Sozialgericht Speyer Urteil, 16. Feb. 2018 - S 13 KR 286/16

bei uns veröffentlicht am16.02.2018

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 773,54 Euro zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert wird auf 773,54 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Zahlung der weiteren Vergütung für eine Krankenhausbehandlung.

2

Der bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte 1933 geborene Patient H… F… wurde in der Zeit vom 14.09.2009 bis zum 19.09.2009 in der U.klinik L., dessen Trägerin die Klägerin inzwischen ist, stationär behandelt. Die Klägerin stellte der Beklagten für diese Behandlung auf Grundlage der DRG I32F (Eingriffe an Handgelenk und Hand ohne mehrzeitigen Eingriff, ohne Komplexbehandlung der Hand, ohne komplexen Eingriff, außer bei angeborener Anomalie der Hand, ohne komplexe Diagnose, mit mäßig komplexem Eingriff, Alter > 5 Jahre) unter dem 02.10.2009 einen Gesamtbetrag in Höhe von 2.581,30 Euro in Rechnung.

3

Die Beklagte zahlte am 28.10.2009 zunächst den gesamten Rechnungsbetrag.

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Mit einem Schreiben vom 18.09.2013 übersandte die Beklagte der Klägerin eine Liste mit zwischen den Beteiligten abgerechneten Behandlungsfällen (u.a. den Behandlungsfall F…), die ihrer Auffassung nach routinemäßig ambulant durchgeführt würden. In den aufgeführten Fällen seien die erforderlichen Angaben zum Grund der Aufnahme bisher nicht an die Beklagte übermittelt worden. Das Bundessozialgericht (BSG) habe entschieden, dass bei fehlender Begründung die Entgeltforderung des Krankenhauses nicht fällig werde. Die Beklagte forderte Klägerin auf, bis zum 08.10.2013 in allen genannten Fällen eine entsprechende Begründung an die Beklagte zu übersenden oder eine Gutschrift per Datenträgeraustausch zu übermitteln. Versäume die Klägerin, für die stationäre Behandlungsbedürftigkeit zu benennen, so fehle es an der notwendigen Grundlage für die Abrechnungsprüfung und damit an einer Voraussetzung für den Lauf der Ausschlussfrist gemäß § 275 Abs. 1c Satz 2 SGB V.

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Nachdem die Klägerin diesem Ansinnen widersprochen hatte, verrechnete die Beklagte am 18.12.2013 eine behauptete Erstattungsforderung aus dem Behandlungsfall Fischer in Höhe von 773,54 Euro mit einer unstreitigen Vergütungsforderung der Klägerin gegen die Beklagte über insgesamt 4.349,80 Euro aus einer Behandlung des Versicherten C… vom 20.11.2013 bis zum 24.11.2013 in der Klinik der Klägerin. Dieser Behandlungsfall war am 09.12.2013 abgerechnet worden.

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Die Klägerin hat am 28.12.2015 Klage erhoben und zunächst von der Beklagten Vergütungsansprüche aus Krankenhausbehandlungen aus den Jahren 2013 und 2014 in Höhe eines Gesamtbetrags von 16.847,09 Euro gefordert, gegen die die Beklagte vermeintliche Erstattungsansprüche aus vergüteten Behandlungen aus den Jahren 2009 bis 2012 aufgerechnet hatte.

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Das Gericht hat das Verfahren entsprechend der Vergütungsanteile für von den jeweiligen Erstattungsforderungen betroffenen Behandlungsfälle durch Beschluss vom 24.06.2016 getrennt. Unter dem vorliegenden Aktenzeichen ist ein Vergütungsanspruch in Höhe von 773,54 Euro aus dem Behandlungsfall C… streitgegenständlich, gegen den die Beklagte mit einem umstrittenen Erstattungsanspruch aus dem Behandlungsfall F…r aufgerechnet hat.

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Zur Begründung der Klage führt die Klägerin u.a. aus, dass seitens der Beklagten über Jahre die hier streitgegenständliche Behandlung nicht problematisiert worden seien und dann letztlich – plötzlich und ohne Vorwarnung – durch Aufrechnungen Regresse durchgeführt worden seien. Es sei unstreitig, dass die Darlegung der Anspruchsvoraussetzung der Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung Sache der Klägerin sei. Allein Gegenstand dieses Rechtsstreits sei die Frage, wie lang entsprechende Prüfungen noch zulässig seien. Der Beklagten habe ein Recht auf Prüfung nicht mehr zugestanden, weil die Ausschlussfrist des § 275 SGB V begonnen hätte und innerhalb der entsprechenden Nachprüfungsfrist seitens der Beklagten eine Nachprüfung nicht veranlasst worden sei. Der Beklagten gehe es offenkundig darum, die Tatsache auszunutzen, dass die Krankenhäuser nach Ablauf eines derart langen Zeitraums den entsprechenden Nachweis für die Notwendigkeit der stationären Behandlung nach § 115b SGB V in der Regel nicht mehr führen könnten.

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Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

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die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 773,54 Euro zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung führt sie aus, dass das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 21.03.2013 (B 3 KR 28/12 R) entschieden habe, dass ambulant durchführbare Behandlungen den Krankenkassen gegenüber begründungspflichtig seien. Das BSG habe deutlich gemacht, dass eine Krankenkasse auch rückwirkend bis zur Grenze der Verjährung Sachverhalte erneut aufgreifen und prüfen dürfe, wenn diese rechnerisch und sachlich fehlerhaft seien. Das BSG habe es als sachlich fehlerhaft angesehen, dass in Fällen, in denen eine Behandlung ambulant möglich sei, trotz Aufforderung des Kostenträgers keine medizinische Begründung für die stationäre Aufnahme seitens des Leistungserbringers erfolge. Das BSG habe insofern eine Informationsobliegenheit auf Seiten des Leistungserbringers erkannt, welche dazu führe, dass der Vergütungsanspruch weder dargelegt noch bewiesen werden könne, wenn die Krankenkasse erfolglos um Mitwirkung bitte. Als Folge der fehlenden Darlegung des Vergütungsanspruches entstehe ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch, der vom Leistungserbringer durchgesetzt werden dürfe. Dieser Anspruch bestehe unabhängig davon, ob der zu Grunde liegende Behandlungsfalls seinerzeit geprüft worden sei oder nicht. Das BSG habe der Kostenträgerseite ganz bewusst ein Abrechnungsinstrument an die Hand gegeben, um Behandlungsfälle auch noch nachträglich kontrollieren zu können. Hinsichtlich der Frage der Verjährung verweist die Beklagte auf die BSG-Entscheidungen vom 23.06.2015 (B 1 KR 26/14 R) und vom 21.04.2015 (B 1 KR 11/15 R). In beiden Entscheidungen habe das Bundessozialgericht (BSG) anschaulich und überzeugend ausgeführt, dass bei Streitigkeiten über die Krankenhausvergütung die vierjährige Verjährungsfrist nach dem SGB gelte, nicht dagegen die dreijährige Verjährungsfrist nach BGB. Zum Zeitpunkt der Aufrechnung sei keine Verjährung eingetreten.

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Zur weiteren Darstellung des Tatbestands, insbesondere zum weiteren Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagte verwiesen. Er war Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

I.

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Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben.

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Die Klage ist als Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft, da ein Streit im Gleichordnungsverhältnis vorliegt und auch im Übrigen zulässig. Ein Vorverfahren war nicht durchzuführen, die Einhaltung einer Klagefrist nicht geboten.

II.

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Die Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung der verrechneten unstreitigen Vergütungsanteils 773,54 Euro für die stationäre Behandlung des Herrn C… vom 20.11.2013 bis zum 24.11.2013 im Krankenhaus der Klägerin.

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1. Die Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Vergütungsanspruch in Höhe von 773,54 Euro ergibt sich aus § 109 Abs. 4 Satz 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und dem durch Schiedsspruch am 01.01.2000 in Kraft getretenen Vertrag nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V zwischen der Krankenhausgesellschaft Rheinland-Pfalz e.V. und den Landesverbänden der Krankenkassen über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung (KBV-RP). Die Forderung resultiert aus dem stationären Aufenthalt des bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherten Herrn M… C… im Jahr 2013. Der diesbezüglich mit der Rechnung vom 09.12.2013 geltend gemachte Vergütungsanspruch ist zwischen den Beteiligten dem Grunde und der Höhe nach unstreitig. Soweit sich die beklagte Krankenkasse – wie vorliegend – gegenüber einer Klage auf Zahlung auf Vergütung ausschließlich im Rahmen der Primäraufrechnung mit einer Gegenforderung verteidigt, bedarf es bezüglich des (unstreitigen) Bestehens der Hauptforderung keiner weiteren tatsächlichen Feststellungen (BSG, Urteil vom 22.07.2004 – B 3 KR 21/03 R –, Rn. 13; BSG, Urteil vom 03.08.2006 – B 3 KR 7/06 R –, Rn. 10; alle Entscheidungen zitiert nach juris).

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2. Der durch die Klägerin geltend gemachte Restanspruch in Höhe von 773,54 Euro ist nicht durch Aufrechnung der Beklagten erloschen.

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Gemäß § 389 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) bewirkt eine Aufrechnung, dass Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind. Nach § 387 BGB kann eine Forderung gegen eine andere Forderung aufgerechnet werden, wenn zwei Personen einander Leistungen schulden, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind. Die §§ 387 ff. BGB sind nach § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V mangels entgegenstehender Spezialregelungen im Verhältnis zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen anwendbar (vgl. BSG, Urteil vom 02.07.2013 – B 1 KR 49/12 R –, Rn. 11). Hierzu bedarf es weder eines Rückgriffes auf "ungeschriebene" Rechtsinstitute noch einer analogen Anwendung des BGB. Auch in § 9 Abs. 6 Satz 4 KBV-RP ist ausdrücklich geregelt, dass Beanstandungen rechnerischer oder sachlicher Art auch nach Bezahlung der Rechnung geltend gemacht und Differenzbeträge verrechnet werden können (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 23).

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3. Als Rechtsgrundlage für die seitens der Beklagten geltend gemachte Gegenforderung kommt ein Herausgabeanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB in Betracht. Diese Anspruchsgrundlage ist über die Verweisung des § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V bei Rechtsverhältnissen zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern im Sinne des § 69 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB V anwendbar. Diesbezüglich bedarf es keines Rückgriffes auf ein Rechtsinstitut des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs (SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 – S 3 KR 645/13 –, Rn. 38 f.; SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 23; SG Mainz, Urteil vom 01.03.2016 – S 14 KR 536/12 –, Rn. 26).

22

4. Ob ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegen die Klägerin bestanden hat, kann vorliegend jedoch offenbleiben. Der Anspruch wäre gegebenenfalls verjährt.

23

Für Vergütungsforderungen von Krankenhäusern gegen Krankenkassen gelten auf Grund der Verweisung in § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V die Verjährungsregeln des BGB. Gleiches gilt für Erstattungsansprüche von Krankenkassen gegen Krankenhausträger (SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 – S 3 KR 645/13 –, Rn. 41 ff. mit Anmerkung von Schütz, jurisPR-SozR 21/2014 Anm. 2; SG Mainz, Urteil vom 24.06.2014 – S 3 KR 518/11 –, Rn. 31 ff. mit Anmerkung von Rehm, jurisPR-SozR 1/2015 Anm. 4; SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 26 ff.; SG Speyer, Urteil vom 23.01.2017 – S 19 KR 521/16 –, Rn. 24 ff.).

24

Nach § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB V werden die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden abschließend im Vierten Kapitel des SGB V, in den §§ 63, 64 SGB V und im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), im KHEntG sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V gelten für diese Rechtsbeziehungen im Übrigen die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem Vierten Kapitel des SGB V vereinbar sind.

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Regelungen über die Verjährung von Ansprüchen sind weder in den §§ 63, 64 SGB V, noch im Vierten Kapitel des SGB V (§§ 69 bis 140h SGB V) enthalten. Weder das KHG und das KHEntG noch hierzu erlassene Rechtsverordnungen enthalten Regelungen über die Verjährung. Darüber hinaus enthält das gesamte Sozialgesetzbuch (SGB) keine Regelung über die Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen bzw. generell zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern. Insbesondere § 45 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) enthält keine allgemein für das Sozialrecht normierte Verjährungsfrist von vier Jahren. Die Vergütung eines Krankenhausträgers durch eine Krankenkasse ist keine Sozialleistung im Sinne des § 45 Abs. 1 SGB I.

26

Da § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V eine ausdrückliche Verweisung auf das BGB enthält, greifen mangels speziellerer Regelung die Verjährungsvorschriften der §§ 194 ff. BGB (so bereits SG Berlin, Urteil vom 27.08.2002 – S 81 KR 3690/01; SG Marburg, Urteil vom 27.05.2004 – S 6 KR 902/02; SG Marburg, Urteil vom 27.07.2004 – S 6 KR 3/03 jeweils zum wortgleichen § 69 Satz 3 SGB V i.d.F. vom 22.12.1999). Demzufolge ist gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. § 195 BGB die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren einschlägig.

27

Die Verjährungsvorschriften des BGB sind sowohl mit § 70 SGB V (Gewährleistung einer bedarfsgerechten, dem allgemein anerkannten Standard der medizinischen Erkenntnisse entsprechender Versorgung und Hinwirkung auf humane Krankenbehandlung) als auch mit den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem Vierten Kapitel des SGB V vereinbar (SG Speyer, Urteil vom 23.01.2017 – S 19 KR 521/16 –, Rn. 29).

28

5. Die Kammer weicht diesbezüglich von der Rechtsprechung des BSG ab, das im Falle von Vergütungsansprüchen von Krankenhäusern gegen Krankenkassen und umgekehrt bei Erstattungsforderungen von Krankenkassen gegen Krankenhäusern von einer vierjährigen Verjährungsfrist ausgeht (BSG, Urteil vom 12.05.2005 – B 3 KR 32/04 R; BSG, Urteil vom 28.02.2007 – B 3 KR 12/06 R; BSG, Urteil vom 17.12.2013 – B 1 KR 60/12 R; BSG, Urteil vom 21.04.2015 – B 1 KR 11/15 R –, Rn. 13; BSG, Urteil vom 23.06.2015 – B 1 KR 26/14 R –, Rn. 44).

29

Der nach dem Geschäftsverteilungsplan für das Krankenhausvergütungsrecht seit dem 01.01.2015 nicht mehr zuständige 3. Senat des BSG begründete seine Auffassung damit, dass die Regelung des § 69 (Abs. 1) Satz 3 SGB V einengend so zu interpretieren sei, dass entsprechend der Regelung des § 61 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) über den öffentlich-rechtlichen Vertrag die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches nur dann in Analogie ergänzend heranzuziehen seien, wenn sich aus den übrigen Vorschriften des (gesamten) SGB nichts anderes ergebe (§ 61 Satz 1 SGB X). Die Frage der Verjährung sei schon aus dem 4. Kapitel des SGB V selbst und den hierfür geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien zu beantworten. Es bleibe daher auch für die Zeit ab dem 01.01.2000 bei der vierjährigen Verjährungsfrist für die Vergütungsansprüche der Krankenhausbetreiber gegen die Krankenkassen für die Krankenhausbehandlung von Kassenpatienten. Die Heranziehung der kürzeren Verjährungsfristen der BGB-Vorschriften könne deshalb mit den "Rechten und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel" kollidieren (BSG, Urteil vom 12.05.2005 – B 3 KR 32/04 R –, Rn. 17).

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Dieser Auffassung vermag sich die Kammer nicht anzuschließen (ebenso bereits SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 – S 3 KR 645/13 –, Rn. 48 ff.; SG Mainz, Urteil vom 24.06.2014 – S 3 KR 518/11 –, Rn. 38 ff.; SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 33 ff.; SG Speyer, Urteil vom 23.01.2017 – S 19 KR 521/16 –, Rn. 30 ff.). Ohne dies auszuformulieren, zieht das BSG der Sache nach weiterhin in entsprechender Anwendung die nicht einschlägige vierjährige Verjährungsfrist des § 45 Abs. 1 SGB I und anderer Vorschriften heran, obwohl spätestens mit Einführung des § 69 Satz 3 SGB V a.F. (§ 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V n.F.), wenn nicht bereits mit Einführung des § 61 Satz 2 SGB X, die Voraussetzung hierfür – das Bestehen einer Regelungslücke – weggefallen ist. Damit verstößt das BSG gegen das Gebot der Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz - GG -).

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Allerdings ist schon zweifelhaft, ob seit Beginn der Kodifikation des SGB eine Regelungslücke hinsichtlich der Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und gesetzlichen Krankenkassen jemals bestand, die der Ausfüllung mittels eines Analogieschlusses bedurft bzw. diese gerechtfertigt hätte (5.1). Selbst wenn eine solche Regelungslücke bestanden haben sollte, wäre sie mit Einführung des § 61 SGB X (5.2), spätestens mit Einführung des § 69 Satz 3 SGB V i.d.F. des Gesetzes vom 22.12.1999 (BGBl I S. 2626), inzwischen § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V, geschlossen worden (5.3). Hieran kann auch die rhetorische Aufwertung der analogen Anwendung des § 45 SGB I und anderer Verjährungsvorschriften des SGB zu einem "ungeschriebenen allgemeinen Rechtsprinzip" nichts ändern (5.4). Über die Begrenzungsfunktion des Gesetzeswortlauts können Erwägungen zu Sinn und Zweck sowie (vermeintlicher) gesetzgeberischer Motivation nicht hinweghelfen (5.5). Sowohl ein Analogieschluss als auch eine Herleitung einer Rechtsfolge aus "ungeschriebenen allgemeinen Rechtsprinzipien" verstoßen gegen das Gebot der Gesetzesbindung, wenn hierdurch eine anhand des positiven Normtextes legitimierbare Rechtsfolge verdrängt wird (5.6). Der Umstand, dass der Gesetzgeber die Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen hat, die gesetzlichen Regelungen zu ändern, ist für die Auslegung des Gesetzes bedeutungslos (5.8). Eine Verjährungsfrist von vier Jahren ist auch nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes in die ständige Rechtsprechung des BSG einzuräumen (5.9).

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5.1 In der Rechtsprechung des BSG wurde das "allgemeine Rechtsprinzip der vierjährigen Verjährungsfrist" ursprünglich im Wege der Analogie aus § 45 Abs. 1 SGB I, später ergänzt durch Verweise auf § 25 Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) und § 113 Abs. 1 SGB X entwickelt (vgl. zum Ganzen bereits SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 – S 3 KR 645/13 –, Rn. 50 ff.; SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 35 ff.).

33

Erstmals hat das BSG kurz nach Inkrafttreten des SGB I den damaligen § 45 Abs. 4 SGB I, der vor Inkrafttreten des SGB X die Verjährung von Ansprüchen zwischen Leistungsträgern bei vorläufiger Leistung nach § 43 SGB I regelte, auf sonstige Erstattungsansprüche zwischen Leistungsträgern analog angewandt (BSG, Urteil vom 28.04.1976 – 2 RU 119/75 –, Rn.27; durch § 113 Abs. 1 SGB X überholt). Das BSG knüpfte seinerseits an ältere Rechtsprechung an, die die Frage der Verjährungsfrist bei verschiedenen nicht in der Reichsversicherungsordnung (RVO) und anderen Sozialgesetzen positiv geregelten Anspruchskategorien betraf (BSG, Urteil vom 22.03.1974 – 3 RK 47/72; BSG, Urteil vom 09.09.1971 – 3 RK 5/70; BSG, Urteil vom 18.12.1969 – 2 RU 155/67) und setzte sich von einer anderen Rechtsprechungslinie ab, die bei öffentlich-rechtlichen Erstattungsansprüchen von der (entsprechenden) Anwendbarkeit der (damals) regelmäßigen 30jährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB a.F. ausging (BSG, Urteil vom 28.07.1972 – 8 RV 127/72 m.w.N.). Bereits im Urteil vom 25.02.1966 (3 RK 9/63) hatte das BSG den Grundsatz aufgestellt, dass ein Versicherungsträger in der Frage der Verjährung nicht schlechter gestellt werden dürfe, wenn er von einem anderen Versicherungsträger anstelle des Versicherten in Anspruch genommen werde, und die zweijährige Verjährungsfrist für Leistungen der Krankenversicherung nach § 223 Abs. 1 RVO a.F. "entsprechend" auf den Ersatzanspruch zwischen Krankenkassen bei Unzuständigkeit der vorleistenden Kasse angewandt.

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Dem Urteil vom 28.04.1976 (2 RU 119/75) und den dort in Bezug genommenen Entscheidungen ist gemein, dass sie keine näheren Ausführungen zu der Frage enthalten, ob eine ggf. durch einen Analogieschluss ausfüllungsbedürftige Regelungslücke bestand. Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gesetzesbindungsgebots aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG ist eine analoge Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte ist jedoch nur dann zulässig, wenn eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 –, Rn. 29 ff.; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 374 ff). Mit einer Analogiebildung wird dem Dilemma Rechnung getragen, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind. Sie müssen auch in den Fällen, in denen eine einschlägige gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen. In einem funktionierenden Rechtsstaat muss es auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). In Folge des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gesetzesbindung darf allerdings von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht methodisch korrekt zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die analoge Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 –, Rn. 29; SG Speyer, Urteil vom 27.10.2017 – S 16 KR 440/16 –, Rn. 73).

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Deshalb ist eine Analogiebildung nicht bereits dann zulässig, wenn die (vermeintliche) Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nichtgeregelten Fall hätte einbeziehen müssen (so aber BSG, Urteil vom 24.10.1984 – 6 RKa 36/83 ,– Rn. 6; BSG, Urteil vom 06.10.2011 – B 14 AS 171/10 R –, Rn. 22), wenn der (vermeintliche) Zweck der Vorschrift auch nicht geregelte Fälle erfasst (so aber BSG, Urteil vom 12.12.1996 – 11 RAr 31/96 –, Rn. 16; BSG, Urteil vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R –, Rn. 14), aus Gründen der vom Gesetzgeber gewollten Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie (so aber BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 29 „über den Wortlaut hinaus“) oder wenn der Gesetzgeber bestimmte Möglichkeiten von Geschehensabläufen (mutmaßlich) nicht erkannt hat (so aber BSG, Urteil vom 16.04.2002 – B 9 VG 1/01 R –, Rn. 24). Das Bestehen einer Regelungslücke darf auch nicht allein aus einer postulierten Gleichartigkeit der Sachverhalte und Vergleichbarkeit der Interessenlage gefolgert werden (so aber BSG, Urteil vom 26.06.2013 – B 7 AY 6/12 R –, Rn. 18).

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Um eine "Lücke" annehmen zu können, bedarf es vielmehr der Formulierung eines Regelungsziels (hier: die Verjährung eines Anspruchs) und vor allem der Begründung, weshalb dieses Regelungsziel im betreffenden Zusammenhang realisiert werden muss. Zunächst müsste also begründet werden, warum eine Kategorie von Ansprüchen überhaupt der Verjährung unterliegen muss, obwohl dies nicht in einem Gesetzestext positiviert worden ist. Ohne eine solche Begründung ist davon auszugehen, dass das Gesetz eine abschließende Regelung darstellt und das fragliche Ziel gerade nicht enthält (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 371), konkret: dass der betreffende Anspruch eben nicht der Verjährung unterliegt. Jedenfalls bestand in sämtlichen vom BSG entschiedenen Konstellationen keine Regelungslücke in dem Sinne, dass der jeweilige Fall ohne Analogiebildung nicht entscheidbar gewesen wäre.

37

Darüber hinaus kann die Frage gestellt werden, ob die verjährungsrechtlichen Regelungen des BGB nicht ohnehin unmittelbar zur Anwendung kommen müssen, soweit bzw. solange es keine öffentlich-rechtlichen bzw. sozialrechtlichen Spezialregelungen gibt. Weder das BGB selbst noch dessen Einführungsgesetz (EGBGB) enthält eine Begrenzung des Anwendungsbereichs auf juristische und natürliche Personen des Privatrechts oder auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen.

38

Aus diesen Gründen kann bezweifelt werden, dass die im Urteil vom 28.04.1976 (2 RU 119/75) wohl erstmals praktizierte analoge Anwendung des § 45 SGB I überhaupt methodisch und – vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 97 Abs. 1 GG) – verfassungsrechtlich zu rechtfertigen war.

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Eine analoge Anwendung des § 45 SGB I (bzw. die Heranziehung von dessen Rechtsfolgen als „allgemeines Rechtsprinzip“) haben in der Folgezeit verschiedene Senate des BSG beispielweise in Bezug auf die Honoraransprüche der Kassen-/Vertrags(zahn)ärzte (BSG, Urteil vom 10.05.1995 – 6 RKa 17/94), den Zahlungsanspruch eines Krankenhauses gegen einen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG, Urteil vom 28.06.1988 – 2 RU 40/87), den Arzneimittelregress einer Kassenärztlichen Vereinigung gegen eine Universität (BSG, Urteil vom 27.01.1987 – 6 RKa 27/86), den Erstattungsanspruch zwischen öffentlich-rechtlichen Körperschaften im Bereich des Kassenarztrechts (BSG, Urteil vom 01.08.1991 – 6 RKa 9/89), den Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber auf Beitragszuschuss nach den §§ 257 SGB V, 61 SGB XI (BSG, Urteil vom 15.06.2000 – B 12 RJ 5/99 R), den Erstattungsanspruch der Krankenkasse gegen den Sozialhilfeträger nach § 264 Abs. 7 SGB V (BSG, Urteil vom 12.11.2013 – B 1 KR 56/12 R) und jüngst in Bezug auf den Anspruch der Länder auf Beteiligung des Bundes an Aufwendungen für Unterkunft und Heizung aus § 46 Abs. 5 SGB II (BSG, Urteil vom 31.05.2016 – B 1 AS 1/16 KL –, Rn. 15) bejaht.

