauf der Frist als erteilt gilt. Mit der Zustimmung zur Übernahme kann die betreffende Person unverzüglich in das Hoheitsgebiet der ersuchten Vertragspartei innerhalb einer Frist von drei Monaten zurückgeführt werden, wobei bei rechtlichen oder tatsächlichen Hindernissen für die Übergabe auf Antrag der ersuchenden Vertragspartei die Frist verlängert werden kann (vgl. Art. 7). Dies zugrunde gelegt, ist davon auszugehen, dass die Übernahmebereitschaft Bulgariens abschließend geklärt ist, ohne dass dies zuvor für den vorliegenden Einzelfall nochmals geprüft werden muss (a. A. wohl Trier, Beschluss vom 16.04.2014 – 5 L 569/14.Tr – juris, Rdnr. 52). Denn die Übernahmebereitschaft setzt nicht ausnahmslos voraus, dass eine ausdrückliche positive Erklärung des ersuchten sicheren Drittstaates gegenüber der Bundesrepublik Deutschland abgegeben wurde, soweit eine gesicherte Verwaltungsübung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Drittstaat besteht, dass unter bestimmten Voraussetzungen und bei Vorliegen bestimmter Beweismittel hinsichtlich eines Voraufenthaltes im Drittstaat der betreffende Flüchtling ohne weiteres und unverzüglich aufgenommen werden kann (Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Juni 2014, zu § 34a Rn. 20). So liegt der Fall nach dem oben Gesagten hier. Zweifel an der Rückübernahmebereitschaft werden nicht durch die Erklärungen der bulgarischen Behörden im Dublin-Verfahren begründet. Die bulgarischen Behörden haben hier auf die – im Rahmen eines Dublin-Verfahrens eingeleiteten – Überstellungsgesuche lediglich darauf hingewiesen, dass die Überstellung der Antragsteller in den Geschäftsbereich der Grenzpolizei falle und dort abzuwickeln sei, weil die Asylverfahren mit der Anerkennung der Antragsteller als Flüchtling abgeschlossen worden sei. Dies stellt die Übernahmebereitschaft Bulgariens aber nicht in Frage; vielmehr hat die bulgarische Behörde lediglich auf die innerstaatliche Zuständigkeit einer anderen Behörde hingewiesen und ihre Übernahmeverpflichtung als solche nicht verneint (vgl. dazu bei vollumfänglicher Verneinung der Übernahmeverpflichtung: VG Magdeburg, Beschluss vom 21.10.2014 – 9 B 373/14 MD – n.v.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
- 27
Die Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe beruht auf §§ 166 VwGO, 114 ff. ZPO.
- 28
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 16 K 6641/14.A gegen die Abschiebungsanordnung nach Bulgarien in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.11.2014 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe
2Der sinngemäße Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 16 K 6641/14.A gegen die Abschiebungsanordnung nach Bulgarien in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.11.2014 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag ist gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG statthaft und zulässig. Danach sind Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Ob diese Frist hier eingehalten worden ist, lässt sich angesichts der im vorliegenden Verfahren nur gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend beurteilen, die Klärung dieser Frage kann jedoch deshalb dahinstehen, weil der Antragstellerin (jedenfalls) Wiedereinsetzung in die (ggf.) versäumte Frist zu gewähren ist, weil sie ohne eigenes oder ihr zuzurechnendes Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten.
6Unverschuldet ist eine Fristversäumnis, wenn dem Betreffenden nach den gesamten Umständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, dass er die Frist versäumt hat, ihm also die Einhaltung der Frist nicht zumutbar war. Das erfordert, dass die Fristversäumnis auch bei Anwendung derjenigen Sorgfalt nicht zu vermeiden war, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Prozessführenden geboten und zuzumuten war.
7Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.08.1996 – 20 A 3523/95 –, juris.
8Nach diesem Maßstab ist die Frist hier nicht unter Außerachtlassung der von der Antragstellerin zu verlangenden angemessenen Sorgfalt versäumt worden. Nach ihrer schlüssigen, widerspruchsfreien Darstellung – auch die Antragsgegnerin hat keine Veranlassung gesehen, dieser Einlassung zu widersprechen – ist der Antrag deshalb erst am 02.12.2014 erhoben worden, weil die Antragstellerin erstmals nach Akteneinsicht am 28.11.2014 Kenntnis von dem am 18.11.2014 mit PZU zur Post gegebenem Bescheid vom 10.11.2014 erhalten hat, der sich nach derzeitiger Sachlage in den Akten des Bundesamtes mit dem Vermerk „Empfänger nicht zu ermitteln“ befindet, obwohl am Klingelbrett der Unterkunft der Antragstellerin ihr Name angebracht ist. Hiervon ausgehend kann der Antragstellerin nicht vorgehalten werden, sie habe keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen, dass sie die an sie gerichtete Post tatsächlich auch erreicht. Damit hat die Antragstellerin alles Erforderliche getan, um eine für einen geordneten Rechtsverkehr unerlässliche Kenntnisnahme von eingehender Post nicht in unvertretbarer Weise zu gefährden.
9Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.08.1996, a.a.O..
10Der Antrag ist auch begründet.
11Bei der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht das öffentliche Vollziehungs- und das private Aussetzungsinteresse gegeneinander abzuwägen und dabei die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Während bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfes ein schutzwürdiges Aussetzungsinteresse grundsätzlich nicht in Betracht kommt, besteht umgekehrt grundsätzlich kein öffentliches Interesse am Vollzug einer offensichtlich rechtswidrigen Verfügung. Lassen sich die Erfolgsaussichten abschätzen, ohne eindeutig zu sein, bildet der Grad der Erfolgschance ein wichtiges Element der vom Gericht vorzunehmenden Interessensabwägung.
12Gemessen an diesen Kriterien ist vorliegend die aufschiebende Wirkung anzuordnen, weil bei summarischer Prüfung nach dem derzeitigen Erkenntnisstand Überwiegendes für die Rechtswidrigkeit des Bescheides spricht.
13Bulgarien ist zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragstellerin zuständig und hat dem Ersuchen der Bundesrepublik vom 30.07.2014 mit Erklärung vom 29.09.2014 zugestimmt und seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages erklärt. Es liegen aber ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Bulgarien nicht an die zu fordernden und bei Einfügung des § 27 a AsylVfG vorausgesetzten unions- bzw. völkerrechtlichen Standards heranreichen und systemische Mängel des Asylverfahrens in Bulgarien bestehen.
14Das Gericht folgt insoweit der Rechtsprechung der 20. Kammer des Verwaltungsgerichts Köln, die hierzu – zuletzt mit Beschluss vom 10.10.2014 – 20 L 1831/14.Q – u.a. ausgeführt hat:
15„Zahlreiche ... Berichte bestätigen die prekären Aufnahmebedingungen in Bulgarien. So hat UNHCR in seinem Bericht vom 2. Januar 2014 generell empfohlen, von Überstellungen nach Bulgarien abzusehen, da dort für Asylsuchende eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wegen systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen und des Asylverfahrens in dem Land bestehe (vgl. Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria, 02.01.2014...). Diese Empfehlung hat UNHCR in seinem jüngsten Update vom April 2014 zwar nicht uneingeschränkt aufrecht erhalten und signifikante Verbesserungen im Aufnahmesystem und in der Durchführung der Asylverfahren konstatiert. Gleichwohl wurden weiterhin erhebliche Defizite festgestellt nicht nur hinsichtlich der Situation besonders schutzbedürftiger Personen, sondern darüber hinaus u.a. hinsichtlich der Verhältnisse in zwei von sieben Aufnahmezentren (Vrazdebhna und Voenna Rampa) und auch hinsichtlich der Qualität der Anerkennungsverfahren. Vor allem aber bestehen aus Sicht des UNHCR Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit der unternommenen Anstrengungen, da zahlreiche Maßnahmen auf einer ad hoc-Basis mit massiver Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und des UNHCR selbst durchgeführt wurden und die dauerhafte Sicherstellung der erreichten Verbesserungen auf mittlere und lange Sicht durch das staatliche bulgarische Aufnahmesystem nicht gewährleistet ist (vgl. Observations on the current asylum system in Bulgaria, April 2014). Auf fortbestehende erheblich unzureichende Bedingungen in einigen Aufnahmezentren (Überbelegung, schlechte sanitäre Bedingungen, unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln) und Defizite im Asylverfahren weisen auch weitere Berichte von Nichtregierungsorganisationen hin ebenso wie auf begründete Zweifel hinsichtlich der Nachhaltigkeit der erzielten Verbesserungen (vgl. Amnesty international, Suspension of Asylum-seekers to Bulgaria must continue, März 2014; Ecre, Pressemitteilung vom 07.04.2014). Hinzukommt, dass die im ersten Quartal 2014 zu verzeichnenden Verbesserungen der Aufnahmebedingungen in Bulgarien maßgeblich auch auf einen deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen im Vergleich zu 2013 zurückzuführen sind, dieser wiederum bedingt durch eine massive Verstärkung der Grenzkontrollen und den Einsatz auch brutaler Push-backs an der türkischen Grenze (vgl. Observations on the current asylum system in Bulgaria, April 2014; Pro Asyl, Bulgarien: Brutale Push-backs an der türkischen Grenze, Bericht vom 25.04.2014). Ob dieser Rückgang der Zugangszahlen in Bulgarien angesichts der insgesamt zunehmenden Flüchtlingszahlen, vor allem aus Syrien, und der wachsenden Kritik an der Art und Weise der Grenzkontrollen beibehalten werden kann, ist eine offene Frage. Wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass alleine im Rahmen von anhängigen Dublin-Verfahren mit ca. 2000 Rückkehrern nach Bulgarien zu rechnen wäre (vgl. hierzu: Observations on the current asylum system in Bulgaria, April 2014), ist absehbar, dass das Aufnahmesystem alsbald erneut an seine Grenzen stoßen wird.“
16Neue Erkenntnismittel, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt Anlass zu einer positiveren Neubewertung der Aufnahmebedingungen in Bulgarien geben würden, liegen nicht vor. Es gibt im Gegenteil weitere aktuelle Berichte von NGO’s, die ein anhaltend alarmierendes Bild der Situation der Flüchtlinge in Bulgarien zeichnen,
17vgl. Pro Asyl/Flüchtlingsrat Niedersachsen, Syrische Flüchtlinge in Bulgarien: Misshandelt, erniedrigt, im Stich gelassen, Bericht vom 23.05.2014; Bordermonitoring EU, Trapped in Europe’s Quagmire: The Situation of Asylum Seekers and Refugees in Bulgaria, Juli 2014; vgl. auch VG Stuttgart, Urteil vom 16.04.2014 – A 8 K 640/14 -; VG Oldenburg, Beschluss vom 01.07.2014 – 12 B 1387/14 -.“
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... September 2014 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der am ... 1983 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste zusammen mit seiner Ehefrau und den in den Jahren 2006, 2009 und 2013 im Iran geborenen Kindern am
Am
Am
Mit Bescheid vom ... September 2014, zugestellt am
Am
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung trugen sie im Wesentlichen vor, es lägen hinsichtlich Bulgariens systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor. Der Antragsteller habe sich in der Einrichtung „...“ befunden, wo er nur unzureichend mit Basisleistungen wie Nahrungsmitteln versorgt worden sei. Des Weiteren sei die Aufnahmeeinrichtung deutlich überbelegt gewesen. Daher habe keinerlei Privatsphäre bestanden und es hätten extrem schlechte hygienische Bedingungen geherrscht, so dass eine Gefährdung der Gesundheit bestanden habe.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Verfahren M 23 K 14.50547 sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.
Mit der am
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zwischen dem sich aus der Regelung des § 75 AsylVfG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des ablehnenden Bescheids und dem Interesse des jeweiligen Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht die Interessenabwägung hier zugunsten des Antragstellers aus, da nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage die Erfolgsaussichten der Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom ... September 2014 zumindest als offen anzusehen sind.
Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG kann das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Solche Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft im Sinne von § 27a AsylVfG finden sich aktuell in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin-III-VO), die gemäß ihres Art. 49 Abs. 1 am 30. Juni 2013 in Kraft getreten ist. Gemäß ihres Art. 49 Abs. 2 Satz 1 ist die Dublin-III-VO auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die - wie hier - ab dem 1. Januar 2014 gestellt wurden.
Es bestehen vorliegend hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass sich eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers möglicherweise aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin-III-VO ergibt. Voraussetzung hierfür ist, dass es sich als unmöglich erweist, den Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta - EU-GR-Charta - mit sich bringen. In diesem Fall setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel 3 der Dublin-III-VO fort, um ggf. die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festzustellen. Kann keine Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festgestellt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.
Der Regelung in Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO liegt die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union betreffend die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (ABl. L 50 S. 1) - Dublin-II-VO - zugrunde (vgl. BVerwG, B. v. 19.3.2014 - 10 B 6/14 - juris Rn. 7). Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10
Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U. v. 27.4. 2010 -10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 22) einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt (EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10
Vorliegend liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Unterbringung und Versorgung von Familien mit Kleinkindern in Bulgarien möglicherweise derartige systemische Mängel aufweist, so dass es derzeit jedenfalls als offen anzusehen ist, ob eine Überstellung des Antragstellers mit seiner Familie nach Bulgarien im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO möglich wäre. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Dublin-III-VO ist das Wohl des Kindes in allen Verfahren nach dieser Verordnung eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten.
Die Frage, ob in Bulgarien „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bzw. des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO vorliegen und ob eine Überstellung nach Bulgarien einen Verstoß gegen Art. 4 der EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK darstellt, wird in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unterschiedlich beantwortet (vgl. in diesem Sinne z. B. VG Oldenburg, B. v.
Amnesty International kritisierte in einem Bericht vom 1. April 2014 nach einem Besuch von einigen Aufnahmezentren in Bulgarien weiterhin unzureichende Lebensbedingungen für Flüchtlinge ( Überbelegung, schlechte sanitäre Bedingungen und eine unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln) und forderte die europäischen Länder auf, keine Asylsuchenden nach Bulgarien zurück zu überstellen, bis das Land seine verheerenden Aufnahmebedingungen tatsächlich verbessert habe und die gravierenden Schwachstellen im Asylverfahren beseitigt seien (vgl. unter https://www.amnesty.de/2014/4/1/eu-staaten-duerfen-keine-asylsuchenden-nach-bul-garien-zurueck-ueberstellen). Ebenso bestätigte das „European Council on Refugees and Exiles - ECRE“ am 7. April 2014 die Forderung, Dublin-Überstellungen nach Bulgarien weiterhin auszusetzen (vgl. http://www.asylumineurope.org/news/07-04-2014/ecre-calls-european-countries-not-send-asylum-seekers-back-bulgaria). Der Bericht von „aida - Asylum Information Database“ vom 18. April 2014 („National Country Report Bulgaria“) verzeichnet Verbesserungen bei den Aufnahmebedingungen (vgl. unter http://www.asylumineurope.org/reports/country/bulgaria). Nach einer Stellungnahme von „Proasyl“ vom 23. Mai 2014 ist die Versorgung von Babys und Kleinkindern von Flüchtlingen in Bulgarien nicht gewährleistet (vgl. http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/fluechtlinge_in_bulgarien_misshandelt_erniedrigt_im_stich_gelassen/). Nach dem am 7. Juli 2014 veröffentlichten Bericht von „bordermonitoring.eu“ („Trapped in Europe’s Quagmire: The Situation of Asylum Seekers and Refugees in Bulgaria“; S. 40) wird ebenfalls empfohlen, angesichts der im Zeitraum von März bis Juni 2014 festgestellten Umstände Dublin-Überstellungen an Bulgarien weiterhin auszusetzen (vgl. unter http://bulgaria.border-monitoring.eu/2014/07/07/trapped-in-europes-quagmire/).
Angesichts dieser aktuellen Erkenntnislage liegen im Rahmen der summarischen Prüfung konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass die Aufnahmebedingungen für Familien insbesondere mit Kleinkindern so defizitär sind, dass die Annahme zu besorgen ist, dass dem Antragsteller mit seiner Familie dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Eine abschließende Prüfung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Wegen der zumindest offenen Erfolgsaussichten in den Hauptsachen überwiegen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die privaten Interessen des Antragstellers, insbesondere im Hinblick auf die besondere Schutzbedürftigkeit seiner Kinder, für die er Sorge zu tragen hat, so dass die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 30. Juni 2014 - A 7 K 880/14 - geändert, soweit es der Klage stattgegeben hat.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Gründe
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Tenor
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
1
Gründe:
2Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 03.09.2014 anzuordnen,
4ist zulässig, aber unbegründet.
5Das Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n. F. ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gem. § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrags als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gem. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Denn eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis entspricht offenbar nicht dem Willen des Gesetzgebers. Daher müssen die für Verwaltungsakte, bei denen der Gesetzgeber eine Sofortvollzugsanordnung getroffen hat (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO), allgemein geltenden Grundsätze Anwendung finden.
6Vgl. dazu eingehend VG Trier, Beschluss vom 18.09.2013 – 5 L 1234/13.TR – nach Auswertung der Gesetzgebungsmaterialien zu § 34 a AsylVfG n. F.; nachfolgend VG Göttingen, Beschluss vom 11.10.2013 – 2 B 806/13 –, jeweils bei juris.
7In diesen Fällen hat der Gesetzgeber – in Abgrenzung zu denjenigen, in denen die Behörde gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsakts anordnet, einen grundsätzlichen Vorrang des öffentlichen Vollziehungsinteresses vor dem privaten Aussetzungsinteresse des jeweiligen Antragstellers angeordnet, so dass es besonderer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen. Auf Grund dieser gesetzgeberischen Entscheidung sind die Gerichte in einem solchen Fall – neben der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache – zu einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist.
8Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11.10.2003 – 1 BvR 2025/03 –, bei juris.
9Daran gemessen fällt die vorgenannte Interessenabwägung vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus. Denn der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 03.09.2014 begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
10Das Bundesamt hat gemäß § 31 Abs. 4 AsylVfG zu Recht festgestellt, dass der Kläger aus einem sicheren Drittstaat i.S.d. § 26a AsylVfG eingereist ist und ihm deshalb in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zusteht.
11In diesem Falle ist gemäß § 34a AsylVfG eine Abschiebungsandrohung bezogen auf den sicheren Drittstaat, hier Bulgarien, anzuordnen.
12Allerdings hat die Bundesrepublik Deutschland dann Schutz zu gewähren, wenn die Notwendigkeit eines solchen durch Umstände begründet wird, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des „Konzepts normativer Vergewisserung“ durch Gesetz berücksichtigt werden konnten, oder aber sich die für die Qualifizierung als „sicher“ maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesrepublik hierauf noch aussteht. Die Annahme eines sicheren Drittstaates ist daher dann widerlegt, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zustän-digen Mitgliedstaat grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der in diesem Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber i.S.v. Art. 4 EuGrdRCh bzw. der inhaltlich identischen Vorschrift des Art. 3 EMRK implizieren.
13Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – 10 C 411/10 u. C 493/10 – und Urteil vom 14.11.2013 – C 4/11 – bei juris; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 – 10 B 6/14 – bei juris.
14Derartige systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber können in Bulgarien nicht (mehr) festgestellt werden.
15Zwar kam der UNHCR in einem Bericht vom 02.01.2014 zur Situation von Asylsuchenden und Flüchtlingen (Bulgaria as a country of asylum) noch zu dem Ergebnis, dass Asylsuchenden in Bulgarien die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aufgrund von systemischen Mängeln bei den Aufnahmebedingungen und dem Asylverfahren drohe. Der UNHCR folgerte daraus, dass eine Überstellung nach Bulgarien ausgesetzt werden müsse.
16Vgl. UNHCR vom 02.01.2014 unter Bezugnahme auf eine Übersetzung und Zusammenfassung von Pro Asyl.
17In einem Update vom 20.01.2014 (Refugee situation Bulgaria external update) stellte der UNHCR fest, dass sich die Anzahl der neuen Asylsuchenden stark verringert habe, nachdem Bulgarien an der Grenze zur Türkei einen Grenzzaun errichtet und zusätzliche Polizeibeamte eingesetzt habe. Auch hätten sich wohl die Lebensbedingungen aufgrund der Unterstützung des UNHCR verbessert und es gäbe Fortschritte bei der Registrierung von Asylsuchenden. Der UNHCR bestätigte aber nach wie vor seine Einschätzung, dass systemische Mängel vorlägen und bekräftigte insbesondere wegen der Überfüllung und mangelhaften Bedingungen in den bulgarischen Haftlagern, die Forderung nach einem Überstellungsstopp von Asylsuchenden im Rahmen des Dublin-Verfahrens.
18In einer Neubewertung der Situation in Bulgarien vom April 2014 (Bulgaria as a country of asylum – UNHCR observations on the current situation of asylum in Bulgaria) stellte der UNHCR jedoch fest, dass zwar nach wie vor Unzulänglichkeiten im bulgarischen Asylverfahren bestünden, diese jedoch einen generellen Ausschluss von Dublin-Überstellungen nicht länger rechtfertigen würden. In Bezug auf die Registrierung, die Behandlung der Anträge auf internationalen Schutz und die Aufnahmebedingungen seien bedeutende Verbesserungen zu beobachten. Im Einzelfall könnten jedoch Gründe vorliegen, die der Rücküberstellung besonders schutzbedürftiger Personen entgegenstehen könnten.
19Vor diesem Hintergrund geht die Kammer, wie auch das VG Augsburg
20vgl. Beschluss vom 25.08.2014 – AU 7 S 14.50199 – und – AU 7 K 14.50198 –, bei juris,
21und das VG Bremen
22vgl. Urteil vom 16.07.2014 – 1 K 152/14 –, bei juris,
23davon aus, dass es keine wesentlichen Gründe mehr für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Bulgarien systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechte Charta mit sich bringen. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO, die die Antragsgegnerin zur Prüfung des Asylantrages verpflichten würden, liegen damit nicht vor.
24Eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt ergibt sich auch nicht aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller zu einem besonders schutzbedürftigen Personenkreis zählt, bei dem unter Beachtung der Feststellungen des UNHCR im konkreten Einzelfall zu prüfen wäre, ob die Durchführung seines Asylverfahrens in Bulgarien mit erheblichen Gefahren für Leib und Leben, die einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK befürchten ließe, verbunden ist, sind nicht erkennbar. Auch sonstige, in der Person des Antragsstellers vorliegende besondere humanitäre Gründe, die einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts begründen könnten, liegen nicht vor. Beim Antragsteller handelt es sich um einen volljährigen jungen Mann, dem der Gesetzgeber grundsätzlich zumutet, sich allein zu Recht zu finden und nicht auf die Hilfe von Verwandten angewiesen ist.
25Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
26Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
27U.
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 13 K 4842/14.A gegen die Abschiebungsanordnung unter Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2014 anzuordnen,
4hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, jedoch nicht begründet.
5Der Antrag ist zulässig. Insbesondere hat die Antragstellerin nicht die Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG versäumt. Nach der genannten Vorschrift sind Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die fristauslösende Bekanntgabe muss gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 und 4 AsylVfG in Form der Zustellung an den Ausländer selbst erfolgen, wobei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) hier die von § 3 VwZG vorgesehene Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gewählt hat.