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Das Begründungsdefizit hinsichtlich der Regelungslücke wurde in diesen Entscheidungen nicht behoben. Für die "entsprechende" Anwendung des § 45 SGB I auf hiervon nicht erfasste Ansprüche wird beispielsweise eine "Ähnlichkeit der Sachverhalte in rechtlich-wertender Hinsicht" für ausreichend gehalten und hierfür die ausdrückliche Verweisung auf das BGB in § 61 Satz 2 SGB X unter den Vorbehalt gestellt, dass sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, den Erfordernissen des öffentlichen Rechts oder den Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets nichts anderes ergibt (BSG, Urteil vom 27.01.1987 – 6 RKa 27/86 –, Rn. 15). Ein typisches Begründungsmuster ist auch die These, dass die Regelung „aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten“ sei, um früher zu beobachtende jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen (BSG, Urteil vom 31.05.2016 – B 1 AS 1/16 KL –, Rn. 15 m.w.N.).

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5.2 Von diesen grundsätzlichen Einwänden abgesehen kann seit Einführung des SGB X zum 01.01.1981 (BGBl. I 1980, 1469) für Verjährungsfragen in den Fällen, in denen auf dem Sozialgesetzbuch beruhende Rechtsbeziehungen durch öffentlich-rechtliche Verträge ausgestaltet werden, von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nicht mehr die Rede sein (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 44 ff.).

42

Für öffentlich-rechtliche Verträge ist in § 61 Satz 1 SGB X geregelt, dass die übrigen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs gelten, soweit sich aus den §§ 53 bis 60 SGB X nichts anderes ergibt. Nach § 61 Satz 2 SGB X gelten ergänzend die Vorschriften des BGB entsprechend. Vergütungsansprüche von Krankenhausträgern gegen Krankenkassen resultieren aus öffentlich-rechtlichen Verträgen (§ 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V; §§ 108, 109 SGB V) oder werden durch öffentlich-rechtliche Verträge maßgeblich gestaltet. § 61 SGB X war (vor Inkrafttreten des § 69 Satz 3 SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.1999) somit auf (u.a.) Vergütungsansprüche zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen anzuwenden.

43

Der 3. Senat des BSG hatte bezüglich des Vergütungsanspruchs eines Krankenhauses gegen eine gesetzliche Krankenkasse wegen stationärer Behandlung eines Versicherten auch vor Einführung des § 69 Satz 3 SGB V und entgegen der Verweisung des § 61 Satz 2 SGB X gleichwohl die vierjährige Verjährungsfrist des § 45 SGB I herangezogen (BSG, Urteil vom 17.06.1999 – B 3 KR 6/99 R). Zur Begründung hatte er sich seinerzeit auf das allgemeine "Rechtsprinzip der vierjährigen Verjährung im Sozialrecht" bezogen (BSG, Urteil vom 17.06.1999 – B 3 KR 6/99 R –, Rn. 12) und die Termini "entsprechende" oder "analoge Anwendung" vermieden. Das BSG konstatiert im Urteil vom 17.06.1999 zwar, dass die "Frage der Verjährung einer Krankenhausforderung für die stationäre Behandlung eines Versicherten (...) indessen weder im Zweiten Buch, Vierter Abschnitt, der RVO ("VI: Verhältnis zu Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Hebammen und Einrichtungen für Haushaltshilfe") noch (...) im Vierten Kapitel, Dritter Abschnitt, des SGB V ("Beziehungen zu Krankenhäusern und anderen Einrichtungen") oder anderswo geregelt" sei (BSG, Urteil vom 17.06.1999 – B 3 KR 6/99 R –, Rn. 11). Dies führe "aber nicht dazu, wegen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages iS der §§ 53 ff SGB X gemäß § 61 Satz 2 SGB X die Verjährungsvorschriften des BGB ergänzend heranzuziehen". Vielmehr kämen nach § 61 Satz 1 SGB X vorrangig die Vorschriften des SGB zur Anwendung. Das BSG räumt diesbezüglich zwar ein, dass weder § 45 SGB I noch eine andere Verjährungsregelung für Vergütungsansprüche zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern einschlägig ist, behilft sich an dieser Stelle aber mit dem Verweis auf das oben genannte "allgemeine Rechtsprinzip" (BSG, Urteil vom 17.06.1999 – B 3 KR 6/99 R –, Rn. 12).

44

Diese Auffassung kann indes bereits deshalb nicht überzeugen, weil die in Bezug genommen Vorschriften des SGB eingestandenermaßen nicht einschlägig sind, also für den entschiedenen Fall gerade nicht gelten. Genau für solche Fälle bedient sich der Gesetzgeber – wie im Falle des § 61 Satz 2 SGB X – der Regelungstechnik der Verweisung auf die Kodifikation des BGB, die auf Grund ihrer systematischen Geschlossenheit für die meisten Probleme bei der Durchführung von Vertragsverhältnissen Lösungen bietet (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 47).

45

5.3 Mit Einführung des § 69 Satz 3 SGB V in der Fassung des GKV-Gesundheitsreformgesetzes vom 22.12.1999 (BGBl. I 59, 2626), der seit dem 18.12.2008 wortgleich in den § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V übergegangen ist (GKV-OrgWG vom 15.12.2008 – BGBl. I 58, S. 2426), erfolgte eine Konkretisierung dieser Verweisungstechnik speziell für die Rechtsbeziehungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen, wodurch einer analogen Anwendung des § 45 SGB I bzw. der Heranziehung „allgemeiner Rechtsprinzipien“ vollends der Boden entzogen wurde (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 48 ff.).

46

Mangels konkreter Regelungen zur Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen (oder auch abstrakt zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern) im gesamten SGB einschließlich des SGB V und in den ergänzenden Gesetzen (KHG und KHEntG) schreibt § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V die Geltung des Verjährungsrechts des BGB vor. Dass diese Rechtsfolge im Wege semantischer Auslegung ohne weiteres begründbar ist, stellt das BSG nicht in Frage, sondern bezweifelt nur die Eindeutigkeit des Wortlauts (BSG, Urteil vom 12.05.2005 – B 3 KR 32/04 R –, Rn. 17 f.). Anlass für den Zweifel des Senats bietet allerdings nur der Verweis auf ein "ungeschriebenes" Rechtsprinzip. Die "Uneindeutigkeit" ergibt sich also gerade nicht aus dem "Geschriebenen", sondern wird durch Hinzufügung von "Ungeschriebenem" erst erzeugt. Auf diese Weise setzt sich das BSG über den geltenden Normtext und dessen Anwendungsbefehl hinweg.

47

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 310, zum Ganzen Rn. 304 ff., 10. Aufl. 2009). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Die in Gesetzgebungstechnik und Rechtspraxis etablierten Standards der Gesetzessystematik stellen hierbei lediglich Abkürzungen für bestimmte sprachliche Operationen dar, die die Lesbarkeit von Gesetzestexten erhöhen und deren Umfang reduzieren sollen. Die Verwendung solcher Gesetzgebungstechniken bindet die Gerichte in gleichem Maße wie der Wortlaut des Gesetzestextes in seiner Begrenzungsfunktion (SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER –, Rn. 77). Dies gilt auch für die in § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V angeordnete Verweisung auf das BGB. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze einschließlich der semantischen Grenzen der Gesetzessystematik verstößt sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip.

48

5.4 Hieran vermag auch die Kategorisierung der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 SGB I (und anderer Regelungen) als "allgemeines Rechtsprinzip" nichts zu ändern (vgl. hierzu ausführlich SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 51 ff.). Diese Bezeichnung übernimmt in der Rechtsprechung des BSG die rhetorische Funktion, das Gericht von den in Rechtswissenschaft und Rechtsprechungspraxis anerkannten methodischen Grundsätzen für eine Analogiebildung, insbesondere von der Feststellung einer Regelungslücke, zu entlasten. In den Urteilen des BSG zur Verjährung des Vergütungsanspruchs nach Einführung der Verweisung auf das BGB in § 69 SGB V (BSG, Urteil vom 12.05.2005 – B 3 KR 32/04 R; BSG, Urteil vom 28.02.2007 – B 3 KR 12/06 R) kann eine Regelungslücke, die stets Voraussetzung für einen Analogieschluss ist, ernsthaft nicht festgestellt werden. In den genannten Urteilen wird daher auch darauf verzichtet, das Vorliegen einer Regelungslücke herauszuarbeiten und Überlegungen darüber anzustellen, mit Hilfe welcher sachnahen gesetzlichen Regelung im Wege einer Analogiebildung die Lücke geschlossen werden könnte. Andernfalls müsste bereits im ersten Schritt festgestellt werden, dass es an einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke fehlt. Denn unter Berücksichtigung des Verweises in § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V auf das BGB kann die Frage, ob der Anspruch verjährt ist, anhand des im Gesetzgebungsvorgang hervorgebrachten Normtextes vollständig und widerspruchsfrei beantwortet werden.

49

Der Gesetzgeber mit der Einführung partikularer Verjährungsregelungen im SGB gerade keine allgemeine Verjährungsfrist für das Sozialgesetzbuch geschaffen und trotz der bereits in den 1970er Jahren begründeten Judikatur zum "allgemeinen Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist" (erstmals wohl BSG, Urteil vom 11.08.1976 – 10 RV 165/75 –, Rn. 18) offenbar immer wieder konkreten Regelungsbedarf für bestimmte Kategorien von Ansprüchen gesehen. Der Befund, dass die vierjährige Verjährungsfrist einem allgemeinen Prinzip des Sozialrechts entspreche, wird im Übrigen dadurch widerlegt, dass das SGB selbst andere Verjährungsfristen kennt: dreijährige Verjährungsfristen sind in § 34 Abs. 3 SGB II, § 103 Abs. 3 Satz 1 SGB XII, § 111 Abs. 1 SGB XII und durch einen Verweis auf die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB in § 113 SGB VII geregelt, dreißigjährige Verjährungsfristen in § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV und in § 52 Abs. 2 SGB X. § 303e Abs. 2 Satz 4 SGB V enthält eine Verordnungsermächtigung zur Regelung (u.a.) der Verjährungsfrist. Auch historisch lässt sich ein allgemeines Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist nicht begründen, was sich beispielsweise an § 223 RVO a.F. zeigt, der bis zum Inkrafttreten des SGB I zum 01.01.1976 eine zweijährige Verjährungsfrist für Leistungsansprüche in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehen hatte.

50

Das BSG begründet auch nicht, auf Grund welcher Rechtfertigung dem „Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist“ eine normative Wirkung zukommen sollte, die über die Bereitstellung eines Regelungskonzepts für den Fall des Bestehens von Regelungslücken hinausgehen und hierbei eine ausdrückliche gesetzliche Verweisung verdrängen soll. Rechts- oder Strukturprinzipien, die aus verschiedenen gesetzlichen Regelungen abgeleitet werden, können zur Auslegung unklarer Bestimmungen oder zur didaktischen Aufarbeitung eines Rechtsgebietes herangezogen werden. Sie sind jedoch keine Supranormen, die positivgesetzliche Regelungen verdrängen könnten (so zutreffend BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8 AY 5/07 R –, Rn. 14; vgl. bereits SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 55).

51

5.5 Die weiteren Ausführungen des BSG im Urteil vom 12.05.2005 (B 3 KR 32/04 R –, Rn. 18 ff.) zu Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck des § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V vermögen an diesem Befund bereits deshalb nichts zu ändern, weil sie nur in der Auseinandersetzung zwischen Auslegungsalternativen innerhalb der Grenzen des möglichen Wortsinns und im Einklang mit der Gesetzessystematik verfassungsrechtlich zulässige Argumente liefern können (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 56 ff.).

52

Darüber hinaus überzeugen sie auch inhaltlich nicht. Das BSG begründet seine Auffassung damit, dass durch die Neufassung des § 69 SGB V nur die Ausgrenzung des Zivilrechts aus den Rechtsbeziehungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen bezweckt gewesen sei. Es finde sich nicht der geringste Hinweis in den Gesetzesmaterialien, dass bei Ausdehnung der öffentlich-rechtlichen Bindungen entgegen dieser Tendenz die Vorschriften des BGB noch in einem größeren Maße herangezogen werden sollten, als es schon in § 61 SGB X vorgesehen sei (BSG, Urteil vom 12.05.2005 – B 3 KR 32/04 R –, Rn. 25).

53

Diese Begründung ist zirkulär, da sie zur Voraussetzung hat, dass die vor Einführung des jetzigen § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V etablierte Rechtsprechung (insbesondere im Urteil vom 17.06.1999 – B 3 KR 6/99 R) entgegen der bereits in § 61 Satz 2 SGB X enthaltenen Verweisung auf das BGB zutreffend war. Diese beruhte aber gerade nicht auf einer gesetzgeberischen Entscheidung, sondern auf einer (fehlerhaften) Lückenfüllung per Analogieschluss, sodass mit dem Verweis auch auf die Verjährungsregelungen des BGB keine Änderung hin zum BGB verbunden ist, sondern allenfalls eine Klarstellung. Davon abgesehen ändert eine Verweisung auf das BGB nichts am öffentlich-rechtlichen Charakter der Rechtsbeziehung. Eine dreijährige Verjährungsfrist ist ebensowenig "naturgemäß" bürgerlich-rechtlich wie eine vierjährige Verjährungsfrist "naturgemäß" öffentlich-rechtlich bzw. sozialrechtlich ist.

54

Auch das Argument, dass die Einbindung der Beziehungen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen in das öffentliche Recht wegen der Behandlung von Kassenpatienten zur Wahrung von Rechtsklarheit und Einheitlichkeit die Anwendung der allgemeinen sozialrechtlichen Verjährungsvorschrift des § 45 Abs. 1 SGB I erfordere (so bereits BSG, Urteil vom 17.06.1999 – B 3 KR 6/99 R –, Rn. 13 und ähnlich BSG, Urteil vom 28.11.2013 – B 3 KR 27/12 R –, Rn. 43: "Denn das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient") überzeugt nicht. Zunächst ist nicht ersichtlich, worin der Gewinn an Rechtsklarheit bestehen sollte. Der Verweis auf das BGB lässt sich sowohl dem § 61 Satz 2 SGB X als auch dem § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V entnehmen. Die Verjährungsfrist des § 45 SGB I ist hingegen eindeutig nicht einschlägig. Gleiches gilt für die anderen im SGB normierten Verjährungsregelungen. Ein Gewinn an Rechtsklarheit lässt sich am ehesten dadurch erreichen, dass sich die Rechtsprechung möglichst eng am Wortlaut des publizierten Gesetzes orientiert. Eine von Wortlaut und Gesetzessystematik gelöste Rechtsprechung führte hingegen tendenziell zur Rechtsunklarheit, da die Normadressaten zur rechtlichen Bewertung ihres Falles stets profunde Kenntnisse der Rechtsprechung benötigten. Auf die in der BSG-Rechtsprechung zu Grunde gelegten "ungeschriebenen Prinzipien" und Gerechtigkeitspostulate ist zudem kein Verlass, da diese Entscheidungsgrundlagen mangels Gesetzeskraft keinerlei Bindungswirkung unterliegen, stets zur Disposition der Gerichte stehen und dem Gerechtigkeitsempfinden des jeweiligen Spruchkörpers fortwährend aufs Neue angepasst werden können.

55

Auch zur Wahrung der "Einheitlichkeit" bzw. zur „Harmonisierung“ ist die Anwendung der Verjährungsfrist des § 45 Abs. 1 SGB I nicht erforderlich. Da das BSG diese These im Zusammenhang mit Vergütungsansprüchen von Leistungserbringern nicht näher begründet, muss wohl davon ausgegangen werden, dass es hiermit an eine Rechtsprechung anknüpft, die ein Gleichlaufen der Verjährungsfrist von Sozialleistungsansprüchen mit diesen korrespondierenden Erstattungsansprüchen als notwendig erachtet (so schon BSG, Urteil vom 25.02.1966 – 3 RK 9/63 –, Rn. 11 f.). Im Falle der Ansprüche zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern im Bereich des SGB V bedarf es einer Harmonisierung mit der Verjährungsfrist des Sozialleistungsanspruchs jedoch nicht. Der Anspruch des Leistungserbringers gegen den Leistungsträger hängt zwar vom Naturalleistungsanspruch des Versicherten ab, der (theoretisch) der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 Abs. 1 SGB I unterliegt. Der Anspruch des Leistungserbringers gegen den Leistungsträger entsteht aber erst mit Inanspruchnahme des Leistungserbringers durch den Versicherten und somit mit Erfüllung des Naturalleistungsanspruchs. Zu berücksichtigen sind also zwei zeitlich aufeinander folgende Verjährungsfristen. Es ist kein Grund dafür erkennbar, warum diese Verjährungsfristen die gleiche Länge haben müssten.

56

Dass die Heranziehung der vierjährigen Verjährungsfrist entgegen der Anwendung des § 195 BGB über § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V damit begründet wird, dass die "Regelung (...) aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten (sei), um jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen" (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 28.11.2013 – B 3 KR 27/12 R –, Rn. 43) ist nicht nachvollziehbar, da die Anwendung des BGB zu einer kürzeren Verjährungsfrist führt. Wegen § 196 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 14 BGB a.F. (zweijährige Verjährungsfrist von Ansprüchen der öffentlichen Anstalten und der Inhaber von privaten Anstalten, welche der Heilung dienen und der Ansprüche von Ärzten usw.) galt dies in der Regel auch schon vor den Änderungen des Verjährungsrechts im Rahmen der Schuldrechtsreform. Abgesehen davon rechtfertigen selbstverständlich auch keine "praktischen und haushaltsrechtlichen" Gründe die Außerachtlassung von Gesetzestext und -systematik (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 56 ff.).

57

5.6 Die Vorgehensweise des BSG im Urteil vom 12.05.2005 (B 3 KR 32/04 R, hier insbesondere Rn. 18 ff.) besteht im Wesentlichen darin, den Wortlaut der Regelung "einengend" auszulegen und dadurch den Regelungsgehalt der Vorschrift zu verkürzen, um dies anschließend mit einer Analogiebildung zu kompensieren. Im Ergebnis führt dies dazu, dass mit der Anwendung der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 SGB I analog die nach Wortlaut und Gesetzessystematik allein maßgebliche Regelung der Verjährungsfrist des § 195 BGB contra legem verdrängt wird. Soweit das BSG eine am Normtext legitimierbare Rechtsfolge durch eine nicht am Normtext, sondern lediglich auf Grund eines ungeschriebenen Prinzips legitimierte Rechtsfolge ersetzt, überschreitet es die Grenzen zulässiger Konkretisierung und handelt wegen des Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG verfassungswidrig (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 62; vgl. auch SG Speyer, Urteil vom 23.01.2017 – S 19 KR 521/16 –, Rn. 33).

58

5.7 Der 1. Senat des BSG hat sich der Rechtsauffassung des 3. Senates angeschlossen und diese mit Urteil vom 23.06.2015 (B 1 KR 26/14 R) unter Aufhebung des Urteils des SG Mainz vom 04.06.2014 (S 3 KR 645/13) aufrechterhalten. Zur Begründung hat der Senat lediglich konstatiert, dass die „Überlegungen des SG (…) zu einer abweichenden Sicht keinen Anlass“ gäben (BSG, Urteil vom 23.06.2015 – B 1 KR 26/14 R –, Rn. 44¸vgl. auch Lakkis in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 195 BGB, Rn. 19.2 und SG Speyer, Urteil vom 23.01.2017 – S 19 KR 521/16 –, Rn. 30). Angesichts dessen, dass die Frage der Verjährungsfrist in dem entschiedenen Verfahren auch aus Sicht des BSG entscheidungserheblich war, lässt sich aus dem vollständigen Fehlen einer argumentativen Auseinandersetzung nur der Schluss ziehen, dass der 1. Senat des BSG der vom SG Mainz im Urteil vom 04.06.2014 (S 3 KR 645/13) ausgearbeiteten Rechtsauffassung sachlich nichts entgegenzusetzen hat (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 63).

59

5.8 Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die ständige Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen hat, die gesetzlichen Regelungen zu ändern, wie der 1. Senat des BSG im Urteil vom 21.04.2015 (B 1 KR 11/15 R –, Rn. 15; vgl. auch BSG, Urteil vom 31.05.2016 – B 1 AS 1/16 KL –, Rn. 16) meint zu Gunsten seiner Auffassung anführen zu können, ist für die Auslegung des Gesetzes bedeutungslos. Die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung verbreitete Praxis, das Festhalten an einer überkommenen Rechtsauffassung damit zu rechtfertigen, dass „der Gesetzgeber“ in Kenntnis der Rechtsprechung keine Gesetzesänderung vorgenommen habe, entbehrt einer rechtswissenschaftlichen Grundlage (SG Mainz, Urteil vom 31.08.2015 – S 3 KR 405/13 –, Rn. 140 ff.). Aus einer unterbliebenen Reaktion der Gesetzgebungsorgane auf eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung lässt sich seriös nichts ableiten, außer der offenkundigen Tatsache, dass der der Rechtsprechung (vorgeblich) zu Grunde liegende Normtext unverändert geblieben ist. Die Interpretation der Untätigkeit der Gesetzgebungsorgane als legitimierende Billigung der Rechtsprechung ist aus verfassungsrechtlichen und tatsächlichen Gründen nicht begründbar (vgl. ausführlich SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 64 ff.).

60

5.9 Eine Verjährungsfrist von vier Jahren ist auch nicht aus Gründen eines schutzwürdigen Vertrauens in eine ständige Rechtsprechung des BSG einzuräumen (so ausführlich SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 73 ff.; SG Speyer, Urteil vom 23.01.2017 – S 19 KR 521/16 –, Rn. 43 f.).

61

Gerichte dürfen wegen ihrer Funktion im Rechtsstaat über auf konkrete Verfahren bezogene Maßnahmen hinaus keinen Vertrauensschutz auf ihre Rechtsprechung oder auf die Rechtsprechung der ihnen übergeordneten Gerichte gewähren. Gerichte (auch Revisionsgerichte) entscheiden stets nur den Einzelfall. Die Bindungswirkung ihrer Entscheidungen (mit der signifikanten Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts, vgl. § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG) erstreckt sich außer in Fällen der verwaltungsgerichtlichen Normkontrolle nur auf die jeweils Verfahrensbeteiligten (§ 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG).

62

Die Bundesgerichte prägen mithin zwar tatsächlich die Rechtswirklichkeit, sie verfügen aber nicht exklusiv über das Recht. Sie haben insbesondere – abgesehen vom extremen Ausnahmefall der echten Regelungslücke (zu den Voraussetzungen s.o. unter 5.1) – keine Normsetzungsbefugnis. Die Etablierung einer "ständigen Rechtsprechung" bedeutet für einen Rechtssuchenden, der sich hiergegen wendet, daher nur eine tatsächliche Hürde. Ein rechtliches Problem ergibt sich hieraus aber nur in der Hinsicht, dass Prozessordnungen für eine Abweichung von höher- oder gleichrangiger Rechtsprechung bestimmte Rechtsfolgen regeln. Ein Gericht darf und kann jedoch in jeder Einzelentscheidung von eigener oder anderer Rechtsprechung abweichen, es muss gegebenenfalls nur die Berufung bzw. die Revision zulassen, im Falle eines Bundesgerichts gegebenenfalls die Entscheidung des Großen Senats oder des Gemeinsamen Senats. Die Gerichte haben aber das Recht stets so anzuwenden, wie es der jeweils zuständige Spruchkörper im konkreten Streitfall als richtig erkennt. Dies ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 97 Abs. 1 GG (BVerwG, Beschluss vom 28.02.1995 – 4 B 214/94 –, Rn. 3).

63

Dass Rechtsunterworfene nicht auf eine "ständige Rechtsprechung" vertrauen können, ist die notwendige Kehrseite dafür, dass sie mit ihrer Rechtsauffassung auch dann noch ernstgenommen werden (müssen) und durchdringen können, wenn eine "ständige Rechtsprechung" ihrer Rechtsauffassung entgegensteht. Die argumentativen Hürden mögen dann in tatsächlicher Hinsicht höher sein; sie sind jedoch nicht unüberwindlich. Gegen die Gewährung von Vertrauensschutz in eine ständige Rechtsprechung spricht daher auch, dass das Festhalten an einer als fehlerhaft erkannten ständigen Rechtsprechung im kontradiktorischen Verfahren stets zu einer nicht zu rechtfertigenden Benachteiligung der anderen Prozesspartei führt, obwohl dieser zur Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers in der Sache eigentlich Recht zu geben wäre (so geschehen etwa im Urteil des BSG vom 28.09.2005 – B 6 KA 71/04 R –, Rn 49). Für die nur auf Grund von "Vertrauensschutzgesichtspunkten" unterlegene Partei stellte dies eine Rechtsverweigerung dar, die ihrerseits vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips, der Bindung an Recht und Gesetz und des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz nicht gerechtfertigt werden könnte (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 78).

64

Hiervon abgesehen ist keine Rechtfertigung dafür ersichtlich, weshalb Instanzgerichte Vertrauensschutz in die Rechtsprechung des obersten Bundesgerichts gewähren dürfen oder gar hierzu verpflichtet sein sollten, wenn sie selbst eine andere Rechtsauffassung vertreten und daher zur Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesgerichts berechtigt (vgl. §§ 144 Abs. 2 Nr. 2, 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG) und gemäß Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG auch verpflichtet sind; des Weiteren ist kaum sinnvoll zu begründen, weshalb das Bundesgericht ein im Übrigen zutreffendes Urteil eines Instanzgerichts aufheben dürfen sollte, nur weil es selbst zuvor eine unzutreffende Rechtsauffassung vertreten hat. Die Vorstellung, dass Instanzgerichte Vertrauensschutz in ihre eigene Rechtsprechung gewähren müssten oder dürften, ist angesichts der Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, ohnehin fernliegend (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 79).

65

5.10 Die Heranziehung der vierjährigen Verjährungsfrist aus § 45 Abs. 1 SGB I für die Rechtsverhältnisse zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen im Rahmen des § 69 SGB V ist nach alldem nicht zu rechtfertigen. Die vom Beklagten vorliegend geltend gemachte Gegenforderung aus einem Erstattungsanspruch nach § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB unterliegt der dreijährigen Verjährungsfrist aus § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. § 195 BGB.