6Jedoch lässt sich eine formgerechte Zustellung des Bescheides nicht nachweisen. Zwar heißt es in der unterschriebenen Zustellungsurkunde, die Postbedienstete habe das Schriftstück im verschlossenen Umschlag dem Adressaten persönlich übergeben; als Tag der Zustellung ist der 17. Juli 2014 vermerkt. Die so ausgefüllte Postzustellungsurkunde erbringt als öffentliche Urkunde den vollen Beweis dafür, dass der Bescheid der Antragstellerin tatsächlich am angegebenen Tag persönlich zugestellt wurde (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i.V.m. §§ 182 Abs. 1 Satz 2, 418 ZPO).
7Allerdings ist gemäß § 418 Abs. 2 ZPO der Gegenbeweis der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen zulässig. Dieser Gegenbeweis erfordert, dass Tatsachen substantiiert vorgetragen werden, die den beurkundeten Sachverhalt widerlegen. Er ist durch qualifiziertes Bestreiten zu führen, indem die in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsachen nicht nur in Abrede gestellt, sondern ihre Unrichtigkeit substantiiert und schlüssig dargelegt wird.
8Vgl. BSG, Beschluss vom 28. September 1998 - B 11 AL 83/98 B -, juris.
9Ausgehend von diesen Maßstäben vermag hier das Vorbringen der Antragstellerin die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde zu erschüttern und dem Gericht die Überzeugung zu vermitteln, dass der Inhalt der Urkunde einen unzutreffenden Geschehensablauf wiedergibt, soweit es in ihr heißt, der Postbedienstete habe das zuzustellende Schriftstück am 17. Juli 2014 „übergeben, und zwar … dem Adressaten … persönlich“. Die Antragstellerin trägt substantiiert vor, sie habe den Bescheid tatsächlich erst am 18. Juli 2014 von dem Hausmeister ihres Wohnheims erhalten. Hierzu führt sie im Einzelnen aus, dass sie am 17. Juli 2014 tagsüber mit Freunden in der Innenstadt unterwegs gewesen und erst abends nach Hause gekommen sei. Am Morgen des 18. Juli 2014 sei ihr durch den Hausmeister ein gelber Umschlag überreicht worden, der den Bundesamtsbescheid enthalten habe. Tatsächlich habe ihre Mitbewohnerin, Frau B. I. C. , den Umschlag entgegen genommen. Als Beleg für die Richtigkeit ihres Vorbringens hat die Antragstellerin eidesstattliche Versicherungen sowohl von ihr als auch der Frau C. übersandt. In der eidesstattlichen Versicherung der Frau C. heißt es:
10„Mein Name ist B. I. C. . Ich komme aus dem Kongo und habe ebenfalls Asyl beantragt. Ich lebe mit Frau W. T. T1. gemeinsam in einem Zimmer in der W1. . 10 in E. . Am 17.07.2014 war ich allein in unserem Zimmer. Frau T1. war nicht da. Im Laufe des Tages klingelte ein Postbote, der mir einen gelben Umschlag überreichte. Ich ging zunächst davon aus, dieser sei für mich. Als ich erkannte, dass dieser nicht an mich adressiert war, brachte ich ihn zurück an den Hausmeister. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich noch nicht den vollen Namen meiner Zimmernachbarin, so dass ich dies für das Beste hielt.“
11Die vom Gericht telefonisch eingeholte Auskunft eines der drei Hausmeister der Asylbewerberunterkunft, Herrn T2. , wonach es „an sich“ nicht möglich sei, dass bei der persönlichen Übergabe von Sendungen durch den Postbediensteten ein Schriftstück dem falschen Adressaten ausgehändigt werde, weil der Postbedienstete, wenn er den Asylbewerber in seinem Zimmer antreffe, dessen Identität überprüfe, indem er sich die Aufenthaltsgestattung oder einen sonstigen Ausweis zeigen lasse, begründet keine durchgreifenden Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Antragstellerin. Denn der Hausmeister beschreibt lediglich die in der Asylbewerberunterkunft üblicherweise bei der Postzustellung gehandhabte Praxis. Diese lässt die nahe liegende Möglichkeit unberührt, dass der Postzusteller sich abweichend von der üblichen Vorgehensweise im Einzelfall kein Identitätspapier zeigen lässt oder dieses nur oberflächlich und ohne genauen Abgleich mit dem Namen des Adressaten der Sendung zur Kenntnis nimmt, so dass es zu einer Verwechslung kommt. Dass das sog. Postbuch, in das nach Auskunft von Herrn T2. Eintragungen vorgenommen werden, wenn die Zustellung an den Asylbewerber persönlich nicht gelingt und daher eine Aushändigung an das Büro des Hausmeisters erfolgen muss, weder für den 17. noch für den 18. Juli 2014 einen die Antragstellerin betreffenden Eintrag enthält, steht der Annahme einer Identitätsverwechslung schon deshalb nicht entgegen, weil der Postbedienstete die Sendung gerade nicht beim Hausmeisterbüro hinterließ, nachdem aus seiner Sicht die Übergabe an die Antragstellerin persönlich gelungen war. Auch lässt sich aus dem Fehlen eines Eintrags in dem Postbuch zur Überzeugung des Gerichts nicht zwingend schließen, dass Frau C. entgegen den Angaben in ihrer eidesstattlichen Versicherung die Postsendung nicht bei dem Hausmeister abgegeben hat, zumal ein solcher Postrücklauf eher ungewöhnlich sein dürfte und nicht gesichert ist, dass auch in einem solchen irregulären Fall ein Eintrag erfolgt. Der Umstand, dass Herr T2. sich an den Rücklauf einer Postsendung an das Hausmeisterbüro und deren anschließende Aushändigung an die Antragstellerin nicht erinnern kann, dürfte ohne Weiteres auf die zwischenzeitlich verstrichene Zeit zurückzuführen sein und rechtfertigt daher nicht die Annahme, es sei tatsächlich nicht zu dem Postrücklauf gekommen.
12Lässt sich - wie hier - die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen, gilt es gemäß § 8 VwZG als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Der Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs heilt den Zustellungsmangel, fingiert eine wirksame Zustellung und löst damit den Lauf der Klage- bzw. Antragsfrist aus.
13Vgl. Sadler, VwVG VwZG, 7. Aufl. 2010, VwZG § 8 Rz. 22; Bay.VGH, Urteil vom 4. Juni 2013 ‑ 12 B 13.183 -, juris.
14Hier hat die Antragstellerin den Bundesamtsbescheid tatsächlich am 18. Juli 2014 erhalten, so dass die einwöchige Antragsfist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG am 25. Juli 2014 endete. An diesem Tag ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei Gericht eingegangen.
15Jedoch hat der Antrag in der Sache keinen Erfolg. Die Abwägung des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin fällt zu Lasten der Antragstellerin aus, weil der angefochtene Bescheid des Bundesamtes keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.
16Das Bundesamt hat den Asylantrag der Antragstellerin zu Recht als unzulässig abgelehnt, weil Bulgarien für dessen Prüfung zuständig ist. Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Antragsgegnerin den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
17Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), welche gemäß ihrem Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 auf Schutzgesuche Anwendung findet, die nach dem 31. Dezember 2013 gestellt werden. Die Antragstellerin hat ihren Asylantrag am 12. Juni 2014 gestellt.
18Nach den Vorschriften der Dublin III-VO ist Bulgarien der zuständige Staat für die Prüfung dieses Asylantrags.
19Die Antragstellerin hat sich nach ihren eigenen Angaben in der Befragung durch das Bundesamt am 12. Juni 2014 etwa vier Monate in Bulgarien aufgehalten. Ausweislich des Ergebnisses der nach dem Aufgriff der Antragstellerin in Deutschland erfolgten Abfrage der Eurodac-Datenbank vom 31. Mai 2014 hat sie in Bulgarien einen Asylantrag gestellt. Die Antragsgegnerin hat am 30. Juni 2014, und damit innerhalb der von Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO vorgesehenen Frist von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung, Bulgarien um Wiederaufnahme der Antragstellerin ersucht. Bulgarien hat auf dieses Ersuchen gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO seine Zuständigkeit für den Asylantrag erklärt, und zwar bereits am 4. Juli 2014 und damit innerhalb der nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO im Falle eines Eurodac-Treffers maßgeblichen Frist von zwei Wochen nach Stellung des Wiederaufnahmeersuchens.
20Bulgarien ist daher gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO grundsätzlich verpflichtet, die Antragstellerin innerhalb einer Frist von sechs Monaten, nachdem es die Wiederaufnahme akzeptiert hat, bzw. innerhalb von sechs Monaten nach der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat, wieder aufzunehmen. Diese Frist ist noch nicht abgelaufen.
21Soweit die Antragstellerin unter Berufung auf systemische Mängel des Asylsystems in Bulgarien eine Zuständigkeit Deutschlands bzw. aufgrund einer Ermessensreduzierung einen Anspruch auf den Selbsteintritt Deutschlands geltend macht, kann sich das erkennende Gericht dem unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse nicht anschließen.
22Ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO durch die Bundesrepublik Deutschland besteht ohnehin nicht. Die Dublin-Verordnungen sehen ein nach objektiven Kriterien ausgerichtetes Verfahren der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vor. Sie sind im Grundsatz nicht darauf ausgerichtet, Ansprüche von Asylbewerbern gegen einen Mitgliedstaat auf Durchführung eines Asylverfahrens durch ihn zu begründen. Ausnahmen bestehen allenfalls bei einzelnen, eindeutig subjektiv-rechtlich ausgestalteten Zuständigkeitstatbeständen (vgl. etwa Art. 9 Dublin III-VO zugunsten von Familienangehörigen). Die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin III-VO begründen - wie die der bisherigen Dublin II‑VO - zum Zwecke der sachgerechten Verteilung der Asylbewerber vor allem subjektive Rechte der Mitgliedstaaten untereinander. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert daher nur die Überstellung dorthin; sie begründet kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin.
23Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rz. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rz. 7.
24Die Antragsgegnerin ist aber auch nicht - unabhängig von der Frage der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zugunsten der Antragstellerin - nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO gehindert, diese nach Bulgarien zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) mit sich bringen. Die Voraussetzungen, unter denen dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs,
25EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413,
26der Fall wäre, liegen hier nicht vor. Systemische Mängel in diesem Sinne können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können.
27Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rn. 94.
28Diese Voraussetzungen lassen sich für Bulgarien gegenwärtig nicht (mehr) feststellen. Maßgeblich ist insoweit, dass der UNHCR in seiner aktualisierten Bestandsaufnahme von April 2014 („Bulgaria As a Country of Asylum – UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria“) nicht mehr - anders als noch in der von der Antragstellerin übersandten Bestandsaufnahme von Januar 2014 - empfiehlt, generell von Dublin-Rücküberstellungen von Asylsuchenden nach Bulgarien abzusehen. Dies ist von erheblicher Bedeutung, weil die von dem UNHCR herausgegebenen Dokumente im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem Drittstaat, der nach den Kriterien der Dublin-Verordnungen als zuständiger Staat bestimmt wird, besonders relevant sind.
29Vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 - C 528/11 -, juris, Rz. 44.
30Nach den Feststellungen des UNHCR haben die bulgarischen Behörden in den letzten drei Monaten signifikante Anstrengungen unternommen, um die Lebensbedingungen für Asylsuchende und das Asylsystem zu verbessern. Die Verhältnisse in den Aufnahmezentren hätten sich seit Dezember 2013 spürbar verbessert. Dies betreffe den Zugang zu medizinischer Primärversorgung, die Unterstützung durch Dolmetscherdienste, die Unterkunftssituation (Heizung, separate Einrichtungen für alleinstehende Männer und Frauen), die finanzielle Unterstützung (mit monatlich 33,00 Euro) und die Versorgung mit Nahrungsmitteln (zwei warme Mahlzeiten am Tag). Bulgarien sei von der EU finanziell, logistisch und personell unterstützt worden. Die bulgarische Regierung habe sich den Problemen nicht verschlossen, sondern konstruktiv mit dem UNHCR und dem „European Asylum Support Office“ (EASO) zusammengearbeitet. Für Dublin-Rückkehrer, die ‑ wie die Antragstellerin - in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hätten, gebe es grundsätzlich keine Hindernisse, das Verfahren fortzuführen, wenn sie dies wünschten. Sie würden dann in ein Aufnahmezentrum überführt und genössen dort die gleichen Rechte wie andere Asylbewerber. Sollte über den Asylantrag bereits abschließend negativ entschieden worden sein, würde auch der Rückkehrer behandelt wie ein Asylbewerber, dessen Schutzgesuch in letzter Instanz abgelehnt worden sei, wobei die Möglichkeit eines Folgeantrags bestehe. Nur Asylbewerber, deren Gesuch in einer abschließenden Entscheidung zurückgewiesen worden sei und die keinen Folgeantrag stellten, könnten in Haftzentren festgehalten werden.
31In seinem Bericht kommt der UNHCR zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass trotz weiter gegebener Schwächen und Defizite des Asylsystems in Bulgarien und der Frage nach der Nachhaltigkeit der inzwischen eingetretenen Verbesserungen eine allgemeine Aussetzung von Dublin-Überstellungen - mit Ausnahme von Personen mit besonderen Bedürfnissen und besonderer Verletzlichkeit - nicht mehr geboten sei.
32Die Feststellungen des UNHCR stimmen im Wesentlichen überein mit den Erkenntnissen des EASO, wie sie sich aus dessen „Stock taking report on the asylum situation in Bulgaria“ von Februar 2014 ergeben. So heißt es in diesem Bericht, die bulgarischen Behörden unternähmen Schritte zur Verbesserung des Asylverfahrens, es bleibe aber noch viel zu tun. Die staatliche Flüchtlingsbehörde (SAR) habe insgesamt 160 neue Mitarbeiter eingestellt; ihre Produktivität sei sehr gestiegen (2013: ca. 303 Entscheidungen pro Monat, Januar 2014: 952 Entscheidungen). Die Aufnahmeeinrichtungen seien immer noch überbelegt und überlastet, das System sei institutionell nicht ausreichend entwickelt, die Qualität der Aufnahmebedingungen sei uneinheitlich. Gleichwohl seien bis Mitte Februar 2014 gewaltige Fortschritte gemacht worden. Es sei bemerkenswert, wie motiviert und entschlossen man sei, die Lage in den Griff zu bekommen. Die Aufnahmeeinrichtungen seien größtenteils in annehmbarem Zustand und hätten motivierte und engagierte Mitarbeiter. In den meisten Einrichtungen hätten Renovierungsarbeiten begonnen und es würden schon einige Fortschritte gemacht. Alle Einrichtungen böten medizinische Versorgung. Trotz der insgesamt nach wie vor nicht befriedigenden Situation spricht auch das EASO in seinem Bericht keine Empfehlung aus, von Überstellungen nach Bulgarien abzusehen.
33Demgegenüber folgt schon aus dem Titel des Berichts von Amnesty International („Rücküberstellungen von Asylsuchenden nach Bulgarien sind weiterhin auszusetzen“) aus März 2014, dass Amnesty die Bewertungen des UNCHR und EASO nicht teilt. Allerdings würdigt auch Amnesty die Bemühungen der bulgarischen Regierung zur Verbesserung der Situation von Asylsuchenden in Bezug auf Aufnahmebedingungen und Zugang zum Asylverfahren.
34Angesichts dieser Auskunftslage, die, soweit es um die Beschreibung der Situation von Asylsuchenden in Bulgarien geht, im Wesentlichen ein einheitliches Bild zeichnet, das durch eine Entwicklung zum Positiven hin gekennzeichnet ist, und im Hinblick auf die hervorgehobene Bedeutung, die den Stellungnahmen des UNHCR im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems zukommt, geht das Gericht gegenwärtig davon aus, dass die in Bulgarien nach wie vor bestehenden Missstände jedenfalls nicht (mehr) die Qualität systemischer Mängel erreichen.
35So auch VG Würzburg, Beschluss vom 18. August 2014 - W 6 S 14.50098 -, VG Ansbach, Urteil vom 10. Juli 2014 - AN 11 K 14.30336 - und VG Berlin, Beschluss vom 1. April 2014 ‑ 23 L 122.13 A -, alle juris; a.A. VG München, Beschluss vom 9. Juli 2014 ‑ M 24 S 14.50336 -, VG Stuttgart, Urteil vom 24. Juni 2014 - A 11 k 741/14 -, VG Wiesbaden, Beschluss vom 16. Mai 2014 - 7 L 458/14.WI.A - und VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 10. April 2014 ‑ 1 K 59/14 -, ebenfalls alle juris.
36Unabhängig von der allgemeinen Situation in Bulgarien hat die Antragstellerin auch keine beachtlichen Umstände vorgetragen, die sie als eine innerhalb der Gruppe der Dublin-Rückkehrer besonders gefährdete oder verletzliche Person erscheinen lassen.
37Die auf § 34a Abs. 1 AsylVfG beruhende Abschiebungsanordnung ist rechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich.
38Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RGV.
39Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
Tenor
I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des gerichtsgebührenfreien Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die drohende Überstellung nach C. im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
Der Antragsteller ist seinen Angaben zufolge Staatsangehöriger von B. und reiste am ... Februar 2014 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein.
Ein EURODAC-Abgleich ergab, dass der Antragsteller bereits am ... Juni 2013 in C. einen Asylantrag gestellt hat.
Einem Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin stimmte C. mit Schreiben vom ... März 2014 zu.
Mit Bescheid vom ... Juli 2014, dem Antragsteller zugestellt am ... Juli 2014, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und ordnete die Abschiebung nach C. an. Zur Begründung wurde angeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, die Abschiebung nach C. beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, da C. für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die gegen eine Überstellung nach C. sprechen könnten, seien nicht ersichtlich.
Mit Schreiben vom ... Juli 2014, beim Bayer. Verwaltungsgericht München eingegangen am ... Juli 2014, erhob der Antragsteller Klage und beantragte gleichzeitig gemäß § 80 Abs. 5 VwGO,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung führte er an, er habe komplexe gesundheitliche Probleme, die im Flüchtlingslager in C. nicht behandelt worden seien. In Deutschland sei er wegen einer tiefen Wunde am Unterschenkel und einer Schilddrüsenunterfunktion behandelt worden. Eine entsprechende weitere Behandlung in C. sei nicht gewährleistet.
Aus den dem Gericht vorgelegten ärztlichen Berichten und Attesten ist zu entnehmen, dass beim Antragsteller bei Zustand nach Kompartmentsyndrom eine kleine Stelle am kaudalen Wundpol am linken Unterschenkel noch nicht vollständig verheilt ist, die einen zwei- bis dreimal wöchentlichen Verbandwechsel erfordert. Ursache für das Kompartmentsyndrom war eine ausgeprägte Schilddrüsenunterfunktion (lt. Bericht der Fachklinik D. vom ... Juli 2014 basierend auf einer aus unbekannten Gründen erfolgten Pausierung der Schilddrüsenmedikation). Erforderlich sei eine regelmäßige Einnahme der Schilddrüsenhormone, die zunächst noch engmaschig, auch mittels Blutwertkontrollen gesteuert und therapiert werden müsse. Der Antragsteller befand sich vom ... bis zum ... Juli 2014 in der stationären neurologischen Rehabilitationsbehandlung in der Fachklinik D. Dort wurde er mit folgendem Rehafazit entlassen: „Pat. hat ein verbessertes Schmerzoutcome, benötigt keine Schmerzmedikation mehr. Wundsituation verbessert nach Kompartmentspaltung und Defektdeckung, braucht aber noch weiterhin 2-3x/Wo. Verbandswechsel. Gangbild und Gangausdauer verbessert, er ist ohne Hilfsmittel im Klinikinnen- und Außenbereich (Park) mobil, kann mehretagig Treppen steigen ohne hängenzubleiben.
Verordnete Hilfsmittel: keine
Entlassungsmedikation: L-Thyroxin 175µg 1-0-0“
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist nicht begründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Die danach vorzunehmende Abwägung des sich aus § 75 Abs. 1 AsylVfG ergebenden öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers hat sich maßgeblich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zulasten des Antragstellers aus, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamtes begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Damit überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das persönliche Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage.
Rechtsgrundlage der Abschiebungsanordnung nach C. ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Vorliegend ist C. für die Prüfung des vom Antragsteller am ... April 2013 dort gestellten Asylantrags zuständig, Art. 10 VO (EG) Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003 (Dublin-II-VO), Art. 49 VO (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013. C. hat auch mit Schreiben vom ... August 2014 der Wiederaufnahme des Antragstellers zugestimmt.
Die Antragsgegnerin ist nicht verpflichtet trotz der Zuständigkeit C. den Asylantrag des Antragstellers selbst inhaltlich zu prüfen.
Von Verfassungswegen kommt eine Prüfungspflicht der Antragsgegnerin nur in Betracht, soweit ein von vornherein außerhalb der Reichweite des Konzepts der normativen Vergewisserung liegender Sachverhalt gegeben ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, U. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93) ist dies - bezogen auf die Verhältnisse im Abschiebezielstaat - etwa dann der Fall, wenn sich die, für die Qualifizierung des Drittstaates als sicher, maßgeblichen Verhältnisse schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung darauf noch aussteht oder wenn der Aufnahmestaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung zu greifen droht und dadurch zum Verfolgerstaat wird. An die Darlegung eines solchen Sonderfalles sind allerdings hohe Anforderungen zu stellen.
Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U. v. 21. Dezember 2011 C-411/10 und C-493/10
Derartige Verhältnisse sieht das Gericht zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt für C. als nicht gegeben. In Übereinstimmung mit der in der Rechtsprechung vorherrschenden Auffassung geht das Gericht davon aus, dass in C. systemische Mängel im genannten Sinne nicht vorherrschen und ein Asylantragsteller in C. nicht Gefahr läuft, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden (vgl. etwa VG München, B. v. 27.1.2014 - M 4 S 14.30066; VG Ansbach, B. v. 21.1.2014 - AN 10 S 14.30039; B. v. 31.3.2014 - AN 9 S 13.31028; VG Gelsenkirchen, B. v. 15.1.2014 - 6a L 1836/13.A; VG Hannover, B. v. 27.5.2014 - 5 B 634/14; VG Regensburg, B. v. 27.12.2013 - RN 6 S 13.30709 sowie VGH BaWü, B. v. 6.8.2013 - 12 S 675/13 - InfAuslR 2014, 29 ff.).
Das Gericht weist darauf hin, dass weder der UNHCR noch das C. Helsinki Commitee oder der European Refugee Council eine generelle Empfehlung ausgesprochen haben, Asylbewerber im Rahmen des Dublin-Verfahrens nicht nach C. zu überstellen. Dies hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil vom 6. Juni 2013 (Mohammed gegen Österreich, Nr. 2283/12, in inoffizieller Übersetzung des Informationsverbunds Asyl und Migration e. V. abrufbar unter www.asyl.net) festgestellt. Nach Auswertung umfangreicher Stellungnahmen des UNHCR und anderer Stellen gelangt der EGMR zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer gerade im Hinblick auf die mögliche Inhaftierung nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliegen würde, bei einer Überstellung nach C. im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletze.
Der Österreichische Asylgerichtshof führt hierzu in seiner Entscheidung vom 9. Juli 2013 (S 21 436096-1/2013 - RIS, abrufbar unter www...gv.at) ausdrücklich aus, dass nicht zuletzt durch das am ... Januar 2013 in C. in Kraft getretene überarbeitete Asylgesetz Verbesserungen eingetreten seien. Es könne nicht erkannt werden, dass im Hinblick auf Asylbewerber, die im Rahmen der Dublin-Verordnung nach C. rücküberstellt würden, aufgrund der c... Rechtslage oder Vollzugspraxis systematische Verletzungen von Rechten nach der EMRK erfolgen würden, so dass diesbezüglich eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit im Sinn einer realen Gefahr für den Einzelnen nicht bestehe.
Auch der EuGH sieht in der Entscheidung Abdullahi (U. v. 10.12.2013 - C 394/12
Weder die Auskünfte des UNHCR vom 9. Mai 2014 auf eine Anfrage des VG Düsseldorf (hierzu: Beschl. v. 16.6.2014 - 13 L 141/14.A -, juris) noch die „Information Note“ des C. Helsiniki Commitee vom Mai 2014 (abrufbar unter: http://...hu/en/...) oder der National Country Report C. der Asylum Information Database („aida“), Stand 30. April 2014 (abrufbar unter: http://www...org/...-c... second_update final...0.pdf), bieten nach Auffassung des Gerichts belastbare Anhaltspunkte für solche Schwachstellen.
Die in den genannten Erkenntnisquellen beschriebene Umsetzung der c... Gesetzgebungslage, nach der seit dem ... Juli 2013 die Haft für Asylantragsteller wieder zulässig ist, lässt nicht auf systemische Schwachstellen des Asylsystems für Dublin-Rückkehrer schließen.
Der Umstand, dass das c... Asylrecht seit der erneuten Rechtsänderung zum ... Juli 2013 - wieder - Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthält und C. diese neuen Inhaftierungsvorschriften auch tatsächlich anwendet, stellt für sich genommen noch keinen begründeten Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems dar. Denn auch das unionsrechtliche Regelungssystem geht seinerseits davon aus, dass eine Inhaftierung von Asylbewerbern - wenn auch unter engen Voraussetzungen - im Einzelfall möglich ist. Artikel 8 und 9 der Richtlinie 2013/33 EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (AufnahmeRL), geben den Mitgliedstaaten hierfür ausdrücklich einen rechtlichen Rahmen vor. Auch macht C. ersichtlich nicht mehr in einem so umfassenden Umfang von den neuen Haftregelungen Gebrauch wie noch im Zeitraum bis zum ... Januar 2013 nach der früheren Rechtslage (so VG Düsseldorf, a. a. O., Rn. 68).
Art. 8 Abs. 3 Buchst. b AufnahmeRL regelt, dass ein Antragsteller insbesondere dann ausnahmsweise in Haft genommen werden darf, wenn Fluchtgefahr besteht.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze kann das Gericht nicht erkennen, dass die c... Asylhaftpraxis systematisch die Grenzen des europäischen Rechts überschreitet, wenn - entsprechend der Auskunft des UNHCR - Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, weil die Behörden davon ausgehen, dass sie - wie auch vorliegend der Antragsteller - die Bescheidung ihres Asylantrages nicht in C. abwarten, sondern sich durch erneute Ausreise dem c... Asylverfahren entziehen werden. Dass die c... Behörden für Dublin-Rückkehrer, die bereits einmal aus C. geflohen sind, eine Fluchtgefahr annehmen, erscheint nicht willkürlich, sondern naheliegend.
Ebenso wenig kann das Gericht den aktuellen Auskünften entnehmen, dass die Haftbedingungen für Dublin-Rückkehrer in C. systematisch eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung darstellen. Die im Bericht des Helsinki Komitees genannten Einzelfälle („Information Note“, C. Helsinik Commitee, a. a. O., S. 18) lassen insoweit keine Rückschlüsse auf systemische Mängel zu. Der Auskunft des UNHCR lässt sich entnehmen, dass die Behandlung der Inhaftierten durch die Aufsichtskräfte problematisch bleibt, dies jedoch in einem geringeren Ausmaß als zuvor (Auskunft des UNCHR an VG Düsseldorf v. 9.5.2014 zu Frage 4, S. 5).
Schließlich haben auch Rechtsanwälte sowie NGOs und der UNHCR Zugang zu den Inhaftierten.
Auch die vom Antragsteller vorgetragenen gesundheitlichen Probleme sowie seine weitere Behandlungsbedürftigkeit führen zu keinem anderen Ergebnis. Lt. des National Country Report C. der Asylum Information Database („Aida“), Stand 30. April 2014 (a. a. O.) erhalten Asylbewerber in C. die gleiche medizinische Versorgung wie c... Staatsangehörige (S. 47 des Reports). Damit ist aus Sicht des Gerichts der nötige Verbandwechsel mehrmals wöchentlich ebenso sichergestellt wie die Versorgung mit Schilddrüsenhormonen und die gegebenenfalls notwendige Überprüfung und Steuerung der Dosierung. Bei dem vom Antragsteller eingenommenen Schilddrüsenhormon handelt es sich um ein international gängiges Medikament, das auch in C. problemlos erhältlich ist. Für die regelmäßige Einnahme dieses Medikaments (aus den Klinikberichten ergibt sich, dass die Verletzung am Bein auf einer aus unbekannten Gründen erfolgten Pausierung der Einnahme der Schilddrüsenhormone basierte) ist der Antragsteller selbst verantwortlich.
Angesichts dieser aktuellen Erkenntnislage liegen im Rahmen der summarischen Prüfung keine konkreten Anhaltspunkte vor, die einen Vollzug des Dublin-Verfahrens hindern könnten. Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 13 K 4842/14.A gegen die Abschiebungsanordnung unter Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2014 anzuordnen,
4hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, jedoch nicht begründet.
5Der Antrag ist zulässig. Insbesondere hat die Antragstellerin nicht die Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG versäumt. Nach der genannten Vorschrift sind Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die fristauslösende Bekanntgabe muss gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 und 4 AsylVfG in Form der Zustellung an den Ausländer selbst erfolgen, wobei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) hier die von § 3 VwZG vorgesehene Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gewählt hat.
6Jedoch lässt sich eine formgerechte Zustellung des Bescheides nicht nachweisen. Zwar heißt es in der unterschriebenen Zustellungsurkunde, die Postbedienstete habe das Schriftstück im verschlossenen Umschlag dem Adressaten persönlich übergeben; als Tag der Zustellung ist der 17. Juli 2014 vermerkt. Die so ausgefüllte Postzustellungsurkunde erbringt als öffentliche Urkunde den vollen Beweis dafür, dass der Bescheid der Antragstellerin tatsächlich am angegebenen Tag persönlich zugestellt wurde (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i.V.m. §§ 182 Abs. 1 Satz 2, 418 ZPO).
7Allerdings ist gemäß § 418 Abs. 2 ZPO der Gegenbeweis der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen zulässig. Dieser Gegenbeweis erfordert, dass Tatsachen substantiiert vorgetragen werden, die den beurkundeten Sachverhalt widerlegen. Er ist durch qualifiziertes Bestreiten zu führen, indem die in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsachen nicht nur in Abrede gestellt, sondern ihre Unrichtigkeit substantiiert und schlüssig dargelegt wird.
8Vgl. BSG, Beschluss vom 28. September 1998 - B 11 AL 83/98 B -, juris.
9Ausgehend von diesen Maßstäben vermag hier das Vorbringen der Antragstellerin die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde zu erschüttern und dem Gericht die Überzeugung zu vermitteln, dass der Inhalt der Urkunde einen unzutreffenden Geschehensablauf wiedergibt, soweit es in ihr heißt, der Postbedienstete habe das zuzustellende Schriftstück am 17. Juli 2014 „übergeben, und zwar … dem Adressaten … persönlich“. Die Antragstellerin trägt substantiiert vor, sie habe den Bescheid tatsächlich erst am 18. Juli 2014 von dem Hausmeister ihres Wohnheims erhalten. Hierzu führt sie im Einzelnen aus, dass sie am 17. Juli 2014 tagsüber mit Freunden in der Innenstadt unterwegs gewesen und erst abends nach Hause gekommen sei. Am Morgen des 18. Juli 2014 sei ihr durch den Hausmeister ein gelber Umschlag überreicht worden, der den Bundesamtsbescheid enthalten habe. Tatsächlich habe ihre Mitbewohnerin, Frau B. I. C. , den Umschlag entgegen genommen. Als Beleg für die Richtigkeit ihres Vorbringens hat die Antragstellerin eidesstattliche Versicherungen sowohl von ihr als auch der Frau C. übersandt. In der eidesstattlichen Versicherung der Frau C. heißt es:
10„Mein Name ist B. I. C. . Ich komme aus dem Kongo und habe ebenfalls Asyl beantragt. Ich lebe mit Frau W. T. T1. gemeinsam in einem Zimmer in der W1. . 10 in E. . Am 17.07.2014 war ich allein in unserem Zimmer. Frau T1. war nicht da. Im Laufe des Tages klingelte ein Postbote, der mir einen gelben Umschlag überreichte. Ich ging zunächst davon aus, dieser sei für mich. Als ich erkannte, dass dieser nicht an mich adressiert war, brachte ich ihn zurück an den Hausmeister. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich noch nicht den vollen Namen meiner Zimmernachbarin, so dass ich dies für das Beste hielt.“
11Die vom Gericht telefonisch eingeholte Auskunft eines der drei Hausmeister der Asylbewerberunterkunft, Herrn T2. , wonach es „an sich“ nicht möglich sei, dass bei der persönlichen Übergabe von Sendungen durch den Postbediensteten ein Schriftstück dem falschen Adressaten ausgehändigt werde, weil der Postbedienstete, wenn er den Asylbewerber in seinem Zimmer antreffe, dessen Identität überprüfe, indem er sich die Aufenthaltsgestattung oder einen sonstigen Ausweis zeigen lasse, begründet keine durchgreifenden Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Antragstellerin. Denn der Hausmeister beschreibt lediglich die in der Asylbewerberunterkunft üblicherweise bei der Postzustellung gehandhabte Praxis. Diese lässt die nahe liegende Möglichkeit unberührt, dass der Postzusteller sich abweichend von der üblichen Vorgehensweise im Einzelfall kein Identitätspapier zeigen lässt oder dieses nur oberflächlich und ohne genauen Abgleich mit dem Namen des Adressaten der Sendung zur Kenntnis nimmt, so dass es zu einer Verwechslung kommt. Dass das sog. Postbuch, in das nach Auskunft von Herrn T2. Eintragungen vorgenommen werden, wenn die Zustellung an den Asylbewerber persönlich nicht gelingt und daher eine Aushändigung an das Büro des Hausmeisters erfolgen muss, weder für den 17. noch für den 18. Juli 2014 einen die Antragstellerin betreffenden Eintrag enthält, steht der Annahme einer Identitätsverwechslung schon deshalb nicht entgegen, weil der Postbedienstete die Sendung gerade nicht beim Hausmeisterbüro hinterließ, nachdem aus seiner Sicht die Übergabe an die Antragstellerin persönlich gelungen war. Auch lässt sich aus dem Fehlen eines Eintrags in dem Postbuch zur Überzeugung des Gerichts nicht zwingend schließen, dass Frau C. entgegen den Angaben in ihrer eidesstattlichen Versicherung die Postsendung nicht bei dem Hausmeister abgegeben hat, zumal ein solcher Postrücklauf eher ungewöhnlich sein dürfte und nicht gesichert ist, dass auch in einem solchen irregulären Fall ein Eintrag erfolgt. Der Umstand, dass Herr T2. sich an den Rücklauf einer Postsendung an das Hausmeisterbüro und deren anschließende Aushändigung an die Antragstellerin nicht erinnern kann, dürfte ohne Weiteres auf die zwischenzeitlich verstrichene Zeit zurückzuführen sein und rechtfertigt daher nicht die Annahme, es sei tatsächlich nicht zu dem Postrücklauf gekommen.
12Lässt sich - wie hier - die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen, gilt es gemäß § 8 VwZG als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Der Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs heilt den Zustellungsmangel, fingiert eine wirksame Zustellung und löst damit den Lauf der Klage- bzw. Antragsfrist aus.
13Vgl. Sadler, VwVG VwZG, 7. Aufl. 2010, VwZG § 8 Rz. 22; Bay.VGH, Urteil vom 4. Juni 2013 ‑ 12 B 13.183 -, juris.
14Hier hat die Antragstellerin den Bundesamtsbescheid tatsächlich am 18. Juli 2014 erhalten, so dass die einwöchige Antragsfist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG am 25. Juli 2014 endete. An diesem Tag ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei Gericht eingegangen.
15Jedoch hat der Antrag in der Sache keinen Erfolg. Die Abwägung des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin fällt zu Lasten der Antragstellerin aus, weil der angefochtene Bescheid des Bundesamtes keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.
16Das Bundesamt hat den Asylantrag der Antragstellerin zu Recht als unzulässig abgelehnt, weil Bulgarien für dessen Prüfung zuständig ist. Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Antragsgegnerin den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
17Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), welche gemäß ihrem Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 auf Schutzgesuche Anwendung findet, die nach dem 31. Dezember 2013 gestellt werden. Die Antragstellerin hat ihren Asylantrag am 12. Juni 2014 gestellt.
18Nach den Vorschriften der Dublin III-VO ist Bulgarien der zuständige Staat für die Prüfung dieses Asylantrags.
19Die Antragstellerin hat sich nach ihren eigenen Angaben in der Befragung durch das Bundesamt am 12. Juni 2014 etwa vier Monate in Bulgarien aufgehalten. Ausweislich des Ergebnisses der nach dem Aufgriff der Antragstellerin in Deutschland erfolgten Abfrage der Eurodac-Datenbank vom 31. Mai 2014 hat sie in Bulgarien einen Asylantrag gestellt. Die Antragsgegnerin hat am 30. Juni 2014, und damit innerhalb der von Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO vorgesehenen Frist von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung, Bulgarien um Wiederaufnahme der Antragstellerin ersucht. Bulgarien hat auf dieses Ersuchen gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO seine Zuständigkeit für den Asylantrag erklärt, und zwar bereits am 4. Juli 2014 und damit innerhalb der nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO im Falle eines Eurodac-Treffers maßgeblichen Frist von zwei Wochen nach Stellung des Wiederaufnahmeersuchens.
20Bulgarien ist daher gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO grundsätzlich verpflichtet, die Antragstellerin innerhalb einer Frist von sechs Monaten, nachdem es die Wiederaufnahme akzeptiert hat, bzw. innerhalb von sechs Monaten nach der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat, wieder aufzunehmen. Diese Frist ist noch nicht abgelaufen.
21Soweit die Antragstellerin unter Berufung auf systemische Mängel des Asylsystems in Bulgarien eine Zuständigkeit Deutschlands bzw. aufgrund einer Ermessensreduzierung einen Anspruch auf den Selbsteintritt Deutschlands geltend macht, kann sich das erkennende Gericht dem unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse nicht anschließen.
22Ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO durch die Bundesrepublik Deutschland besteht ohnehin nicht. Die Dublin-Verordnungen sehen ein nach objektiven Kriterien ausgerichtetes Verfahren der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vor. Sie sind im Grundsatz nicht darauf ausgerichtet, Ansprüche von Asylbewerbern gegen einen Mitgliedstaat auf Durchführung eines Asylverfahrens durch ihn zu begründen. Ausnahmen bestehen allenfalls bei einzelnen, eindeutig subjektiv-rechtlich ausgestalteten Zuständigkeitstatbeständen (vgl. etwa Art. 9 Dublin III-VO zugunsten von Familienangehörigen). Die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin III-VO begründen - wie die der bisherigen Dublin II‑VO - zum Zwecke der sachgerechten Verteilung der Asylbewerber vor allem subjektive Rechte der Mitgliedstaaten untereinander. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert daher nur die Überstellung dorthin; sie begründet kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin.
23Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rz. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rz. 7.
24Die Antragsgegnerin ist aber auch nicht - unabhängig von der Frage der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zugunsten der Antragstellerin - nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO gehindert, diese nach Bulgarien zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) mit sich bringen. Die Voraussetzungen, unter denen dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs,
25EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413,
26der Fall wäre, liegen hier nicht vor. Systemische Mängel in diesem Sinne können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können.
27Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rn. 94.
28Diese Voraussetzungen lassen sich für Bulgarien gegenwärtig nicht (mehr) feststellen. Maßgeblich ist insoweit, dass der UNHCR in seiner aktualisierten Bestandsaufnahme von April 2014 („Bulgaria As a Country of Asylum – UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria“) nicht mehr - anders als noch in der von der Antragstellerin übersandten Bestandsaufnahme von Januar 2014 - empfiehlt, generell von Dublin-Rücküberstellungen von Asylsuchenden nach Bulgarien abzusehen. Dies ist von erheblicher Bedeutung, weil die von dem UNHCR herausgegebenen Dokumente im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem Drittstaat, der nach den Kriterien der Dublin-Verordnungen als zuständiger Staat bestimmt wird, besonders relevant sind.
29Vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 - C 528/11 -, juris, Rz. 44.
30Nach den Feststellungen des UNHCR haben die bulgarischen Behörden in den letzten drei Monaten signifikante Anstrengungen unternommen, um die Lebensbedingungen für Asylsuchende und das Asylsystem zu verbessern. Die Verhältnisse in den Aufnahmezentren hätten sich seit Dezember 2013 spürbar verbessert. Dies betreffe den Zugang zu medizinischer Primärversorgung, die Unterstützung durch Dolmetscherdienste, die Unterkunftssituation (Heizung, separate Einrichtungen für alleinstehende Männer und Frauen), die finanzielle Unterstützung (mit monatlich 33,00 Euro) und die Versorgung mit Nahrungsmitteln (zwei warme Mahlzeiten am Tag). Bulgarien sei von der EU finanziell, logistisch und personell unterstützt worden. Die bulgarische Regierung habe sich den Problemen nicht verschlossen, sondern konstruktiv mit dem UNHCR und dem „European Asylum Support Office“ (EASO) zusammengearbeitet. Für Dublin-Rückkehrer, die ‑ wie die Antragstellerin - in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hätten, gebe es grundsätzlich keine Hindernisse, das Verfahren fortzuführen, wenn sie dies wünschten. Sie würden dann in ein Aufnahmezentrum überführt und genössen dort die gleichen Rechte wie andere Asylbewerber. Sollte über den Asylantrag bereits abschließend negativ entschieden worden sein, würde auch der Rückkehrer behandelt wie ein Asylbewerber, dessen Schutzgesuch in letzter Instanz abgelehnt worden sei, wobei die Möglichkeit eines Folgeantrags bestehe. Nur Asylbewerber, deren Gesuch in einer abschließenden Entscheidung zurückgewiesen worden sei und die keinen Folgeantrag stellten, könnten in Haftzentren festgehalten werden.
31In seinem Bericht kommt der UNHCR zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass trotz weiter gegebener Schwächen und Defizite des Asylsystems in Bulgarien und der Frage nach der Nachhaltigkeit der inzwischen eingetretenen Verbesserungen eine allgemeine Aussetzung von Dublin-Überstellungen - mit Ausnahme von Personen mit besonderen Bedürfnissen und besonderer Verletzlichkeit - nicht mehr geboten sei.
32Die Feststellungen des UNHCR stimmen im Wesentlichen überein mit den Erkenntnissen des EASO, wie sie sich aus dessen „Stock taking report on the asylum situation in Bulgaria“ von Februar 2014 ergeben. So heißt es in diesem Bericht, die bulgarischen Behörden unternähmen Schritte zur Verbesserung des Asylverfahrens, es bleibe aber noch viel zu tun. Die staatliche Flüchtlingsbehörde (SAR) habe insgesamt 160 neue Mitarbeiter eingestellt; ihre Produktivität sei sehr gestiegen (2013: ca. 303 Entscheidungen pro Monat, Januar 2014: 952 Entscheidungen). Die Aufnahmeeinrichtungen seien immer noch überbelegt und überlastet, das System sei institutionell nicht ausreichend entwickelt, die Qualität der Aufnahmebedingungen sei uneinheitlich. Gleichwohl seien bis Mitte Februar 2014 gewaltige Fortschritte gemacht worden. Es sei bemerkenswert, wie motiviert und entschlossen man sei, die Lage in den Griff zu bekommen. Die Aufnahmeeinrichtungen seien größtenteils in annehmbarem Zustand und hätten motivierte und engagierte Mitarbeiter. In den meisten Einrichtungen hätten Renovierungsarbeiten begonnen und es würden schon einige Fortschritte gemacht. Alle Einrichtungen böten medizinische Versorgung. Trotz der insgesamt nach wie vor nicht befriedigenden Situation spricht auch das EASO in seinem Bericht keine Empfehlung aus, von Überstellungen nach Bulgarien abzusehen.
33Demgegenüber folgt schon aus dem Titel des Berichts von Amnesty International („Rücküberstellungen von Asylsuchenden nach Bulgarien sind weiterhin auszusetzen“) aus März 2014, dass Amnesty die Bewertungen des UNCHR und EASO nicht teilt. Allerdings würdigt auch Amnesty die Bemühungen der bulgarischen Regierung zur Verbesserung der Situation von Asylsuchenden in Bezug auf Aufnahmebedingungen und Zugang zum Asylverfahren.
34Angesichts dieser Auskunftslage, die, soweit es um die Beschreibung der Situation von Asylsuchenden in Bulgarien geht, im Wesentlichen ein einheitliches Bild zeichnet, das durch eine Entwicklung zum Positiven hin gekennzeichnet ist, und im Hinblick auf die hervorgehobene Bedeutung, die den Stellungnahmen des UNHCR im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems zukommt, geht das Gericht gegenwärtig davon aus, dass die in Bulgarien nach wie vor bestehenden Missstände jedenfalls nicht (mehr) die Qualität systemischer Mängel erreichen.
35So auch VG Würzburg, Beschluss vom 18. August 2014 - W 6 S 14.50098 -, VG Ansbach, Urteil vom 10. Juli 2014 - AN 11 K 14.30336 - und VG Berlin, Beschluss vom 1. April 2014 ‑ 23 L 122.13 A -, alle juris; a.A. VG München, Beschluss vom 9. Juli 2014 ‑ M 24 S 14.50336 -, VG Stuttgart, Urteil vom 24. Juni 2014 - A 11 k 741/14 -, VG Wiesbaden, Beschluss vom 16. Mai 2014 - 7 L 458/14.WI.A - und VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 10. April 2014 ‑ 1 K 59/14 -, ebenfalls alle juris.
36Unabhängig von der allgemeinen Situation in Bulgarien hat die Antragstellerin auch keine beachtlichen Umstände vorgetragen, die sie als eine innerhalb der Gruppe der Dublin-Rückkehrer besonders gefährdete oder verletzliche Person erscheinen lassen.
37Die auf § 34a Abs. 1 AsylVfG beruhende Abschiebungsanordnung ist rechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich.
38Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RGV.
39Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt L. aus E. wird abgelehnt.
1
Gründe:
2Der am 29. April 2014 bei Gericht sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage (17 K 2897/14.A) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 17. April 2014 insoweit anzuordnen, als in Ziffer 2. des Bescheides die Abschiebung nach Italien angeordnet wird,
4hat keinen Erfolg.
5A. Er ist zulässig (I.), jedoch unbegründet (II.).