66

6. Die Verjährung ist eingetreten.

67

6.1 Der (potenzielle) Erstattungsanspruch der Beklagten wäre mit Leistung der streitigen Vergütung am 28.10.2009 entstanden. Die Verjährungsfrist begann somit gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB am 31.12.2009 zu laufen.

68

Die Beklagte hatte zugleich mit ihrer Zahlung am 28.10.2009 Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB. Anspruchsbegründender Umstand ist bei Ansprüchen aus Leistungskondiktion gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB allein die Tatsache, dass die Leistung bewirkt wurde. Die Rechtsgrundlosigkeit als solche ist zwar eine Anspruchsvoraussetzung, aber kein den Anspruch begründender Umstand. Unter den Anspruch begründenden Umständen im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB sind Tatsachen zu verstehen, nicht (zutreffende) rechtliche Würdigungen. Für den Beginn der Verjährungsfrist ist demnach nur die Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis von Tatsachen erforderlich, nicht deren rechtliche Würdigung. Die Rechtsgrundlosigkeit im Sinne des § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB ist wiederum Folge des Fehlens von Umständen bzw. Tatsachen, die nach zutreffender rechtlicher Würdigung einen Rechtsgrund für die erfolgte Leistung begründen würden. Für die Entstehung eines Kondiktionsanspruchs nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB muss daher neben der positiven Tatsache der Leistung kein weiterer positiver Umstand vorliegen, auf den sich die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB beziehen könnte. Für den Beginn der Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB in Bezug auf einen Anspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB reicht demnach die Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis bezüglich des Umstands aus, dass eine Leistung im Sinne einer auf bewusste und zweckgerichtete Vermögensmehrung gerichteten Zuwendung (Martinek in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 812 BGB, Rn. 23 m.w.N.) erfolgt ist.

69

Soweit die Auffassung vertreten wird, dass für den Beginn der Verjährungsfrist bei einem Bereicherungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB zu den anspruchsbegründenden Umständen auch diejenigen Tatsachen gehören, aus denen sich das Fehlen eines Rechtsgrunds ergibt (z.B. BGH, Urteil vom 15.06.2010 – XI ZR 309/09 – Rn. 12 m.w.N.; Schmidt-Räntsch in: Erman BGB, Kommentar, § 199 BGB, Rn. 21), vermag dies nicht zu überzeugen. Denn im strengen Sinne begründen solche Umstände den Kondiktionsanspruch nicht, sondern bilden lediglich Einwendungsausschlussgründe gegen ein mögliches Kausalverhältnis. Das Fehlen solcher Umstände beseitigt den Kondiktionsanspruch nur dann, wenn überhaupt Tatsachen vorliegen, die ein Kausalverhältnis begründen können. Zur Begründung des Anspruchs sind sie also nur unter bestimmten Voraussetzungen erforderlich. Wenn in einem Rechtsstreit festgestellt wird, dass eine Leistung im Sinne des § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB erfolgt ist, jedoch keine Tatsachen festgestellt werden können, die einen Rechtsgrund für die Leistung belegen können, ist der Klage stattzugeben. Nur die Leistung als solche ist daher ein den Anspruch begründender Umstand im eigentlichen Sinne (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 88).

70

Zudem ist der Inbegriff der Tatsachen, „aus denen sich das Fehlen eines Rechtsgrundes ergibt“ (BGH, Urteil vom 15.06.2010 – XI ZR 309/09 – Rn. 12), nicht sinnvoll einzugrenzen. Denn jeder Umstand, der nicht dazu geeignet ist, das in Rede stehende Schuldverhältnis zu begründen, ist logisch gleichursächlich für das Fehlen eines Rechtsgrundes. Würden diese Umstände als den Anspruch begründend im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB angesehen, wäre deren Zahl unendlich.

71

Nur die Leistung als solche als anspruchsbegründenden Umstand zu betrachten, ist auch im Ergebnis sachgerecht, da auch der Bereicherungsschuldner hinsichtlich des Behaltendürfens des Geleisteten ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit hat. Auch dieser muss die Gründe für das Nichtbestehen eines Kausalverhältnisses nicht kennen und darf damit rechnen, nach Ablauf der nach erkennbaren Kriterien zu berechnenden Verjährungsfrist das Geleistete behalten zu dürfen. Dies gilt umso mehr, wenn potenzielle Bereicherungsgläubiger – wie vorliegend und allgemein Krankenkassen gegenüber Krankenhausträgern – bewusst die vermeintlich geschuldete Leistung erbringen, um anschließend erst zu prüfen, ob ein Rechtsgrund hierfür vorlag. Denn die Krankenkasse begibt sich wie hier die Beklagte bewusst in die Rolle eines potenziellen Bereicherungsgläubigers (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 –, Rn. 90).

72

6.2 Die Verjährungsfrist endete gemäß § 195 BGB am 31.12.2012. Hemmungstatbestände lagen nicht vor. Insbesondere haben zwischen den Beteiligten keine Verhandlungen im Sinne des § 203 Satz 1 BGB stattgefunden. Eine Verhandlung im Sinne des § 203 Satz 1 BGB liegt vor, wenn ein Meinungsaustausch über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände stattfindet, aufgrund dessen der Gläubiger davon ausgehen kann, sein Begehren werde von der Gegenseite noch nicht endgültig abgelehnt. Erforderlich aber auch ausreichend ist jeder Meinungsaustausch über den Anspruch oder die ihn begründenden Umstände, der über eine schlichte Erfüllungsverweigerung des Schuldners hinausgeht (Lakkis in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 203 BGB, Rn. 5). Vorliegend fand ein derartiger Meinungsaustausch nicht statt. Andere Hemmungstatbestände kommen ersichtlich nicht in Betracht.

73

Zum Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung vom 18.12.2013 war die Forderung der Beklagten gegen die Klägerin aus § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. § 812 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BGB demnach verjährt.

74

7. Gemäß § 390 BGB ist die Aufrechnung mit einer Forderung ausgeschlossen, der eine Einrede entgegensteht. Der Erhebung der Einrede bedarf es hierfür nicht (Rüßmann in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 390 BGB, Rn. 9 m.w.N.).

75

8. Die Aufrechnung ist auch nicht deshalb wirksam, weil sich Gegenforderung oder Hauptforderung zu einem bestimmten Zeitpunkt aufrechenbar gegenübergestanden hätten. Nach § 215 BGB schließt die Verjährung der Gegenforderung die Aufrechnung nicht aus, wenn der Anspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem erstmals aufgerechnet werden konnte. Zum Zeitpunkt der Entstehung der von der Klägerin erhobenen Hauptforderung im Dezember 2013 war die Verjährung der Gegenforderung der Beklagten jedoch bereits eingetreten, so dass zu keinem Zeitpunkt eine Aufrechnungslage bestand.

76

9. Die am 18.12.2013 durch die Beklagte erklärte Aufrechnung ist somit unwirksam. Die mit der vorliegenden Klage geltend gemachte Vergütungsforderung ist nicht gemäß § 389 BGB erloschen. Der klägerische Anspruch selbst ist nicht verjährt. Die hierfür ebenfalls maßgebliche Verjährungsfrist von drei Jahren endete am 31.12.2016, wurde jedoch durch Erhebung der vorliegenden Klage gehemmt.

77

Die Beklagte war daher antragsgemäß zur Leistung zu verurteilen.

III.

78

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. mit § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Demnach trägt der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens. Da die Klägerin voll obsiegt hat, waren der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

IV.

79

Der Streitwert in der Hauptsache ist nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen des Gerichts zu bestimmen (§ 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend (§ 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 3 GKG. Der Streitwert entspricht hier der eingeklagten Hauptforderung.

Urteilsbesprechung zu Sozialgericht Speyer Urteil, 16. Feb. 2018 - S 13 KR 286/16

Urteilsbesprechungen zu Sozialgericht Speyer Urteil, 16. Feb. 2018 - S 13 KR 286/16

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 52 Verfahren vor Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit


(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.
Sozialgericht Speyer Urteil, 16. Feb. 2018 - S 13 KR 286/16 zitiert 57 §§.

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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 52 Verfahren vor Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit


(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 20


(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 54


(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 144


(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hier

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 199 Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist und Verjährungshöchstfristen


(1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem1.der Anspruch entstanden ist und2.der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des S

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 197a


(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskosten

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 195 Regelmäßige Verjährungsfrist


Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht


Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 275 Begutachtung und Beratung


(1) Die Krankenkassen sind in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, verpflichtet,1.bei Erbringung von Leistungen, insbesondere zur Prüfu

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 387 Voraussetzungen


Schulden zwei Personen einander Leistungen, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind, so kann jeder Teil seine Forderung gegen die Forderung des anderen Teils aufrechnen, sobald er die ihm gebührende Leistung fordern und die ihm obliegende Leistung

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 389 Wirkung der Aufrechnung


Die Aufrechnung bewirkt, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind.

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 109 Abschluß von Versorgungsverträgen mit Krankenhäusern


(1) Der Versorgungsvertrag nach § 108 Nr. 3 kommt durch Einigung zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam und dem Krankenhausträger zustande; er bedarf der Schriftform. Bei den Hochschulkliniken gilt die Anerkennu

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 108 Zugelassene Krankenhäuser


Die Krankenkassen dürfen Krankenhausbehandlung nur durch folgende Krankenhäuser (zugelassene Krankenhäuser) erbringen lassen: 1. Krankenhäuser, die nach den landesrechtlichen Vorschriften als Hochschulklinik anerkannt sind,2. Krankenhäuser, die in de

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 203 Hemmung der Verjährung bei Verhandlungen


Schweben zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände, so ist die Verjährung gehemmt, bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert. Die Verjähru

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 69 Anwendungsbereich


(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der B

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 112 Zweiseitige Verträge und Rahmenempfehlungen über Krankenhausbehandlung


(1) Die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam schließen mit der Landeskrankenhausgesellschaft oder mit den Vereinigungen der Krankenhausträger im Land gemeinsam Verträge, um sicherzustellen, daß Art und Umfang der Krankenhau

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 97


(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. (2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Ge

Sozialgesetzbuch (SGB) Viertes Buch (IV) - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (Artikel I des Gesetzes vom 23. Dezember 1976, BGBl. I S. 3845) - SGB 4 | § 25 Verjährung


(1) Ansprüche auf Beiträge verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie fällig geworden sind. Ansprüche auf vorsätzlich vorenthaltene Beiträge verjähren in dreißig Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie fällig geworden

Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015) - SGB 1 | § 45 Verjährung


(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind. (2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gese

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 196 Verjährungsfrist bei Rechten an einem Grundstück


Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück sowie auf Begründung, Übertragung oder Aufhebung eines Rechts an einem Grundstück oder auf Änderung des Inhalts eines solchen Rechts sowie die Ansprüche auf die Gegenleistung verjähren in ze

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 264 Übernahme der Krankenbehandlung für nicht Versicherungspflichtige gegen Kostenerstattung


(1) Die Krankenkasse kann für Arbeits- und Erwerbslose, die nicht gesetzlich gegen Krankheit versichert sind, für andere Hilfeempfänger sowie für die vom Bundesministerium für Gesundheit bezeichneten Personenkreise die Krankenbehandlung übernehmen, s

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 70 Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit


(1) Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Die Versorgung der Versicherten m

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 115b Ambulantes Operieren im Krankenhaus


(1) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen vereinbaren auf der Grundlage des Gutachtens nach Absatz 1a bis zum 31. Januar 2022 1. einen Katalog ambulant durchführba

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 257 Beitragszuschüsse für Beschäftigte


(1) Freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Beschäftigte, die nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze versicherungsfrei sind, erhalten von ihrem Arbeitgeber als Beitragszuschuß den Betrag, den der Arbeitgeber en

Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954) - SGB 2 | § 46 Finanzierung aus Bundesmitteln


(1) Der Bund trägt die Aufwendungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende einschließlich der Verwaltungskosten, soweit die Leistungen von der Bundesagentur erbracht werden. Der Bundesrechnungshof prüft die Leistungsgewährung. Dies gilt auch, soweit d

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 215 Aufrechnung und Zurückbehaltungsrecht nach Eintritt der Verjährung


Die Verjährung schließt die Aufrechnung und die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts nicht aus, wenn der Anspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem erstmals aufgerechnet oder die Leistung verweigert werden konnte.

Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015) - SGB 1 | § 43 Vorläufige Leistungen


(1) Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflicht

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 141


(1) Rechtskräftige Urteile binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, 1. die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger,2. im Falle des § 75 Absatz 2a die Personen und im Falle des § 75 Absatz 2b die Versicherungsträger, die einen An

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 63 Grundsätze


(1) Die Krankenkassen und ihre Verbände können im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung zur Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Versorgung Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Verfahrens-, Organisations-, Finanzierungs-

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 53 Zulässigkeit des öffentlich-rechtlichen Vertrages


(1) Ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts kann durch Vertrag begründet, geändert oder aufgehoben werden (öffentlich-rechtlicher Vertrag), soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Insbesondere kann die Behörde, anstatt ein

Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954) - SGB 2 | § 34 Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten


(1) Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grun

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 113 Verjährung


(1) Erstattungsansprüche verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über dessen Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. Rü

Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) - SGB 5 | § 303e Datenverarbeitung


(1) Das Forschungsdatenzentrum macht die ihm vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen und von der Vertrauensstelle übermittelten Daten nach Maßgabe der Absätze 3 bis 6 folgenden Nutzungsberechtigten zugänglich, soweit diese nach Absatz 2 zur Verarbe

Referenzen - Urteile

Sozialgericht Speyer Urteil, 16. Feb. 2018 - S 13 KR 286/16 zitiert oder wird zitiert von 16 Urteil(en).

Sozialgericht Speyer Urteil, 16. Feb. 2018 - S 13 KR 286/16 zitiert 16 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesgerichtshof Urteil, 15. Juni 2010 - XI ZR 309/09

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL XI ZR 309/09 Verkündet am: 15. Juni 2010 Herrwerth, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR:

Bundessozialgericht Urteil, 31. Mai 2016 - B 1 AS 1/16 KL

bei uns veröffentlicht am 31.05.2016

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Sozialgericht Mainz Vorlagebeschluss, 18. Apr. 2016 - S 3 AS 149/16

bei uns veröffentlicht am 18.04.2016

weitere Fundstellen ... Diese Entscheidung wird zitiert Diese Entscheidung zitiert Tenor 1. Das Verfahren wird ausgesetzt. 2. Dem Bundesverfassungsgericht werden folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt: a) Ist § 7 Abs. 1 Satz 2

Sozialgericht Mainz Urteil, 01. März 2016 - S 14 KR 536/12

bei uns veröffentlicht am 01.03.2016

Tenor 1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.282,86 Euro nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 15. Mai 2012 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 2. Die Klägerin hat 80 Prozent

Sozialgericht Mainz Beschluss, 12. Nov. 2015 - S 12 AS 946/15 ER

bei uns veröffentlicht am 12.11.2015

weitere Fundstellen ... Diese Entscheidung wird zitiert Diese Entscheidung zitiert Tenor 1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von 937,10 Euro

Bundessozialgericht Urteil, 23. Juni 2015 - B 1 KR 26/14 R

bei uns veröffentlicht am 23.06.2015

Tenor Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4. Juni 2014 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Bundessozialgericht Urteil, 21. Apr. 2015 - B 1 KR 11/15 R

bei uns veröffentlicht am 21.04.2015

Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das La

Sozialgericht Mainz Urteil, 24. Juni 2014 - S 3 KR 518/11

bei uns veröffentlicht am 24.06.2014

Diese Entscheidung zitiert Tenor 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. 3. Der Streitwert wird auf 4.996,16 Euro festgesetzt. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über die ordnungsgemäß

Bundessozialgericht Urteil, 13. Feb. 2014 - B 4 AS 19/13 R

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Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 15. Februar 2013 teilweise aufgehoben.

Bundessozialgericht Urteil, 17. Dez. 2013 - B 1 KR 60/12 R

bei uns veröffentlicht am 17.12.2013

Tenor Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 16. Mai 2012 und des Sozialgerichts Leipzig vom 21. April 2010 aufgehoben. Die Beklagte wird verurtei

Bundessozialgericht Urteil, 28. Nov. 2013 - B 3 KR 27/12 R

bei uns veröffentlicht am 28.11.2013

Tenor Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2012 - L 1 KR 18/10 - und des Sozialgerichts Aachen vom 8. Dezember 2009 geändert un

Bundessozialgericht Urteil, 12. Nov. 2013 - B 1 KR 56/12 R

bei uns veröffentlicht am 12.11.2013

Tenor Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Juli 2012 wird zurückgewiesen.

Bundessozialgericht Urteil, 02. Juli 2013 - B 1 KR 49/12 R

bei uns veröffentlicht am 02.07.2013

Tenor Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 2. Februar 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Bundessozialgericht Urteil, 26. Juni 2013 - B 7 AY 6/12 R

bei uns veröffentlicht am 26.06.2013

Tenor Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24. April 2012 wird zurückgewiesen.

Bundessozialgericht Urteil, 21. März 2013 - B 3 KR 28/12 R

bei uns veröffentlicht am 21.03.2013

Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. Juli 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das

Bundessozialgericht Urteil, 06. Okt. 2011 - B 14 AS 171/10 R

bei uns veröffentlicht am 06.10.2011

Tenor Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. September 2010 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Februar 2008 geändert, soweit der Bekl

Referenzen

(1) Die Krankenkassen sind in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, verpflichtet,

1.
bei Erbringung von Leistungen, insbesondere zur Prüfung von Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistung, sowie bei Auffälligkeiten zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrechnung,
2.
zur Einleitung von Leistungen zur Teilhabe, insbesondere zur Koordinierung der Leistungen nach den §§ 14 bis 24 des Neunten Buches, im Benehmen mit dem behandelnden Arzt,
3.
bei Arbeitsunfähigkeit
a)
zur Sicherung des Behandlungserfolgs, insbesondere zur Einleitung von Maßnahmen der Leistungsträger für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, oder
b)
zur Beseitigung von Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit
eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen. Die Regelungen des § 87 Absatz 1c zu dem im Bundesmantelvertrag für Zahnärzte vorgesehenen Gutachterverfahren bleiben unberührt.

(1a) Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit nach Absatz 1 Nr. 3 Buchstabe b sind insbesondere in Fällen anzunehmen, in denen

a)
Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder
b)
die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Die Prüfung hat unverzüglich nach Vorlage der ärztlichen Feststellung über die Arbeitsunfähigkeit zu erfolgen. Der Arbeitgeber kann verlangen, daß die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit einholt. Die Krankenkasse kann von einer Beauftragung des Medizinischen Dienstes absehen, wenn sich die medizinischen Voraussetzungen der Arbeitsunfähigkeit eindeutig aus den der Krankenkasse vorliegenden ärztlichen Unterlagen ergeben.

(1b) Die Krankenkassen dürfen für den Zweck der Feststellung, ob bei Arbeitsunfähigkeit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen ist, im jeweils erforderlichen Umfang grundsätzlich nur die bereits nach § 284 Absatz 1 rechtmäßig erhobenen und gespeicherten versichertenbezogenen Daten verarbeiten. Sollte die Verarbeitung bereits bei den Krankenkassen vorhandener Daten für den Zweck nach Satz 1 nicht ausreichen, dürfen die Krankenkassen abweichend von Satz 1 zu dem dort bezeichneten Zweck bei den Versicherten nur folgende versichertenbezogene Angaben im jeweils erforderlichen Umfang erheben und verarbeiten:

1.
Angaben dazu, ob eine Wiederaufnahme der Arbeit absehbar ist und gegebenenfalls zu welchem Zeitpunkt eine Wiederaufnahme der Arbeit voraussichtlich erfolgt, und
2.
Angaben zu konkret bevorstehenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, die einer Wiederaufnahme der Arbeit entgegenstehen.
Die Krankenkassen dürfen die Angaben nach Satz 2 bei den Versicherten grundsätzlich nur schriftlich oder elektronisch erheben. Abweichend von Satz 3 ist eine telefonische Erhebung zulässig, wenn die Versicherten in die telefonische Erhebung zuvor schriftlich oder elektronisch eingewilligt haben. Die Krankenkassen haben jede telefonische Erhebung beim Versicherten zu protokollieren; die Versicherten sind hierauf sowie insbesondere auf das Auskunftsrecht nach Artikel 15 der Verordnung (EU) 2016/679 hinzuweisen. Versichertenanfragen der Krankenkassen im Rahmen der Durchführung der individuellen Beratung und Hilfestellung nach § 44 Absatz 4 bleiben unberührt. Abweichend von Satz 1 dürfen die Krankenkassen zu dem in Satz 1 bezeichneten Zweck im Rahmen einer Anfrage bei dem die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellenden Leistungserbringer weitere Angaben erheben und verarbeiten. Den Umfang der Datenerhebung nach Satz 7 regelt der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Richtlinie nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 7 unter der Voraussetzung, dass diese Angaben erforderlich sind
1.
zur Konkretisierung der auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgeführten Diagnosen,
2.
zur Kenntnis von weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, die in Bezug auf die die Arbeitsunfähigkeit auslösenden Diagnosen vorgesehenen sind,
3.
zur Ermittlung von Art und Umfang der zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübten Beschäftigung oder
4.
bei Leistungsempfängern nach dem Dritten Buch zur Feststellung des zeitlichen Umfangs, für den diese Versicherten zur Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen.
Die nach diesem Absatz erhobenen und verarbeiteten versichertenbezogenen Daten dürfen von den Krankenkassen nicht mit anderen Daten zu einem anderen Zweck zusammengeführt werden und sind zu löschen, sobald sie nicht mehr für die Entscheidung, ob bei Arbeitsunfähigkeit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen ist, benötigt werden.

(1c) (weggefallen)

(2) Die Krankenkassen haben durch den Medizinischen Dienst prüfen zu lassen

1.
die Notwendigkeit der Leistungen nach den §§ 23, 24, 40 und 41, mit Ausnahme von Verordnungen nach § 40 Absatz 3 Satz 2, unter Zugrundelegung eines ärztlichen Behandlungsplans in Stichproben vor Bewilligung und regelmäßig bei beantragter Verlängerung; der Spitzenverband Bund der Krankenkassen regelt in Richtlinien den Umfang und die Auswahl der Stichprobe und kann Ausnahmen zulassen, wenn Prüfungen nach Indikation und Personenkreis nicht notwendig erscheinen; dies gilt insbesondere für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Anschluß an eine Krankenhausbehandlung (Anschlußheilbehandlung),
2.
bei Kostenübernahme einer Behandlung im Ausland, ob die Behandlung einer Krankheit nur im Ausland möglich ist (§ 18),
3.
ob und für welchen Zeitraum häusliche Krankenpflege länger als vier Wochen erforderlich ist (§ 37 Abs. 1),
4.
ob Versorgung mit Zahnersatz aus medizinischen Gründen ausnahmsweise unaufschiebbar ist (§ 27 Abs. 2),
5.
den Anspruch auf Leistungen der außerklinischen Intensivpflege nach § 37c Absatz 2 Satz 1.

(3) Die Krankenkassen können in geeigneten Fällen durch den Medizinischen Dienst prüfen lassen

1.
vor Bewilligung eines Hilfsmittels, ob das Hilfsmittel erforderlich ist (§ 33); der Medizinische Dienst hat hierbei den Versicherten zu beraten; er hat mit den Orthopädischen Versorgungsstellen zusammenzuarbeiten,
2.
bei Dialysebehandlung, welche Form der ambulanten Dialysebehandlung unter Berücksichtigung des Einzelfalls notwendig und wirtschaftlich ist,
3.
die Evaluation durchgeführter Hilfsmittelversorgungen,
4.
ob Versicherten bei der Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen aus Behandlungsfehlern ein Schaden entstanden ist (§ 66).
Der Medizinische Dienst hat den Krankenkassen das Ergebnis seiner Prüfung nach Satz 1 Nummer 4 durch eine gutachterliche Stellungnahme mitzuteilen, die auch in den Fällen nachvollziehbar zu begründen ist, in denen gutachterlich kein Behandlungsfehler festgestellt wird, wenn dies zur angemessenen Unterrichtung des Versicherten im Einzelfall erforderlich ist.

(3a) Ergeben sich bei der Auswertung der Unterlagen über die Zuordnung von Patienten zu den Behandlungsbereichen nach § 4 der Psychiatrie-Personalverordnung in vergleichbaren Gruppen Abweichungen, so können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen die Zuordnungen durch den Medizinischen Dienst überprüfen lassen; das zu übermittelnde Ergebnis der Überprüfung darf keine Sozialdaten enthalten.

(3b) Hat in den Fällen des Absatzes 3 die Krankenkasse den Leistungsantrag des Versicherten ohne vorherige Prüfung durch den Medizinischen Dienst wegen fehlender medizinischer Erforderlichkeit abgelehnt, hat sie vor dem Erlass eines Widerspruchsbescheids eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen.

(3c) Lehnt die Krankenkasse einen Leistungsantrag einer oder eines Versicherten ab und liegt dieser Ablehnung eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes nach den Absätzen 1 bis 3 zugrunde, ist die Krankenkasse verpflichtet, in ihrem Bescheid der oder dem Versicherten das Ergebnis der gutachtlichen Stellungnahme des Medizinischen Dienstes und die wesentlichen Gründe für dieses Ergebnis in einer verständlichen und nachvollziehbaren Form mitzuteilen sowie auf die Möglichkeit hinzuweisen, sich bei Beschwerden vertraulich an die Ombudsperson nach § 278 Absatz 3 zu wenden.

(4) Die Krankenkassen und ihre Verbände sollen bei der Erfüllung anderer als der in Absatz 1 bis 3 genannten Aufgaben im notwendigen Umfang den Medizinischen Dienst oder andere Gutachterdienste zu Rate ziehen, insbesondere für allgemeine medizinische Fragen der gesundheitlichen Versorgung und Beratung der Versicherten, für Fragen der Qualitätssicherung, für Vertragsverhandlungen mit den Leistungserbringern und für Beratungen der gemeinsamen Ausschüsse von Ärzten und Krankenkassen, insbesondere der Prüfungsausschüsse. Der Medizinische Dienst führt die Aufgaben nach § 116b Absatz 2 durch, wenn der erweiterte Landesausschuss ihn hiermit nach § 116b Absatz 3 Satz 8 ganz oder teilweise beauftragt.

(4a) Soweit die Erfüllung der sonstigen dem Medizinischen Dienst obliegenden Aufgaben nicht beeinträchtigt wird, kann er Beamte nach den §§ 44 bis 49 des Bundesbeamtengesetzes ärztlich untersuchen und ärztliche Gutachten fertigen. Die hierdurch entstehenden Kosten sind von der Behörde, die den Auftrag erteilt hat, zu erstatten. § 280 Absatz 2 Satz 2 gilt entsprechend. Der Medizinische Dienst Bund und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat vereinbaren unter Beteiligung der Medizinischen Dienste, die ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Durchführung von Untersuchungen und zur Fertigung von Gutachten nach Satz 1 erklärt haben, das Nähere über das Verfahren und die Höhe der Kostenerstattung. Die Medizinischen Dienste legen die Vereinbarung ihrer Aufsichtsbehörde vor, die der Vereinbarung innerhalb von drei Monaten nach Vorlage widersprechen kann, wenn die Erfüllung der sonstigen Aufgaben des Medizinischen Dienstes gefährdet wäre.

(4b) Soweit die Erfüllung der dem Medizinischen Dienst gesetzlich obliegenden Aufgaben nicht beeinträchtigt wird, kann der Medizinische Dienst Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf Ersuchen insbesondere einer für die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zuständigen Einrichtung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, eines zugelassenen Krankenhauses im Sinne des § 108, eines nach § 95 Absatz 1 Satz 1 an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringers sowie eines Trägers einer zugelassenen Pflegeeinrichtung im Sinne des § 72 des Elften Buches befristet eine unterstützende Tätigkeit bei diesen Behörden, Einrichtungen oder Leistungserbringern zuweisen. Die hierdurch dem Medizinischen Dienst entstehenden Personal- und Sachkosten sind von der Behörde, der Einrichtung, dem Einrichtungsträger oder dem Leistungserbringer, die oder der die Unterstützung erbeten hat, zu erstatten. Das Nähere über den Umfang der Unterstützungsleistung sowie zu Verfahren und Höhe der Kostenerstattung vereinbaren der Medizinische Dienst und die um Unterstützung bittende Behörde oder Einrichtung oder der um Unterstützung bittende Einrichtungsträger oder Leistungserbringer. Eine Verwendung von Umlagemitteln nach § 280 Absatz 1 Satz 1 zur Finanzierung der Unterstützung nach Satz 1 ist auszuschließen. Der Medizinische Dienst legt die Zuweisungsverfügung seiner Aufsichtsbehörde vor, die dieser innerhalb einer Woche nach Vorlage widersprechen kann, wenn die Erfüllung der dem Medizinischen Dienst gesetzlich obliegenden Aufgaben beeinträchtigt wäre.

(5) Die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes sind bei der Wahrnehmung ihrer fachlichen Aufgaben nur ihrem Gewissen unterworfen. Sie sind nicht berechtigt, in die Behandlung und pflegerische Versorgung der Versicherten einzugreifen.

(6) Jede fallabschließende gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes ist in schriftlicher oder elektronischer Form zu verfassen und muss zumindest eine kurze Darlegung der Fragestellung und des Sachverhalts, das Ergebnis der Begutachtung und die wesentlichen Gründe für dieses Ergebnis umfassen.

(1) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen vereinbaren auf der Grundlage des Gutachtens nach Absatz 1a bis zum 31. Januar 2022

1.
einen Katalog ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen,
2.
einheitliche Vergütungen für Krankenhäuser und Vertragsärzte.
Die Vereinbarung nach Satz 1 tritt mit ihrem Wirksamwerden an die Stelle der am 31. Dezember 2019 geltenden Vereinbarung. In die Vereinbarung nach Satz 1 Nummer 1 sind die in dem Gutachten nach Absatz 1a benannten ambulant durchführbaren Operationen und die stationsersetzenden Eingriffe und stationsersetzenden Behandlungen aufzunehmen, die in der Regel ambulant durchgeführt werden können, sowie allgemeine Tatbestände zu bestimmen, bei deren Vorliegen eine stationäre Durchführung erforderlich sein kann. Die Vergütung nach Satz 1 Nummer 2 ist nach dem Schweregrad der Fälle zu differenzieren und erfolgt auf betriebswirtschaftlicher Grundlage, ausgehend vom einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen unter ergänzender Berücksichtigung der nichtärztlichen Leistungen, der Sachkosten sowie der spezifischen Investitionsbedingungen. In der Vereinbarung sind die Qualitätsvoraussetzungen nach § 135 Abs. 2 sowie die Richtlinien und Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 Abs. 1 Satz 2 und den §§ 136 bis 136b zu berücksichtigen. In der Vereinbarung ist vorzusehen, dass die Leistungen nach Satz 1 auch auf der Grundlage einer vertraglichen Zusammenarbeit des Krankenhauses mit niedergelassenen Vertragsärzten ambulant im Krankenhaus erbracht werden können. Die Vereinbarung nach Satz 1 ist mindestens alle zwei Jahre, erstmals zum 31. Dezember 2023, durch Vereinbarung an den Stand der medizinischen Erkenntnisse anzupassen. Der Vereinbarungsteil nach Satz 1 Nummer 1 bedarf der Genehmigung des Bundesministeriums für Gesundheit.

(1a) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen leiten bis zum 30. Juni 2020 das Verfahren für die Vergabe eines gemeinsamen Gutachtens ein, in dem der Stand der medizinischen Erkenntnisse zu ambulant durchführbaren Operationen, stationsersetzenden Eingriffen und stationsersetzenden Behandlungen untersucht wird. Das Gutachten hat ambulant durchführbare Operationen, stationsersetzende Eingriffe und stationsersetzende Behandlungen konkret zu benennen und in Verbindung damit verschiedene Maßnahmen zur Differenzierung der Fälle nach dem Schweregrad zu analysieren. Im Gutachtensauftrag ist vorzusehen, dass das Gutachten spätestens innerhalb eines Jahres, nachdem das Gutachten in Auftrag gegeben worden ist, fertigzustellen ist.

(2) Die Krankenhäuser sind zur ambulanten Durchführung der in dem Katalog genannten Operationen, stationsersetzenden Eingriffe und stationsersetzenden Behandlungen zugelassen. Hierzu bedarf es einer Mitteilung des Krankenhauses an die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen, die Kassenärztliche Vereinigung und den Zulassungsausschuß (§ 96); die Kassenärztliche Vereinigung unterrichtet die Landeskrankenhausgesellschaft über den Versorgungsgrad in der vertragsärztlichen Versorgung. Das Krankenhaus ist zur Einhaltung des Vertrages nach Absatz 1 verpflichtet. Die Leistungen werden unmittelbar von den Krankenkassen vergütet. Die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität erfolgt durch die Krankenkassen; die Krankenhäuser übermitteln den Krankenkassen die Daten nach § 301, soweit dies für die Erfüllung der Aufgaben der Krankenkassen erforderlich ist. Leistungen, die Krankenhäuser auf Grundlage des Katalogs nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 ambulant erbringen, unterliegen nicht der Prüfung durch den Medizinischen Dienst nach § 275c Absatz 1 in Verbindung mit § 275 Absatz 1 Nummer 1.

(3) Kommt eine der Vereinbarungen nach Absatz 1 nicht fristgerecht zustande oder wird eine Vereinbarung nach Absatz 1 ganz oder teilweise beendet und kommt bis zum Ablauf der Vereinbarungszeit keine neue Vereinbarung zustande, entscheidet auf Antrag einer Vertragspartei das sektorenübergreifende Schiedsgremium auf Bundesebene gemäß § 89a. Absatz 1 Satz 7 gilt entsprechend für die Festsetzung nach Satz 1 durch das sektorenübergreifende Schiedsgremium auf Bundesebene gemäß § 89a.

(4) In der Vereinbarung nach Absatz 1 können Regelungen über ein gemeinsames Budget zur Vergütung der ambulanten Operationsleistungen der Krankenhäuser und der Vertragsärzte getroffen werden. Die Mittel sind aus der Gesamtvergütung und den Budgets der zum ambulanten Operieren zugelassenen Krankenhäuser aufzubringen.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18. Juli 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 451,04 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Streitig ist die weitere Vergütung einer stationären Krankenhausleistung in Höhe eines Restbetrages von 451,04 Euro .

2

Der bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte G.H. wurde vom 4. - 6.3.2008 wegen einer coronaren Gefäßerkrankung im Hause der Klägerin stationär behandelt und einer Herzkatheteruntersuchung unterzogen. Die anschließend erstellte Rechnung über 1347,89 Euro bezahlte die Beklagte nicht, sondern teilte der Klägerin nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) (Gutachten vom 20.5.2008) mit, dass eine ambulante Behandlung möglich gewesen und kein Grund für eine stationäre Behandlung ersichtlich sei. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit einer umfangreichen medizinischen Stellungnahme (Schreiben vom 3.12.2008), die die Beklagte erneut dem MDK zuleitete; mit Gutachten vom 11.12.2008 kam dieser nun zu dem Ergebnis, dass eine stationäre Behandlung von einem Tag (DRG F66Z) nachvollziehbar sei. Die Beklagte erkannte die Richtigkeit der nunmehr vom MDK ermittelten Berechnungsgrundlagen an, zahlte jedoch zunächst gleichwohl nicht.

3

Das SG hat die auf 1347,89 Euro gerichtete Zahlungsklage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 11.12.2009): In Höhe von 896,85 Euro sei die Klage unzulässig, weil die Beklagte den Zahlungsanspruch in dieser Höhe anerkannt habe; im Übrigen sei die Klage unbegründet, weil nur ein stationärer Behandlungstag erforderlich gewesen sei. Das LSG hat die nach angenommenem Anerkenntnis der Beklagten über 896,85 Euro reduzierte Berufung der Klägerin in Höhe des Restbetrages von 451,04 Euro zurückgewiesen (Urteil vom 18.7.2012): Die durchgeführte Herzkatheteruntersuchung werde in der Regel ambulant vorgenommen. Deshalb hätte die Klägerin der Beklagten gegenüber die Gründe angeben müssen, warum hier ausnahmsweise eine stationäre Behandlung erforderlich gewesen sei. Dies sei nicht geschehen und die Rechnung der Klägerin darum gar nicht fällig geworden (Verweis auf Urteil des erkennenden Senats vom 16.5.2012 - B 3 KR 14/11 R - BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24). Das Nachholen der Begründung ändere an diesem Ergebnis nichts, weil das Krankenhaus hiermit nach § 242 BGB ausgeschlossen sei. Denn diese Begründung sei erst nach mehreren Schriftwechseln und ca acht Monate nach der Schlussrechnung durch die Klägerin erfolgt, nämlich in der ärztlichen Stellungnahme vom 3.12.2008.

4

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der vom LSG zugelassenen Revision. Sie habe ihre gesetzlich vorgegebenen Informationspflichten im Verhältnis zur Beklagten vollständig erfüllt. Das vom LSG zugrunde gelegte Urteil des erkennenden Senats vom 16.5.2012 sei in sich widersprüchlich und unvereinbar mit den Regelungen des § 301 Abs 1 SGB V und der auf dieser Grundlage getroffenen Datenübermittlungsvereinbarung. Weder die gesetzliche Regelung noch die Vereinbarung enthielten Vorgaben oder überhaupt Möglichkeiten zur Übermittlung zusätzlicher Daten zum Grund der Aufnahme oder der Aufnahmediagnose. Die vom BSG aufgestellten Anforderungen seien deshalb auch nicht konform mit den datenschutzrechtlichen Vorgaben des § 67b Abs 1 SGB X. Unzutreffend sei das LSG zudem davon ausgegangen, dass die von ihr erbrachte Leistung grundsätzlich ambulant durchzuführen gewesen sei. Herzkatheteruntersuchungen rechneten nach der Vereinbarung zu § 115b SGB V zu den sog Kategorie-2-Leistungen, die ambulant wie stationär durchgeführt werden dürften.

5

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 18.7.2012 und den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 11.12.2009 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr weitere 451,04 Euro nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 18.4.2008 zu zahlen.

6

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Berufungsurteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Ob der geltend gemachte restliche Vergütungsanspruch besteht, kann auf Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht abschließend entschieden werden.

8

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Begehren der Klägerin, die im Streit stehende Versorgung nach der ungekürzten DRG F66Z und damit ohne einen Abschlag für die Unterschreitung der unteren Grenzverweildauer in Höhe von 451,04 Euro vergütet zu erhalten. Nachdem die Beklagte die Notwendigkeit der stationären Behandlung wegen der eingetretenen Komplikationen für den Tag im Anschluss an die Katheteruntersuchung bereits anerkannt hat, ist nur noch darüber zu befinden, ob der Versicherte - wie die Klägerin geltend macht - schon am Vorabend der Untersuchung notwendig stationär hat aufgenommen werden dürfen und die Krankenhausleistung deshalb mit der vollen Fallpauschale zu vergüten ist. Dieses Begehren verfolgt die Klägerin zulässig mit der (echten) Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG(stRspr; vgl zB BSGE 90, 1 = SozR 3-2500 § 112 Nr 3 S 18, 20; BSGE 100, 164 = SozR 4-2500 § 39 Nr 12, RdNr 10; BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9).

9

2. Rechtsgrundlage des geltend gemachten restlichen Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs 4 S 3 SGB V iVm § 7 S 1 Nr 1 KHEntgG(hier anzuwenden idF von Art 2 Nr 5 Buchst a des Zweiten Fallpauschalenänderungsgesetzes - 2. FPÄndG vom 15.12.2004, BGBl I 3429) und der für die Versorgung maßgeblichen Pflegesatzvereinbarung sowie dem am 1.11.1992 in Kraft getretenen "Vertrag zwischen der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft und den zuständigen Verbänden der Krankenkassen" (nachfolgend: Landesvertrag). Danach entsteht die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich ist. Der Behandlungspflicht zugelassener Krankenhäuser iS des § 109 Abs 4 S 2 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der auf der Grundlage der gesetzlichen Ermächtigung in §§ 16 und 17 KHG in der Pflegesatzvereinbarung zwischen Krankenkasse und Krankenhausträger festgelegt wird(vgl BSGE 86, 166, 168 = SozR 3-2500 § 112 Nr 1 S 3; BSGE 90, 1, 2 = SozR 3-2500 § 112 Nr 3 S 20).

10

3. Ob die Klägerin im Sinne dieser Vergütungsvoraussetzungen auch vom 4. auf den 5.3.2008 eine iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V "erforderliche" stationäre Leistung erbracht hat, ist entgegen der Auffassung des LSG nicht deshalb unerheblich, weil die hierfür maßgebenden Gründe erst in der ärztlichen Stellungnahme vom 3.12.2008 und damit ca acht Monate nach der von ihr vorgelegten Abrechnung benannt worden sind. Das ist insbesondere nicht der Entscheidung des erkennenden Senats vom 16.5.2012 (B 3 KR 14/11 R - BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24) zu entnehmen.

11

a) Mit jenem Urteil hat der Senat entschieden, dass die Ausschlussfrist des § 275 Abs 1c S 2 SGB V für Prüfungen einer Krankenhausbehandlung nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V nur in Gang gesetzt wird, wenn die Krankenkasse vom Krankenhaus über Anlass und Verlauf der Krankenhausversorgung ordnungsgemäß informiert worden ist. Denn die Krankenkassen sind in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, verpflichtet, bei Erbringung von Leistungen, insbesondere zur Prüfung von Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistung, sowie bei Auffälligkeiten zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrechnung eine gutachtliche Stellungnahme des MDK einzuholen (§ 275 Abs 1 Nr 1 SGB V). Bei Krankenhausbehandlungen nach § 39 SGB V ist diese Prüfung nach der durch Art 1 Nr 185 Buchst a des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes ) vom 26.3.2007 mit Wirkung zum 1.4.2007 eingeführten Regelung des § 275 Abs 1c S 1 "zeitnah" durchzuführen. Nach S 2 der Vorschrift wird das dahin präzisiert, dass eine Prüfung spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der Krankenkasse einzuleiten und durch den MDK dem Krankenhaus anzuzeigen ist. Demgemäß darf der MDK seither (vgl BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 4) für Einzelfallprüfungen nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V Sozialdaten beim Krankenhaus nur noch erheben, wenn die Fristvoraussetzungen des § 275 Abs 1c S 2 SGB V gewahrt sind. Da die Krankenkassen gehindert sind, selbst in die ärztlichen Behandlungsunterlagen Einsicht zu nehmen (BSGE 90, 1 = SozR 3-2500 § 112 Nr 3), hat das nach der oa Senatsentscheidung vom 16.5.2012 zur Folge, dass Krankenkasse und MDK bei einer einzelfallbezogenen Abrechnungsprüfung nach Ablauf der Ausschlussfrist des § 275 Abs 1c S 2 SGB V auf die Daten beschränkt sind, die das Krankenhaus der Krankenkasse im Rahmen seiner Informationsobliegenheiten bei der Krankenhausaufnahme und zur Abrechnung jeweils zur Verfügung gestellt hat(Urteil vom 16.5.2012, aaO, RdNr 17 ff und 24 ff).

12

b) Diese Begrenzung steht im Zusammenhang mit den wechselseitigen Auskunfts-, Prüf- und Mitwirkungspflichten zwischen Krankenhäusern, Krankenkassen und MDK, die nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats auf drei Ebenen bestehen: Danach sind zwingend auf der ersten Stufe zunächst die Angaben nach § 301 Abs 1 SGB V(hier anwendbar idF von Art 1 Nr 171 GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGBl I 2190) zu machen. Hiernach ist das Krankenhaus verpflichtet, der Krankenkasse bei Krankenhausbehandlung die wesentlichen Aufnahme- und Behandlungsdaten zu übermitteln. Aus datenschutzrechtlichen Gründen ist abschließend und enumerativ aufgelistet, welche Angaben der Krankenkasse bei einer Krankenhausbehandlung von Versicherten auf jeden Fall zu übermitteln sind (vgl BT-Drucks 12/3608 S 124); darunter befindet sich auch - hier von besonderem Belang - gemäß § 301 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB V der "Grund der Aufnahme". Erschließen sich aufgrund dessen oder eines landesvertraglich vorgesehenen Kurzberichts die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung oder weitere Abrechnungsvoraussetzungen den medizinisch in der Regel nicht besonders ausgebildeten Mitarbeitern der Krankenkasse nicht selbst, hat diese auf der zweiten Stufe der Sachverhaltserhebung ein Prüfverfahren nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V einzuleiten und beim MDK eine gutachtliche Stellungnahme einzuholen, die auf der Grundlage der vom Krankenhaus der Krankenkasse zur Verfügung gestellten Unterlagen - also insbesondere den Angaben nach § 301 SGB V - sowie ggf mit vom Versicherten überlassenen Unterlagen zu erstellen ist(§ 276 Abs 1 S 2 SGB V). Lässt sich auch unter Auswertung dieser Sozialdaten ein abschließendes Ergebnis nicht finden, so hat das Krankenhaus schließlich auf der dritten Stufe der Sachverhaltserhebung auf eine von der Krankenkasse nach § 275 Abs 1c S 2 SGB V ordnungsgemäß eingeleitete Prüfung dem MDK gemäß § 276 Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB V auch alle weiteren Angaben zu erteilen und Unterlagen vorzulegen, die im Einzelfall zur Beantwortung der Prüfanfrage der Krankenkasse benötigt werden. Auf dieser Grundlage ist der MDK ermächtigt, die erforderlichen Sozialdaten beim Krankenhaus anzufordern (vgl BSGE 90, 1 = SozR 3-2500 § 12 Nr 3); das Krankenhaus ist zu deren Vorlage verpflichtet, weil in einem solchen Fall allein durch die Angaben gemäß § 301 SGB V und einen etwaigen Kurzbericht eine zuverlässige Beurteilung der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit oder anderer Fragen der Abrechnung nicht möglich ist. Diese nachgelagerte Mitwirkungspflicht des Krankenhauses entfällt indes gemäß § 275 Abs 1c S 2 SGB V seit dem 1.4.2007, wenn die Krankenkasse bzw der MDK einen entsprechenden Prüfauftrag nicht innerhalb der Sechs-Wochen-Frist zeitgerecht erteilt und dem Krankenhaus hierüber Mitteilung gemacht hat (BSG Urteil vom 16.5.2012 - BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 17 ff).

13

c) Voraussetzung für diesen Wegfall der Mitwirkungspflicht des Krankenhauses auf der dritten Stufe der Sachverhaltsermittlung bei Versäumung der Sechs-Wochen-Frist des § 275 Abs 1c S 2 SGB V ist allerdings auf Seite der Krankenhäuser die ordnungsgemäße Information der Krankenkassen über die von ihnen abgerechneten Versorgungen nach Maßgabe ihrer Mitwirkungsobliegenheiten insbesondere aus § 301 SGB V sowie ggf ergänzenden landesvertraglichen Bestimmungen. Hierin ist abschließend aufgezählt, welche Angaben die Krankenhäuser den Krankenkassen bei einer Krankenhausbehandlung ihrer Versicherten unmittelbar zu übermitteln haben. Nach der zugrunde liegenden Vorstellung des Gesetzgebers sind damit die Mindestangaben bezeichnet, die die Krankenkasse insbesondere zur ordnungsgemäßen Abrechnung und zur Überprüfung der Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung benötigt (vgl BT-Drucks 12/3608 S 124). Fehlt es an einer dieser Angaben, so tritt nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats mangels formal ordnungsgemäßer Abrechnung bereits die Fälligkeit der abgerechneten Forderung nicht ein (vgl BSGE 90, 1, 3 = SozR 3-2500 § 112 Nr 3 S 22; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 1 RdNr 12). Ebenso mangelt es dann an der verfahrensrechtlichen Voraussetzung für den Beginn der Ausschlussfrist des § 275 Abs 1c S 2 SGB V(Urteil vom 16.5.2012 - BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 33).

14

d) An dieser Rechtsprechung hält der Senat trotz der Angriffe der Revision ausdrücklich fest. Bereits vor Begründung der Ausschlussfrist des § 275 Abs 1c S 2 SGB V und der zugleich eingeführten Aufwandspauschale des § 275 Abs 1c S 3 SGB V war der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass die Krankenhäuser den Krankenkassen auf der Grundlage von § 301 Abs 1 SGB V alle notwendigen Angaben zur Verfügung zu stellen haben, die diese insbesondere zur ordnungsgemäßen Abrechnung und zur Überprüfung der Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung benötigen(vgl BT-Drucks 12/3608 S 124). Das ist zur Erfüllung der Krankenkassenaufgaben auch regelungssystematisch geboten. Nach den klaren Vorstellungen des Gesetzgebers liegt es in der Verantwortung der Krankenkassen (vgl § 275 Abs 1 S 1 Halbs 1 SGB V: "sind … wenn es … erforderlich ist, verpflichtet"), Krankenhausabrechnungen auch in medizinischer Hinsicht überprüfen zu lassen. Wie das BSG bereits mehrfach hervorgehoben hat, rechnet es danach zu einer elementaren Krankenkassenaufgabe, auf die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 2 Abs 1 S 1, § 4 Abs 3, § 12 SGB V) zu achten, welches uneingeschränkt auch im Bereich des Leistungserbringungsrechts gilt (§ 70 Abs 1 SGB V, vgl BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 4). In diesem Sinne basiert § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V auf der Pflicht einerseits der Krankenkassen, nur solche Leistungen zu bewilligen, und andererseits der Krankenhäuser, nur solche Leistungen zu bewirken, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Der Anspruch auf Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V setzt deshalb ua voraus, dass die Behandlung notwendig bzw erforderlich war(vgl dazu und zu den sich daraus ergebenden Anforderungen näher BSG - Großer Senat - BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 15 ff, 27 ff). Es obliegt den Krankenkassen, gerade diese Voraussetzungen zu überprüfen und hierzu ggf den MDK einzuschalten (vgl zu diesem Zusammenhang eingehend BSGE 106, 214 = SozR 4-2500 § 275 Nr 3, RdNr 19; Urteil des erkennenden Senats vom 16.5.2012, SozR 4-2500 § 275 Nr 5 RdNr 10).

15

Dieser Rechtspflicht sind die Krankenkassen durch die Einführung von § 275 Abs 1c SGB V mit seinen Beschleunigungsgeboten und dem Anreiz möglichst zur Vermeidung von einzelfallbezogenen Prüfungen(§ 275 Abs 1c S 3 SGB V) nicht enthoben worden; sie sollen sie nur zielgerichteter wahrnehmen. Anlass für die Neuregelung war ausweislich der Materialien die Einschätzung, dass die Prüfungsmöglichkeiten nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V von einzelnen Krankenkassen in unverhältnismäßiger und nicht sachgerechter Weise zur Einzelfallsteuerung genutzt worden waren, was zu unnötiger Bürokratie geführt hatte. Als Beitrag zum Bürokratieabbau wurde deshalb mit der Aufwandspauschale nach § 275 Abs 1c S 3 SGB V ein Anreiz dafür gesetzt, Einzelfallprüfungen zielorientierter und zügiger durchzuführen(BT-Drucks 16/3100 S 171). Das gewährleistet zwar keine Detailgerechtigkeit in jedem Einzelfall, jedoch können Krankenkassen, die ihre Einzelfallprüfung gezielt durchführen, Mehrausgaben weitgehend vermeiden (BT-Drucks aaO). Diesen gesetzgeberischen Vorstellungen können die Krankenkassen nur gerecht werden, wenn sie ihrerseits vom Krankenhaus alle zur Beurteilung des jeweiligen Einzelfalls unerlässlichen Informationen erhalten, um die Prüfung der Krankenhausabrechnungen im Sinne der vom Gesetzgeber angestrebten Bürokratieminderung bereits auf der ersten oder zweiten Stufe und ohne Beauftragung des MDK mit Erhebungen im Krankenhaus auf der dritten Stufe der Sachverhaltserhebung abschließen zu können.