6I. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist – wie sich auch aus § 34a Abs. 2 Satz 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) ergibt – der statthafte Rechtsbehelf. Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG stellt einen belastenden Verwaltungsakt dar, dessen Aufhebung im Hauptsacheverfahren im Wege der Anfechtungsklage von dem Betroffenen verfolgt werden kann,
7vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A –, juris Rn.28 ff.; VG Düsseldorf, Urteil vom 23. April 2013 - 17 K 4548/12.A -, juris.
8Der erhobenen Anfechtungsklage – 17 K 2897/14.A – kommt entgegen § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht schon kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zu, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit § 75 Abs. 1 AsylVfG.
9Die Antragstellung bei Gericht am 29. April 2014 ist auch innerhalb der Wochenfrist ab Bekanntgabe – hier: 24. April 2014 – erfolgt, § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG.
10II. Der Antrag ist unbegründet.
11Das öffentliche Vollzugsinteresse an der sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung überwiegt bei einer an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientierten Abwägung das Interesse der Antragsteller am vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet.
12Die Abschiebungsanordnung ist nach summarischer Prüfung offensichtlich rechtmäßig. Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) abgeschoben werden (1.), ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 1. Alt. AsylVfG an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann (2.).
13Diese Voraussetzungen liegen vor.
141. Italien ist „sicherer Drittstaat“ im Sinne von § 26a AsylVfG. Nach § 26a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylVfG kann sich ein Ausländer nicht auf Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz (GG) berufen, wenn er aus einem Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG eingereist ist.
15a. Der Anwendung des Art. 16a Abs. 2 GG und der §§ 26a, 31 Abs. 4 AsylVfG geht entgegen der Ansicht der Antragteller nicht die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin III VO) vor. Dabei kann es offen bleiben, ob auf den gegebenen Fall noch die Vorgängerregelung, die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (sog. Dublin II VO) einschlägig wäre (vgl. insoweit Art. 49 Abs. 2 Satz 2 Dublin III VO - hierfür spricht, dass die Asylanträge der Antragsteller vor dem 1. Januar 2014 gestellt wurden-). Denn beide Regelwerke, die Dublin II ebenso wie die Dublin III Verordnung finden auf Ausländer, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, nachdem ihnen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union – hier in Italien – Flüchtlingsschutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Richtlinie 2011/95/EU) zuerkannt worden ist, überhaupt keine Anwendung mehr,
16vgl. für subsidiär schutzberechtigte Personen: VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Juli 2014 - 17 L 1193/17.A; zur Dublin II VO bereits: VG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Januar 2013 – 6 L 104/13.A –, juris Rn. 20; VG Düsseldorf, Urteil vom 27. Juni 2013 – 6 K 7204/12.A –, juris; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand: November 2013, § 27a AsylVfG Rn. 34.
17Die Dublin III VO unterscheidet -ebenso wie der Sache nach die Dublin II VO- ausdrücklich zwischen „Antragsteller“, Art. 2 lit. c Dublin III VO (Art. 2 lit. d Dublin II VO) und „Begünstigter internationalen Schutzes“, Art. 2 lit. f Dublin III VO (Art. 2 lit. g Dublin II VO [„Flüchtling“]). Antragsteller im Sinne der Dublin III Verordnung ist danach derjenige, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde, wohingegen „Begünstigter internationalen Schutzes“ derjenige ist, dem internationaler Schutz zuerkannt wurde. Das Verfahren zur Bestimmung des für eine Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaates wird nach Art. 20 Abs. 1 Dublin III VO (Art. 4 Abs. 1 Dublin II VO) nur eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Dieses Verfahren ist indes nicht mehr einschlägig, wenn der Ausländer bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nach dortigem Antrag auf internationalen Schutz Flüchtlingsschutz – wie hier die Antragsteller ausweislich der Mitteilungen der italienischen Behörden vom 28. November 2013 in Italien; vgl. für die unter den Familienverband fallenden Antragsteller zu 3. und 4. Art. 23 Abs. 2 i.V.m. Art. 2 lit. j Richtlinie 2011/95/EU – erhalten hat. Dementsprechend sieht auch Art. 18 Abs. 1 lit. a bis d Dublin III VO (Art. 16 Abs. 1 lit. a und c bis e Dublin II VO) keine Pflicht des zuständigen Mitgliedsstaates im Falle des positiven Bescheides über einen Antrag auf internationalen Schutz vor. Für eine Ausübung des in Art. 17 Abs. 1 der Dublin III VO (Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO) geregelten Selbsteintrittsrechts der Mitgliedstaaten ist dann ebenfalls von vornherein kein Raum mehr. Hieraus folgt zugleich, dass die Antragsteller mit ihrem Vortrag, aufgrund ihnen in Italien drohender Gesundheitsgefahren lägen „systemische Mängel im Asylverfahren“ vor, die den um Überstellung ersuchenden Mitgliedstaat zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts verpflichteten, nicht durchdringen.
18Selbst wenn, der Ansicht des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller folgend, die minderjährigen Antragsteller zu 3. und 4. in Italien formal (noch) keinen Flüchtlingsschutz erhalten haben sollten -obwohl die Antragsteller zu 1. und 2. bei der Anhörung vor dem Bundesamt selbst davon sprachen, sie alle hätten einen gesicherten Aufenthaltsstatus und Aufenthaltstitel gehabt („wir“)-, mag dies allenfalls zwar insoweit zu einer Anwendung der Dublin VO für diese, nicht jedoch zu einer Änderung in der Sache führen (vgl. zudem Art. 9 Dublin III VO bzw. Art. 7 Dublin II VO). Die erkennende Kammer hat in ständiger Rechtsprechung bereits entschieden, in Italien seien systemische Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen einschließlich der Gesundheitsversorgung derzeit nicht auszumachen,
19vgl. etwa VG Düsseldorf, Urteil vom 24. Mai 2013 - 17 K 7223/12.A, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 26. April 2013 - 17 K 1777/12.A, juris; zuletzt für minderjährige Kinder: VG Düsseldorf, Beschluss vom 12. Mai 2014 - 17 L 930/14.A.; auch bei Erkrankungen zuletzt: VG Düsseldorf, Urteil vom 27. August 2013 - 17 K 4737/12.A, juris.
20Diese Rechtsauffassung hat jüngst in einer Grundsatzentscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, auf die entsprechend Bezug genommen wird, Bestätigung gefunden,
21vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A, juris.
22b. Italien ist nach dem im Eilverfahren anzulegenden Prüfungsmaßstab als Mitgliedstaat der Europäischen Union ein „sicherer Drittstaat“ im Sinne von Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG.
23aa. Der vorgenannten Verfassungsnorm liegt das „Konzept der normativen Vergewisserung“ über die Sicherheit im Drittstaat zugrunde. Diese normative Vergewisserung bezieht sich darauf, dass der Drittstaat einem Betroffenen, der sein Gebiet als Flüchtling erreicht hat, den nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK) und den Grundfreiheiten gebotenen Schutz vor politischer Verfolgung und anderen ihm im Herkunftsstaat drohenden schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit oder seiner Freiheit gewährt. Damit entfällt das Bedürfnis, ihm Schutz in der Bundesrepublik Deutschland zu bieten. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten als sicher kraft Entscheidung der Verfassung,
24vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 -, juris Rn. 181.
25Dieses nationale Konzept steht im Einklang mit dem hinter der Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (vgl. Art. 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) stehenden „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“. Selbiges beruht auf der Annahme, alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, beachteten die Grundrechte, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Richtlinie 2011/95/EU, der GFK sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Unter diesen Bedingungen muss die - freilich widerlegbare - Vermutung gelten, die Behandlung der Antragsteller als schutzberechtigt anerkannte Ausländer stehe in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den genannten Rechten,
26vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, juris Rn. 10 ff., 75, 78, 80.
27Diese Annahmen zugrunde gelegt, greift die „sichere Drittstaatenregelung“ (nur) dann nicht, wenn sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, der Ausländer sei von einem Sonderfall betroffen, der von dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ bzw. dem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ nicht aufgefangen werde,
28vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, juris Rn. 52 f., 60 zum „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“; BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93 –, juris Rn. 189 zum „Konzept der normativen Vergewisserung“.
29Von einem solchen Fall ist dann auszugehen, wenn es ernst zu nehmende und durch Tatsachen gestützte Gründe dafür gibt, dass in dem Mitgliedstaat, in den abgeschoben werden soll, in verfahrensrechtlicher oder materieller Hinsicht nach aktuellen Erkenntnissen kein hinreichender Schutz gewährt wird.
30Der Bezugspunkt für die Beurteilung des hinreichenden Schutzes hängt davon ab, ob der Ausländer bereits einen Schutzstatus in dem Land, in das er abgeschoben werden soll, erhalten hat oder nicht. Nur in letzterem Fall ist darauf abzustellen, ob das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische, dem ersuchenden Mitgliedstaat nicht unbekannte Mängel aufweisen, die für den Asylbewerber eine tatsächliche Gefahr begründen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem ersuchten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 / Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) bzw. dem inhaltsgleichen Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein,
31vgl. etwa EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 –, juris Rn. 78 f., 84 ff. und 94; siehe dazu bereits zuvor II 1. a).
32Hat der Ausländer indes – wie hier – bereits einen Schutzstatus erhalten, ist darauf abzustellen, ob der gebotene Inhalt des jeweiligen Schutzstatus hinreichend eingehalten wird oder ein Verstoß gegen die GFK vorliegt bzw. für den Inhaber des Schutzstatus eine tatsächliche Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem ersuchten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 / Art. 19 Abs. 2 Grundrechtecharta bzw. dem inhaltsgleichen Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
33Dass die Verhältnisse in Italien diesbezüglich hinter dem unionsrechtlich vorgesehenen Flüchtlingsschutz dergestalt zurückbleiben, ist nach der gebotenen summarischen Prüfung zu dem für die Entscheidung nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt nicht zu erkennen.
34Soweit die Genfer Flüchtlingskonvention für anerkannte Flüchtlinge Wohlfahrtsregelungen enthält (Art. 20 ff. GFK), die vom anerkennenden Drittstaat zu beachten und vom Konzept der normativen Vergewisserung mit umfasst sind, gehen diese im Wesentlichen über Diskriminierungsverbote gegenüber den jeweiligen Inländern nicht hinaus. Namentlich im Bereich der öffentlichen Fürsorge und der sozialen Sicherheit verpflichtet die GFK den Drittstaat zur Inländergleichbehandlung (vgl. Art. 23, 24 GFK). Letztere ist aber nach den aktuellen Erkenntnissen in Italien, wo einem anerkannten Asylbewerber hinsichtlich Aufenthalt, Freizügigkeit, Zugang zu Arbeit und medizinischer Versorgung dieselben Rechte wie italienischen Staatsangehörigen zustehen, gegeben,
35vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Januar 2013, Ziff. 7. und vom 11. Juli 2012, S. 2f.; vgl. auch den Bericht „Associazione per gli Studi Giuridici sull’immigrazione“ -ASGI- vom 20. November 2012, S. 10; s. aus der Rspr. ebenso VG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Januar 2013 - 6 L 104/13.A, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 27. Juni 2013 - 6 K 7204/12.A, juris; sogar für das Asylverfahren in Italien und die Einhaltung der dort gebotenen unionsrechtlichen Mindeststandards OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A., juris.
36Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der Antragsteller im Sinne von Art. 3 EMRK ist gleichfalls nicht ersichtlich.
37Der Inhalt des internationalen Flüchtlingsschutzes wird unionsrechtlich vorgegeben durch die Regelungen in Art. 20 bis 35 der Richtlinie 2011/95/EU. So gelten einheitliche Vorgaben etwa für die Erteilung des Aufenthaltstitels (Art. 24) und der Reisedokumente (Art. 25 Abs. 1). Einem anerkannten Schutzberechtigten stehen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung (Art. 26), zur Bildung (Art. 27), zum Erhalt von Sozialhilfeleistungen (Art. 29) und medizinischer Versorgung (Art. 30) dieselben Rechte wie den jeweiligen Staatsangehörigen zu.
38Danach ist im Hinblick auf Italien zwar nach wie vor anzuerkennen, dass die Lebensbedingungen (auch) für Personen mit anerkanntem Schutzstatus nach den gegebenen Erkenntnissen schwierig sein können. Weder ist aber eine Verletzung der in Art. 26ff. der Richtlinie 2011/95/EU vorgesehenen Gleichbehandlungsgebote erkennbar noch herrschen in Italien derart handgreiflich eklatante Missstände, die die Annahme rechtfertigten, anerkannt Schutzberechtigte würden einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt und den Antragstellern müsste unabweisbar Schutz gewährt werden. Eine solche Behandlung muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK zu gelten. Dieses Mindestmaß erreichen die Verhältnisse, denen anerkannt Schutzberechtigte in Italien ausgesetzt sind, nicht.
39In Italien erhalten mit der Anerkennung Schutzsuchende nach Auskunft der Deutschen Botschaft vom 21. Januar 2013 ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht und freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Es existiert eine staatliche Arbeitsvermittlung auf regionaler Ebene. Die Möglichkeit zur Aufnahme eines eigenen Gewerbes oder Handwerks besteht grundsätzlich und wird nach Möglichkeit gefördert. Weiterhin ist die Gesundheitsfürsorge für alle Ausländer, die einen Status haben, gewährleistet, es existiert ein kostenfreier Zugang zu sämtlichen öffentlichen medizinischen Leistungen, wofür aber ein Registrierung erforderlich ist; sie sind den italienischen Staatsangehörigen insoweit gleichgestellt,
40vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft vom 21. Januar 2013, Ziff. 5.5, 6., 7.4 und vom 11. Juli 2012, S. 2; allg. zum italienischen Gesundheitssystem: Bericht der Deutschen Botschaft „Sozialpolitische Informationen Italien“ aus Januar 2012, S. 25f.
41Entsprechendes gilt nach Auskunft der Deutschen Botschaft von Januar 2012 auch für weitere Fürsorgeleistungen. Dem italienischen System ist es dabei zu eigen, dass auch italienische Staatsangehörige kein national garantiertes Recht auf Fürsorgeleistungen haben; insoweit müssen sich Ausländer, wie die Italiener auch, in der Praxis etwa selbst um eine Unterkunft bemühen. Die Zuständigkeit für die Festsetzung von Sozialleistungen liegt grundsätzlich im Kompetenzbereich der Regionen. Öffentliche Fürsorgeleistungen weisen demnach deutliche Unterschiede je nach regionaler und kommunaler Finanzkraft auf,
42vgl. Bericht der Deutschen Botschaft „Sozialpolitische Informationen Italien“ aus Januar 2012, S. 24.
43Die vorstehenden Ausführungen berücksichtigend, kommen insgesamt Personen mit einem internationalen Schutzstatus dieselben Rechte auf Fürsorge, Unterkunft und medizinische Versorgung zu wie (mittellosen) italienischen Staatsangehörigen. Den Auskünften sind diesbezüglich auch keine hinreichenden -eine andere Beurteilung rechtfertigenden- Anhaltspunkte für eine massiv diskriminierende Vollzugspraxis zu entnehmen,
44vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Januar 2013, Ziff. 7 und vom 11. Juli 2012, S. 2f.; vgl. auch den Bericht von ASGI vom 20. November 2012, S. 10; aus der Rspr.: VG Düsseldorf, Urteil vom 27. Juni 2013 - 6 K 7204/12.A, juris, m.w.N.,
45Somit ist eine Verletzung der in Art. 26ff. der Richtlinie 2011/95/EU vorgesehenen Gleichbehandlungsgebote nicht erkennbar, so dass unter diesem Aspekt eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausscheidet.
46Darüber hinaus liegen keine sonstigen allgemeinen humanitären Gründe vor, die der Rückführung der Antragsteller nach Italien zwingend entgegenstehen würden. Ungeachtet der Frage, ob bzw. wann überwiegend auf Armut zurückzuführende schlechte humanitäre Bedingungen den für eine Verletzung von Art. 3 EMRK erforderlichen Schweregrad erreichen,
47vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 23, 25; vgl. auch Schmahl/Winkler, Schutz vor Armut in der EMRK ?, in: Archiv des Völkerrechts 48 (2010), 405 (422 f.), wonach Art. 3 EMRK bei einer lebensbedrohlichen Mangellage bzw. einer zum Ausschluss selbstbestimmter Handlungen führenden Existenznot tangiert ist,
48lassen die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse nicht darauf schließen, dass die Antragsteller nach ihrer Rückführung nach Italien dort Lebensbedingungen ausgesetzt wären, die für sie auf unabsehbare Zeit eine Lage existenzbedrohender (extremer) materieller Armut befürchten ließen.
49So hat das Auswärtige Amt zuletzt in seiner bereits zitierten Stellungnahme vom 21. Januar 2013 ausgeführt, dass anerkannte Flüchtlinge von Hilfsorganisationen (z.B.: Caritas, CIR) Unterstützung bekommen können, wenngleich sie auch -wie alle Italiener- grundsätzlich in eigener Verantwortung und ohne staatliche finanzielle Hilfe bzw. Sozialleistungen eine Wohnung und einen Arbeitsplatz suchen müssen. Unterstützung für Integrationsprogramme (z.B. Aus- und Fortbildung) existiert ebenfalls über lokale Behörden, Stiftungen, Gewerkschaften, Hilfsorganisationen oder auch Nichtregierungsorganisationen, die teilweise miteinander vernetzt sind,
50vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft vom 21. Januar 2013, Ziff. 7.1., 7.3.
51Zwar ist nach dem Gutachten der Flüchtlingsorganisation borderline-europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V. von Dezember 2012 und nach Auskunft der italienischen Vereinigung für rechtliche Untersuchungen zur Situation von Einwanderung (ASGI) vom 20. November 2012 die soziale Situation der Schutzberechtigten oftmals härter als die der Asylsuchenden, da sie nämlich nach Abschluss des Asylverfahrens das Anrecht auf die Aufnahme in einem Aufnahmezentrum für Asylsuchende (CARA) verlieren. Sie können sich lediglich - sofern sie dort in der Vergangenheit noch keine Unterkunft bekommen haben - auf die Warteliste der lokalen Projekte im Rahmen des Schutzsystems für Asylsuchende und Flüchtlinge (SPRAR) eintragen lassen. Für die von diesem System nicht erfassten Personen bleiben nur die bereits erwähnten Unterstützungen allgemeiner Art, wie sie auch für andere Mittellose in Italien vorgesehen sind,
52vgl. borderline-europe e.V. vom Dezember 2012, S. 52f.; Bericht von ASGI vom 20. November 2011, S. 10 ff.
53Dies entspricht im Ergebnis der Einschätzung des Auswärtigen Amtes, wonach für überstellte Personen mit Schutzstatus die Erlangung von Unterkunft und Arbeit in erster Linie von Eigeninitiative und der Hilfestellung von Nichtregierungsorganisationen abhängt, so dass ein Abgleiten in die Obdachlosigkeit zwar generell möglich, aber keineswegs zwingende Folge ist,
54vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft vom 21. Januar 2013, Ziff. 5.5, 7; so auch VG Düsseldorf, Urteil vom 27. Juni 2013 - 6 K 7204/12.A, juris, m.w.N.
55Wie bereits ausgeführt, ist die Gesundheitsvorsorge zwar rechtlich gewährleistet, jedoch in der Praxis zuweilen mit Schwierigkeiten verbunden. Hierzu führt das Auswärtige Amt im Januar 2013 ausdrücklich aus, dass die Gesundheitsfürsorge grundsätzlich für alle Ausländer, die im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind, gewährleistet ist. Die Ausländer müssen sich beim Servizio Sanitario Nazionale (Nationaler Gesundheitsdienst) melden und registrieren lassen. Dafür benötigten sie einen Aufenthaltstitel, ihre Steuernummer sowie eine feste Adresse, wobei deren eigene Angabe genügt. Selbst bei einem fehlenden festen Wohnsitz können sie sich um eine Sammeladresse bemühen. Die Caritas bietet solche Adressen für Personen an, die einen solchen nicht haben, ihn jedoch u.a. für den Erhalt der Gesundheitskarte benötigen. Eine solche „virtuelle Wohnsitznahme“ ist insbesondere in Rom recht umfangreich möglich. Im Übrigen steht nach vorzitierter Auskunft des Auswärtigen Amtes eine kostenfreie medizinische Versorgung selbst Personen zu, die nicht in einer staatlichen Unterkunft untergebracht sind. Die stets bestehende Notambulanz sei -ungeachtet einer Registrierung- für alle Personen kostenfrei zugänglich. Aktuell sei die Not- und Grundversorgung selbst für illegal aufhältige Personen garantiert,
56vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Januar 2013, Ziff. 6.2; borderline-europe e. V. vom Dezember 2012, S. 46.
57Diesbezüglich anerkennt das Gericht jedoch, dass sich in Teilbereichen der Unterkunftserlangung und der Gewährung von Hilfen durchaus für Inhaber eines Schutzstatus in Italien Mängel und Defizite (nach wie vor) feststellen lassen. Insbesondere der nach Abschluss eines Asylverfahrens eintretende Verlust eines Anrechts auf eine staatliche Unterkunft und die dadurch bedingte Möglichkeit der Obdachlosigkeit ist durchaus ernst zu nehmen. Allerdings handelt es sich dabei derzeit nicht um landesweite Missstände, die für jeden Einzelnen oder eine weit überwiegende Anzahl von anerkannten Flüchtlingen die Gefahr einer extremen materiellen Armut begründet, die von den italienischen Behörden tatenlos hingenommen würde. Die vorhandenen Defizite bei der Unterbringung und der gesundheitlichen Versorgung reichen daher nicht dafür aus, dass Italien generell nicht mehr als sicherer Drittstaat anzusehen wäre. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass insoweit Art. 3 EMRK die Konventionsstaaten auch nicht etwa dazu verpflichtet, Schutzberechtigten ein Recht auf Unterkunft zu geben oder sie finanziell zu unterstützen, um ihnen einen gewissen Lebensstandard einschließlich bestimmter Standards medizinischer Versorgung zu ermöglichen,
58vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30969/09 –, juris Rn. 249; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris Rn. 118.
59Generell reicht die drohende Zurückweisung in ein Land, in dem die eigene wirtschaftliche Situation schlechter sein wird als in dem ausweisenden Vertragsstaat nicht aus, die Schwelle der unmenschlichen Behandlung, wie sie von Art. 3 EMRK verboten wird, zu überschreiten,
60vgl. EGMR, Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 –, juris.
61Art. 3 EMRK ist im Kern ein Abwehrrecht gegen unwürdiges Staatsverhalten im Sinne eines strukturellen Versagens bei dem durch ihn zu gewährenden angemessenen materiellen Mindestniveau und weniger ein individuelles Leistungsrecht einzelner Antragsteller auf bestimmte materielle Lebens- und Sozialbedingungen selbst,
62vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2013 – 17 L 660/13.A –, juris Rn. 43, m.w.N.