16

Entsprechend dem Grundsatz "ambulant vor stationär" hat ein Krankenhaus deshalb im Rahmen des § 301 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB V - Grund der Aufnahme - ebenfalls notwendige Angaben dazu zu machen, warum eine im Regelfall ambulant durchführbare Versorgung im konkreten Einzelfall stationär vorgenommen worden ist. Auch nach Einführung von § 275 Abs 1c SGB V haben die Krankenkassen nach der eindeutigen Vorstellung des Gesetzgebers den MDK einzuschalten, wenn "Zweifel an der Behandlungsnotwendigkeit" bestehen(BT-Drucks 16/3100 S 171 unter Verweis auf Urteil des erkennenden Senats vom 13.12.2001 - B 3 KR 11/01 R - BSGE 89, 104 = SozR 3-2500 § 112 Nr 2 - Berliner Fälle). Solche Zweifel muss eine Krankenkasse bei einer in der Regel ambulant durchführbaren Versorgung aus Rechtsgründen notwendigerweise haben, wenn sie vom Krankenhaus keine Angaben dazu erhalten hat, warum im abgerechneten Einzelfall gleichwohl eine stationäre Behandlung notwendig gewesen sein soll, weil das Behandlungsziel mit den ambulanten Möglichkeiten nicht erreicht werden konnte (BSG - Großer Senat - BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 15 ff). Wäre die Rechtsauffassung der Klägerin zutreffend, müsste demnach der MDK in all diesen Fällen mit einer Prüfung auf der dritten Stufe beauftragt und auf Grundlage der von ihm so beizuziehenden Behandlungsunterlagen ermittelt werden, ob ausnahmsweise besonderer Anlass für die stationäre Versorgung einer grundsätzlich auch ambulant durchführbaren Behandlung bestanden hat. Das ist ersichtlich schon mit den Zielen unvereinbar, die der Gesetzgeber mit der Einführung von § 275 Abs 1c SGB V verfolgt hat; sie bezweckte ja gerade eine Reduzierung und nicht die Ausweitung der Einzelfallprüfungen nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V. Hinzu kommt, dass der MDK der falsche Adressat wäre, denn er ist der Sachwalter der medizinischen Expertise und darf hiervon erst dann Gebrauch machen, wenn es um medizinische Fragen und Bewertungen geht. Die Pflicht des Krankenhauses zu ergänzenden Angaben betrifft aber keine gemäß § 301 SGB V unzulässige medizinische Auskunft an die Krankenkasse, sondern - ähnlich wie Einweisungs- und Aufnahmediagnose - lediglich den Grund für das Abweichen vom Standardvorgehen "ambulant vor stationär". Ob dieser Grund tatsächlich vorliegt und die durchgeführte stationäre Versorgung wirklich trägt, ist dann eine medizinische Frage, die zu klären allein dem MDK obliegt. Im Übrigen wäre es mit den gegenseitigen Obhutspflichten in der Dauerbeziehung zwischen Krankenkasse und Krankenhaus schlechterdings unvereinbar, wenn ein Krankenhaus bei ihm verfügbare und für die Prüfung der Krankenhausabrechnung erforderliche Informationen nicht weitergibt und die Krankenkasse dadurch dem Risiko aussetzt, ihrem Prüfauftrag nur um den Preis eines Kostenrisikos nach § 275 Abs 1c S 3 SGB V nachkommen zu können(zu diesen Obhutspflichten vgl schon BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 18 RdNr 32 sowie BSGE 105, 150 = SozR 4-2500 § 109 Nr 20, RdNr 12).

17

e) An der Erfüllung dieser Informationspflichten ist die Klägerin - anders als sie meint - auch nicht durch die Datenübermittlungsvorschriften gehindert, die gemäß § 301 Abs 3 SGB V vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder den Bundesverbänden der Krankenhausträger zur Ausgestaltung der Übermittlungserfordernisse nach § 301 Abs 1 SGB V gemeinsam vereinbart werden. Dabei kann offenbleiben, ob diese Vorgaben tatsächlich keine Angaben zum Grund der Aufnahme bei auch ambulant durchführbaren Leistungen erlauben, wie die Klägerin vorträgt. Denn die im Schreiben der Klägerin vom 3.12.2008 mitgeteilten weiteren medizinischen Daten deuten darauf hin, dass diese möglicherweise ergänzend als Nebendiagnosen hätten Eingang finden können, so dass ein Abweichen vom ambulanten Regelfall für die Beklagte früh plausibel gewesen wäre. Entscheidend ist aber, dass eine Krankenhausabrechnung nach den dargelegten Maßgaben grundsätzlich nur dann schlüssig ist, wenn ihr iS von § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V ausreichende Angaben zum Grund der stationären Leistungserbringung beigegeben werden. In vielen Fällen wird die Krankenkasse die notwendigen Angaben schon zweifelsfrei dem vom Krankenhaus übermittelten Datensatz entnehmen können. Ist das nicht der Fall, kann dies - so lange die Vertragspartner des § 301 Abs 3 SGB V die erforderlichen Vordrucke noch nicht angepasst haben - in entsprechender Anwendung des § 301 Abs 1 S 2 SGB V durchaus auf dem Weg geschehen, dass erforderliche Angaben in nicht maschinenlesbarer Form erfolgen - also zB durch separates Anschreiben, Fax oder E-Mail. Dass zumindest dies nicht möglich gewesen ist, hat die Klägerin selbst nicht geltend gemacht. Deshalb wäre jedenfalls spätestens die Krankenhausabrechnung der richtige Anlass gewesen, der Krankenkasse den Grund der stationären Durchführung einer grundsätzlich ambulant erbringbaren Leistung mitzuteilen.

18

f) Das bedeutet indes nicht, dass das Krankenhaus - wie vom LSG angenommenen - an der nachträglichen Ergänzung seiner ursprünglich nicht ausreichend substantiierten Schlussrechnung gehindert wäre. Dies ist auch mit der Entscheidung vom 16.5.2012 selbst nicht ausgesagt worden. Urteilsgrundlage war damals in tatsächlicher Hinsicht die auf die medizinischen Unterlagen gestützte und mit zulässigen Revisionsrügen nicht angegriffene Feststellung des LSG, dass die stationäre Krankenhausbehandlung des Versicherten im streitigen Zeitraum medizinisch nicht erforderlich gewesen sei. Auf dieser sachlichen und den Senat bindenden (§ 163 SGG) Grundlage bestand kein Raum, der klagenden Klinik nochmals Gelegenheit zur Darlegung von Gründen dafür zu geben, warum in dem dort zu entscheidenden Fall ausnahmsweise Gründe für eine stationäre Durchführung der kardiorespiratorischen Polysomnographie bestanden haben (BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 34).

19

g) Auch ansonsten ist die vom LSG angenommene zeitliche Begrenzung nicht zu rechtfertigen. Dabei kann offenbleiben, ob und inwieweit die zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern bestehenden Pflichten zu gegenseitiger Rücksichtnahme zeitliche Grenzen für die nachträgliche Information der Krankenkasse über den Anlass für die ausnahmsweise stationäre Durchführung einer ansonsten dem ambulanten Bereich vorbehaltenen Versorgung setzen. Ebenso kann offenbleiben, ob die vom 1. und 3. Senat entwickelten Grundsätze zur nachträglichen Rechnungskorrektur (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 und 28) hier anzuwenden sein könnten. Zwar hat die Klägerin erst mit Schreiben vom 3.12.2008 und damit vergleichsweise spät auf die nicht unberechtigte Anfrage der Beklagten vom 20.5.2008 nach den Gründen der stationären Versorgung des Versicherten reagiert und mitgeteilt, weshalb aus Ihrer Sicht ausnahmsweise dessen Aufnahme ins Krankenhaus veranlasst war. Mit einer solchen zeitlichen Abfolge sind - anders als vom LSG angenommen - die äußeren zeitlichen Grenzen aber noch nicht verletzt, die sich insoweit aus Treu und Glauben ergeben könnten.

20

4. Der Nachweis der Erforderlichkeit der stationären Behandlung des Versicherten als Vergütungsvoraussetzung ist - anders als möglicherweise die Klägerin meint - auch nicht deshalb entbehrlich, weil es sich vorliegend um eine medizinische Maßnahme im Rahmen von § 115b SGB V handelt. Denn die Herzkatheteruntersuchung kann trotz ihrer Aufnahme in den Katalog nach § 115b Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V fakultativ auch stationär durchgeführt werden. Der Statuierung einer Ausnahme von der Pflicht zur Angabe des Grundes der Aufnahme stünde - wie das LSG im Ergebnis zu Recht ebenfalls angenommen hat - § 39 Abs 1 S 2 SGB V iVm § 115b SGB V und der auf dieser Rechtsgrundlage geschlossene "Vertrag nach § 115b Abs 1 SGB V - Ambulantes Operieren und stationsersetzende Eingriffe im Krankenhaus" entgegen(hier anzuwenden in der ab 1.4.2005 geltenden Fassung gemäß der Bundesschiedsamt-Festsetzung in der Sitzung am 18.3.2005, vgl http://daris.kbv.de/daris.asp, Rechtsquellen, Teil F, Dokumentation, recherchiert am 6.3.2013). Die im Urteil vom 16.5.2012 für stationäre Versorgungen, die in der Regel ambulant zu erbringen sind, entwickelten Grundsätze finden deshalb uneingeschränkt auch im Rahmen des § 115b SGB V Anwendung.

21

a) Der grundsätzlich unmittelbar durch die Inanspruchnahme der Leistung seitens des Versicherten ausgelöste und auf § 109 Abs 4 S 3 SGB V beruhende Vergütungsanspruch eines zugelassenen Krankenhauses für eine stationäre Behandlung(vgl BSGE 86, 166, 168 = SozR 3-2500 § 112 Nr 1 S 3; BSGE 90, 1, 2 = SozR 3-2500 § 112 Nr 3 S 20) entsteht - wie bereits dargelegt - nur, soweit die stationäre Versorgung iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V "erforderlich" gewesen ist. Das setzt voraus, dass die notwendige medizinische Versorgung nur mit den besonderen Mitteln eines Krankenhauses durchgeführt werden kann und eine ambulante ärztliche Versorgung nicht ausreicht, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (vgl BSG - Großer Senat - BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 15 ff; BSGE 100, 164 = SozR 4-2500 § 39 Nr 12, RdNr 13; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 18). Davon ist bei ambulant durchführbaren Operationen und sonstigen stationsersetzenden Eingriffen nach § 115b SGB V nur auszugehen, wenn im jeweiligen konkreten Einzelfall die ambulanten Versorgungsmöglichkeiten zur Verfolgung der Behandlungsziele des § 27 Abs 1 S 1 SGB V nicht ausreichend sind. Diesbezüglich haben die Spitzenverbände der Krankenkassen gemeinsam, die Deutsche Krankenhausgesellschaft oder die Bundesverbände der Krankenhausträger gemeinsam und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen einen Katalog ambulant durchführbarer Operationen und sonstiger stationsersetzender Eingriffe vereinbart (§ 115b Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V). Darin sind diejenigen ambulant durchführbaren Operationen und stationsersetzenden Eingriffe gesondert benannt, die in der Regel ambulant durchgeführt werden können, und allgemeine Tatbestände bestimmt, bei deren Vorliegen eine stationäre Durchführung erforderlich sein kann (§ 115b Abs 1 S 2 SGB V).

22

b) Dies belegt, dass der in §§ 39 Abs 1 S 2, 73 Abs 4 S 1 SGB V normierte Nachrang der stationären Versorgung auch bei den Katalogleistungen nach § 115b Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V gilt - und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Leistung nach der Kategorie I oder II handelt. Werden diese Leistungen nicht ambulant erbracht, besteht Anlass für das Krankenhaus, den Grund für die stationäre Aufnahme - wenn es sich schon nicht aus den Aufnahmediagnosen selbst ergibt - näher darzulegen, also auch für die hier von der Klägerin erbrachte Herzkatheteruntersuchung (vgl AOP-Katalog 2008, Abschnitt 2: Ambulant durchführbare Operationen und sonstige stationsersetzende Eingriffe gemäß § 115b SGB V außerhalb Anhang 2 zu Kapitel 31 des EBM, Zeilen 5 ff, vgl http://www.kbv.de/9897.html, recherchiert am 6.3.2013). Zwar gilt für Leistungen dieser Art nicht schon eine grundsätzliche Vermutung, dass sie von besonderen Ausnahmefällen abgesehen dem ambulanten Bereich vorbehalten sind. Darauf kommt es indes nicht maßgebend an. Entscheidend ist vielmehr, dass die Aufnahme in den Katalog des § 115b Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V prinzipiell die Möglichkeit ihrer Erbringung im ambulanten Rahmen eröffnet und deshalb die Erforderlichkeit der stationären Versorgung der besonderen Begründung bedarf. Die Leistungen der Kategorie II mögen zwar häufiger stationär durchzuführen sein als die Leistungen der Kategorie I; rechtlich sind aber beide der ambulanten Versorgung zugänglich, wenn die Versorgungsziele des § 27 Abs 1 S 1 SGB V so ausreichend verfolgt werden können. Ob das jeweils der Fall ist oder ob ggf Grund für eine stationäre Leistungserbringung besteht, richtet sich nach den medizinischen Erfordernissen im Einzelfall und steht - anders als die Revision möglicherweise meint - nicht im freien Belieben des Leistungserbringers (BSGE 100, 164 = SozR 4-2500 § 39 Nr 12, RdNr 23; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 20).

23

5. Ob für die stationäre Aufnahme des Versicherten bereits am Vortag der bei ihm durchgeführten Herzkatheteruntersuchung die demnach vorausgesetzte Erforderlichkeit iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V vorgelegen hat, kann der Senat anhand der vom Berufungsgericht bisher getroffenen Feststellungen nicht beurteilen. Das LSG wird dieser Frage deshalb im erneuten Berufungsverfahren weiter nachzugehen haben. Hierbei werden allerdings die Grenzen zu beachten sein, die sich aus der Senatsentscheidung vom 16.5.2012 ergeben. Da die Beklagte den MDK nach dem Schreiben der Klägerin vom 3.12.2008 ausschließlich zu einer internen Fallberatung nach Aktenlage (2. Stufe der Sachverhaltserhebung) beigezogen und nicht mit einer weitergehenden Sachverhaltsaufklärung im Krankenhaus (3. Stufe der Sachverhaltserhebung) beauftragt hat, können die Behandlungsunterlagen der Klägerin wegen der Fortwirkung der Ausschlussfrist des § 275 Abs 1c S 2 SGB V nunmehr auch im gerichtlichen Verfahren nicht mehr beigezogen werden(vgl Urteil vom 16.5.2012 - BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 24 ff). Die Beweisaufnahme hat sich deshalb auf die Frage zu beschränken, ob die von der Klägerin gegebene Begründung vom 3.12.2008 die Erforderlichkeit der Aufnahme des Versicherten bereits am Vorabend der Herzkatheteruntersuchung aus medizinischer Sicht schlüssig zu begründen vermag. Den Einwänden der Beklagten gegen die Richtigkeit der insoweit von der Klägerin gegebenen Sachverhaltsdarstellung wird dagegen nur auf der Grundlage der bisher vorgelegten Unterlagen nachzugehen sein; die nachträgliche Beiziehung der Krankenbehandlungsunterlagen als Beweismittel scheidet dagegen aus.

24

6. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

25

7. Die Festsetzung des Streitwerts für das Revisionsverfahren beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 GKG.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4. Juni 2014 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 912,41 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

2

Das für die Behandlung Versicherter zugelassene Krankenhaus der klagenden Krankenhausträgerin behandelte die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Corinna K. (im Folgenden: Versicherte) vollstationär vom 5. bis 6.4.2009 wegen einer verhaltenen Fehlgeburt (Hauptdiagnose ICD-10-GM <2009> O02.1 Missed abortion; O09.1 Schwangerschaftsdauer 5 bis 13 vollendete Wochen). Die Klägerin berechnete und erhielt hierfür die Fallpauschale (Diagnosis Related Groups - DRG <2009>) O40Z (Abort mit Dilatation und Kürettage, Aspirationskürettage oder Hysterotomie; kodiert ua: Operationen- und Prozeduren-Schlüssel 5-690.0, Therapeutische Kürettage, Abrasio uteri ohne lokale Medikamentenapplikation, 912,41 Euro, 20.4.2009; Zahlungseingang 4.5.2009). Die Beklagte forderte die Klägerin unter Hinweis auf BSG-Urteile vom 16.5.2012 und 21.3.2013 (BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 29) vergeblich auf, bis zum 8.11.2013 den Grund für den stationären Aufenthalt mitzuteilen, da die Leistung in der Regel ambulant erbracht werden könne (14.10.2013). Die Beklagte rechnete ua mit dem Rückforderungsbetrag von 912,41 Euro gegen Vergütungsansprüche der Klägerin für Krankenhausbehandlungen aus November 2013 auf (Rechnungen Nr 675883, 676021, 676103 und 676104; 10.12.2013). Das SG hat die Beklagte auf die am 18.12.2013 erhobene Klage antragsgemäß verurteilt, 912,41 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Ein Schlichtungsverfahren (§ 17c Abs 4 S 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz) sei nicht erforderlich gewesen. Zwar stufe Abschnitt 1 des AOP-Vertrags 2009 gemäß § 115b SGB V(ambulant durchführbare Operationen … aus Anhang 2 zu Kapitel 31 des EBM) die Prozedur 5-690.0 in die Kategorie 1 ein (Leistungen, die in der Regel ambulant erbracht werden können). Ein ggf entstandener Erstattungsanspruch sei aber bereits vor Aufrechnung verjährt gewesen (Urteil vom 4.6.2014).

3

Die Beklagte rügt mit ihrer Sprungrevision die Verletzung des § 17c Abs 4b S 3 KHG und sinngemäß der Grundsätze der Verjährung sozialrechtlicher Ansprüche. Das obligatorische Schlichtungsverfahren habe nicht stattgefunden. Die Voraussetzungen des unverjährten Erstattungsanspruchs seien mangels Angabe eines Grundes der Krankenhausbehandlung der Versicherten in der Abrechnung erfüllt.

4

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4. Juni 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der beklagten KK ist begründet. Das SG-Urteil ist aufzuheben, denn es verletzt materielles Recht. Die Klage auf Zahlung von 912,41 Euro Krankenhausvergütung nebst Zinsen ist zwar zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (dazu 2.).

8

1. Zu Unrecht beruft sich die Beklagte darauf, die Klage sei mangels vorangegangenen Schlichtungsverfahrens unzulässig. Das Zulässigkeitserfordernis eines vorangegangenen fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs (§ 17c Abs 4b S 3 KHG)greift nicht ein. Danach ist bei Klagen, mit denen nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V eine streitig gebliebene Vergütung gefordert wird, vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach § 17c Abs 4 KHG durchzuführen, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt.

9

a) Maßgeblich ist für die Zulässigkeit der Klage die ab 25.7.2014 geltende Fassung des § 17c KHG(idF durch Art 16a Nr 1 GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz vom 21.7.2014, BGBl I 1133), nicht die zuvor geltende Fassung (Art 5c des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013, BGBl I 2423 mWv 1.8.2013, vgl Art 6 des Gesetzes). Eine spätere Gesetzesänderung kann wegen des aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG abgeleiteten Rückwirkungsverbots nur eine unzulässige Klage zulässig, nicht aber eine zulässige Klage nachträglich unzulässig machen (vgl zB BGH Urteil vom 2.3.2012 - V ZR 169/11 - MDR 2012, 579 RdNr 4 mwN; BGH Urteil vom 10.7.2009 - V ZR 69/08 - NJW-RR 2009, 1238, 1239 RdNr 11). Schon nach dem aktuell geltenden Prozessrecht ist die Klage zulässig.

10

b) Nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts, die auch für die Zulässigkeitserfordernisse einer Klage gelten, sind Änderungen der Rechtslage grundsätzlich ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anzuwenden (vgl hierzu BSGE 115, 165 = SozR 4-2500 § 115b Nr 4, RdNr 14; Buchner, SGb 2014, 119, 121 f, mit zutreffendem Hinweis auf BVerfGE 39, 156, 167 und BVerfGE 65, 76, 98; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, Vor § 143 RdNr 10e). Für eine Abweichung von diesem Grundsatz unter weitgehender Einschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift bieten Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zielsetzung der Regelung des § 17c Abs 4b S 3 KHG keine Anhaltspunkte(vgl auch Buchner, SGb 2014, 119, 121). Nach den Gesetzesmaterialien dient die Regelung der Entlastung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Die Gesetzesbegründung bereits zur Ursprungsfassung (Art 5c Beitragsschuldengesetz vom 15.7.2013, BGBl I 2423) führt aus, bei streitig gebliebenen Vergütungsforderungen nach durchgeführter Krankenhausabrechnungsprüfung werde die Vorschaltung des Schlichtungsverfahrens auf Landesebene bei Forderungen unterhalb einer Bagatellgrenze in Höhe von 2000 Euro obligatorisch. Es sei davon auszugehen, dass im Schlichtungsverfahren ein großer Teil solcher Streitigkeiten außergerichtlich beigelegt werden könne (Beschlussempfehlung und Bericht des 14. Ausschusses für Gesundheit vom 12.6.2013, BT-Drucks 17/13947 S 40).

11

c) Zweck des vorgeschalteten obligatorischen Schlichtungsverfahrens ist es lediglich, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entlasten, nicht aber, die Beteiligten im Streit über Krankenhausvergütung nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V zu einer vom Üblichen abweichenden Klageart zu nötigen. Der erkennende Senat gibt die insoweit abweichende Auffassung des nicht mehr für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser zuständigen 3. Senats des BSG auf (vgl hierzu BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 35 ff, auch für BSGE vorgesehen; dem im Ergebnis zustimmend Felix, SGb 2015, 241, 243).

12

Klagen auf Zahlung von Krankenhausvergütung sind stets mit der echten Leistungsklage geltend zu machen (stRspr, vgl zB BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12 mwN), auch wenn zuvor ein fakultatives (bei Streitigkeiten mit einem Wert von mehr als 2000 Euro) oder obligatorisches Schlichtungsverfahren (bei Streitigkeiten mit einem Wert von bis zu 2000 Euro) stattgefunden hat. Nach § 17c Abs 4 KHG können die Ergebnisse der Prüfungen nach § 275 Abs 1c SGB V durch Anrufung eines für die Landesverbände der KKn und die Ersatzkassen gemeinsamen und einheitlichen Schlichtungsausschusses überprüft werden. Aufgabe des Schlichtungsausschusses ist die "Schlichtung zwischen den Vertragsparteien" (§ 17c Abs 4 S 2 KHG). Der Schlichtungsausschuss prüft und entscheidet auf der Grundlage fallbezogener, nicht versichertenbezogener Daten (§ 17c Abs 4 S 7 KHG). Das Gesetz umreißt ausdrücklich den Klagegegenstand: Es geht um Klagen, mit denen nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V "eine streitig gebliebene Vergütung gefordert" wird(§ 17c Abs 4b S 3 KHG). Für diese gilt, dass vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach Absatz 4 durchzuführen ist, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt (vgl ebenda).

13

Dem entspricht auch das Regelungssystem. Der Gesetzgeber ist in der konkreten Ausgestaltung außergerichtlicher Schlichtungsverfahren frei, soweit er die Grenzen seiner Gestaltungsmacht insbesondere durch das GG beachtet. Er ist nicht etwa auf ein dogmatisch vorgeformtes Regelungsmodell verpflichtet. Von dieser Gestaltungsmacht hat der Gesetzgeber im Rahmen des § 17c KHG in unterschiedlicher Form Gebrauch gemacht. Er unterscheidet selbst zwischen Klagen gegen (1.) Entscheidungen der Schiedsstellen nach § 17c Abs 2 S 3 KHG, § 17c Abs 3 S 7 KHG und § 17c Abs 4a S 5 KHG(dazu aa), (2.) Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene nach § 17c Abs 3 KHG(dazu bb) und (3.) Entscheidungen der Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG(vgl § 17c Abs 4b S 1 KHG; dazu cc). Die Differenzierung rechtfertigt sich aus den unterschiedlichen Regelungsaufgaben:

14

aa) Die erste Fallgruppe der Schiedsstellen betrifft drei Konstellationen von Klagen gegen hoheitliche Entscheidungen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (dazu (a) bis (c)), die gegenüber den Klagebefugten angreifbare Verwaltungsakte sind (vgl ähnlich zur Klage gegen einen Schiedsspruch nach § 114 SGB V BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 13 mwN).

15

(a) So hat die Schiedsstelle nach § 17c Abs 2 S 3 KHG das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs 1c SGB V zu regeln, wenn keine Vereinbarung nach § 17c Abs 2 S 1 KHG zustande kommt. Die Entscheidung ergeht als Festsetzung, die für die KKn, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich ist (§ 17c Abs 2 S 4 KHG). Die Festsetzung wirkt zugleich als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen, um diesen operationabel zu machen. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

16

(b) Die Schiedsstelle nach § 17c Abs 3 S 7 KHG trifft auf Antrag einer Vertragspartei die ausstehenden Entscheidungen, wenn die für die Einrichtung des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene erforderlichen Entscheidungen der hierzu berufenen Vertragsparteien (Spitzenverband Bund der KKn und Deutsche Krankenhausgesellschaft) nicht bis zum 31.12.2013 ganz oder teilweise zustande kommen. Die Entscheidungen der Schiedsstelle nach § 17c Abs 3 S 7 KHG ergehen ebenfalls als Verwaltungsakt. Sie sichern zusammen mit dem Notberufungsrecht der unparteiischen Mitglieder (§ 17c Abs 3 S 8 KHG) die funktionsfähige Einrichtung des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

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(c) Die Schiedsstelle nach § 17c Abs 4a S 5 KHG trifft die ausstehenden Entscheidungen ebenfalls als Verwaltungsakt, wenn eine Vereinbarung von Spitzenverband Bund der KKn und DKG über die näheren Einzelheiten für die Durchführung und Auswertung der modellhaften Erprobung, insbesondere die Kriterien für die Überprüfung auf Auffälligkeiten und die Auswahl einer hinreichenden Anzahl teilnehmender Krankenhäuser ganz oder teilweise nicht fristgerecht zustande kommt. Die Entscheidung wirkt zugleich als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

18

bb) Die zweite Fallgruppe betrifft Klagen gegen Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene. Aufgabe dieses Schlichtungsausschusses ist die verbindliche Klärung von Kodier- und Abrechnungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung (vgl § 17c Abs 3 S 2 KHG). Dies ist notwendiges Teilelement der Ausgestaltung der Normenverträge zur Krankenhausvergütung als lernendes System. Die Entscheidungen des Schlichtungsausschusses sind zu veröffentlichen und für die KKn, den MDK und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich (vgl § 17c Abs 3 S 2 KHG). Die Entscheidungen wirken als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen. Sie eröffnen zugleich als Verwaltungsakte den Trägerorganisationen des Schlichtungsausschusses die Möglichkeit, gegen die Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene das Gericht anzurufen.

19

cc) Die dritte Fallgruppe der Klagen gegen Entscheidungen der Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG betrifft demgegenüber kein Zwangsinstrument, um den Abschluss oder die Konkretisierung normenvertraglicher Regelungen sicherzustellen. Die hier geregelten "Entscheidungen" unterwerfen nicht die Beteiligten eines Vergütungsstreits inhaltlichen Bindungen. Die Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG sollen lediglich zwischen den Vertragsparteien schlichten(vgl § 17c Abs 4 S 2 KHG). Das bedeutet, dass sie eine konsensuale Streitbeilegung erreichen sollen. Handlungsform ist der öffentlich-rechtliche Vertrag. Kommt es nicht zu einer unstreitigen Erledigung, sondern schlägt die Schlichtung - notwendigerweise gerichtsverwertbar dokumentiert (vgl zur Erfolglosigkeitsbescheinigung gemäß § 13 Abs 1 S 2 Gütestellen- und Schlichtungsgesetz NRW BVerfG Beschluss vom 14.2.2007 - 1 BvR 1351/01 - BVerfGK 10, 275, 282 = Juris RdNr 41; Buchner, SGb 2014, 119, 124) - fehl, steht einer Klage, mit der eine "streitig gebliebene Vergütung" gefordert wird, nichts mehr im Wege. Dass hierfür - bei der Leistungsklage im Gleichordnungsverhältnis - ein Vorverfahren nicht stattfindet und die Klage keine aufschiebende Wirkung hat (§ 17c Abs 4b S 2 KHG), entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 30 RdNr 11 mwN), hätte also im Gesetz keiner besonderen Erwähnung bedurft, ohne dass dies andererseits schadet.

20

Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Aufgabe des Schlichtungsausschusses bis zu seiner Bildung übergangsweise von der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG wahrzunehmen ist, wenn bis zum 31.8.2014 kein Schlichtungsausschuss anrufbar ist, und dass die Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG für diese Zeit einen vorläufigen Schlichtungsausschuss einrichten kann(§ 17c Abs 4 S 10 und S 11 KHG idF durch Art 16a Nr 1 GKV-FQWG mWv 25.7.2014). Die im Gesetz vorgesehene vorübergehende Ersetzung des eigentlich berufenen Schlichtungsausschusses durch eine Schiedsstelle ändert nichts an der Handlungsform der Schlichtung. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass auch der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG die Handlungsform des öffentlich-rechtlichen Vertrages zur Verfügung steht, wenn sie vorübergehend - bis zur Etablierung des eigentlich berufenen Schlichtungsausschusses - zur Schlichtung eines Streits über Krankenhausvergütung nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V tätig wird.

21

d) Der erkennende Senat teilt nicht die Rechtsauffassung des 3. BSG-Senats (vgl BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 32 ff, auch für BSGE vorgesehen), dass zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes eine förmliche Bekanntgabe erfolgen müsse, welches Gremium ab wann tatsächlich in der Lage sei, die Aufgaben des Schlichtungsausschusses zu bewältigen, und dass das Zulässigkeitserfordernis des obligatorischen Schlichtungsversuchs (§ 17c Abs 4b S 3 KHG)erst eingreife, wenn die Schiedsstelle oder der Schlichtungsausschuss den jeweiligen Landeskrankenhausgesellschaften und den Verbänden der KKn förmlich angezeigt hätten, dass sie "funktionsfähig errichtet" seien (Schlichtungsausschüsse) bzw die Aufgaben der Schlichtung tatsächlich übernehmen könnten (Schiedsstellen). Diese Rechtsauffassung findet in Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Regelungszweck keine Stütze. Sie überschreitet die Grenzen verfassungskonformer Auslegung.

22

Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung ergeben sich grundsätzlich aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden (vgl BVerfGE 119, 247, 274). Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung vereinbare Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten (vgl BVerfGE 88, 145, 166; BVerfGE 119, 247, 274). Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet allerdings dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch träte (vgl BVerfGE 95, 64, 93; BVerfGE 99, 341, 358; BVerfGE 101, 312, 329 mwN; stRspr). Anderenfalls könnten die Gerichte der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen oder diese unterlaufen (vgl BVerfGE 8, 71, 78 f; BVerfGE 112, 164, 183 = SozR 4-7410 § 32 Nr 1 RdNr 32; siehe zum Ganzen BVerfG Beschluss vom 16.12.2014 - 1 BvR 2142/11 - DVBl 2015, 429, 432 = DÖV 2015, 430, 434 = Juris RdNr 86 mwN).

23

Die Regelungsintention des Gesetzgebers des Art 16a GKV-FQWG ist nach allen Auslegungsmethoden klar: Die Gesetzesmaterialien weisen in Einklang mit Wortlaut und Regelungssystem darauf hin, dass die Selbstverwaltungspartner bis zur Gesetzesberatung auf Landesebene noch keinen arbeitsfähigen Schlichtungsausschuss eingerichtet hatten. Um eine flächendeckende Einrichtung der Schlichtungsausschüsse zu gewährleisten, sollte durch die vorgesehenen Regelungen eine Konfliktlösung eingeführt werden. Durch den neuen Satz 9 des § 17c Abs 4 KHG wurde vorgegeben, dass im Falle einer nicht erfolgreichen Einigung der Vertragsparteien auf Landesebene auf Einzelheiten zum Verfahren und zur Finanzierung des Schlichtungsausschusses auf Landesebene die Landesschiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG auf Antrag einer Vertragspartei entscheidet. Wenn bis zum 31.8.2014 kein arbeitsfähiger Schlichtungsausschuss auf Landesebene besteht, ist nach der neuen Regelung des § 17c Abs 4 S 10 KHG die Aufgabe des Schlichtungsausschusses bis zur Bildung des Schlichtungsausschusses übergangsweise von der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG wahrzunehmen. Allerdings kann nach der neuen Regelung des § 17c Abs 4 S 11 KHG die Landesschiedsstelle für die übergangsweise Wahrnehmung der Aufgabe des Schlichtungsausschusses einen vorläufigen Schlichtungsausschuss einrichten. Auch der vorläufige Schlichtungsausschuss muss paritätisch mit Vertretern der KKn und Krankenhäuser und einem unparteiischen Vorsitz besetzt sein (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit <14. Ausschuss> zum Entwurf eines GKV-FQWG, BT-Drucks 18/1657 S 71 f zu Art 16a Nr 1 Buchst c).

24

Da sich die Rechtspraxis im Vertrauen auf die Entscheidungsgründe des Urteils des 3. Senats des BSG auf die Notwendigkeit der dort geforderten Anzeige verlassen und das Gesetz mangels Abgabe solcher Anzeigen insoweit nicht angewendet hat (vgl Felix, SGb 2015, 241, 243, 245 f), muss es dem erkennenden Senat möglich sein, unter Achtung des verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutzes das vom 3. BSG-Senat konstruierte Anzeigeerfordernis zu beseitigen. Dementsprechend geht der erkennende Senat davon aus, dass die vom GKV-FQWG geforderte obligatorische Vorschaltung eines fehlgeschlagenen Schlichtungsverfahrens jedenfalls ab 1.9.2015 als Zulässigkeitsvoraussetzung für neu eingehende Klagen auf Krankenhausvergütung unterhalb einer Bagatellgrenze in Höhe von 2000 Euro auch dann wirkt, wenn die Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG keine Anzeige ihrer Arbeitsfähigkeit im Sinne der Entscheidung des 3. Senats des BSG abgegeben haben.

25

e) Diese vom Gesetz gewählte Ausgestaltung des Schlichtungsverfahrens als Zulässigkeitsvoraussetzung der allgemeinen Leistungsklage in der Auslegung durch den erkennenden Senat hält sich im Rahmen der Vorgaben des GG. Sowohl im Gewährleistungsbereich des Art 19 Abs 4 GG als auch des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs, der seine Grundlage in Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip hat (vgl BVerfGE 88, 118, 123; BVerfGE 97, 169, 185; BVerfGE 107, 395, 404, 407 = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1 RdNr 13, 21 ff), verfügt der Gesetzgeber hinsichtlich der Art der Gewährung des durch diesen Anspruch gesicherten Rechtsschutzes über einen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Er erstreckt sich auf die Beurteilung der Vor- und Nachteile für die jeweils betroffenen Belange sowie auf die Abwägung mit Blick auf die Folgen für die verschiedenen rechtlich geschützten Interessen (vgl zB BVerfGE 88, 118, 124 f; BVerfGE 93, 99, 108). Die Grenzen dieses Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums sind nicht überschritten.

26

Das GG gewährleistet, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten eröffnet ist, und garantiert darüber hinaus die Effektivität des Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf der normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. Deren Regelungen können für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken. Der Gesetzgeber ist nicht gehalten, nur kontradiktorische Verfahren vorzusehen. Er kann auch Anreize für eine einverständliche Streitbewältigung schaffen, etwa um die Konfliktlösung zu beschleunigen, den Rechtsfrieden zu fördern oder die staatlichen Gerichte zu entlasten. Ergänzend muss allerdings der Weg zu einer Streitentscheidung durch die staatlichen Gerichte eröffnet bleiben (vgl zum Ganzen BVerfG Beschluss vom 14.2.2007 - 1 BvR 1351/01 - BVerfGK 10, 275, 278 = Juris RdNr 26 mwN). Die geprüften Regelungen des § 17c KHG halten sich in diesem Rahmen.

27

f) Zutreffend macht die Beklagte geltend, dass es für das Zulässigkeitserfordernis des fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs nicht darauf ankommt, ob das Krankenhaus mit der Klage unmittelbar eine "streitig gebliebene Vergütung" nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung iS des § 17c Abs 4b S 3 KHG fordert, oder ob Streitgegenstand - wie vorliegend - der Anspruch auf eine an sich unstreitige Vergütung ist, gegen die die KK mit einem Erstattungsanspruch wegen einer "streitig gebliebenen Vergütung" für eine andere Behandlung aufgerechnet hat. Nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Regelungszweck zielt das Gesetz darauf ab, alle nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V streitig gebliebenen Vergütungsforderungen im Wert von maximal 2000 Euro vor Eröffnung des Rechtsweges einem Schlichtungsverfahren zu unterwerfen.

28

g) Zu Unrecht meint die Beklagte indes, für das Zulässigkeitserfordernis des fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs komme es darauf an, ob eine Abrechnungsprüfung durch den MDK nach § 275 Abs 1c SGB V durchzuführen gewesen sei. Dies ist zu verneinen. Es kommt nicht darauf an, ob eine Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V durchzuführen war, sondern darauf, dass eine solche Prüfung stattgefunden hat. Der erkennende Senat gibt die insoweit ggf abweichende, mit der Beklagten übereinstimmende Auffassung des nicht mehr für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser zuständigen 3. Senats des BSG auf (vgl hierzu BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 16, auch für BSGE vorgesehen).

29

Lediglich bei Klagen, mit denen "nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V" eine streitig gebliebene Vergütung gefordert wird, ist vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach § 17c Abs 4 KHG durchzuführen, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt. Das zeigt schon der dargelegte klare Wortlaut der Regelung des § 17c Abs 4b S 3 KHG. Das Regelungssystem spricht ebenfalls hierfür. Nach § 275 Abs 1c SGB V ist bei Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V eine Prüfung nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V zeitnah durchzuführen (S 1). Die Prüfung nach Satz 1 ist spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der KK einzuleiten und durch den MDK dem Krankenhaus anzuzeigen (S 2). Falls die Prüfung nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrags führt, hat die KK dem Krankenhaus eine Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro zu entrichten (S 3). Der Spitzenverband Bund der KKn und die DKG regeln das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs 1c SGB V; in der Vereinbarung sind abweichende Regelungen zu § 275 Abs 1c S 2 SGB V möglich(§ 17c Abs 2 S 1 KHG). Das Zulässigkeitserfordernis für eine allgemeine Leistungsklage "nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Absatz 1c SGB V" knüpft an diese Gesamtregelung an. Es fordert, dass eine Prüfung von "Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V" unter Anzeige gegenüber dem Krankenhaus stattgefunden hat. Eine bloß interne Einschaltung des MDK durch die KK ohne Einbeziehung des Krankenhauses genügt hierfür nicht (aA Buchner, SGb 2014, 119). Die Auslegung widerspricht weder der Entstehungsgeschichte noch dem aufgezeigten Regelungszweck.

30

Hat tatsächlich eine Prüfung stattgefunden, die nicht von § 275 Abs 1c SGB V erfasst ist, oder ist es überhaupt nicht zu einer MDK-Prüfung gekommen, greift das Zulässigkeitserfordernis nicht ein. So liegt es etwa, wenn ein vorangegangenes Gutachten des MDK nicht auf einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V beruht, weil nicht die Prüfung der Abrechnung von Krankenhausbehandlungen nach § 39 SGB V betroffen ist, sondern zB Krankenhausaufenthalte bei Schwangerschaft und Mutterschaft(so der Fall in BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 17, auch für BSGE vorgesehen). Vorliegend fehlt es gänzlich an einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V unter Einschaltung des MDK. Die Beklagte hat nicht selbst oder durch den MDK die Klägerin von einer Prüfung nach § 275 Abs 1c SGB V informiert. Sie hat auch nicht den MDK für eine solche Prüfung eingeschaltet. Beide Sachverhalte schließen schon jeweils für sich das Eingreifen der Zulässigkeitsvoraussetzung des erfolglosen Schlichtungsverfahrens aus.

31

2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung weiterer Vergütung von 912,41 Euro nebst Zinsen. Der ursprünglich entstandene Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Vergütung von Krankenhausbehandlungsleistungen für andere Versicherte (dazu a) erlosch dadurch in dieser Höhe, dass die Beklagte wirksam mit ihrem Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten aufrechnete (dazu b). Einwendungen und Einreden gegen den Erstattungsanspruch greifen nicht durch (dazu c).

32

a) Zu Recht ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass der Klägerin aufgrund stationärer Behandlungen anderer Versicherter der Beklagten zunächst ein Anspruch auf die abgerechnete Vergütung in Höhe von weiteren 912,41 Euro zustand; eine nähere Prüfung des erkennenden Senats erübrigt sich insoweit (vgl zur Zulässigkeit dieses Vorgehens zB BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 7 RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 130 Nr 2 RdNr 15; BSG SozR 4-5562 § 9 Nr 4 RdNr 8).

33

b) Der anderweitige Vergütungsanspruch für Krankenhausbehandlung erlosch dadurch, dass die Beklagte wirksam mit ihrem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten analog § 387 BGB die Aufrechnung erklärte(zur entsprechenden Anwendung auf überzahlte Krankenhausvergütung vgl zB BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 9 ff mwN, stRspr). Der Vergütungsanspruch der Klägerin und der von der Beklagten aufgerechnete öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch waren gegenseitig und gleichartig (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 16), der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch war fällig und der Vergütungsanspruch der Klägerin erfüllbar. Die Voraussetzungen des Gegenanspruchs aus öffentlich-rechtlicher Erstattung in Höhe von 912,41 Euro waren erfüllt. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch setzt ua voraus, dass der Berechtigte im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht hat (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 15, stRspr). So liegt es hier. Die Beklagte zahlte der Klägerin 912,41 Euro ohne Rechtsgrund. Die Klägerin hatte keinen Vergütungsanspruch für die Behandlung der Versicherten vom 5. bis 6.4.2009.

34

Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung und damit korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist(stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 9).

35

Die Krankenhausbehandlung der Versicherten war nicht erforderlich. Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit ist ein Krankheitszustand, dessen Behandlung den Einsatz der besonderen Mittel eines Krankenhauses erforderlich macht (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 18 ff; BSGE 92, 300 = SozR 4-2500 § 39 Nr 2, RdNr 16; BSGE 94, 161 = SozR 4-2500 § 39 Nr 4, RdNr 14). Ob einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, richtet sich allein nach den medizinischen Erfordernissen (vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 15; BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 23). Ermöglicht es der Gesundheitszustand des Patienten, das Behandlungsziel durch andere Maßnahmen, insbesondere durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege, zu erreichen, so besteht kein Anspruch auf stationäre Behandlung und damit auch kein Vergütungsanspruch des Krankenhauses.

36

Das Krankenhaus muss in Fällen, in denen regelhaft ambulante Behandlung ausreichend ist, Angaben zu Begleiterkrankungen oder zu sonstigen Gründen machen, die Anlass für die stationäre Versorgung der Versicherten gaben (vgl BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 34), um die Anspruchsvoraussetzung der "Erforderlichkeit" der Krankenhausbehandlung zu belegen. Ohne solche Angaben darüber, warum ausnahmsweise eine stationäre Behandlung erforderlich ist, fehlen Informationen über den "Grund der Aufnahme" und damit eine der zentralen Angaben, die eine KK für die ordnungsgemäße Abrechnungsprüfung benötigt (vgl § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V und hierzu BSG Urteil vom 14.10.2014 - B 1 KR 27/13 R - Juris RdNr 21, für BSGE und SozR 4-2500 § 109 Nr 40 vorgesehen). Verweigert das Krankenhaus diese Angaben trotz eines Hinweises auf ihre Erforderlichkeit, darf das Gericht davon ausgehen, dass die Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt ist.

37

Versäumen es Beteiligte, insbesondere tatsächliche Umstände aus ihrer eigenen Sphäre anzugeben, kann für das Gericht der Anlass entfallen, diesen Fragen weiter nachzugehen, weil sich die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen dann nicht aufdrängt (vgl BFHE 113, 540, 545). Weigert sich ein Beteiligter, der aus einem bestimmten Sachverhalt ihm günstige Rechtsfolgen herleitet, trotz Aufforderung, dem Gericht nähere Angaben zu machen, obwohl er es könnte und ihm dies nicht unzumutbar ist, verletzt das Gericht seine Amtsermittlungspflicht nicht, wenn es keine weiteren Ermittlungen mehr anstellt (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 25 mwN; BVerwG NJW 1977, 163). Je nach den Einzelumständen muss das Gericht in einem solchen Fall nur dann versuchen, erforderliche Ermittlungen selbst anzustellen, wenn sie nicht unverhältnismäßig sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 5 RdNr 15). In Fällen der mangelnden Mitwirkung ist der Beteiligte allerdings über die Folgen der Nichtbeachtung einer gerichtlichen Aufforderung zur Mitwirkung zu belehren, soweit ihm dies nicht bereits konkret geläufig ist (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 25 mwN).

38

Ist einem Krankenhaus aufgrund Hinweises auf die gesetzliche Grundlage und die einschlägige BSG-Rechtsprechung konkret geläufig, dass sein Prozesserfolg von seiner Bereitschaft zur Mitwirkung im dargelegten Sinne abhängen kann, hält es aber die Mitwirkung aus Rechtsgründen dennoch für nicht geboten und verweigert es sie, bedarf es in der Revisionsinstanz schon nach allgemeinen Grundsätzen keiner Zurückverweisung zwecks ergänzender Ermittlungen (vgl entsprechend Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2014, § 170 SGG Anm 11e aa). Das gilt erst recht ebenso für die Sprungrevision, die nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden kann (vgl § 161 Abs 4 SGG). Zwar bleiben Verstöße gegen das Prozessrecht, die sich nur als prozessuale Konsequenz aus der fehlerhaften Anwendung des materiellen Rechts ergeben, auch mit der Sprungrevision rügbar (vgl BSG SozR 4-4200 § 21 Nr 15 RdNr 11 mwN; BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 15 mwN). Dies setzt aber ebenfalls das Angebot der gebotenen Mitwirkung - hier: der Klägerin - voraus, an dem es vorliegend gerade fehlt. Es war der professionell in Abrechnungsfragen der Krankenhausvergütung kundigen Klägerin jedenfalls aufgrund der Hinweise der Beklagten auf die einschlägige BSG-Rechtsprechung unter Einbeziehung der Regelung des § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V konkret geläufig, dass es der von der Beklagten geforderten Angabe über den "Grund der Aufnahme" der Versicherten bedurfte, um von der Erforderlichkeit von Krankenhausbehandlung bei der Versicherten ausgehen zu können. Lassen weder die übermittelte Hauptdiagnose noch die OPS-Nummer den naheliegenden Schluss zu, dass die Behandlung stationär erfolgen musste, hat das Krankenhaus von sich aus auch zur Begründung der Fälligkeit der Forderung gegenüber der KK die erforderlichen ergänzenden Angaben zu machen (vgl BSGE 114, 209 = SozR 4-2500 § 115a Nr 2, RdNr 26-27; BSG SozR 4-2500 § 301 Nr 1 RdNr 31; BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 32). So verhält es sich hier.

39

Abschnitt 1 des AOP-Vertrags 2009 gemäß § 115b SGB V(ambulant durchführbare Operationen … aus Anhang 2 zu Kapitel 31 des EBM) stuft die Prozedur 5-690.0 in die Kategorie 1 ein. Diese umfasst Leistungen, die in der Regel ambulant erbracht werden können. Die Klägerin legte weder in der Abrechnung noch anderweitig dar, dass ausnahmsweise dennoch ein Grund bestand, die Versicherte stationär zu behandeln. Insoweit war die Klägerin gehalten, um den Eindruck einer sachlich-rechnerischen Unrichtigkeit zu vermeiden, der Beklagten einen die stationäre Behandlung rechtfertigenden "Grund der Aufnahme" mitzuteilen. Daran fehlt es.

40

c) Einwendungen und Einreden gegen den Erstattungsanspruch greifen nicht durch. Die Beklagte leistete weder in Kenntnis ihrer Nichtschuld (dazu aa) noch erfüllte sie eine lediglich betagte Verbindlichkeit (dazu bb). Ihre Forderung war weder verjährt (dazu cc) noch verwirkt (dazu dd).

41

aa) Die Erstattung ohne Rechtsgrund gezahlter Krankenhausvergütung ist nicht in entsprechender Anwendung des § 814 BGB ausgeschlossen. Danach kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete ua nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war. Zahlt eine KK vorbehaltlos auf eine Krankenhausrechnung, kann sie deshalb mit der Rückforderung - und damit auch mit dem späteren Bestreiten ihrer Zahlungspflicht - ganz ausgeschlossen sein, wenn sie (positiv) gewusst hat, dass sie zur Leistung nicht verpflichtet war (vgl BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 30; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 47; zustimmend Wahl in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 109 RdNr 170). Daran fehlte es indes. Es liegt nach den Feststellungen des SG nichts dafür vor, dass die Beklagte die Krankenhausvergütung in positiver Rechtskenntnis ihrer Nichtschuld zahlte.

42

bb) Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin auch auf den Rechtsgedanken der Regelung des § 813 Abs 2 BGB(idF der Bekanntmachung vom 2.1.2002, BGBl I 42). Nach § 813 BGB kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete auch dann zurückgefordert werden, wenn dem Anspruch eine Einrede entgegenstand, durch welche die Geltendmachung des Anspruchs dauernd ausgeschlossen wurde. Die Vorschrift des § 214 Abs 2 BGB bleibt unberührt(Abs 1). Wird eine betagte Verbindlichkeit vorzeitig erfüllt, so ist die Rückforderung ausgeschlossen; die Erstattung von Zwischenzinsen kann nicht verlangt werden (Abs 2).

43

Es bedarf insoweit keiner Vertiefung, inwieweit diese Regelung auf den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch für ohne Rechtsgrund geleistete Krankenhausvergütung für die Behandlung Versicherter überhaupt anwendbar ist, oder ob dem spezifische Wertungen des SGB V entgegenstehen. Der Rechtsgedanke der Bestimmung des § 813 Abs 2 BGB greift schon nach allgemeinen Grundsätzen vorliegend nicht ein. Die Regelung soll nämlich bloß bei Bezahlung einer bereits bestehenden, aber noch nicht fälligen Schuld ein sinnloses Hin- und Herbewegen der an sich geschuldeten Leistung vermeiden. Demgegenüber verbleibt einem Schuldner, der trotz fehlender Fälligkeit bereits geleistet hat, unverändert ein Bereicherungsanspruch, wenn die vermeintlich erfüllte Verbindlichkeit - unabhängig von ihrer mangelnden Fälligkeit - materiell-rechtlich nicht bestand (vgl BGH Urteil vom 6.6.2012 - VIII ZR 198/11 - NJW 2012, 2659 RdNr 25 mwN). So lag es hier, wie oben dargelegt.

44

cc) Die Klägerin kann dem Anspruch der Beklagten auch nicht die Verjährung der Erstattungsforderung entgegenhalten. Der Anspruch einer KK gegen einen Krankenhausträger auf Erstattung einer zu Unrecht gezahlten Vergütung unterliegt einer vierjährigen Verjährung (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; zum - nach einhelliger Rspr aller betroffener Senate des BSG - zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsprinzip der Verjährung im Leistungserbringungsrecht vgl ausführlich Urteil des erkennenden Senats vom 21.4.2015 - B 1 KR 11/15 R - für SozR vorgesehen; entsprechend generell für das öffentliche Recht BVerwGE 132, 324 RdNr 12). Die Überlegungen des SG geben zu einer abweichenden Sicht keinen Anlass. Die Verjährung der streitigen Erstattungsforderung begann nach Ablauf des Jahres 2009. Sie beginnt nämlich entsprechend § 45 Abs 1 SGB I nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch im gleichgeordneten Leistungserbringungsverhältnis entsteht bereits im Augenblick der Überzahlung (vgl zB BSGE 69, 158, 163 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12 mwN; Guckelberger, Die Verjährung im Öffentlichen Recht, 2004, S 374 f), hier also mit der vollständigen Begleichung der Schlussrechnung am 4.5.2009. Die Klägerin hat am 18.12.2013 vor Eintritt der Verjährung Klage erhoben (§ 90 SGG)und hierdurch den Eintritt der Verjährung der Forderung gehemmt (§ 45 Abs 2 SGB I analog iVm § 204 Abs 1 Nr 1 BGB).