63Die Antragsteller müssen sich nach alledem daher auf den in Italien für alle italienischen Staatsangehörigen geltenden Versorgungsstandard – somit auch auf den medizinischen Behandlungs- und Medikamentationsstandard – verweisen lassen, auch wenn dieser dem hiesigen Niveau nicht entsprechen mag,
64vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2013 – 17 L 660/13.A –, juris Rn. 42, s.a. OVG NRW, Beschluss vom 5. August 2004 – 13 A 2160/04.A –, juris (noch zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990, heute § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
65Entgegen der Ansicht des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller ist es auch nicht maßgeblich, wie ein vor der Großen Kammer des EGMR anhängiges und im Februar 2014 verhandeltes Verfahren zu Italien (offenbar U. ./. Schweiz; EGMR 29217/12) entschieden wird. Es ist ungewiss, inwieweit der EGMR in jenem Verfahren fallübergreifende Feststellungen zu den Verhältnissen in Italien treffen oder die konkreten Verhältnisse des zu entscheidenden Falles -ungeachtet der Frage, ob es sich überhaupt bei den Beschwerdeführern um anerkannte Flüchtlinge handelt- in den Vordergrund stellen wird; die Entscheidung hierzu steht -soweit ersichtlich- noch aus. Ungeachtet dessen bestand jedoch keine Veranlassung, zur Gewinnung der für die Entscheidungsfindung erforderlichen Überzeugung noch weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation der anerkannten Flüchtlinge in Italien einzuholen. Denn die vorliegenden Erkenntnismittel haben im Ergebnis ausgereicht, dem Gericht diese Überzeugung bereits in einem ausreichenden Maße zu vermitteln.
66bb. Die Antragsteller gehören auch nicht zu einer gegebenenfalls besonders schutzbedürftigen Personengruppe.
67Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen kann es zwar im Einzelfall aus individuellen, in der Person der Antragsteller liegenden und damit von dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ bzw. dem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ von vornherein nicht erfassten Gründen – wenn auch nur vorübergehend – geboten sein, von Überstellungen in den anderen Mitgliedstaat abzusehen. Anhaltspunkt für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls kann geben, ob einer der Antragsteller eine Personen mit besonderen Bedürfnissen gemäß Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU ist und er nach einer Einzelfallprüfung entsprechend eingestuft wurde.
68Beachtliche, in der Person der Antragsteller liegende Gründe von der Überstellung nach Italien abzusehen liegen indes nicht vor. Für die Antragstellerin zu 1. ist mit fachärztlichem Attest vom 29. April 2014 im Wesentlichen geltend gemacht, „es bestehe der dringende Verdacht auf eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung, die der dringenden psychotherapeutischen Behandlung bedarf“. Aufgrund dieses Attestes ist es schon nicht hinreichend dargelegt, dass die Antragstellerin zu 1. tatsächlich an einer „schweren posttraumatischen Belastungsstörung“ leidet, sondern allenfalls, dass ein entsprechender Verdacht besteht, der der diagnostischen Abklärung bedarf. In diesem Zusammenhang wird angemerkt, dass der Zeitpunkt der Attestierung der angeblichen Erkrankung auffällig ist. Denn das Attest ist nur wenige Tage nach Zustellung (24. April 2014) des ablehnenden Bescheides vom 17. April 2014, nämlich am 29. April 2014 erstellt worden. Die Antragstellerin zu 1. hat bislang in verschiedenen Ländern der Europäischen Union Asylanträge gestellt (Italien, Schweiz, Frankreich, sowie Schweden und nunmehr in der Bundesrepublik Deutschland) und Syrien bereits nach eigenen Angaben im Juli 2009 Richtung Italien verlassen. Danach hat sie sich zunächst ca. 4-5 Monate in Rom aufgehalten, ist dann nach einem etwa sechsmonatigen Aufenthalt in der Schweiz wieder nach Rom zurückgekehrt um dort ca. ein ganzes weiteres Jahr zu bleiben. Schließlich will sie für zwei Monate nach Frankreich und sodann circa 13 Monate in Schweden gewesen sein um abermals für eine Woche nach Rom zurückzukehren. Hätte die geltend gemachte posttraumatische Erkrankung - nunmehr nach durch nichts belegtem Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin zu 1. vom 15. Juli 2014 eine depressive Störung mit Suizidneigung- bereits jeweils in den anderen Ländern, insbesondere in Italien -wo die Antragstellerin insgesamt über anderthalb Jahre war- vorgelegen, hätte nichts näher gestanden, diese bereits zu Anfang beim Bundesamt geltend zu machen. Von etwaigen eigenen Erkrankungen war bei der Antragstellung dort im Juli 2013 indes ebensowenig wie im gesamten Verwaltungsverfahren die Rede (Anhörung am 18. Juli 2013: „Ich fühle mich gesund … Ich bin nicht behandlungsbedürftig erkrankt“). Es drängt sich daher der Eindruck einer bloßen Gefälligkeitsbescheinigung auf.
69Selbst wenn die behauptete Erkrankung aber unterstellt würde, ist weiter nicht nachvollziehbar vorgetragen, diese sei in Italien nicht behandelbar bzw. auch eine entsprechende Medikamentation unmöglich. Nach der derzeitigen Erkenntnislage trifft das nicht zu. Die Gesundheitsversorgung und der Zugang zu ihr ist in Italien für anerkannte Flüchtlinge trotz zuweilen auftretender zumutbarer praktischer Erschwernisse hinreichend gewährleistet. Es wurde bereits dargelegt, dass einem anerkannten Schutzberechtigten auch bei der medizinischen Versorgung dieselben Rechte wie italienischen Staatsangehörigen zustehen. Die -dem Flüchtling ohne Weiteres zumutbare- Anmeldung beim Servizio Sanitario Nazionale ist obligatorisch und ermöglicht die Ausstellung eines Gesundheitsausweises, der zur Behandlung bei einem praktischen Arzt, Kinderarzt, in Ambulanzen und bei Spezialisten oder zur Aufnahme in ein Krankenhaus berechtigt (siehe zuvor A. II. 1. b. aa.). Es existiert ferner kostenfreier Zugang zu allen medizinischen öffentlichen Leistungen (Arzt, Zahnarzt, Krankenhaus); die stets bestehende Notambulanz ist -ungeachtet einer Registrierung - für alle Personen ebenfalls kostenfrei zugänglich,
70vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Januar 2013, Ziff. 6.2, 7., 8.1; borderline-europe e.V. vom Dezember 2012, S. 46.
71Eine ärztliche Versorgung ist ausweislich der Erkenntnislage auch gewährleistet, sofern es um die Behandlung von psychischen bzw. traumatischen Erkrankungen geht,
72vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Januar 2013, Ziff. 8.1; Bericht der Deutschen Botschaft „Sozialpolitische Informationen Italien“ aus Januar 2012, S. 25f.
73Es ist danach nicht erkennbar, die Antragstellerin zu 1. könnte in Italien unzureichend behandelt werden, bestünde denn ihre (behauptete) Erkrankung tatsächlich. Schließlich lassen ihre Ausführungen beim Bundesamt (etwa im Jahre 2009/2010 sehr schlechte Lage im Asylheim in Italien, erforderliche neue Unterkunft nach sechs Monaten, zwei Monate keine Sozialhilfe) eine besondere Schutzbedürftigkeit hier nicht erkennen.
74Hinsichtlich des etwas über fünfzigjährigen Antragstellers zu 2. ist ebenso nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich, dass nicht jedenfalls er sich um den Lebensunterhalt und die Versorgung seiner Familie wird kümmern können. Auch seine Ausführungen beim Bundesamt lassen eine besondere Schutzbedürftigkeit nicht erkennen (Anhörung am 18. Juli 2013: „Ich fühle mich gesund … Ich bin nicht behandlungsbedürftig erkrankt“); schließlich hat der Antragsteller zu 2. -wie übrigens die Antragstellerin zu 1. auch- bei seiner dortigen Anhörung keine Einwände erhoben, dass sein Antrag in Italien wieder geprüft werde (Anhörung Frage 24).
75Endlich begründet allein die Minderjährigkeit der Antragsteller zu 3. (ca. 5 Jahre) und 4. (ca. 4 Jahre) eine besondere Schutzbedürftigkeit nicht. Sie sollen gemeinsam mit ihren Eltern, den Antragstellern zu 1. und 2., nach Italien zurückgeführt werden; Anhaltspunkte für -hinreichend beachtliche- Erkrankungen bei dem Antragsteller zu 4. sind weder vorgebracht noch ersichtlich. Hinsichtlich des Antragstellers zu 3. liegt offenbar eine Entwicklungsstörung des Sprechens oder der Sprache (Dyslalie sowie Dysgrammatismus) vor, wobei neurologische oder sonstige pädiatrische Besonderheiten nicht festgestellt wurden (siehe Heilmittelverordnung vom 21. Mai 2014). Als Therapieziel wurde die „Verbesserung / Normalisierung sprachl. / kommunikativer Fähigkeiten“ benannt. Im Attest des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin vom 22. Mai 2014 wurde ferner, noch ohne nähere Ausführungen dazu „frühkindlicher Autismus“ (in dem Überweisungsschein an die Ausländerbehörde hieß es einen Tag zuvor noch zum frühkindlichen Autismus „z.A.“ [zur Abklärung]) sowie eine „Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn der Kindheit“ diagnostiziert und diverse -nicht medikamentöse- Therapiemaßnahmen vorgeschlagen (u.a. Einzeltherapie mit begleitender Elternarbeit; Kooperation der Therapeuten mit dem Kindergarten bzw. dem Sozialamt; Gewährleistung eines Lebensortes, der das Risiko der Störungen minimiere). Auch diese diagnostizierten Erkrankungen -ihr Vorliegen unterstellt- können in Italien hinreichend behandelt werden. Es besteht für anerkannte Schutzberechtigte, wie für italienische Staatsbürger, freie Arztwahl. Zwar muss zunächst -abgesehen von Notfällen- ein Hausarzt aufgesucht werden, der dann eine Überweisung an einen Spezialisten, wie einen Kinderarzt oder das Krankenhaus, vornimmt. Gegebenenfalls muss auch bei Fachärzten mit langen Wartezeiten für Termine gerechnet werden, dies trifft aber Italiener gleichermaßen und ist zumutbar, zumal sich insoweit das System in diesem Punkt nicht grundlegend von dem hiesigen unterscheidet,
76vgl. Bericht der Deutschen Botschaft „Sozialpolitische Informationen Italien“ aus Januar 2012, S. 26; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Januar 2013, Ziff. 6.2.
77Soweit die Antragsteller zu. 3. und 4., die Argumentation des Prozessbevollmächtigten unterstellt, keine in Italien anerkannten Flüchtlinge wären und unter das Regime der Dublin VO fielen (s.o. A II 1 a.), ergäbe sich hier nichts anderes. Ungeachtet dessen, dass die medizinische Behandlung von Personen mit internationalem Schutzstatus den anderen Familienangehörigen, also auch den Antragstellern zu 3. und 4. gleichermaßen zukäme,
78vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Januar 2013, Ziff. 6.2.,
79wäre ohnehin auch hier kein besondere Schutzbedürftigkeit der Antragsteller zu 3. und 4. gegeben, die die Geltendmachung des Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland geböte. Insoweit wird auf die Rechtsprechung der Kammer, die durch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein Westfalen Bestätigung gefunden hat, Bezug genommen und sich diese zu Eigen gemacht. Die behaupteten Erkrankungen wären im Falle des noch laufenden Asylverfahrens behandelbar und auch der Zugang zu einer Behandlung gewährleistet,
80vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 26. April 2013 - 17 K 1777/12.A, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 24. Mai 2013 - 17 K 7223/12.A, juris VG Düsseldorf, Urteil vom 27. August 2013 - 17 K 4737/12.A, juris, jew. m.w.N.; i.Ü. grundsätzlich OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A, juris.
81cc. Schließlich liegt keine (weitere) der vom Bundesverfassungsgericht zur Abschiebungsanordnung nach §§ 34a Abs. 1, 26a AsylVfG gebildeten Fallgruppen zur Bestimmung der Ausnahmen vom „Konzept der normativen Vergewisserung“ vor,
82vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 ‑ 2 BvR 1938/93 –, juris Rn. 189.
83Weder droht den Antragstellern in Italien die Todesstrafe, noch besteht die erhebliche konkrete Gefahr dafür, dass sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Überstellung dort Opfer eines Verbrechens werden, welches zu verhindern nicht in der Macht Italiens steht. Zudem ist nicht ersichtlich, dass Italien selbst zum Verfolgerstaat werden wird.
842. Ebenso steht – nach dem im Eilverfahren angelegten Maßstab der summarischen Prüfung – fest, dass die Abschiebung im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG durchgeführt werden kann.
85a. Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote liegen nicht vor. Für die Antragsteller besteht in Italien keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
86Eine Gefahr im Sinne dieser Norm für die dort benannten Rechtsgüter ist erheblich, wenn eine Beeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände im Zielstaat wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde,
87vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 – 1 C 18.5 –, juris Rn. 15; BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 ‑ 9 C 58.96 –, juris Rn. 13.
88Eine solche Verschlechterung kann zwar grundsätzlich infolge einer schweren psychischen Erkrankung eintreten, dies hat die Antragstellerin zu 1. aber nicht hinreichend dargelegt. Das von ihr vorgelegte Attest vom 29. April 2014 lässt im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung aus den bereits genannten Gründen (s. A II 1 b. bb.) den Schluss auf eine solche Erkrankung gerade mit der notwendigen zielstaatsbezogenen Verschlechterung nicht zu, zumal dort ohnehin nur von einem entsprechenden Verdacht gesprochen wird und die vom Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 15. Juli 2014 behauptete „Behandlungsbedürftige schwere depressive Störung mit Suizidneigung, die die Betreuung und Aufsicht naher Angehöriger“ geböte, durch nichts belegt und daher eine bloße unsubstantiierte Behauptung ist. Das vorzitierte Attest und die sonstigen beigefügten Anlagen geben dafür jedenfalls nichts her. Abgesehen von der fehlenden Glaubhaftigkeit einer psychischen Erkrankung liegen, wie bereits ausgeführt, aber auch keine Anhaltspunkte dafür vor, eine gegebenenfalls erforderliche Behandlung von psychischen Störungen sei in Italien nicht zureichend gewährleistet (vgl. A II 1 b. bb.). Daher drohen der Antragstellerin zu 1. keine der in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beschriebene Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
89Es ist auch nichts dafür erkennbar, der Gesundheitszustand des Antragstellers zu 3. verschlechtere sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derart im Sinne des zuvor genannten Maßstabes bei einer Rückführung nach Italien. Soweit im Attest vom 22. Mai 2014 die Rede davon ist, eine Rückführung der Familie in ihre Heimat würde die Symptomatik verstärken, wird zunächst angemerkt, dass eine Rückführung des Antragstellers zu 3. gemeinsam mit seiner Familie in einen sicheren Mitgliedstaat der Europäischen Union ansteht, nicht aber die Abschiebung in die Heimat - nämlich Syrien - selbst. Unbeschadet dessen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit nicht, dass bei einem Aufenthalt im Zielland Italien die entsprechenden Gefahren drohten. Denn auch die Erkrankung des Antragstellers zu 3. (vgl. zu ihr bereits unter A II 1 b. bb.) kann in Italien behandelt werden, insbesondere ist eine kinderärztliche Betreuung sowie sind sonstige adäquate medizinische Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeiten -wie dort für Inländer- gegeben und zugänglich,
90vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Januar 2013, Ziff. 6.2, 7., 8.1.
91Soweit im Attest vom 22. Mai 2014 weiter ausgeführt wird, „nur ein dauerhafter Aufenthaltsstatus der Familie in der Bundesrepublik Deutschland kann zu einer positiven Veränderungen der o.g. Störungen des Kindes beitragen“, wird darauf hingewiesen, dass es für den bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegenden Maßstab auf die besondere Intensität der Beeinträchtigung im Zielstaat -Italien- ankommt und nicht auf eine hiesige mögliche Verbesserung. Denn der Asylbewerber bzw. anerkannt Schutzberechtigte muss sich grundsätzlich auf den Behandlungs- und Medikamentationsstandard im Überstellungsstaat verweisen lassen, selbst wenn dieser dem hiesigen Niveau -wofür aber keine Anhaltspunkte ersichtlich sind- nicht entsprechen sollte,
92vgl. -zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990, heute § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG- OVG NRW, Beschluss vom 5. August 2004 - 13 A 2160/04.A, juris.
93Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung mehr, ob den Antragstellern zu 1. und 3. nicht von vornherein die Berufung auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund der Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG versagt bliebe, weil die eventuellen Schwierigkeiten, die bei der Gewährung medizinischer Versorgung und Medikamentation mit möglicherweise daraus resultierenden Beeinträchtigungen bestünden (etwa Eigenbeteiligungen an bestimmten Medikamenten, sog. „tickets“ bei Eigenbeteiligungen an bestimmten Behandlungen, vgl. Bericht der Deutschen Botschaft „Sozialpolitische Informationen Italien“ aus Januar 2012, S. 25, 27), nicht individuell, sondern allgemein für die Bevölkerungsgruppe aller ganz oder nahezu mittellosen Kranken in Italien drohten,
94vgl. in diese Richtung VG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Januar 2013 - 6 L 104/13.A, juris (noch zu § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG a.F.); zuletzt so für Bulgarien die erkennende Kammer, Beschluss vom 14. Juli 2014 - 17 L 870/14.A.
95b. Sofern im Rahmen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vom Antragsgegner auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse und Duldungsgründe zu prüfen wären,
96vgl. so OVG NRW, Beschluss vom 30. August 2011 – 18 B 1060/11 –, juris Rn. 4,
97stünden solche nicht entgegen. Etwas anderes ergibt sich nicht im Hinblick auf die behauptete Erkrankung der Antragstellerin zu 1. Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis in Form von Reiseunfähigkeit liegt nur vor, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers unmittelbar durch die Ausreise bzw. Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon voraussichtlich wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern wird. Das ist bei einer psychischen Erkrankung etwa der Fall, wenn im Rahmen einer Abschiebung das ernsthafte Risiko einer Selbsttötung gegeben ist und keine hinreichenden Vorkehrungen getroffen werden können, die das Risiko im Falle der Abschiebung verlässlich ausschließen,
98vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Mai 2007 - 19 B 352/07 -, juris Rn. 5 m.w.N.
99Im Hinblick auf die Antragstellerin zu 1. sind eine im vorgenannten Sinne beachtliche Erkrankung und das ernsthafte Risiko, ihr Zustand würde sich bei einer Abschiebung wesentlich oder lebensbedrohlich verschlechtern, nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Dem vorgelegten Attest vom 29. April 2014 sind keinerlei konkreten Angaben über die Reise(un)fähigkeit zu entnehmen. Selbst die behauptete psychische Erkrankung unterstellt, führte diese nicht zwingend zu einer Reiseunfähigkeit. In diesem Zusammenhang wird angemerkt, dass alle hiesigen Antragsteller im EU-Raum bereits eine offenbar problemlos von ihrer Konstitution mögliche rege gemeinsame Reisetätigkeit in den letzten Jahren entwickelt haben (Aufenthalt in Italien mit zweimaliger Rückkehr dorthin, Schweiz, Frankreich, Schweden und der Bundesrepublik Deutschland). Die pauschale Behauptung der Suizidgefährdung ist im Übrigen durch nichts belegt. Unabhängig davon und ein Suizidrisiko einmal unterstellt, ist schließlich mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dieser Gefahr könnte im Rahmen der Rückführungsmaßnahme durch ärztliche Hilfe oder in sonstiger Weise wirksam begegnet werden.
100Hinsichtlich des minderjährigen Antragstellers zu 3. sind ebenfalls keine inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse ersichtlich. Reiseunfähigkeit ist schon im Ansatz nicht erkennbar. Wie sich unmittelbar durch eine Rückführung oder als unmittelbare Folge dieser der Gesundheitszustand des Antragstellers zu 3., der im Kern an einer sprachlichen Entwicklungs- und Verhaltensstörung, ggf. einem frühkindlichen Autismus leidet, wesentlich oder gar lebensbedrohlich Verschlechtern soll, bleibt der Antragsteller (und bleiben die Atteste) schuldig.
101Für sonstige Abschiebungshindernisse ist im Übrigen nichts ersichtlich.
102B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert beruht auf § 30 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz.
103C. Mangels hinreichender Erfolgsaussichten in der Hauptsache war auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen, § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 Zivilprozessordnung.
104Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.
Gründe
- 1
Die Antragsteller wenden sich mit ihrem - gleichzeitig mit der Klage (9 A 437/14 MD) - am 14.11.2014 beim Gericht eingegangenen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.11.2014, mit welchem festgestellt wird, dass den Antragstellern in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zusteht (Ziffer 1) sowie die Abschiebung der Antragsteller nach Bulgarien angeordnet wurde (Ziffer 2).
- 2
Der neben einem Prozesskostenhilfegesuch am 14.11.2014 sinngemäß gestellte Antrag,
- 3
die aufschiebende Wirkung der Klage (Az.: 9 A 437/14 MD) der Antragsteller vom 14.11.2014 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.11.2014 anzuordnen, soweit hiermit die Abschiebung nach Bulgarien angeordnet wird,
- 4
hat Erfolg.
- 5
Der Antrag ist zulässig, insbesondere gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG in der Fassung des Artikel 1 Nummer 27 des Gesetzes zur Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl I vom 5. September 2013, S. 3474) i. V. m. § 80 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 S. 1 1. Alt. VwGO statthaft, soweit er sich gegen die unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides angeordnete Abschiebung nach Bulgarien richtet.
- 6
Der Antrag ist auch begründet. Für eine nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffende Entscheidung ist maßgebend, ob das private Interesse der Antragsteller, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse am Vollzug des Verwaltungsaktes überwiegt. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs vorrangig zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, B. v. 14.04.2005, 4 VR 1005/04, Juris). Hat der Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg, weil der angegriffene Verwaltungsakt fehlerhaft ist, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das öffentliche Vollzugsinteresse. Der Antrag ist dagegen in aller Regel unbegründet, wenn der Antragsteller im Verfahren der Hauptsache aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben wird, insbesondere, wenn die angegriffene Verfügung derzeit als rechtmäßig zu beurteilen ist. Denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes besteht jedenfalls dann regelmäßig ein besonderes öffentliches Interesse, wenn diese Rechtswirkungen bereits kraft Gesetzes bestehen.
- 7
Bei einem offenem Ausgang des Klageverfahrens ist im Rahmen der Interessenabwägung zwar stets zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber in den Fällen, die – wie hier – nicht von § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfasst werden, einen grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses angeordnet hat (s. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) und es deshalb besonderer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen. Gleichwohl ist der Rechtsschutzanspruch umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die dem Einzelnen auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Behörde Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfG, B. v. 10. 10. 2003, 1 BvR 2025/03, Juris). Deshalb ist wegen der mit der Abschiebung verbundenen (relativen) Unabänderbarkeit bereits dann das Aussetzungsinteresse höher als das nur zeitweilige Absehen von der Abschiebung zu bewerten, wenn infolge derselben eine Verletzung von Grundrechten nach der EU-Grundrechte-Charta nicht ausgeschlossen werden kann (so auch VG Siegmaringen, Beschluss vom 14.07.2014, A 1 K 254/14). Für einen offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens kann auch sprechen, wenn die beachtliche Frage in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (derzeit noch) gegensätzlich beurteilt wird (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 24.07.2014, A 1 B 131/14, juris).
- 8
Die Abschiebungsanordnung begegnet bei summarischer Prüfung jedenfalls derzeit ernstlichen Zweifeln hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit. Zwar dürften die Verhältnisse in Bulgarien nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln einer Abschiebung von anerkannten Flüchtlingen nach Bulgarien nicht entgegenstehen (1.). Die konkrete Situation der Familie der Antragsteller lässt es hier aber nicht ausgeschlossen erscheinen, dass die besonderen Bedürfnisse der schutzbedürftigen Personengruppen nach Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU im Fall der Rückführung nicht hinreichend beachtet werden, mithin nicht sichergestellt ist, dass eine rechtsverletzungsfreie Rücküberstellung der Antragsteller zu 3. und 4., die dieser Personengruppe angehören, erfolgt, was zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führt (2.).
- 9
1. Gleichwohl ist Folgendes voranzustellen:
- 10
Die Antragsgegnerin hat die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung dem Grunde nach zu Recht auf § 34a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 26a Abs. 1 AsylVfG gestützt. Zuvorderst ist bei summarischer Prüfung festzustellen, dass aufgrund der erfolgten Asylantragstellung (vgl. § 13 AsylVfG) die Zuständigkeit der Antragsgegnerin zu bejahen ist und es damit keiner Rückkehrentscheidung nach Art. 6 der Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bedarf.
- 11
Soll ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat i.S.d. § 26a AsylVfG abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG kann sich ein Ausländer, der aus einem Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG (sicherer Drittstaat) eingereist ist, nicht auf das Asylgrundrecht berufen. Er wird nicht als Asylberechtigter anerkannt (vgl. § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylVfG).
- 12
a. Die Möglichkeit der Anordnung der Abschiebung in den sicheren Drittstaat wird nicht nach § 26a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG durch europarechtliche Vorschriften – insbesondere nicht die Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO) – verdrängt. Voranzustellen ist insoweit, dass gemäß Art. 49 Satz 2 Dublin-III-VO die Verordnung zwar auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar ist, die ab dem 01.01.2014 gestellt werden, wobei unter Antrag i.S.v. dieser Vorschrift derjenige zu verstehen ist, der Anlass für die Frage nach der Geltung des Dublinsystems ist (vgl. VG Magdeburg, Beschuss vom 21.10.2014 – 9 B 373/14 MD –, n.v.), mithin der von den Antragstellern am 07.05.2014 gestellte Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland. Die Dublin-III-VO findet jedoch auf Personen, denen – wie den Antragstellern mit Entscheidung vom 31.01.2014 – die Flüchtlingseigenschaft i.S.d. Art. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zuerkannt worden ist, keine Anwendung (vgl. (VG Berlin, Beschluss vom 14.10.2014 – 23 L 489.14 A –, m.w.N., juris; Bender/Bethke, Dublin III, Eilrechtsschutz und das Comeback der Drittstaatenregelung - Elf Thesen zu den aktuellen Änderungen bezüglich innereuropäischer Abschiebungen, Asylmagazin 11/2013, Seite 358, 359). Aus der Systematik der Dublin-III-VO ergibt sich, dass sie nur auf Personen anwendbar ist, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, über den entweder noch nicht oder - zumindest teilweise - negativ entschieden wurde. So lässt sich der Dublin III-Verordnung keine Bestimmung entnehmen, die den zuständigen Mitgliedstaat dazu verpflichtet, eine Person aufzunehmen, deren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes – wie hier – bereits vollumfänglich stattgegeben wurde. Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO sieht eine Verpflichtung zur Aufnahme vielmehr nur dann vor, wenn und soweit die betreffende Person in dem zuständigen Staat noch nicht oder abschlägig beschieden wurde. Nicht geregelt ist hingegen der Fall, dass der zuständige Staat dem Schutzbegehren bereits entsprochen hat. Bei dem erneuten Asylantrag einer Person, die bereits als Flüchtling i.S.d. Art. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2011/95/EU anerkannt wurde, handelt es sich folgerichtig auch nicht um einen Folge- oder einen Zweitantrag im Sinne der §§ 71, 71a AsylVfG, die vom Anwendungsbereich der Dublin-III-VO erfasst werden (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 14. 14.10.2014 – 23 L 489.14 A –, juris VG Cottbus, Beschluss vom 11. Juli 2014 – 5 L 190/14.A, zit. nach juris, Rn. 15). Denn der Folge- und der Zweitantrag beziehen sich auf Konstellationen, in denen ein früherer Asylantrag zurückgenommen, unanfechtbar abgelehnt bzw. in denen ein Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat erfolglos abgeschlossen wurde. Diese Fallgestaltungen sind bei einer vollumfänglichen Stattgabe des Schutzgesuchs nicht einschlägig (VG Berlin, Beschluss vom 14.10.2014 – 23 L 489.14 A –, juris). Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch die Vorgängerverordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO) kein anderes Ergebnis begründet hätte. Denn die Zuständigkeitsnormen der Dublin II-VO fanden ebenfalls keine Anwendung, wenn ein erneut Schutzsuchender bereits in einem anderen Mitgliedsstaat als Flüchtling anerkannt wurde (anders bei lediglich subsidiär Schutzberechtigen, vgl. hierzu: VG Magdeburg, Beschluss vom 21.10.2014 – 9 B 373/14 MD – n.v.).
- 13
Ergibt sich danach, dass insbesondere die Dublin III-VO auf den vorliegenden Fall keine Anwendung findet, kommt es auf die Einhaltung der dort festgelegten Verfahrensvorschriften nicht an.
- 14
b. Bulgarien ist nach dem im Eilverfahren anzulegenden Prüfungsmaßstab dem Grunde nach "sicherer Drittstaat" im Sinne von § 26a AsylVfG i.V.m. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG.
- 15
Konsequenz des mit der Einreise über einen sicheren Drittstaat verbundenen materiellen Asylausschlusses ist, dass es der Antragsgegnerin nicht prüft, ob das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Bulgarien systemische Mängel aufweist. Denn der Bezugspunkt für die Beurteilung des hinreichenden Schutzes hängt davon ab, ob der Ausländer bereits einen Schutzstatus in dem Land, in das er abgeschoben werden soll, erhalten hat oder nicht. Nur in letzterem Fall ist darauf abzustellen, ob das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische, dem ersuchenden Mitgliedstaat nicht unbekannte Mängel aufweisen, die für den Asylbewerber eine tatsächliche Gefahr begründen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem ersuchten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 / Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) bzw. dem inhaltsgleichen Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, juris Rn. 78 f., 84 ff. und 94; VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 – 17 L 1018/14.A –, juris).
- 16
Hat der Ausländer indes – wie hier – bereits einen Schutzstatus erhalten, kommt es allein darauf an, ob der gebotene Inhalt des jeweiligen Schutzstatus hinreichend eingehalten wird oder ein Verstoß gegen die GFK vorliegt bzw. für den Inhaber des Schutzstatus eine tatsächliche Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem ersuchten Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 / Art. 19 Abs. 2 Grundrechtecharta bzw. dem inhaltsgleichen Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Der Umfang/Inhalt des gewährten Schutzes richtet sich nach Art. 20 ff. Flüchtlingsschutz-Richtlinie 2011/95 EU.
- 17
Wegen des allein summarischen Prüfungsmaßstabes soll hier offenbleiben, ob die „sichere Drittstaatenregelung“ des § 26a AsylVfG in Entsprechung des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93) bzw. des unionsrechtlichen Prinzips des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 –, juris) dazu führt, dass die Annahme besteht, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Richtlinie 2011/95/EU, der GFK sowie in der EMRK finden, beachten und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen, mit der Folge, dass unter diesen Bedingungen die - freilich widerlegbare - Vermutung gilt, die Behandlung der Antragsteller als schutzberechtigt anerkannte Ausländer stehe in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den genannten Rechten (zustimmend: VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 – 17 L 1018/14.A –, juris; a.A. Marx, Spontane Binnenwanderung international Schutzberechtigter in der Union, InfAuslR 2014, 227 ff.). Denn es bestehen nach der aktuellen Auskunftslage bei der gebotenen summarischen Prüfung keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Verhältnisse in Bulgarien – mit Ausnahme solcher für besonders schutzbedürftige Personengruppen (vgl. Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95 (EU)) – hinter dem unionsrechtlich vorgesehenen Flüchtlingsschutz zurückbleiben, mithin tatsächlich die Gefahr besteht, dass anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung ausgesetzt sind. Dies hat im Regelfall zur Folge, dass eine Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylVfG erlassen werden darf.
- 18
Soweit die Genfer Flüchtlingskonvention für anerkannte Flüchtlinge Wohlfahrtsregelungen enthält (Art. 20 ff. GFK), die vom anerkennenden Drittstaat zu beachten sind, gehen diese im Wesentlichen über Diskriminierungsverbote gegenüber den jeweiligen Inländern nicht hinaus. Namentlich im Bereich der öffentlichen Fürsorge und der sozialen Sicherheit verpflichtet die GFK den Drittstaat zur Inländergleichbehandlung (vgl. Art. 23, 24 GFK). Anhaltspunkte dafür, dass die Verpflichtung zur Inländergleichbehandlung nicht beachtet wird, sind vorliegend weder ersichtlich noch werden sie von den Antragstellern substantiiert behauptet.
- 19
Für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anerkannter Flüchtlinge in Bulgarien im Sinne von Art. 3 EMRK ist gleichfalls nichts ersichtlich. Der Inhalt des internationalen Flüchtlingsschutzes wird unionsrechtlich vorgegeben durch die Regelungen in Art. 20 bis 35 der Richtlinie 2011/95/EU. So gelten einheitliche Vorgaben etwa für die Erteilung des Aufenthaltstitels (Art. 24) und der Reisedokumente (Art. 25 Abs. 1). Einem anerkannten Schutzberechtigten stehen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung (Art. 26), zur Bildung (Art. 27), zum Erhalt von Sozialhilfeleistungen (Art. 29) und medizinischer Versorgung (Art. 30) dieselben Rechte wie den jeweiligen Staatsangehörigen zu (VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juli 2014 – 17 L 1018/14.A –, juris).
- 20
Im Hinblick auf Bulgarien ist zwar festzustellen, dass die Lebensbedingungen (auch) für Personen mit zuerkannter Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiärem Schutzstatus dort nach den gegebenen Erkenntnissen prekär sind. Weder ist aber eine Verletzung der in Art. 26 ff. der Richtlinie 2011/95/EU vorgesehenen Gleichbehandlungsgebote erkennbar noch herrschen in Bulgarien derart handgreiflich eklatante Missstände, die die Annahme rechtfertigten, anerkannte Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigte würden einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt und den Antragstellern müsste unabweisbar Schutz gewährt werden. Eine solche Behandlung muss vielmehr ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK zu gelten. Dieses Mindestmaß erreichen die Verhältnisse, denen anerkannte Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigte in Bulgarien ausgesetzt sind, nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht. Der UNHCR schildert in seinem Bericht "Current Situation of Asylum in Bulgaria" zwar Schwierigkeiten anerkannter Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigter in Bulgarien (vgl. UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria, Stand: April 2014, Ziff. 2.7.). So bestünde eine bis zu zweimonatige Lücke bei der Gesundheitsversorgung in der Zeit zwischen Anerkennung als Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte aufgrund der Änderung ihres Status im System. Sie hätten außerdem - wie die bulgarischen Staatsangehörigen auch - einen monatlichen Beitrag von umgerechnet 8,70 Euro für die Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen, von der indes Medikamente und psychologische Betreuung nicht eingeschlossen seien. Berichtet wird außerdem von Schwierigkeiten, eine gesicherte Beschäftigung zu erlangen. Neben der schwierigen wirtschaftlichen Situation seien einige strukturelle Hindernisse wie etwa die fehlende Anerkennung von Vorkenntnissen zu überwinden. Es fehle an gezielter Unterstützung. Außerdem mangele es an angemessenem und bezahlbarem Unterkünften, was eine Integration erschwere. Ohne externe Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Unterkünften seien die Statusinhaber auf die weitere Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen angewiesen, wo sie kaum Möglichkeit zur Integration in die bulgarische Gesellschaft hätten. Auch die für eine erfolgreiche Integration erforderliche Bildung der Schutzberechtigten, insbesondere der Kinder, sei verbesserungswürdig. Zwar hätten die Statusinhaber – wie Asylsuchende – unter 18 Jahren nach bulgarischem Recht im gleichen Maße Zugang zu Bildung wie bulgarische Staatsbürger. Voraussetzung für den Antritt des Schulbesuchs sei jedoch die erfolgreiche Teilnahme an einem SAR-Sprachkurs, der nur in einer Aufnahmeeinrichtung vorgehalten werde. In den übrigen Einrichtungen würden informelle Sprachkursen erteilt, die vom UNHCR finanziert und von der Caritas durchgeführt würden. Deren Anerkennung sei derzeit noch nicht sichergestellt.
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Die aufgezeigten Defizite lassen nicht den Schluss zu, dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vorliegt, zumal der UNHCR die Bemühungen Bulgariens an der Einrichtung eines neuen Integrationsprogramms begrüßt und zur raschen Umsetzung des Programms, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Bildung, Unterkunft und Lebensunterhalt aufruft. Art. 3 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten nicht etwa dazu, Schutzberechtigte finanziell zu unterstützen, um ihnen einen gewissen Lebensstandard einschließlich bestimmter Standards medizinischer Versorgung zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30969/09 -, juris dort Rdnr. 249). Generell reicht die drohende Zurückweisung in ein Land, in dem die eigene wirtschaftliche Situation schlechter sein wird als in dem ausweisenden Vertragsstaat nicht aus, die Schwelle der unmenschlichen Behandlung, wie sie von Art. 3 EMRK verboten wird, zu überschreiten (vgl. EGMR, Beschluss vom 2.04.2013 - 27725/10 -, juris). Art. 3 EMRK ist im Kern ein Abwehrrecht gegen unwürdiges Staatsverhalten im Sinne eines strukturellen Versagens bei dem durch ihn zu gewährenden angemessenen materiellen Mindestniveau und weniger ein individuelles Leistungsrecht einzelner Antragsteller auf bestimmte materielle Lebens- und Sozialbedingungen selbst (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15.04.2013 - 17 L 660/13.A -, juris Rn. 43, m.w.N.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 04.11.2014 – 17 L 2342/14.A –, juris). Anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien müssen sich nach alledem auf den dort für alle bulgarischen Staatsangehörigen geltenden Versorgungsstandard verweisen lassen, auch wenn dieser dem hiesigen Niveau nicht entspricht (zu Italien: VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 – 17 L 1018/14.A –, juris, m.w.N.). Dass einem anerkannten Flüchtling in Bulgarien hinsichtlich Aufenthalts, Freizügigkeit, Zugang zu Arbeit und medizinischer Versorgung nicht dieselben Rechte wie bulgarischen Staatsangehörigen zustehen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
- 22
2. Die Antragsteller zu 3. und 4. gehören jedoch zu einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe, was derzeit dem Erlass der Abschiebungsanordnung entgegensteht. Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen kann es im Einzelfall aus individuellen, in der Person der Antragsteller liegenden Gründen – wenn auch nur vorübergehend – geboten sein, von Überstellungen in den anderen Mitgliedstaat abzusehen. Anhaltspunkt für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls kann geben, ob einer der Antragsteller Personen mit besonderen Bedürfnissen gemäß Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU ist und er nach einer Einzelfallprüfung (Art. 20 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU) entsprechend einzustufen ist (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 – 17 L 1018/14.A –, juris).
- 23
Dies ist vorliegend der Fall. Denn die Antragsgegnerin hat beim Erlass der Abschiebungsanordnung nicht berücksichtigt, dass der dreijährige Antragsteller zu 3. und der elf Monate alte Antragsteller zu 4. als Minderjährige einer schutzbedürftigen Personengruppe nach § 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU angehören. Nach der aktuellen Auskunftslage (s.o. UNHCR-Bericht von April 2014) bestehen jedoch greifbare Anhaltspunkte dafür, dass eine gesicherte Unterkunft der Antragsteller bei ihrer Rückkehr nach Bulgarien nicht zur Verfügung steht. Dementsprechend hat die Antragsgegnerin in Abstimmung mit den bulgarischen Behörden Vorkehrungen für die Rückkehr der Antragsteller zu treffen, die eine gesicherte Unterkunft einschließen, um insbesondere erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren für diese in besonderen Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Nichtannahmebeschluss vom 17.09.2014 – 2 BvR 732/14 – juris) geht das Gericht davon aus, dass geeignete Vorkehrungen zum Schutz der von der Rückführung betroffenen Kleinkinder zu treffen sind; so ist es – wie hier – im Einzelfall geboten, dass die deutschen Behörden vor einer Rückverbringung mit den im Zielstaat zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen, den Sachverhalt klären und zum Schutz der Ausländer Vorkehrungen treffen. Bereits im Rahmen des Verfahrens auf Erlass einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylVfG ist mit Blick auf den Wortlaut der Vorschrift zu prüfen, ob „feststeht“, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Die Antragsgegnerin hat damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt (vgl. BVerfG, a.a.O.). Dies gilt nicht nur hinsichtlich – wie hier – bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen (vgl. BVerfG, a.a.O.).
- 24
Zwecks Sicherstellung effektiven Rechtschutzes ist es wegen der nicht ausschließlich in der Sphäre der Antragsgegnerin liegenden Maßnahmen, die eine zureichende Abstimmung/Zusicherung der bulgarischen Behörden voraussetzt, im vorliegenden Einzelfall notwendig und angemessen, nicht lediglich ein bloßes Maßnahmengebot i.S.d. § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO bei Ablehnung des vorläufigen Rechtschutzantrags zu statuieren, sondern vor der beabsichtigen Abschiebung deren Durchführung und Überwachung (insbesondere durch Garantien der bulgarischen Behörden) einzufordern. Das bisherige Vorbringen der Antragsgegnerin – insbesondere auch in parallel gelagerten Fällen – zugrunde gelegt, ist nämlich nicht erkennbar, dass sie bereits geeignete Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den bulgarischen Behörden eingeleitet hat, zumal sie sich der besonderen Schutzbedürftigkeit der Personengruppe nicht hinreichend bewusst ist.
- 25
Abschließend weist das Gericht darauf hin, dass dem Umstand, dass Bulgarien zwecks Rückführung der Antragsteller auf die Grenzpolizei/das Ministerium des Innern in seinen undatierten Schreiben (Beiakte A, Bl. 132 und 133) unter Ablehnung der Rückführung nach Dublin III-VO verweist, nicht zu entnehmen ist, dass die Abschiebung – bei Beachtung des oben dargestellten vorab zu treffenden Maßnahmen – als solche nicht durchgeführt werden kann. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG verlangt für den Erlass der Abschiebungsanordnung, dass feststehen muss, dass die Abschiebung auch tatsächlich durchgeführt werden kann. Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsanordnung ist danach, dass die Übernahmebereitschaft des Drittstaates, in den abgeschoben werden soll, abschließend geklärt ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 01.02.2012 – OVG 2 S 6.12 – juris, Rdnr. 4; vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 – 2 BvR 19398/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 – juris, Rdnr. 156). Dies ist hier der Fall. Denn die Rückführung der Antragsteller richtet sich nach dem bilateralen deutsch-bulgarischen Abkommen über die Übernahme und Durchbeförderung von Personen (Rücknahmeabkommen) vom 07.03.2006 (BGBl. 2006 Teil II Nr. 8 Seite 259 ff.). Danach ist Bulgarien grundsätzlich verpflichtet, auch die Antragsteller wieder aufzunehmen. Nach Art. 5 ff. Rücknahmeabkommen, der die Übernahme von Personen betrifft, die – wie die Antragsteller – nicht die deutsche oder bulgarische Staatsangehörigkeit besitzen, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen für ein Übernahme der Antragsteller nicht vorliegen, insbesondere die sich danach ergebenen Fristen nicht mehr eingehalten werden können. Danach muss innerhalb von 12 Monaten nach Kenntnis der zuständigen Behörden ein Übernahmeersuchen gestellt werden, dessen Beantwortung spätestens innerhalb von 14 Tagen zu erfolgen hat, wobei die Zustimmung nach Ablauf der Frist als erteilt gilt. Mit der Zustimmung zur Übernahme kann die betreffende Person unverzüglich in das Hoheitsgebiet der ersuchten Vertragspartei innerhalb einer Frist von drei Monaten zurückgeführt werden, wobei bei rechtlichen oder tatsächlichen Hindernissen für die Übergabe auf Antrag der ersuchenden Vertragspartei die Frist verlängert werden kann (vgl. Art. 7). Dies zugrunde gelegt, ist davon auszugehen, dass die Übernahmebereitschaft Bulgariens abschließend geklärt ist, ohne dass dies zuvor für den vorliegenden Einzelfall nochmals geprüft werden muss (a. A. wohl Trier, Beschluss vom 16.04.2014 – 5 L 569/14.Tr – juris, Rdnr. 52). Denn die Übernahmebereitschaft setzt nicht ausnahmslos voraus, dass eine ausdrückliche positive Erklärung des ersuchten sicheren Drittstaates gegenüber der Bundesrepublik Deutschland abgegeben wurde, soweit eine gesicherte Verwaltungsübung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Drittstaat besteht, dass unter bestimmten Voraussetzungen und bei Vorliegen bestimmter Beweismittel hinsichtlich eines Voraufenthaltes im Drittstaat der betreffende Flüchtling ohne weiteres und unverzüglich aufgenommen werden kann (Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Juni 2014, zu § 34a Rn. 20). So liegt der Fall nach dem oben Gesagten hier. Zweifel an der Rückübernahmebereitschaft werden nicht durch die Erklärungen der bulgarischen Behörden im Dublin-Verfahren begründet. Die bulgarischen Behörden haben hier auf die – im Rahmen eines Dublin-Verfahrens eingeleiteten – Überstellungsgesuche lediglich darauf hingewiesen, dass die Überstellung der Antragsteller in den Geschäftsbereich der Grenzpolizei falle und dort abzuwickeln sei, weil die Asylverfahren mit der Anerkennung der Antragsteller als Flüchtling abgeschlossen worden sei. Dies stellt die Übernahmebereitschaft Bulgariens aber nicht in Frage; vielmehr hat die bulgarische Behörde lediglich auf die innerstaatliche Zuständigkeit einer anderen Behörde hingewiesen und ihre Übernahmeverpflichtung als solche nicht verneint (vgl. dazu bei vollumfänglicher Verneinung der Übernahmeverpflichtung: VG Magdeburg, Beschluss vom 21.10.2014 – 9 B 373/14 MD – n.v.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
- 27
Die Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe beruht auf §§ 166 VwGO, 114 ff. ZPO.
- 28
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 30. Juni 2014 - A 7 K 880/14 - geändert, soweit es der Klage stattgegeben hat.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Gründe
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Gründe
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Der Beschwerdeführer wendet sich unter Berufung auf Art. 31 Abs. 1 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl II 1953, S. 560 ff., Genfer Flüchtlingskonvention, nachfolgend: GFK) gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen des Gebrauchens unechter Personaldokumente bei der Einreise nach Deutschland.
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I.
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1. Der Beschwerdeführer verließ im Oktober 2009 gemeinsam mit seiner Ehefrau den Iran, um in Deutschland Asyl zu beantragen. Hierzu flogen beide zunächst von Teheran nach Istanbul und setzten von dort aus die Reise unter Inanspruchnahme einer Schlepperorganisation per Kleinbus und Schlauchboot zur Insel Samos/Griechenland fort, wo der Beschwerdeführer durch die Behörden für etwa zehn Tage in Gewahrsam genommen wurde. Nach seiner Freilassung begab er sich zusammen mit seiner Ehefrau nach Athen, wo sich beide für weitere 40 Tage aufhielten. In dieser Zeit bemühte sich der Beschwerdeführer um eine Möglichkeit zur Weiterreise nach Deutschland.