45

dd) Der Anspruch ist ferner nicht verwirkt. Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Es findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - Juris RdNr 18), etwa wenn eine Nachforderung eines Krankenhauses nach vorbehaltlos erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der KK erfolgt (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27). Ein solcher Fall liegt indes nicht vor.

46

Die Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl zB BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - Juris RdNr 19 mwN; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke , Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147 ff, 167 f).

47

An solchen die Verwirkung auslösenden Umständen fehlt es. Weder nach den Feststellungen des SG noch nach dem Vorbringen der Beteiligten gab es eine Vereinbarung zwischen den Beteiligten, die die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs ausschloss. Die Klägerin konnte auch nicht darauf vertrauen, dass die Beklagte innerhalb der Grenzen der Verjährung rechtsgrundlos geleistete Krankenhausvergütung nicht zurückfordern würde, etwa wenn ihr auffiel, dass die Klägerin Vergütung gefordert hatte, ohne die nach § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V erforderlichen Angaben zu machen.

48

Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar. Der Umstand, dass die Beklagte bis kurz vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist mit der Geltendmachung ihrer Forderung gewartet hat, genügt als Vertrauenstatbestand nicht. Hierdurch unterscheidet sich die Verwirkung von der Verjährung. Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (stRspr, vgl nur BSG Urteil vom 21.4.2015 - B 1 KR 7/15 R - Juris RdNr 19 mwN, für SozR vorgesehen). Dafür gibt der vorliegende Sachverhalt jedoch keine Anhaltspunkte. Soweit die Rechtsprechung des 3. Senats des BSG in obiter dicta eine abweichende Auffassung angedeutet hat (vgl BSG SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 26 ff; BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 11 RdNr 21), hat der erkennende 1. Senat des BSG diese Rechtsprechung aus Gründen der Klarstellung aufgegeben (vgl BSG Urteil vom 21.4.2015 - B 1 KR 7/15 R - Juris RdNr 20, für SozR vorgesehen). Der 3. Senat des BSG ist für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser nicht mehr zuständig.

49

3. Die Kostentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 770,02 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über Krankenhausvergütung.

2

Die Klägerin ist Trägerin eines Krankenhauses in Thüringen, das zur Behandlung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Versicherter zugelassen ist. Zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung (§ 140d SGB V aF) kürzte die beklagte Krankenkasse (KK) von der Klägerin im Jahr 2005 abgerechnete Krankenhausvergütung für Behandlungen ihrer Versicherten um insgesamt 770,02 Euro. Die Kürzungen erfolgten für zwei von der Beklagten zur Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung gGmbH gemeldete Verträge, den Vertrag über neurochirurgische Leistungen Marienstift A ab 1.10.2005 und den Vertrag Kinderchirurgie N Klinik ab 1.4.2005. Das SG hat die Beklagte auf die am 29.12.2009 erhobene Klage antragsgemäß verurteilt, der Klägerin 770,02 Euro nebst Zinsen zu zahlen, da die Verträge keine integrierte Versorgung im Sinne des Gesetzes zum Gegenstand gehabt hätten (Urteil vom 10.5.2013). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen: Der Vergütungsanspruch der Klägerin sei nach dem insoweit durch Schiedsstellenentscheidung geregelten Vertrag nach § 112 Abs 2 Nr 1 SGB V über die Allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung zwischen der Landeskrankenhausgesellschaft Thüringen eV und den Thüringischen Landesverbänden der KKn (KHBV) verjährt(§ 13 Abs 5 KHBV). Danach verjähren die Forderungen der Krankenhäuser sowie die Rückforderungsansprüche der KKn nach § 195 BGB in drei Jahren. Die Beklagte habe sich hierauf berufen (Urteil vom 13.6.2014).

3

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 112 Abs 2 Nr 1 SGB V. Die Verjährungsregelung des KHBV sei wegen Verstoßes gegen die gesetzliche Grundlage nichtig, das SG-Urteil zutreffend.

4

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2013 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

5

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der klagenden Krankenhausträgerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, weil es auf der Verletzung materiellen Rechts beruht und sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist. Der erkennende Senat kann wegen fehlender Tatsachenfeststellungen des LSG zum Bestehen des Vergütungsanspruchs der Klägerin, insbesondere zur Rechtmäßigkeit des Einbehalts zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung, nicht in der Sache umfassend über den Erfolg der Berufung gegen das SG-Urteil entscheiden.

8

Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den zulässigerweise mit der (echten) Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG; stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9 mwN; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 8, alle mwN) geltend gemachten Anspruch auf Zahlung von 770,02 Euro nebst Zinsen zu entscheiden. Zwar ziehen die Beteiligten nicht in Zweifel, dass die Voraussetzungen der Vergütung für die stationäre Behandlung Versicherter der beklagten KK durch die Klägerin entsprechend ihrer Abrechnung im Jahr 2005 in dieser Höhe erfüllt waren. Es steht aber nicht fest, dass die Beklagte hiervon rechtmäßig 770,02 Euro zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung einbehielt. Das LSG hat nämlich - ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt folgerichtig - keine Feststellungen zur Erfüllung der Voraussetzungen des Einbehalts getroffen (dazu 1.). Entgegen der Auffassung des LSG ist die streitige Restforderung der Klägerin nicht verjährt. Die Klägerin machte sie vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist klageweise geltend. Die vertragliche Abbedingung der vierjährigen Verjährungsfrist war nicht zulässig, sondern unwirksam. Die Restforderung ist entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht verwirkt (dazu 2.).

9

1. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung und damit korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist(stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 9). Diese Voraussetzungen waren unstreitig auch in Höhe der geltend gemachten Restforderung der Klägerin erfüllt.

10

Es steht nicht fest, dass diese Forderung durch rechtmäßigen Einbehalt zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung in Höhe von 770,02 Euro erlosch. KKn behalten von Krankenhausrechnungen Mittel zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung ein, indem sie mit einem Gegenrecht aufrechnen. Allerdings berechtigen nur geschlossene Verträge, die bei überschlägiger sozialgerichtlicher Prüfung die Grundvoraussetzungen eines Vertrags über integrierte Versorgung erfüllen, KKn zum Mitteleinbehalt zwecks Anschubfinanzierung (vgl BSGE 107, 78 = SozR 4-2500 § 140d Nr 2; dem folgend auch BSG Urteil vom 25.11.2010 - B 3 KR 6/10 R - USK 2010-166). Es fehlt hierzu an Feststellungen des LSG.

11

2. Das LSG-Urteil erweist sich auch nicht wegen des Eintritts der Verjährung oder Verwirkung der Forderung als richtig. Die Klägerin machte die Forderung vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist am 29.12.2009 klageweise geltend (dazu a). Die vertragliche Verkürzung der vierjährigen Verjährungsfrist war nicht zulässig, sondern unwirksam (dazu b). Auch der Einwand der Verwirkung greift nicht ein (dazu c).

12

a) Die Verjährung der streitigen Vergütungsforderung für 2005 begann nach Ablauf des Jahres 2005. Sie beginnt nämlich entsprechend § 45 Abs 1 SGB I nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung entsteht unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wie dargelegt (vgl oben, II. 1.). Die Forderung verjährte erst in vier Jahren nach Verjährungsbeginn. Die Klägerin hat vor Eintritt der Verjährung im Dezember 2009 Klage erhoben und damit den Eintritt der Verjährung der Forderung gehemmt (§ 45 Abs 2 SGB I analog iVm § 204 Abs 1 Nr 1 BGB).

13

Die Rechtsprechung des BSG geht einhellig davon aus, dass für Vergütungsforderungen der Leistungserbringer die kurze, sozialrechtliche vierjährige Verjährungsfrist gilt (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1; zustimmend BSGE 95, 141 RdNr 26 = SozR 4-2500 § 83 Nr 2 RdNr 34; BSG SozR 4-1200 § 45 Nr 4; BSG SozR 4-2500 § 302 Nr 1 RdNr 43; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 47/12 R - SGb 2014, 497, RdNr 9; zur entsprechenden Anwendung von Verjährungsvorschriften auf sozialrechtliche Ausschlussvorschriften vgl BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 15). Dies ist vereinbar mit dem Wortlaut des § 69 SGB V(hier anzuwenden idF durch Art 1 Nr 45 GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGBl I 2190 mWv 1.1.2004). Es entspricht der Entwicklungsgeschichte, dem Regelungssystem und dem Regelungszweck.

14

Nach dem Wortlaut des § 69 S 2 SGB V werden die Rechtsbeziehungen der KKn und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 SGB V und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Die Regelung der Verjährung ergibt sich schon aus dem 4. Kapitel des SGB V selbst und den hierfür geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 10 ff; BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 8 S 30). Denn das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient. Die ergänzende Regelung des § 69 S 3 SGB V greift insoweit nicht ein. Danach gelten ua für die Rechtsbeziehungen nach § 69 S 2 SGB V lediglich "im Übrigen" die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V "und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach" dem 4. Kapitel des SGB V vereinbar sind.

15

Der Gesetzgeber hat die zitierte ständige Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen, die gesetzlichen Regelungen zu ändern. Er wollte eine Änderung der verjährungsrechtlichen Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht herbeiführen (vgl auch BSGE 115, 40 = SozR 4-2500 § 302 Nr 1, RdNr 44; entsprechend generell für das öffentliche Recht BVerwGE 132, 324 RdNr 11 f). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem der bürgerlich-rechtlichen Verjährung auf spezialgesetzlich geregelte Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857 S 42 zu Nr 1). Hierzu wurde in der Folge das Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) erlassen. Auch dort entschied sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts, da im öffentlichen Recht grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen gelten und auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden könne (BT-Drucks 15/3653 S 10).

16

Der Gesetzgeber wollte mit der Regelung des § 69 SGB V das Leistungserbringungsrecht des 4. Kapitels im SGB V von der Anwendung kartellrechtlicher Vorschriften ausnehmen, nicht aber die Verjährungsfristen ändern. Zivilgerichte hatten in der Nachfragetätigkeit der KKn und ihrer Verbände ein Auftreten als Unternehmen im Sinne des deutschen und des europäischen Wettbewerbs- und Kartellrechts gesehen. Deswegen hatten sie Festbetragsregelungen der Spitzenverbände der KKn nach den §§ 91 f, 35 f SGB V teilweise für wettbewerbswidrig erklärt. Der Gesetzgeber wirkte lediglich dieser Tendenz mit einem Bündel von neuen Vorschriften entgegen (vgl näher BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 12).

17

b) Die Regelung des § 13 Abs 5 KHBV, die vertraglich die vierjährige Verjährungsfrist abbedingen soll, ist nicht zulässig, sondern unwirksam. Der ihr zugrunde liegende Schiedsspruch ist materiell rechtswidrig. Der Schiedsspruch ist anhand der für die Krankenhausbehandlung in der GKV maßgeblichen Rechtsmaßstäbe zu überprüfen (dazu aa). Danach widerspricht die Regelung des § 13 Abs 5 KHBV dem Wirtschaftlichkeitsgebot, soweit sie Rückforderungsansprüche der KKn der dreijährigen Verjährung unterwirft. Die Teilnichtigkeit führt zur Gesamtnichtigkeit der Regelung (dazu bb).

18

aa) Der Schiedsspruch der Landesschiedsstelle nach § 114 SGB V unterliegt uneingeschränkt der Kontrolle seiner Vereinbarkeit mit den für die Krankenhausbehandlung in der GKV geltenden unabdingbaren Rechtsmaßstäben. Er soll eine vertragliche Regelung ersetzen, die sicherstellen soll, dass Art und Umfang der Krankenhausbehandlung den Anforderungen des SGB V entsprechen (§ 112 Abs 1 SGB V; vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 31; BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 32). Ausschließlich innerhalb dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen können die Verträge auf Landesebene - wie hier der KHBV - die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung einschließlich der Aufnahme und Entlassung der Versicherten, Kostenübernahme, Abrechnung der Entgelte, Berichte und Bescheinigungen regeln (§ 112 Abs 2 S 1 Nr 1 Buchst a und b SGB V). Nur soweit diese Vertragskompetenz reicht, besteht ein Gestaltungsspielraum der Landesschiedsstelle (zur Möglichkeit der Verletzung durch untergesetzliche Normen vgl BSGE 105, 1 = SozR 4-2500 § 125 Nr 5, RdNr 26 mwN).

19

bb) Dementsprechend steht die Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht zur Disposition der Vertragspartner und der Schiedsstelle. Das Regelungssystem des SGB V begründet Ansprüche nur auf eine erforderliche Krankenhausbehandlung (§ 27 Abs 1, § 39 Abs 1 S 2 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nach objektiven Kriterien (vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 30 f; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 20 RdNr 19 ff mwN). Die Krankenhausbehandlung muss ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Nur unter diesen Voraussetzungen schuldet die KK dem Versicherten eine Krankenhausbehandlung und dem Leistungserbringer korrespondierend die vereinbarte Vergütung (§ 2 Abs 1 S 1, § 12 Abs 1 S 1, § 70 Abs 1 SGB V). Ein Anspruch auf Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung setzt dementsprechend ua voraus, dass die Behandlung unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots erforderlich war und die Voraussetzungen der gesetzlichen und vertraglich vorgesehenen Vergütungsregelungen erfüllt sind (vgl § 109 Abs 4 S 3 iVm § 39 Abs 1 S 2 SGB V). Über die Erforderlichkeit der Behandlung entscheidet allein die KK und im Streitfall das Gericht, ohne dass beide an die Einschätzung des Krankenhauses oder seiner Ärzte gebunden sind (BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 20, 26 unter Bezugnahme auf BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 27 ff). Die KKn haben ggf erst durch eine Prüfung festzustellen, dass die Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs erfüllt sind. Auch die Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser hat hieran nichts geändert (BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 23; vgl zum Ganzen BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 33). Das Vertragsrecht des SGB V kann dementsprechend nicht dazu eingesetzt werden, den gesetzlichen Rahmen für die Überprüfung der Krankenhausabrechnungen auf sachlich-rechnerische Richtigkeit und Wirtschaftlichkeit einzuschränken. Ähnlich wie im Vertragsarztrecht besteht auch im Bereich der Krankenhausbehandlung keine weitergehende Befugnis der Vertragspartner und an ihrer Stelle der Landesschiedsstelle, Überprüfungsmöglichkeiten der KKn gegenüber Vergütungsansprüchen der Krankenhäuser über die allgemeinen gesetzlichen Rahmenvorgaben hinaus zeitlich einzuschränken (vgl BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 37).

20

Die allgemeinen gesetzlichen Rahmenvorgaben für die Überprüfung von Krankenhausabrechnungen ergeben sich aus den Regelungen der Verjährung für Erstattungsansprüche, inzwischen ergänzt um die spezielle Ausschlussregelung des § 275 Abs 1c SGB V. Der Anspruch einer KK gegen einen Krankenhausträger auf Erstattung einer zu Unrecht gezahlten Vergütung unterliegt einer vierjährigen Verjährung (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 14.10.2014 - B 1 KR 27/13 R - Juris RdNr 33, für BSGE und SozR 4-2500 § 109 Nr 40 vorgesehen; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25). Dieser gesetzliche Rahmen steht nicht zur Disposition der Vertragspartner des § 112 SGB V. Vertragspartner und an ihrer Stelle die Landesschiedsstelle sind lediglich berechtigt, Modalitäten zur Abrechnung von Vertragsleistungen, zB Abrechnungsfristen und die Folgen bei Nichteinhaltung, durch Vereinbarung oder an ihrer Stelle durch Schiedsspruch zu regeln. Solche Regelungen halten die hieran gebundenen KKn und Krankenhäuser gleichermaßen dazu an, ihren Verpflichtungen nachzukommen (vgl Wahl in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 112 RdNr 41 ff). Dazu gehören etwa Zahlungsfristen, Verrechnungsmodalitäten sowie Verzugszinsen bei Überschreitung des Zahlungsziels (vgl BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 35).

21

Die Regelungen des § 13 Abs 5 KHBV sind nichtig. Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht, soweit sie den aufgezeigten Vorgaben zur Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots widersprechen. Sie schränken die gesetzlichen Möglichkeiten der Überprüfung der Krankenhausabrechnungen ein, indem sie die Rückforderungsansprüche der KKn der dreijährigen Verjährung gemäß § 195 BGB unterwerfen. Die Teilnichtigkeit der Regelung der Verjährungsfrist - bezogen auf Rückforderungsansprüche der KKn - bewirkt auch die Nichtigkeit der Geltung der dreijährigen Verjährungsfrist für Forderungen der Krankenhäuser. Denn die Schiedsstelle hat die Einbeziehung beider Forderungsarten in die Verjährungsregelung im Sinne einer ausgewogenen Gesamtregelung konzipiert. Nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB ist die gesamte Regelung der Verjährung in § 13 Abs 5 KHBV nichtig, da die Verkürzung der Verjährungsfrist für Erstattungsansprüche der KKn nichtig und nicht anzunehmen ist, dass die Schiedsstelle § 13 Abs 5 KHBV auch ohne den nichtigen Teil erlassen hätte.

22

c) Die Klägerin war nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch nicht - wie die Beklagte meint - daran gehindert, ihren Vergütungsanspruch gegenüber der Beklagten im Dezember 2009 klageweise geltend zu machen. Ihr restlicher Vergütungsanspruch ist nicht verwirkt.

23

Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Es findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN), etwa wenn eine Nachforderung eines Krankenhauses nach vorbehaltlos erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der KK erfolgt (BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27). Um eine solche Nachforderung geht es indes nicht.

24

Die Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37; BSGE 109, 22 = SozR 4-2400 § 7 Nr 14, RdNr 36; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 31; BSG SozR 4-2600 § 243 Nr 4 RdNr 36; BSG SozR 4-4200 § 37 Nr 1 RdNr 17; BSG SozR 3-2400 § 4 Nr 5 S 13; BSG Urteil vom 30.7.1997 - 5 RJ 64/95 - Juris RdNr 27; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f; BSG Urteil vom 1.4.1993 - 1 RK 16/92 - FEVS 44, 478, 483 = Juris RdNr 23; BSG SozR 2200 § 520 Nr 3 S 7; BSG Urteil vom 29.7.1982 - 10 RAr 11/81 - Juris RdNr 15; BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15; BSG Urteil vom 25.1.1972 - 9 RV 238/71 - Juris RdNr 17; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke , Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147 ff, 167 f).

25

An solchen die Verwirkung auslösenden Umständen fehlt es vorliegend. Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar (vgl auch BSG Urteil vom selben Tag - B 1 KR 7/15 R - RdNr 19, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der Umstand, dass die Klägerin erst am 29.12.2009 Zahlungsklage erhoben hat, genügt deshalb nicht. Hierdurch unterscheidet sich die Verwirkung von der Verjährung (s ferner ergänzend zu den bereits oben genannten Entscheidungen BSGE 51, 260, 262 f = SozR 2200 § 730 Nr 2 S 4; BSG Urteil vom 30.10.1969 - 8 RV 53/68 - USK 6983 S 345 = Juris RdNr 23; BSGE 38, 187, 193 f = SozR 2200 § 664 Nr 1 S 8 f; BSGE 34, 211, 214 = SozR Nr 14 zu § 242 BGB Aa 7 RS; BSGE 7, 199, 200 f; vgl auch BGH NJW 2011, 445, 446). Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (vgl BSG Urteil vom 19.6.1980 - 7 RAr 14/79 - USK 80292 S 1312 = Juris RdNr 32; BSGE 47, 194, 197 f = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 17; BSGE 45, 38, 48 = SozR 4100 § 40 Nr 17 S 55). Hierbei kann zu berücksichtigen sein, wie sich das Verhalten nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte darstellt (vgl dazu Müller-Grune, Der Grundsatz von Treu und Glauben im Allgemeinen Verwaltungsrecht, 2006, S 60; ebenso Knödler, Mißbrauch von Rechten, selbstwidersprüchliches Verhalten und Verwirkung im öffentlichen Recht, 2000, S 221).

26

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Es fehlt bereits an einem Verwirkungsverhalten. Die Klägerin gab der Beklagten keinen Anlass dafür, anzunehmen, dass sie ihre restliche Vergütungsforderung nicht mehr weiterverfolgen werde.

27

3. Das LSG wird nunmehr die gebotenen Feststellungen zu den Voraussetzungen einer rechtmäßigen Einbehaltung zwecks Anschubfinanzierung integrierter Versorgung zu treffen haben (vgl dazu grundlegend BSGE 107, 78 = SozR 4-2500 § 140d Nr 2).

28

4. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 GKG.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

(1) Der Versorgungsvertrag nach § 108 Nr. 3 kommt durch Einigung zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam und dem Krankenhausträger zustande; er bedarf der Schriftform. Bei den Hochschulkliniken gilt die Anerkennung nach den landesrechtlichen Vorschriften, bei den Plankrankenhäusern die Aufnahme in den Krankenhausbedarfsplan nach § 8 Abs. 1 Satz 2 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes als Abschluss des Versorgungsvertrages. Dieser ist für alle Krankenkassen im Inland unmittelbar verbindlich. Die Vertragsparteien nach Satz 1 können im Einvernehmen mit der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde eine gegenüber dem Krankenhausplan geringere Bettenzahl vereinbaren, soweit die Leistungsstruktur des Krankenhauses nicht verändert wird; die Vereinbarung kann befristet werden. Enthält der Krankenhausplan keine oder keine abschließende Festlegung der Bettenzahl oder der Leistungsstruktur des Krankenhauses, werden diese durch die Vertragsparteien nach Satz 1 im Benehmen mit der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde ergänzend vereinbart.

(2) Ein Anspruch auf Abschluß eines Versorgungsvertrags nach § 108 Nr. 3 besteht nicht. Bei notwendiger Auswahl zwischen mehreren geeigneten Krankenhäusern, die sich um den Abschluß eines Versorgungsvertrags bewerben, entscheiden die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam unter Berücksichtigung der öffentlichen Interessen und der Vielfalt der Krankenhausträger nach pflichtgemäßem Ermessen, welches Krankenhaus den Erfordernissen einer qualitativ hochwertigen, patienten- und bedarfsgerechten sowie leistungsfähigen und wirtschaftlichen Krankenhausbehandlung am besten gerecht wird.

(3) Ein Versorgungsvertrag nach § 108 Nr. 3 darf nicht abgeschlossen werden, wenn das Krankenhaus

1.
nicht die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche Krankenhausbehandlung bietet,
2.
bei den maßgeblichen planungsrelevanten Qualitätsindikatoren nach § 6 Absatz 1a des Krankenhausfinanzierungsgesetzes auf der Grundlage der vom Gemeinsamen Bundesausschuss nach § 136c Absatz 2 übermittelten Maßstäbe und Bewertungskriterien nicht nur vorübergehend eine in einem erheblichen Maß unzureichende Qualität aufweist, die im jeweiligen Landesrecht vorgesehenen Qualitätsanforderungen nicht nur vorübergehend und in einem erheblichen Maß nicht erfüllt, höchstens drei Jahre in Folge Qualitätsabschlägen nach § 5 Absatz 3a des Krankenhausentgeltgesetzes unterliegt oder
3.
für eine bedarfsgerechte Krankenhausbehandlung der Versicherten nicht erforderlich ist.
Abschluß und Ablehnung des Versorgungsvertrags werden mit der Genehmigung durch die zuständigen Landesbehörden wirksam. Verträge, die vor dem 1. Januar 1989 nach § 371 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung abgeschlossen worden sind, gelten bis zu ihrer Kündigung nach § 110 weiter.

(4) Mit einem Versorgungsvertrag nach Absatz 1 wird das Krankenhaus für die Dauer des Vertrages zur Krankenhausbehandlung der Versicherten zugelassen. Das zugelassene Krankenhaus ist im Rahmen seines Versorgungsauftrags zur Krankenhausbehandlung (§ 39) der Versicherten verpflichtet. Die Krankenkassen sind verpflichtet, unter Beachtung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs mit dem Krankenhausträger Pflegesatzverhandlungen nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des Krankenhausentgeltgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung zu führen.

(5) Ansprüche der Krankenhäuser auf Vergütung erbrachter Leistungen und Ansprüche der Krankenkassen auf Rückzahlung von geleisteten Vergütungen verjähren in zwei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind. Dies gilt auch für Ansprüche der Krankenkassen auf Rückzahlung von geleisteten Vergütungen, die vor dem 1. Januar 2019 entstanden sind. Satz 1 gilt nicht für Ansprüche der Krankenhäuser auf Vergütung erbrachter Leistungen, die vor dem 1. Januar 2019 entstanden sind. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend.

(6) Gegen Forderungen von Krankenhäusern, die aufgrund der Versorgung von ab dem 1. Januar 2020 aufgenommenen Patientinnen und Patienten entstanden sind, können Krankenkassen nicht mit Ansprüchen auf Rückforderung geleisteter Vergütungen aufrechnen. Die Aufrechnung ist abweichend von Satz 1 möglich, wenn die Forderung der Krankenkasse vom Krankenhaus nicht bestritten wird oder rechtskräftig festgestellt wurde. In der Vereinbarung nach § 17c Absatz 2 Satz 1 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes können abweichende Regelungen vorgesehen werden.

(1) Die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam schließen mit der Landeskrankenhausgesellschaft oder mit den Vereinigungen der Krankenhausträger im Land gemeinsam Verträge, um sicherzustellen, daß Art und Umfang der Krankenhausbehandlung den Anforderungen dieses Gesetzbuchs entsprechen.