- 3
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Am 27. November 2009 flog der Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau von Athen nach Berlin-Schönefeld. Zum Zweck der Einreise in das Bundesgebiet hatte er in Griechenland für sich und seine Ehefrau gefälschte Personaldokumente - einen angeblich durch die Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Flüchtlingspass sowie eine rumänische Identitätskarte - käuflich erworben. Auf Anraten des Verkäufers zeigte der Beschwerdeführer bei der Einreisekontrolle durch die Bundespolizei die rumänische Identitätskarte vor. Da es sich bei dieser offensichtlich um eine Totalfälschung handelte, wurde der Beschwerdeführer in Gewahrsam genommen. Zu Beginn der Beschuldigtenvernehmung erklärte er, dass er für sich und seine Ehefrau Asyl beantragen wolle. Eine Anordnung der Sicherungshaft zu Zwecken der Zurückschiebung nach Griechenland wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Zossen vom 28. November 2009 abgelehnt, weil der Beschwerdeführer durch das Erstasylbegehren eine gesetzliche Aufenthaltsgestattung erworben hatte (vgl. § 55 Abs. 1 AsylVfG).
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2. Aufgrund der Umstände seiner Einreise nach Deutschland wurde gegen den Beschwerdeführer Anfang 2010 ein Strafverfahren eingeleitet.
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a) Durch Strafbefehl vom 25. März 2010 setzte das Amtsgericht Chemnitz eine Geldstrafe von 75 Tagessätzen à 5,00 Euro wegen unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt und Urkundenfälschung gegen den Beschwerdeführer fest.
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b) In der auf den Einspruch des Beschwerdeführers durchgeführten Hauptverhandlung beschränkte das Gericht gemäß § 154 Abs. 2 StPO die Strafverfolgung auf das Urkundsdelikt, sprach den Beschwerdeführer durch angefochtenes Urteil vom 22. Juli 2010 der Urkundenfälschung in der Tatbestandsvariante des Gebrauchens einer unechten Urkunde schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 8,00 Euro. Eine Auseinandersetzung mit einer möglichen Straffreiheit des Beschwerdeführers gemäß § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK erfolgte nicht.
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c) Gegen das erstinstanzliche Urteil legte der Beschwerdeführer am 29. Juli 2010 Sprungrevision zum Oberlandesgericht Dresden ein, die er mit Schriftsätzen vom 21. und 22. September 2010 begründete. Hierzu machte er geltend, nach seiner Auffassung erstrecke sich der persönliche Strafaufhebungsgrund des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf mögliche Begleitdelikte aufenthaltsrechtlicher Straftaten, die tateinheitlich mit diesen begangen worden seien. Im Ergebnis sei er daher freizusprechen.
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d) Das Oberlandesgericht Dresden verwarf die Revision mit angefochtenem Beschluss vom 18. Januar 2011 einstimmig gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet.
- 9
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Unter Hinweis auf eine Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Dresden führte das Gericht aus, dass Art. 31 Abs. 1 GFK als persönlicher Strafaufhebungsgrund lediglich das Delikt der unrechtmäßigen Einreise erfasse, wohingegen die Strafbarkeit von Begleitdelikten grundsätzlich unberührt bleibe. Insoweit schließe sich der Senat der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts München in seiner Entscheidung vom 29. März 2010 - 5 StRR(II) 79/10 - an. Es liege nicht im Schutzbereich von Art. 31 Abs. 1 GFK, kriminellem Tun Vorschub zu leisten, wie es bei Gebrauch von falschen Personaldokumenten, die entgeltlich von Schleusern erworben worden seien, der Fall sei. Daher könne auch dahinstehen, ob die weiteren Voraussetzungen von Art. 31 Abs. 1 GFK, insbesondere im Hinblick auf die Unmittelbarkeit der Einreise in Anbetracht des längeren Aufenthalts in Griechenland und die Unverzüglichkeit der Antragstellung aufgrund der Möglichkeit zur dortigen Stellung eines Asylantrags, vorliegend überhaupt gegeben seien. Auch die Annahme eines rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB bei der Einreise nach Deutschland und dem Gebrauch der unechten Urkunde komme aus diesem Grund nicht in Betracht.
-
II.
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Mit seiner fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG). Er sei verurteilt worden, obschon der persönliche Strafaufhebungsgrund des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK zu seinen Gunsten zu berücksichtigen gewesen wäre.
- 11
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1. Das Amtsgericht Chemnitz habe sich überhaupt nicht mit der Möglichkeit der Straffreiheit auseinandergesetzt; die rechtlichen Erwägungen des Oberlandesgerichts Dresden würden demgegenüber inhaltlich nicht überzeugen.
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a) Dies gelte zunächst für die Annahme, er - der Beschwerdeführer - habe bereits in Griechenland als sicherem Drittstaat um Asyl nachsuchen können. Dies sei abwegig. Die Unzulänglichkeiten des griechischen Asylverfahrens seien seinerzeit bekannt gewesen. Dies zeige sich bereits daran, dass die zuständige Fachgerichtsbarkeit eine Rückführung nach Griechenland ausgesetzt habe. Deutschland sei zum Zeitpunkt seiner Einreise verpflichtet gewesen, von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II) Gebrauch zu machen, weil Griechenland aufgrund der Finanzkrise nicht mehr in der Lage gewesen sei, die gemeinschaftlichen Mindeststandards für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Wahrung ihrer Rechte im Asylverfahren zu gewährleisten.
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b) Auch die Qualifizierung seines Verhaltens als "kriminelles Tun" und der Ausschluss einer Prüfung des § 34 StGB gehe an der tatsächlichen Sachlage und Notsituation eines Flüchtlings vorbei. Es sei bei der Prüfung des Vorliegens der Notstandslage nicht auf die Situation der konkreten Einreise, sondern auf die Lage im Heimatland abzustellen. Es sei ohnehin schon sehr schwierig, überhaupt ein Asylgesuch anzubringen. Die Vorgehensweise in seinem Fall zeige deutlich, dass die Bearbeitung von Asylgesuchen im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Grenzübertritt nicht immer den rechtlichen Vorgaben entspreche. Zudem sei ihm auch ein Einzelfall bekannt, in dem die Kontrolle der Einreise durch einen privaten Sicherheitsdienst erfolgt sei. In dieser Konstellation habe erst die Vorlage des unechten Personaldokuments zur Weiterleitung an die Bundespolizei und zur Möglichkeit, einen Asylantrag anzubringen, geführt.
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c) Von Verfassungs wegen sei es geboten, den Anwendungsbereich des Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf Begleitdelikte zu erstrecken, die tateinheitlich mit den Einreise- oder Aufenthaltsdelikten verwirklicht würden. Dabei habe eine an den Maßstäben des Völkerrechts orientierte Auslegung zu erfolgen.
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Hierbei sei auch die Übung der Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention zu berücksichtigen. Diese richte sich maßgeblich nach den Vorgaben des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), welcher in einer Stellungnahme vom Mai 2004 von einer Erstreckung auf die Begleitdelikte ausgegangen sei (vgl. hierzu die "Überarbeitete UNHCR-Stellungnahme zur Auslegung und Reichweite des Art. 31 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom Mai 2004", S. 8 f.). Die Vertragsstaaten seien bei der Schaffung der Genfer Flüchtlingskonvention davon ausgegangen, "dass die Einreise mit gefälschten Papieren selbstverständlich von der Straffreiheit umfasst sein müsse". Gleiches gehe auch aus einer Empfehlung des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zur Situation von Flüchtlingen in Ungarn vom November 2010 hervor.
- 16
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2. Hilfsweise sei zumindest eine Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit von Verfassungs wegen geboten gewesen.
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III.
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen einer notwendigen Annahme (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor; eine Annahme ist auch nicht aus anderen Gründen angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, da sie offensichtlich unbegründet ist. Die angefochtenen Entscheidungen des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts beruhen nicht auf einer Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG).
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Auch die Anwendung oder Nichtanwendung eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes auf einen strafrechtlich zu würdigenden Sachverhalt muss sich an Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen (nachfolgend 1.). Zwar haben die staatlichen Gerichte im Falle des Beschwerdeführers die Nichtanwendung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK zumindest teilweise mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt (nachfolgend 2.). Auf einem hierdurch möglicherweise indizierten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG beruhen die Entscheidungen jedoch nicht, weil die Begründung des Oberlandesgerichts die Nichtanwendung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK im Ergebnis noch trägt und bereits nach dem Verfassungsbeschwerdevortrag die Anwendung des persönlichen Strafaufhebungsgrunds auf den konkreten Sachverhalt aus anderen Gründen erkennbar ausscheidet (nachfolgend 3.).
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1. a) Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Für die Rechtsprechung folgt aus diesem Erfordernis ein Verbot strafbegründender oder strafverschärfender Analogie (vgl. BVerfGK 4, 261 <265>; 9, 169 <170>; 14, 12 <15>). Dabei ist Analogie nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht (vgl. BVerfGE 71, 108 <115>), wobei der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist (vgl. BVerfGE 71, 108 <115>; 87, 209 <224>; 92, 1 <12>; 126, 170 <197>).
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b) Auch die in den angefochtenen Entscheidungen der Strafgerichte erfolgte Nichtanwendung des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK muss sich an den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen.
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"Strafbarkeit" im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG bedeutet sowohl die Festlegung des gesetzlichen Tatbestands als auch der Rechtsfolgen, soweit es sich bei diesen um Strafen im Sinne der Auferlegung eines Rechtsnachteils wegen einer schuldhaft begangenen rechtswidrigen Tat handelt. Die Bestimmung des Tatbestands umfasst dabei nicht nur die Regelungen des Allgemeinen Teils und der Tatbestandsmerkmale des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs sowie der Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe (vgl. BVerfGE 104, 92 <108>), sondern auch von Strafbarkeitsbedingungen und Strafausschließungsgründen. Daneben sind auch die Art und Weise der Bestrafung sowie die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolgen in den Garantiegehalt des Art. 103 Abs. 2 GG einbezogen (vgl. BVerfGE 105, 135 <156>). Zusammenfassend gilt das Verbot strafbegründender oder strafverschärfender Analogie damit umfassend auch für die Strafandrohung (vgl. Degenhart, in: Sachs, GG-Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 103, Rn. 61).
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Die völkerrechtlich gemäß Art. 31 Abs. 1 GFK begründete Pflicht der Vertragsstaaten zur strafrechtlichen Privilegierung von Flüchtlingen unter bestimmten, vertraglich festgelegten Voraussetzungen ist von dem deutschen Gesetzgeber durch Schaffung des persönlichen Strafaufhebungsgrunds in § 95 Abs. 5 AufenthG, der auf Art. 31 Abs. 1 GFK verweist, umgesetzt worden (vgl. zur dogmatischen Einordnung als persönlicher Strafaufhebungsgrund: Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 188. Erg. 2012, § 95 AufenthG, Rn. 68; Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 95 AufenthG, Rn. 8; Gericke, in: MüKo-StGB, 2. Aufl. 2013, § 95 AufenthG, Rn. 118). Durch die unverzügliche Meldung des Flüchtlings bei den Behörden und die Darlegung der Gründe, die seine unrechtmäßige Einreise oder seinen unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen, wird zwar weder das bereits verwirklichte Unrecht noch die Verantwortlichkeit des Täters beseitigt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. März 1999 - 1 StR 344/98 -, juris, Rn. 18, zur inhaltsidentischen Vorgängervorschrift in § 92 Abs. 4 AuslG a.F.). Allerdings entfällt im konkreten Fall das staatliche Strafbedürfnis (vgl. Aurnhammer, Spezielles Ausländerstrafrecht, 1. Aufl. 1996, S. 163). Die Flüchtlingseigenschaft in Kombination mit der den Anforderungen entsprechenden Meldung bei den zuständigen Behörden des Gaststaats führt zur persönlichen Straflosigkeit des Täters (vgl. Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 188. Erg. 2012, § 95 AufenthG, Rn. 68).
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Damit wirkt der Tatbestand des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK unmittelbar auf die Verknüpfung zwischen Tathandlung und Strafe ein, indem er die Bestrafung trotz Vorliegens einer vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft begangenen Straftat aus in der Person des Täters und in seinem Nachtatverhalten liegenden Gründen ausschließt. Eine Verurteilung, die unter Verkennung des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen des persönlichen Strafaufhebungsgrunds erfolgt, nimmt daher im Ergebnis das Bestehen eines staatlichen Strafbedürfnisses wegen einer Handlung oder Unterlassung an, bei der sich der Gesetzgeber jedoch - in völkervertraglicher Übereinkunft mit anderen Staaten - aufgrund besonderer Umstände in der Person und dem Verhalten des Täters dazu entschieden hat, von der Auferlegung einer missbilligenden hoheitlichen Reaktion (vgl. BVerfGE 26, 186 <204>) ausnahmsweise abzusehen, weil nach seiner Einschätzung kein Strafzweck im Sinne des ultima ratio-Grundsatzes (vgl. BVerfGE 120, 224 <239 f.>) eine Ahndung als erforderlich erscheinen lässt.
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2. Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts sind in erster Linie den Fachgerichten überlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch in besonderem Maße darauf zu achten, dass Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Normen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit begründen könnten, nach Möglichkeit verhindert werden. Dies kann im Einzelfall eine insoweit umfassende Nachprüfung gebieten (vgl. BVerfGE 58, 1 <34>; 111, 307 <328>; BVerfGK 9, 198 <201>).
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Sowohl das Amtsgericht Chemnitz im Urteil vom 22. Juli 2010 als auch das Oberlandesgericht Dresden im Beschluss vom 18. Januar 2011 haben die Anwendung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK auf den Sachverhalt des Beschwerdeführers zumindest mit teilweise rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt. Während das Amtsgericht den persönlichen Strafaufhebungsgrund gänzlich unerwähnt gelassen hat, ist das Oberlandesgericht pauschal der Erstreckung von dessen Anwendungsbereich auf tateinheitlich verwirklichte Begleitdelikte entgegen getreten und hat ergänzend sowohl die Unmittelbarkeit der Einreise in Anbetracht des längeren Aufenthalts in Griechenland - und damit mittelbar die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers - als auch die Unverzüglichkeit der Antragstellung aufgrund der Möglichkeit zur dortigen Stellung eines Asylantrags angezweifelt. Jedenfalls die Zweifel hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers (nachfolgend a.) und der Unmittelbarkeit der Einreise (nachfolgend b.) sind unberechtigt.
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a) Der Beschwerdeführer ist am 27. November 2009 als "Flüchtling" im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nach Deutschland eingereist und fällt daher unter den persönlichen Anwendungsbereich des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK. Die inzident formulierte Annahme des Oberlandesgerichts Dresden, der Beschwerdeführer habe seinen Flüchtlingsstatus durch den vorübergehenden Aufenthalt in Griechenland verloren, ist unzutreffend.
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aa) Nach überwiegender Auffassung fallen - gemessen an Kategorien des deutschen Ausländerrechts - unter den Flüchtlingsbegriff im Sinne von Art. 1 lit. A GFK erstens gemäß § 2 Abs. 1 AsylVfG durch das Bundesamt anerkannte Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG, zweitens gemäß § 3 AsylVfG Personen, bei denen das Bundesamt oder ein Gericht unanfechtbar festgestellt hat, dass ihnen die in § 60 AufenthG bezeichneten Gefahren drohen, und drittens Asylbewerber (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, 71. Erg. 2010, § 95 AufenthG, Rn. 106, m.w.N.). Dabei ist der Begriff des "Asylbewerbers" im Zusammenhang mit der Auslegung des Flüchtlingsbegriffs nicht in einem streng verfahrensrechtlichen Sinne zu verstehen, der dazu führen würde, dass erst die Stellung eines förmlichen Asylantrags bei der zuständigen Stelle den Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention begründet. Vielmehr fallen auch Personen darunter, die sich nach Deutschland begeben haben, um dort bei der ersten sich bietenden Gelegenheit um Asyl nachzusuchen. Eine anderslautende Auslegung des deutschen Rechts - die Personen erst nach der Stellung des förmlichen Asylantrags in den persönlichen Schutzbereich des Abkommens einbezöge - würde den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention jedenfalls während des Zwischenzeitraums bis zum ersten Kontakt mit den staatlichen Stellen lückenhaft ausgestalten und liefe erkennbar dem Sinn und Zweck der Konvention zuwider. Das deutsche Asylverfahrensrecht sieht daher für Personen, die auf dem Luftweg einreisen, das Flughafenverfahren nach § 18a AsylVfG vor. Dieses ermöglicht es dem Flüchtling, sogar noch vor der Einreise einen Asylantrag zu stellen und hierdurch den Status eines Asylbewerbers und die damit verbundene Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylVfG zu erlangen.
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bb) Der Status als Flüchtling wird im konkreten Einzelfall nicht durch den vorherigen Aufenthalt des Beschwerdeführers in Griechenland in Zweifel gezogen. Griechenland ist als Mitglied der Europäischen Union zwar grundsätzlich ein "sicherer Drittstaat" (vgl. § 26a Abs. 2 AsylVfG), so dass ein hierüber nach Deutschland Einreisender im Regelfall weder den Schutz des Art. 16a Abs. 1 GG noch die Eigenschaft als "Flüchtling" im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention für sich beanspruchen kann, weil derjenige politisch oder aus sonstigen Gründen Verfolgte, der über einen sicheren Drittstaat einreist, in dem die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK) sichergestellt ist, keines ergänzenden Schutzes durch das deutsche Asylrecht mehr bedarf (vgl. BTDrucks 12/4152, S. 4). Die Möglichkeit, Sicherheit in Gestalt von Asyl im Drittstaat zu erlangen, wird dabei bei Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterstellt (vgl. BTDrucks 12/4152, S. 4). Da durch die Einreise aus einem sicheren Drittstaat zudem die Berufung auf das Asylgrundrecht ausgeschlossen ist, erwirbt der Betroffene auch kein vorläufiges Bleiberecht und hat die Zurückschiebung zu dulden.
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Allerdings waren zum Zeitpunkt der Einreise des Beschwerdeführers über Griechenland im November 2009 die Voraussetzungen einer Zurückschiebung nicht mehr gegeben, da seinerzeit vorübergehend nicht mehr davon ausgegangen werden konnte, dass dort die Schutzmechanismen für Flüchtlinge entsprechend den Standards der Genfer Flüchtlingskonvention umgesetzt wurden. Dies war einer Überlastung der Einrichtungen sowie der Ausschöpfung der administrativen Kapazitäten aufgrund der durch die Eurokrise bedingten Einsparmaßnahmen geschuldet. Deutschland hat aufgrund dieser strukturellen Defizite des griechischen Asylverfahrens zu einem späteren Zeitpunkt von seinem Eintritts- beziehungsweise Übernahmerecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II) Gebrauch gemacht und die Asylanträge von Personen, die über Griechenland eingereist waren, in eigener Zuständigkeit bearbeitet. Griechenland war vor diesem Hintergrund zum Zeitpunkt der Einreise des Beschwerdeführers nicht mehr uneingeschränkt als "sicherer Drittstaat" im asylverfahrensrechtlichen Sinne einzuordnen (vgl. dazu BVerfG, Einstweilige Anordnungen der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 - juris; vom 23. September 2009 - 2 BvQ 68/09 - juris; vom 5. November 2009 - 2 BvQ 77/09 -, juris; EGMR (GK), M.S.S. v. Belgien und Griechenland, Urteil vom 21. Januar 2011, Nr. 30696/09, juris), so dass der Beschwerdeführer - ebenso wie seine Frau - trotz seiner Einreise über Griechenland weiterhin als "Flüchtling" im Sinne des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK anzusehen war (vgl. auch: OLG Stuttgart, Urteil vom 2. März 2010 - 4 Ss 1558/09 -, juris, Rn. 11, zu einer ähnlichen Sachverhaltskonstellation).
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b) Der Beschwerdeführer ist auch "unmittelbar" im Sinne des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK aus einem Gebiet gekommen, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht war. Die - nicht näher konkretisierten - Zweifel des Oberlandesgerichts Dresden an der Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals greifen nicht durch.
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aa) Ein Flüchtling geht seines Schutzes durch Art. 31 Abs. 1 GFK grundsätzlich nicht schon dadurch verlustig, dass er aus einem Drittstaat einreist und nicht direkt aus dem Herkunftsstaat, sofern er diesen Drittstaat nur als "Durchgangsland" nutzt und sich der Aufenthalt in diesem nicht schuldhaft verzögert (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 2. März 2010 - 4 Ss 1558/09 -, juris, Rn. 12; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 1. Juli 2008 - 5 Ss 122/08 -, juris, Rn. 4). Art. 31 Abs. 1 GFK will durch das Tatbestandsmerkmal der "Unmittelbarkeit" lediglich verhindern, dass Flüchtlinge, die sich bereits in einem anderen Staat niedergelassen haben, unter Berufung auf die Genfer Flüchtlingskonvention ungehindert weiterreisen können. Eine Gefährdung dieses Schutzzwecks besteht bei einer bloßen Durchreise hingegen nicht (vgl. umfassend: Hailbronner, Ausländerrecht, 71. Erg. 2010, § 95 AufenthG, Rn. 109, m.w.N.).
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bb) Der Beschwerdeführer hat sich zwar für einen Zeitraum von circa 40 Tagen in Griechenland aufgehalten, in dieser Zeit dort jedoch nicht niedergelassen. Sein Ziel war stets die Weiterreise nach Deutschland. In dem besagten Zeitraum hat er sich seinen Angaben zufolge um eine Weiterreisemöglichkeit dorthin bemüht. Da er Griechenland folglich lediglich als "Durchgangsland" nutzte, erfolgte seine Einreise nach Deutschland auch "unmittelbar".
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3. Auf dem hierdurch möglicherweise begründeten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG beruhen die angefochtenen Entscheidungen jedoch nicht, weil die Begründung des Oberlandesgerichts die Nichtanwendung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK jedenfalls im Ergebnis noch trägt und im konkreten Einzelfall selbst nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Anwendung des persönlichen Strafaufhebungsgrunds auf den verfahrensgegenständlichen Sachverhalt aus anderen Rechtsgründen ausscheidet.
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Die Auslegung von § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK hat primär nach völkerrechtlichen Interpretationsgrundsätzen zu erfolgen, die vor dem Hintergrund der deutschen Rechtsordnung "methodisch vertretbar" sein müssen (nachfolgend a.). Eine völkerrechtlich veranlasste Erstreckung der strafbefreienden Wirkung des Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf Begleitdelikte, die tateinheitlich mit einreise- oder aufenthaltsrechtlichen Straftaten begangen werden, ist nach Auslegung der völkervertraglichen Grundlagen jedenfalls nicht voraussetzungslos geboten. Deren völkerrechtliche Gebotenheit unterstellt, wäre jedenfalls vorauszusetzen, dass eine notstandsähnliche Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit, angesichts einer aktuellen Verfolgungssituation die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen, vorliegt, welche die Begehung (auch) des Begleitdelikts als geeignet, erforderlich und angemessen erscheinen lässt, die notstandsähnliche Lage zu beenden (nachfolgend b.). Diese Voraussetzung war im Falle des Beschwerdeführers offensichtlich nicht erfüllt (nachfolgend c.).
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a) § 95 Abs. 5 AufenthG verweist mit Art. 31 Abs. 1 GFK auf die Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrages. Dieser ist aufgrund des Zustimmungsgesetzes vom 1. September 1953 (BGBl II 1953, S. 559) für die deutsche hoheitliche Gewalt bindend (vgl. Nettesheim, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 72. Erg. 2014, Art. 59, Rn. 185) und steht im Rang eines Bundesgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 111, 307 <317>, jeweils zur EMRK). Da die Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt sind, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, sind die Normen auch unmittelbar anwendbar (self-executing, vgl. BVerwGE 4, 309 <310 f.>; 49, 202 <207>; BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1991 - 1 C 42.88 -, juris, Rn. 14). Im Falle des Art. 31 Abs. 1 GFK wird der Rechtsanwendungsbefehl zudem ergänzend durch § 95 Abs. 5 AufenthG erteilt.
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Die Rangzuweisung als Bundesgesetz führt über Art. 59 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG dazu, dass das Völkervertragsrecht durch deutsche Gerichte im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <317>; BVerfGK 9, 174 <189>). Gleiches gilt für Vorschriften, die wie § 95 Abs. 5 AufenthG auf die Genfer Flüchtlingskonvention verweisen (vgl. Masing, in: Grawert/Schlink/Wahl/Wieland, Offene Staatlichkeit - Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995, S. 51 <58 f.>).
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Die Auslegung dieser Vorschriften hat ausgehend von ihrem Wortlaut im Zusammenhang nach Sinn und Zweck unter Berücksichtigung des allgemeinen Völkerrechts zu erfolgen (vgl. BVerfGE 4, 157 <168>; 46, 342 <361 f.>). Für die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention sind daher primär die in Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl II 1985 S. 926 ff., Wiener Vertragsrechtskonvention, nachfolgend: WVRK) zum Ausdruck kommenden Interpretationsgrundsätze maßgeblich. Diese völkervertraglich festgeschriebenen Auslegungsregeln sind dabei zwar nicht unmittelbar auf die Genfer Flüchtlingskonvention zur Anwendung zu bringen, weil die WVRK erst am 27. Januar 1980 in Kraft getreten und auf früher geschlossene Vereinbarungen ratione temporis unanwendbar ist (vgl. Art. 4 WVRK). Da die einschlägigen Auslegungsregeln der Art. 31 und 32 WVRK jedoch bereits bestehendes Völkergewohnheitsrecht inhaltsgleich kodifizieren (vgl.IGH, Oil Platforms, Islamic Republic of Iran v. United States of America, Preliminary Objection, Judgment of 12 December 1996, ICJ Reports 1996, S. 803 <812>; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl. 2012, Rn. 81), kann für die Auslegung früher entstandener Verträge auf dieses zurückgegriffen werden (vgl. Aust, Vienna Convention on the Law of Treaties (1969), in: Wolfrum (ed.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Volume X, S. 709 <712>).
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b) Ausgehend hiervon spricht - insoweit jedenfalls im Ergebnis in Übereinstimmung mit der Begründung des Oberlandesgerichts - Überwiegendes gegen eine Erstreckung der strafbefreienden Wirkung des Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf Begleitdelikte, die tateinheitlich mit einreise- oder aufenthaltsrechtlichen Straftaten begangen werden. Letztlich kann der Umfang einer möglichen Erstreckung vorliegend jedoch offen bleiben, da Voraussetzung einer solchen jedenfalls das Vorliegen einer notstandsähnlichen Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit wäre, angesichts einer aktuellen Verfolgungssituation die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen, die die Begehung (auch) eines Begleitdelikts als geeignet, erforderlich und angemessen erscheinen ließe, die notstandsähnliche Lage zu beenden.
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aa) Der nach Art. 31 Abs. 2 WVRK und dem hierzu parallelen Völkergewohnheitsrecht zur Auslegung heranzuziehendeWortlaut von Art. 31 Abs. 1 GFK deutet auf eine Beschränkung der strafbefreienden Wirkung auf einreise- oder aufenthaltsrechtliche Delikte im Sinne einer engen Auslegung hin.
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In den nach Art. 46 GFK verbindlichen englischen und französischen Sprachfassungen, die nach Art. 33 WVRK und dem hierzu parallelen Völkergewohnheitsrecht gleichen Rangs sind, ist nach der grammatikalischen Auslegung die Straffreiheit (lediglich) wegen unrechtmäßiger Einreise oder oder unrechtmäßigen Aufenthalts vorgesehen("on account of their illegal entry or presence" / "du fait de leur entrée ou de leur séjour irréguliers"). Dies beinhaltet eine Beschränkung auf Delikte, mit denen gegen die speziellen nationalen einreiserechtlichen oder aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen verstoßen wird. Die Vorlage etwa eines unechten Personaldokuments als Verstoß gegen Strafvorschriften anderer Schutzrichtung ist - selbst wenn sie zum Zwecke der Einreise oder des Aufenthalts erfolgt - demzufolge hiervon nach dem Wortlaut grundsätzlich nicht erfasst.
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bb) Die nach Art. 31 Abs. 1 und 2 WVRK und dem hierzu parallelen Völkergewohnheitsrecht zulässigesystematische Auslegung führt demgegenüber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Eine Auslegung des "Zusammenhangs" erfordert nach Art. 31 Abs. 2 WVRK die Berücksichtigung des Vertragswortlauts "samt Präambel und Anlagen".
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(1) Die Art. 31 Abs. 1 GFK nachfolgenden Vorschriften postulieren zwar einen hohen Schutz für den Flüchtling, der allgemein für eine weite Auslegung der Strafbefreiung spricht. Dass dieser Schutz jedoch nicht schrankenlos gewährt werden soll, sondern aus einer Abwägung zwischen humanitären und staatlichen Interessen erwächst, ist bereits in der Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention angelegt, nach der die vertragsschließenden Staaten mit dem Willen handelten, den Flüchtlingen "in möglichst großem Umfange die Ausübung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten zu sichern (…), dass sich aus der Gewährung des Asylrechts nicht zumutbare schwere Belastungen für einzelne Länder ergeben können (…), in dem Wunsche, dass alle Staaten in Anerkennung des sozialen und humanitären Charakters des Flüchtlingsproblems alles in ihrer Macht stehende tun (…)".
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(2) Innerhalb des Regelungsgehalts von Art. 31 Abs. 1 GFK deutet systematisch Überwiegendes auf eine enge Auslegung hin. Im letzten Halbsatz werden dem Flüchtling lediglich die Meldung bei der Behörde und die Mitteilung der die "unrechtmäßige Einreise" oder den "unrechtmäßigen Aufenthalt" rechtfertigenden Gründe abverlangt, nicht jedoch die Mitteilung derjenigen Umstände, die die etwaige Begehung von Begleitdelikten erforderlich erscheinen ließen. Dies spricht gegen eine weite Auslegung des Art. 31 Abs. 1 GFK, da anderenfalls nicht plausibel erklärbar wäre, weshalb der Flüchtling allein die den Verstoß gegen einreise- und aufenthaltsrechtliche Bestimmungen rechtfertigenden Umstände darlegen müsste, nicht aber die Rahmenbedingungen, die ihn nach seiner Einschätzung gezwungen haben, sonstige - möglicherweise schwerwiegendere - Verstöße gegen die sonstige Rechtsordnung seines Gaststaats zu begehen.
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cc) Die nach Art. 31 Abs. 3 WVRK und dem parallelen Völkergewohnheitsrecht ebenfalls auslegungsrelevantespätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien oder spätere Übung, aus der eine bestimmte Auslegung hervorgeht, spricht ebenfalls für eine enge Auslegung von Art. 31 Abs. 1 GFK. Wesentliche Voraussetzung für die Annahme späterer Übereinkunft oder Übung im genannten Sinne sind ein übereinstimmender Wille unter den Vertragsparteien, der in der Übereinkunft oder späterer Staatenpraxis zum Ausdruck kommt und - so er durch ständige Übung begründet wird - von der Überzeugung der Staaten getragen ist, hierzu völkerrechtlich verpflichtet zu sein (opinio juris).
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(1) Die Stellungnahmen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) oder die Beschlüsse des Exekutiv-Komitees des UNHCR fallen entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht unter die Alternative der späteren Übereinkunft (so auch: Mananashvili, Möglichkeiten und Grenzen zur völker- und europarechtlichen Durchsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention, 2009, S. 97 ff.). Sie stellen lediglich eine beachtliche Rechtsauffassung zur Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention dar, so dass, wenn diese im Widerspruch zur bisherigen Rechtsauslegung steht und keine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt, jedenfalls dann die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage indiziert ist, wenn die ihnen zugrunde liegende Rechtsauffassung mit dem Wortlaut der betroffenen Norm vereinbar ist.
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Aus einer abweichenden Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention in Publikationen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge lässt sich jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein Verstoß der Fachgerichte gegen eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Beachtung des Völkerrechts folgern, auch nicht in der Ausprägung des Gebots der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Bundesrechts. Es steht den nationalen Gerichten der Vertragsstaaten frei, zur Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention die einschlägigen Publikationen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge heranzuziehen. Wenngleich die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung in den Vertragsstaaten als ein erstrebenswertes Ziel angesehen werden kann, zu dem das Hochkommissariat wesentlich beiträgt, führt dies nicht dazu, dass es auch eine verfassungsrechtlich verankerte Pflicht der nationalen Gerichte zur Anwendung der Richtlinien bei der Auslegung des materiellen Flüchtlingsrechts oder des Asylverfahrensrechts gibt (vgl. BVerfGE 52, 391 <404>; BVerfGK 9, 198 <202>).
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(2) Auch lässt sich keine spätere Übung der Konventionsstaaten feststellen, die zu einem gegenteiligen Ergebnis führt und eine weite Auslegung als geboten erscheinen ließe.
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Nach einer im Jahr 2003 durchgeführten Untersuchung von Goodwin-Gill erstrecken nur 29 % der untersuchten Konventionsstaaten den Tatbestand von Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf die Strafbarkeit wegen der Einreise mit gefälschten Personaldokumenten; in weiteren 19 % der Konventionsstaaten soll es ausdrückliche Regelungen geben, die eine dahingehende Straffreiheit vorsehen. In den übrigen untersuchten Staaten findet die Erstreckung nicht statt, sondern wird von einer engen Auslegung des Art. 31 Abs. 1 GFK ausgegangen (vgl. Goodwin-Gill, Article 31 of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees: non-penalization, detention, and protection, in: Feller/Türk u.a. (ed.), Refugee Protection in International Law, 2003, S. 207). Andere Begleitdelikte werden sogar im Regelfall nicht von der Strafbefreiung erfasst.
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Zwar ist Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK nicht dahingehend zu verstehen, dass sämtliche Vertragsstaaten eine einheitliche Praxis vorweisen müssten. Es muss sich allerdings um eine überwiegend "gebilligte Rechtspraxis" handeln (vgl. Masing, in: Grawert/Schlink/Wahl/Wieland, Offene Staatlichkeit - Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995, S. 51 <70 f.>). Eine derart konträre Handhabung der Konventionsnorm, wie sie durch Goodwin-Gill festgestellt worden ist, vermag jedoch keine "ständige Übung" darzustellen. Ebenso wenig kann unterstellt werden, dass die Staaten, die den Anwendungsbereich der Strafbefreiung in Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf (einzelne) Begleitdelikte erstrecken, sich hierzu völkervertraglich verpflichtet gefühlt haben. Zur opinio juris dieser Staaten enthält die Untersuchung von Goodwin-Gill keine Anhaltspunkte, so dass die Entscheidung für die weite Auslegung ebenso gut auf die nationale politische Entscheidung zu Gunsten der Gewährung eines höheren Schutzniveaus - als es in der Genfer Flüchtlingskonvention als Mindeststandard gefordert ist - zurückführbar sein kann.
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dd) Schließlich gebietet auch die nach Art. 31 Abs. 1 WVRK und dem parallelen Völkergewohnheitsrecht maßgeblicheAuslegung nach Sinn und Zweck der Vorschrift keine zwingende, jedenfalls aber keine voraussetzungslose Erstreckung des persönlichen Strafaufhebungsgrunds auch auf Begleitdelikte (a.A. Fischer-Lescano/Horst, ZAR 2011, S. 81 <87>).
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(1) Aus der Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention ergibt sich das Ziel der Konvention, den Flüchtlingen in Anbetracht ihrer Situation die Ausübung ihrer Rechte zu sichern und ihnen größtmöglichen Schutz zukommen zu lassen. Diese soll jedoch nicht schrankenlos gewährt werden, sondern aus einer Abwägung zwischen humanitären und staatlichen Interessen erwachsen (vgl. bereits oben III.3.b) bb)).
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(2) Dies wird auch durch die travaux préparatoires (Art. 32 WVRK und paralleles Völkergewohnheitsrecht) zu Art. 31 Abs. 1 GFK im Ergebnis bestätigt (vgl. Memorandum by the Secretary-General to the Ad Hoc Committee on Statelessness and Related Problems, E/AC.32/2, 3. Januar 1950, S. 46 zu Artikel 24 Absatz 2 des damaligen Konventionsentwurfs: "A refugee whose departure from his country of origin is usually a flight, is rarely in a position to comply with the requirements for legal entry (possession of national passport and visa) into the country of refuge. It would be in keeping with the notion of asylum to exempt from penalties a refugee, escaping from persecution, who after crossing the frontier clandestinely, presents himself as soon as possible to the authorities of the country of asylum and is recognized as a bona fide refugee.").
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(3) Art. 31 Abs. 1 GFK liegt damit der Gedanke zugrunde, dass einem Flüchtling die Verletzung von Einreise- und Aufenthaltsvorschriften nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn ernur auf diese Weise Schutz vor politischer oder sonstiger Verfolgung erlangen kann (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, 71. Erg. 2010, § 95 AufenthG, Rn. 109). Hierdurch will Art. 31 Abs. 1 GFK Flüchtlinge davor bewahren, für ihre Flucht (und damit verbunden die Einreise und den Aufenthalt in einem anderen Land) bestraft zu werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, dass eine Strafbefreiung jedenfalls dann ausscheidet, wenn der Schutz vor Verfolgung auch in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung des Gaststaats hätte erlangt werden können. Daher erfordert Art. 31 Abs. 1 GFK allgemein eine notstandsähnliche Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit, angesichts einer bestehenden Verfolgungssituation("escaping from persecution") die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen. Dies müsste über die unstreitig von Art. 31 Abs. 1 GFK erfassten Einreise- und Aufenthaltsdelikte hinaus auch für etwaige Begleitdelikte gelten, sofern diese in den Anwendungsbereich des persönlichen Strafaufhebungsgrunds einbezogen wären. Allein der Wunsch nach unbedingter "Effektivierung des (…) Schutzes von Flüchtlingen" (Fischer-Lescano/Horst, ZAR 2011, S. 81 <87>) kann demgegenüber - auch nach dem Sinn und Zweck der Konvention - nicht zu einer carte blanche für sämtliche deliktischen Handlungen und Unterlassungen des Flüchtlings, die im Zusammenhang mit der Einreise vorgenommen werden, generiert werden.
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c) Eine notstandsähnliche Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit, angesichts einer bestehenden Verfolgungssituation die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen, ist bei der Ankunft eines Flüchtlings auf dem Luftweg nach dem deutschen Asylverfahrensrecht im Regelfall strukturell ausgeschlossen. Auch die Umstände des konkreten Einzelfalls rechtfertigen keine andere rechtliche Bewertung. Der Schutz vor Verfolgung hätte auch in Übereinstimmung mit der deutschen Rechtsordnung erlangt werden können.
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aa) Eine strukturelle Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Einreise ohne Vorlage des unechten Personaldokuments wäre etwa anzunehmen, wenn das deutsche Asylverfahrensrecht die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis - die den Flüchtling zumindest vorübergehend der Verfolgung entzieht - von der Einreise oder sonstigen, innerhalb des Gaststaats vorzunehmenden Verfahrensschritten abhängig machen würde, so dass der Flüchtling sich beim Grenzübertritt in der notstandsähnlichen Lage sieht, entweder von der illegalen Einreise unter Verwendung der unechten Dokumente abzusehen und damit weiterhin der Verfolgung ausgesetzt zu sein oder das Begleitdelikt des Gebrauchmachens unechter Personaldokumente zu begehen, um die Notstandslage zu beenden.
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Eine derartige Notstandslage besteht jedenfalls für auf dem Luftweg ankommende Flüchtlinge nach dem deutschen Asylverfahrensrecht nicht. Gemäß § 13 Abs. 1 AsylVfG liegt ein wirksamer Asylantrag unter anderem bereits dann vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht. Mit jedem Asylantrag wird die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG beantragt (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG); hierunter fallen auch die Schutzgarantien der Genfer Flüchtlingskonvention. Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erlangt der Ausländer, der um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens unmittelbar mit der Antragstellung die Gestattung des Aufenthalts im Bundesgebiet. Daher endet die notstandsähnliche Lage spätestens mit der gegenüber dem ersten Hoheitsträger geäußerten Erklärung, in Deutschland Asyl beantragen zu wollen. In Übereinstimmung hiermit bestimmt § 13 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG, dass ein Ausländer, der nicht im Besitz der erforderlichen Einreisepapiere ist - also unerlaubt einreisen müsste -, bereits an der Grenze um Asyl nachzusuchen hat.
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Für Ausländer, die auf dem Luftweg nach Deutschland gelangen, sieht § 18a AsylVfG das sogenannte Flughafenverfahren vor. Der erste Hoheitsträger, mit dem ein auf diesem Weg einreisender Ausländer konfrontiert wird, ist in der Regel der den Grenzübertritt kontrollierende Beamte der Bundespolizei, welcher gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 BPolG der grenzpolizeiliche Schutz des Bundesgebiets obliegt. Bei diesem hat der Ausländer bereits die Möglichkeit, Asyl zu beantragen und die Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu erlangen. Die Bundespolizei trifft in diesem Fall die Pflicht, den Ausländer unverzüglich an die zuständige oder nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Einleitung des förmlichen Asylverfahrens weiterzuleiten (vgl. § 18 Abs. 1 AsylVfG). Das Passieren der Grenzkontrolle unter Vorlage eines unechten Personaldokuments ist daher weder zur Beantragung von Asyl noch zur Erlangung einer Aufenthaltsgestattung erforderlich; eine notstandsähnliche Lage, die die Straffreiheit der Begehung eines derartigen Begleitdelikts aufgrund von Sinn und Zweck des Art. 31 Abs. 1 GFK erfordern würde, liegt nach deutscher Rechtslage in aller Regel nicht vor.
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Dies findet völkerrechtlichen Rückhalt in der Tatbestandsvoraussetzung der "Unverzüglichkeit" der Meldung in § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK. Der Flüchtling hat hiernach die erste Gelegenheit zu nutzen, um die Gründe darzulegen, welche die unrechtmäßige Einreise oder den unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne auch: OLG Stuttgart, Urteil vom 2. März 2010 - 4 Ss 1558/09 -, juris, Rn. 13). Dabei ist das Tatbestandsmerkmal der Unverzüglichkeit im Sinne von § 121 BGB zu verstehen, so dass die Meldung bei der Behörde "ohne schuldhaftes Zögern" zu erfolgen hat (vgl. Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 95 AufenthG, Rn. 8; siehe auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Juni 1987 - 2 BvR 911/85 -, juris, Rn. 6).
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bb) Auch die konkreten Umstände des Einzelfalls rechtfertigen keine ausnahmsweise andere rechtliche Beurteilung der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Handlung.
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(1) Es war für den Beschwerdeführer am 27. November 2009 nicht zwingend erforderlich, das unechte Identitätsdokument vorzulegen, um eine Aufenthaltsgestattung in Deutschland zu erlangen. Vielmehr hätte er bereits bei dem Beamten der Bundespolizei, den er durch die Vorlage des Dokuments zu täuschen versuchte, um Asyl nachsuchen können, wodurch ein - gegebenenfalls im Wege des Flughafenverfahrens nach § 18a AsylVfG durchzuführendes - Asylverfahren eingeleitet worden wäre. Spätestens dieses Gesuch hätte eine etwaig bestehende notstandsähnliche Fluchtsituation beendet. Auf diese Weise hätte der Beschwerdeführer auch in Übereinstimmung mit der deutschen Rechtsordnung Schutz vor der politischen Verfolgung in seiner Heimat erlangen können (vgl. hierzu: Hailbronner, Ausländerrecht, 71. Erg. 2010, § 95 AufenthG, Rn. 109; ebenso im Ergebnis: Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 188. Erg. 2012, § 95 AufenthG, Rn. 68). Aus diesem Grund scheidet auch die Berufung auf § 34 StGB aus.
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(2) Soweit der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang vorträgt, in Einzelfällen werde die Einreisekontrolle durch private Sicherheitsdienste vorgenommen, bei welchen die Beantragung von Asyl nicht möglich sei, so dass der einreisende Flüchtling gezwungen werde, die kontrollierende Person zu täuschen, um überhaupt ins Land zu gelangen und Zugang zu einem Hoheitsträger zu finden, bestehen bereits erhebliche Zweifel daran, dass diese Behauptung den Tatsachen entspricht. Der Schutz der Bundesgrenzen ist eine originär hoheitliche Aufgabe, die gemäß § 2 Abs. 1 BPolG alleine der Bundespolizei obliegt. Unbeschadet dessen kann dies jedenfalls im vorliegenden Verfahren dahinstehen, weil der Beschwerdeführer bei seiner Einreise unstreitig durch einen Bundespolizisten und nicht durch einen privaten Sicherheitsdienst kontrolliert wurde.
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(3) Soweit der Beschwerdeführer schließlich behauptet, die Beantragung von Asyl bereits bei der Einreise sei unzumutbar, da in der Praxis die rechtlichen Vorgaben für die Durchführung des Verfahrens teilweise missachtet würden und er sich hierdurch dem beschleunigten Flughafenverfahren nach § 18a AsylVfG hätte aussetzen müssen, hat sein Vorbringen ebenfalls keine verfassungsrechtliche Relevanz. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 genügt das Flughafenverfahren trotz seines beschleunigten Charakters allen verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfGE 94, 166 ff.). Die Ablehnung der Sicherungshaft zum Zwecke der Zurückschiebung nach Griechenland durch das Amtsgericht Zossen mit Beschluss vom 28. November 2009 belegt zudem, dass im konkreten Einzelfall jedenfalls die gerichtlichen Schutzmechanismen in ausreichendem Maße zu Gunsten des Flüchtlings gegriffen haben.
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cc) Die gerichtlichen Entscheidungen können daher - trotz unzureichender Begründung und teilweise bedenklicher Rechtsanwendung - jedenfalls nicht auf einem etwaigen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG beruhen. Selbst unter der Annahme, dass die Zweifel des Oberlandesgerichts an der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers und der Unmittelbarkeit der Einreise unter Verstoß gegen das Analogieverbot zustande gekommen wären, fehlt es jedenfalls - auch ausweislich des Verfassungsbeschwerdevortrags - erkennbar an sonstigen Tatbestandsmerkmalen des § 95 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 GFK, die eine persönliche Strafaufhebung zu Gunsten des Beschwerdeführers hätten begründen können.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 30. Juni 2014 - A 7 K 880/14 - geändert, soweit es der Klage stattgegeben hat.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Gründe
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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.