(2) Die Verträge regeln insbesondere

1.
die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung einschließlich der
a)
Aufnahme und Entlassung der Versicherten,
b)
Kostenübernahme, Abrechnung der Entgelte, Berichte und Bescheinigungen,
2.
die Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung einschließlich eines Kataloges von Leistungen, die in der Regel teilstationär erbracht werden können,
3.
Verfahrens- und Prüfungsgrundsätze für Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfungen,
4.
die soziale Betreuung und Beratung der Versicherten im Krankenhaus,
5.
den nahtlosen Übergang von der Krankenhausbehandlung zur Rehabilitation oder Pflege,
6.
das Nähere über Voraussetzungen, Art und Umfang der medizinischen Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach § 27a Abs. 1.
Sie sind für die Krankenkassen und die zugelassenen Krankenhäuser im Land unmittelbar verbindlich.

(3) Kommt ein Vertrag nach Absatz 1 bis zum 31. Dezember 1989 ganz oder teilweise nicht zustande, wird sein Inhalt auf Antrag einer Vertragspartei durch die Landesschiedsstelle nach § 114 festgesetzt.

(4) Die Verträge nach Absatz 1 können von jeder Vertragspartei mit einer Frist von einem Jahr ganz oder teilweise gekündigt werden. Satz 1 gilt entsprechend für die von der Landesschiedsstelle nach Absatz 3 getroffenen Regelungen. Diese können auch ohne Kündigung jederzeit durch einen Vertrag nach Absatz 1 ersetzt werden.

(5) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen und die Deutsche Krankenhausgesellschaft oder die Bundesverbände der Krankenhausträger gemeinsam sollen Rahmenempfehlungen zum Inhalt der Verträge nach Absatz 1 abgeben.

(6) Beim Abschluß der Verträge nach Absatz 1 und bei Abgabe der Empfehlungen nach Absatz 5 sind, soweit darin Regelungen nach Absatz 2 Nr. 5 getroffen werden, die Spitzenorganisationen der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen zu beteiligen.

Die Aufrechnung bewirkt, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind.

Schulden zwei Personen einander Leistungen, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind, so kann jeder Teil seine Forderung gegen die Forderung des anderen Teils aufrechnen, sobald er die ihm gebührende Leistung fordern und die ihm obliegende Leistung bewirken kann.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 2. Februar 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Der Kläger und der Beigeladene tragen die Kosten des Rechtsstreits.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 17,49 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Aufrechnung wegen Nichtberücksichtigung von Arzneimittelrabattverträgen.

2

Der klagende Apotheker gab am 2.10.2007 an eine Versicherte der beklagten Krankenkasse (KK) das in der ärztlichen Verordnung vom 1.10.2007 mit der Maßgabe "aut idem" bezeichnete Arzneimittel Junizac 150 mg ab (Apothekenabgabepreis: 19,79 Euro). Die Beklagte hatte für dieses Arzneimittel mit dessen Hersteller keinen Rabattvertrag nach § 130a Abs 8 SGB V geschlossen, hingegen für andere mit dem abgegebenen Arzneimittel nach Wirkstoff, Wirkstärke, Darreichungsform, Packungsgröße und Indikationsbereich austauschbare Arzneimittel. Die Beklage vergütete dem Kläger unter Abzug des Apothekerrabatts zunächst 17,49 Euro, machte sodann einen Erstattungsanspruch geltend und rechnete diesen Betrag gegen einen anderen Vergütungsanspruch des Klägers auf. Das SG hat unter Zulassung der Sprungrevision die Beklagte zur Zahlung von 17,49 Euro verurteilt. Die Beklagte habe einen Erstattungsanspruch nur in Höhe des Differenzbetrages zwischen dem Rabattvertragsarzneimittel und dem tatsächlich abgegebenen Arzneimittel. Da die Beklagte den Inhalt der Rabattverträge nicht mitteile, sei die Ermittlung des Differenzbetrages nicht möglich. Der Ausschluss jeglicher Vergütung (Retaxierung auf Null) habe weder im Gesetz noch in den Rahmenverträgen eine Grundlage (Urteil vom 2.2.2012).

3

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 129 Abs 1 S 3 SGB V und des § 4 Abs 2 S 2 und Abs 4 des Rahmenvertrages über die Arzneimittelversorgung. Sie habe wirksam mit einem Erstattungsanspruch aufgerechnet. Der Kläger habe infolge Verstoßes gegen die genannten Vorschriften keinen Vergütungsanspruch erworben.

4

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 2. Februar 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Der Kläger und der Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie halten das SG-Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Sprungrevision der beklagten KK ist begründet. Das SG-Urteil ist aufzuheben und die Klage abzuweisen. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, an den klagenden Apotheker 17,49 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Der zulässig mittels der echten Leistungsklage geltend gemachte Vergütungsanspruch des Klägers für die Abgabe von Arzneimitteln an Versicherte der Beklagten (dazu 1.) ist durch Aufrechnung mit einem Erstattungsanspruch der Beklagten erloschen (dazu 2.).

8

1. Nach § 129 SGB V(idF durch Art 1 Nr 95 des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - vom 26.3.2007, BGBl I 378 mit Wirkung vom 1.4.2007) geben die Apotheker nach Maßgabe der ergänzenden Rahmenvereinbarung und Landesverträge (§ 129 Abs 2 und Abs 5 S 1 SGB V, vgl auch § 2 Abs 2 S 3 SGB V) vertragsärztlich verordnete Arzneimittel an Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ab. Diese Vorschrift begründet im Zusammenspiel mit den konkretisierenden vertraglichen Vereinbarungen eine öffentlich-rechtliche Leistungsberechtigung und -verpflichtung für die Apotheker, vertragsärztlich verordnete Arzneimittel an die Versicherten abzugeben. Die Apotheker erwerben im Gegenzug für die Erfüllung ihrer öffentlich-rechtlichen Leistungspflicht einen durch Normenverträge näher ausgestalteten gesetzlichen Anspruch auf Vergütung gegen die KKn, der schon in § 129 SGB V vorausgesetzt wird(stRspr, vgl zB BSG SozR 4-2500 § 130 Nr 2 RdNr 13; ausführlich BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr 6, RdNr 12 f; BSGE 105, 157 = SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 15). Die entsprechende Anwendung von Grundsätzen des Kaufvertragsrechts (vgl §§ 433 ff BGB iVm § 69 S 4 SGB V, jetzt § 69 Abs 1 S 3 SGB V)scheidet aus.

9

Der Vergütungsanspruch des Klägers, gegenüber dem die Beklagte am 20.2.2009 aufrechnete, erfüllte die dargelegten Voraussetzungen. Dies ergibt sich aus den dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe des SG zu entnehmenden unangegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen aufgrund des zulässig vom SG zugrunde gelegten übereinstimmenden Beteiligtenvortrags (vgl dazu BSG SozR 4-2500 § 130 Nr 2 RdNr 17; § 163 SGG).

10

2. Der in Höhe von 17,49 Euro entstandene streitgegenständliche Vergütungsanspruch des Klägers erlosch dadurch, dass die Beklagte analog § 387 BGB in gleicher Höhe mit einem eigenen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gegen ihn aufrechnete.

11

a) Die Anwendbarkeit der §§ 387 ff BGB folgt aus § 69 S 4 SGB V(jetzt § 69 Abs 1 S 3 SGB V). In Einklang mit der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG (BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 1 RdNr 16) geht der erkennende Senat davon aus, dass das Recht zur Rechnungs- und Taxberichtigung und die damit verbundene Möglichkeit zur Aufrechnung gegen spätere Zahlungsansprüche aus Arzneilieferungen umfassend ist. Es betrifft nicht nur die Korrektur von sog Abrechnungsfehlern. Taxberichtigungen/Retaxierungen sind grundsätzlich auch dann möglich, wenn sich nachträglich herausstellt, dass es zB an einer ordnungsgemäßen ärztlichen Verordnung mangelt, ein Medikament - wie hier - nicht vom Leistungskatalog der GKV erfasst wird oder unter Verstoß gegen die Bestimmungen des Arzneilieferungsvertrages (ALV) abgegeben worden ist (vgl zB BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr 6 - fehlende Genehmigung der KK vor Abgabe des Importarzneimittels; BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 2 - Überschreitung der einmonatigen Frist zur Vorlage eines Kassenrezepts). Entsprechendes gilt bei sonstigen Verstößen gegen die Vorgaben des § 129 SGB V und die sie konkretisierenden Bestimmungen des RV. Ein Ausschluss der Aufrechnungsbefugnis ergibt sich weder aus dem Gesetz noch aus den Rahmenverträgen.

12

Insbesondere schließen die in § 11 RV geregelten "Vertragsmaßnahmen" (Verwarnung, Vertragsstrafe bis zu 25 000 Euro, Ausschluss des Apothekenleiters/der Apothekenleiterin von der Versorgung der Versicherten bis zur Dauer von zwei Jahren) einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch nicht aus. Sie regeln vertraglich vereinbarte Sanktionen, die an ein rechtswidriges und schuldhaftes Fehlverhalten des Apothekers anknüpfen. Sie haben aber nicht die Rückabwicklung von rechtswidrigen Vermögensverschiebungen zum Gegenstand. Weder wollen noch könnten sie nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch ausschließen, weil die Vorschrift dann gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen würde (zu einer gegen KKn gerichteten Ausschlussfrist vgl BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 35).

13

Die Beklagte konnte mit einer Gegenforderung aus öffentlich-rechtlicher Erstattung gegen die Hauptforderung aufrechnen (vgl allgemein zum öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch zB BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 10 f mwN; zur Aufrechnung mit diesem zB BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 7 RdNr 11; BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr 6, RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 15). Auch die sich aus der fehlgeschlagenen, aber intendierten Leistungserbringung für nach dem SGB V Versicherte ergebenden Rückabwicklungsbeziehungen zwischen KKn und Apothekern sind spiegelbildlich zu den Leistungsbeziehungen öffentlich-rechtlicher Natur. Der Vergütungsanspruch des Klägers und der von der Beklagten nach den Feststellungen des SG - und dem übereinstimmenden Beteiligtenvortrag - gemäß den rahmenvertraglichen Bestimmungen von der Beklagten formell ordnungsgemäß geltend gemachte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch erfüllte die Voraussetzungen der Gegenseitigkeit und der Gleichartigkeit. Der geltend gemachte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch der Beklagten war auch fällig und der Vergütungsanspruch des Klägers erfüllbar.

14

Die Beklagte hatte einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gegen den Kläger, weil sie ihm ohne Rechtsgrund 17,49 Euro aufgrund der Lieferung des Arzneimittels Junizac 150 mg (100 Filmtabletten N3) gezahlt hatte. Der vom Kläger hierfür geltend gemachte Vergütungsanspruch war nicht entstanden (dazu b). Der Kläger hatte auch keinen Anspruch auf Wertersatz oder zumindest auf Erstattung der Kosten der Warenbeschaffung (dazu c). Sowohl der sich dem Grunde und der Höhe nach ergebende öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch als solcher als auch seine Geltendmachung im Aufrechnungswege stehen in Einklang mit höherrangigem Recht (dazu d).

15

b) Der Kläger erwarb keinen Vergütungsanspruch, weil er zur Abgabe des Arzneimittels Junizac 150 mg (100 Filmtabletten N3) an die Versicherte nicht berechtigt war. Er erfüllte damit nicht seine öffentlich-rechtliche Leistungspflicht, sondern missachtete das Substitutionsgebot für "aut idem" verordnete Rabattarzneimittel. Dieses Substitutionsgebot beruht auf § 129 Abs 1 S 3 SGB V und dem ergänzenden Vertragsrecht(dazu aa). Seine Voraussetzungen waren erfüllt (dazu bb). Die Verletzung des Substitutionsgebots schließt einen Vergütungsanspruch aus (dazu cc).

16

aa) Die Apotheken sind bei der Abgabe verordneter Arzneimittel an Versicherte nach Maßgabe des Rahmenvertrages nach § 129 Abs 2 SGB V zur Abgabe eines preisgünstigen Arzneimittels ua in den Fällen verpflichtet, in denen der verordnende Arzt die Ersetzung des Arzneimittels durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel nicht ausgeschlossen hat(§ 129 Abs 1 S 1 Nr 1 Buchst b SGB V). In den Fällen der Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel haben die Apotheken ein Arzneimittel abzugeben, das mit dem verordneten in Wirkstärke und Packungsgröße identisch sowie für den gleichen Indikationsbereich zugelassen ist und ferner die gleiche oder eine austauschbare Darreichungsform besitzt (S 2). Dabei ist die Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel vorzunehmen, für das eine Vereinbarung nach § 130a Abs 8 SGB V mit Wirkung für die KK besteht, soweit hierzu in ergänzenden Verträgen auf Landesebene nach § 129 Abs 5 SGB V nichts anderes vereinbart ist(S 3).

17

Der Rahmenvertrag nach § 129 Abs 2 SGB V regelt Ergänzungen zum Substitutionsgebot gemäß § 129 Abs 1 S 3 SGB V. Maßgebend ist hier der auf Bundesebene zwischen den Spitzenverbänden der KKn einschließlich der Ersatzkassen und dem beigeladenen Deutschen Apothekerverband eV (DAV) geschlossene "Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung" (RV) idF vom 23.3.2007. Der RV ist als Normenvertrag für den Kläger nach § 129 Abs 3 Nr 1 SGB V verbindlich, weil sein Landesverband ein Mitgliedsverband des Beigeladenen ist. Die Verbindlichkeit des RV ergibt sich für die Beklagte unmittelbar aus dem Gesetz. § 4 Abs 2 S 2 RV sieht vor, dass die Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel vorzunehmen ist, für das eine Vereinbarung nach § 130a Abs 8 SGB V (Rabattvertrag) besteht und für das die Voraussetzungen nach § 4 Abs 4 RV gegeben sind, soweit in den ergänzenden Verträgen nach § 129 Abs 5 SGB V nichts anderes vereinbart ist. § 4 Abs 4 S 1 und 2 RV bestimmen: Die Apotheke hat ein wirkstoffgleiches Fertigarzneimittel abzugeben, für das ein Rabattvertrag nach § 130a Abs 8 SGB V (rabattbegünstigtes Arzneimittel) besteht, wenn (a) bei unter dem Produktnamen verordneten Fertigarzneimitteln der Vertragsarzt die Ersetzung nicht ausgeschlossen hat, (b) die Angaben zu dem rabattbegünstigten Arzneimittel nach § 4 Abs 5 RV vollständig und bis zu dem vereinbarten Stichtag mitgeteilt wurden, (c) die Voraussetzungen für die Auswahl nach § 4 Abs 3 S 2 RV vorliegen, (d) das rabattbegünstigte Arzneimittel im Zeitpunkt der Vorlage der Verordnung verfügbar ist. Hat die KK für mehrere Arzneimittel, die die Voraussetzungen nach § 4 Abs 4 S 1 RV erfüllen, Rabattverträge geschlossen, ist die Apotheke in der Auswahl unter diesen Arzneimitteln frei. Die Voraussetzungen für die Auswahl liegen nach § 4 Abs 3 S 2 RV nur vor, wenn die Rabattvertragsarzneimittel mit dem verordneten Arzneimittel in Wirkstärke und Packungsgröße identisch sowie für den gleichen Indikationsbereich zugelassen sind, ferner die gleiche oder eine austauschbare Darreichungsform besitzen und das Arzneimittel einer Gruppe wirkstoffgleicher Arzneimittel zuzuordnen ist, für die der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) Hinweise zur Austauschbarkeit nach § 129 Abs 1a SGB V gegeben hat.

18

Der für den Kläger und die Beklagte geltende, hier anzuwendende ergänzende Vertrag auf Landesebene enthält nichts Abweichendes zum Substitutionsgebot. Nach § 129 Abs 5 S 1 SGB V können die Landesverbände der KKn und die Verbände der Ersatzkassen mit der für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen maßgeblichen Organisation der Apotheker auf Landesebene ergänzende Verträge schließen. Maßgeblich ist hier der ab 1.7.2005 geltende ALV, geschlossen ua zwischen dem Verband der Angestellten-Krankenkassen eV (einschließlich ihrer Landesvertretungen; VdAK) und dem Beigeladenen, handelnd für die Landesapothekerverbände. Der Kläger ist als Mitglied des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein eV nach § 2 Abs 2 ALV, die Beklagte als Mitgliedskasse des vertragsschließenden VdAK nach § 2 Abs 1 ALV an diesen Landesvertrag gebunden(zum zwischenzeitlichen Wechsel der Abschlussbefugnis vom VdAK auf den Verband der Ersatzkassen vgl BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr 6, RdNr 14). Die Regelungen zur "Unterstützung von Rabattverträgen gemäß § 130a Absatz 8 SGB V durch Apotheken" in Anlage 8 ALV dienten lediglich dazu, den im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht gesetzlich geregelten Vorrang der Rabattvertragsarzneimittel ohne Offenlegung des Inhalts der Rabattverträge durch Belohnung eines entsprechenden Abgabeverhaltens der Apotheker herbeizuführen(vgl § 4 Anlage 8 ALV).

19

bb) Der Kläger durfte nach den Feststellungen des SG der Versicherten aufgrund der vertragsärztlichen Verordnung nicht das Arzneimittel Junizac abgeben, da die dargelegten Voraussetzungen des Substitutionsgebots erfüllt waren. Im Zeitpunkt der Abgabe erfüllten fünf andere Rabattvertragsarzneimittel die Voraussetzungen für die Ersetzung des nur dem Produktnamen nach verordneten Arzneimittels, wie der Kläger in seiner Klageschrift im Übrigen selbst vorgetragen hat. Soweit er mit seinen Ausführungen in der Revisionserwiderung zur Nichtnachprüfbarkeit der von der Beklagten behaupteten Rabattverträge konkludent eine Verfahrensrüge erhoben haben sollte, ist diese schon wegen § 161 Abs 4 SGG unbeachtlich. Hiernach kann die Sprungrevision nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden.

20

cc) Der Verstoß des Klägers gegen das Substitutionsgebot schließt jegliche Vergütung für die Abgabe des Arzneimittels aus. Dies folgt schon aus den allgemeinen Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs für Apotheker (dazu (1). Es widerspräche auch dem Gesetzeszweck des Substitutionsgebots (dazu (2). Schließlich ließe die Annahme einer Vergütungspflicht außer Acht, dass eine Arzneimittelabgabe unter Verstoß gegen das Substitutionsgebot keinen Anspruch der Versicherten erfüllt (dazu (3).

21

(1) Nach der Rechtsprechung des erkennenden 1. Senats und des 3. Senats des BSG besteht ein Vergütungsanspruch des Apothekers gegen die KK bei Abgabe vertragsärztlich verordneter Arzneimittel an deren Versicherte lediglich als Pendant zur Lieferberechtigung und -verpflichtung des Apothekers (vgl BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr 6, RdNr 13; BSGE 105, 157 = SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 16). Fehlt es an einer Lieferberechtigung und -verpflichtung, kann aus einer dennoch erfolgten Abgabe von Arzneimitteln an Versicherte einer KK kein Vergütungsanspruch des Apothekers gegen die KK erwachsen. Das gesetzesergänzende Normenvertragsrecht regelt, welcher Vertragspartner oder Vertragsunterworfene welche Risiken trägt. Den Apotheker trifft die Pflicht, ordnungsgemäß vertragsärztlich verordnete Arzneimittel nur im Rahmen seiner Lieferberechtigung an Versicherte abzugeben. Verletzt er diese Pflicht, ist dies sein Risiko: Die KK muss für nicht veranlasste, pflichtwidrige Arzneimittelabgaben nichts zahlen.

22

(2) Eine Vergütungspflicht für unter Verletzung des Substitutionsgebots abgegebene Arzneimittel würde dem Zweck der Regelung widersprechen. Der Gesetzgeber fügte dieses Gebot in das SGB V ein (vgl § 129 Abs 1 S 3 SGB V idF durch Art 1 Nr 95 Buchst a Doppelbuchst bb GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378), um die Wirksamkeit von Rabattverträgen nach § 130a Abs 8 SGB V zu erhöhen. Nach den Gesetzesmaterialien sollte grundsätzlich die Apotheke bei wirkstoffgleichen Arzneimitteln eine Ersetzung durch Präparate vornehmen, für die Vereinbarungen über Preisnachlässe auf den Abgabepreis mit dem pharmazeutischen Unternehmer nach § 130a Abs 8 SGB V gelten. Damit - so die Begründung - wird die Wirksamkeit solcher Vereinbarungen verbessert (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eines GKV-WSG, BT-Drucks 16/3100 S 142 zu Nummer 95 (§ 129), zu Buchst a, zu Doppelbuchst cc). Die Annahme einer Vergütungspflicht für unter Verletzung des Substitutionsgebots abgegebene Arzneimittel würde diese Zielsetzung konterkarieren.

23

(3) Wie fernliegend es ist, eine Vergütungspflicht der KKn für unter Verletzung des Substitutionsgebots abgegebene Arzneimittel anzunehmen, wird schließlich daran deutlich, dass Versicherte keinen Anspruch auf eine Arzneimittelabgabe unter Verstoß gegen das Substitutionsgebot haben. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats hat dagegen ein Apotheker, der bei der Abgabe einzelimportierter Fertigarzneimittel an Versicherte gegen Vertragspflichten verstößt, selbst dann keinen Anspruch auf Vergütung gegen die KK, wenn der Versicherte das Mittel zur Behandlung einer lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit beanspruchen kann (vgl BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr 6, RdNr 17 ff und LS 2). Für einen Vergütungsanspruch des vertragswidrig handelnden Apothekers genügt es dementsprechend nicht, dass ein Versicherter letztlich das abgegebene Arzneimittel beanspruchen könnte. Nur ganz besondere Risikoabwägungen können es rechtfertigen, Leistungserbringern einen Vergütungsanspruch zuzuerkennen, obwohl sie mit ihrer Leistung keinen Anspruch eines Versicherten erfüllen (vgl hierzu zB BSG GesR 2007, 276, RdNr 55; BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 33; BSGE 101, 33 = SozR 4-2500 § 109 Nr 9; BSGE 105, 157 = SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 23; BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr 6, RdNr 20). Für solche Erwägungen liegt hier nichts vor.

24

Versicherte, denen ein Vertragsarzt ein Arzneimittel nur unter seiner Wirkstoffbezeichnung oder unter seinem Produktnamen verordnet, ohne dessen Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel auszuschließen, haben nach Maßgabe des dargelegten Gesetzes- und Vertragsrechts lediglich Anspruch auf Verschaffung eines entsprechenden Rabattvertragsarzneimittels unter Achtung des Substitutionsgebots. Dies folgt aus dem dargelegten Wortlaut des § 129 Abs 1 S 3 SGB V und seinem Regelungszusammenhang mit den Ansprüchen Versicherter(vgl allgemein zum Zusammenspiel von Leistungs- und Leistungserbringungsrecht zB BSGE 98, 277 = SozR 4-2500 § 40 Nr 4, RdNr 20 f). Die Entwicklungsgeschichte zeigt die Begrenzung besonders prägnant: Nach § 129 Abs 1 S 5 SGB V(eingefügt durch Art 1 Nr 15 Buchst a Doppelbuchst cc Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung - Arzneimittelmarktneuordnungs-gesetz - AMNOG - vom 22.12.2010, BGBl I 2262, mit Wirkung vom 1.1.2011) können Versicherte inzwischen - abweichend von § 129 Abs 1 S 3 und 4 SGB V - gegen Kostenerstattung ein anderes Arzneimittel erhalten, wenn die Voraussetzungen nach § 129 Abs 1 S 2 SGB V erfüllt sind. Die Regelung gestattet Versicherten im Zusammenspiel mit den ebenfalls eingefügten Bestimmungen des § 13 Abs 2 S 11(vgl Art 1 Nr 1 AMNOG) und § 129 Abs 1 S 6 SGB V(vgl Art 1 Nr 15 Buchst a Doppelbuchst cc AMNOG) vor allem, sich nunmehr durch spontan gewillkürte Wahl im medizinisch austauschbaren "aut idem"-Bereich vom Naturalleistungsbezug als Regelfall zu lösen und stattdessen selbst für den Einzelfall eines Arzneimittels Kostenerstattung zu wählen (vgl Hauck, GesR 2011, 69, 73). Die Regelung wäre überflüssig gewesen, wenn Versicherte entgegen § 129 Abs 1 S 3 SGB V Anspruch auf ein vertraglich nicht rabattiertes Arzneimittel gehabt hätten und die ärztliche Verordnung ohne Beachtung des § 129 Abs 1 S 3 SGB V Grundlage für die Abgabe eines derartigen Arzneimittels hätte sein können. Die Beschränkung des Sachleistungsanspruchs der Versicherten unter den dargelegten Voraussetzungen auf vom Apotheker ausgewählte Rabattvertragsarzneimittel entspricht schließlich dem Regelungszweck des § 129 Abs 1 S 3 SGB V, Arzneimittelkosten in der GKV ohne Qualitätsverlust einzusparen. Dies harmoniert in besonderer Weise mit der Verwirklichung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 2 Abs 1 S 1, § 12 Abs 1, § 70 Abs 1 SGB V) und der Sicherung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität (§ 71 S 1 SGB V).

25

c) Der dem Grunde nach bestehende öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch der Beklagten erfasst den vollen Betrag der rechtsgrundlos gezahlten Vergütung. Er ist der Höhe nach nicht auf den Betrag beschränkt, der sich - nach Abzug des Apothekerrabatts - aus der Differenz der von der Beklagten gezahlten Vergütung für das abgegebene Arzneimittel Junizac 150 mg N3 und einem Rabattvertragsarzneimittel ergibt. Die dargelegten Grenzen eines Vergütungsanspruchs stehen der Anwendung der Regelungen über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung nach bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen entgegen (§§ 812 ff BGB iVm § 69 S 4 SGB V idF durch Art 1 Nr 40a GKV-WSG) .

26

§ 69 S 4 SGB V schließt nicht schon grundsätzlich eine entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung(§§ 812 ff BGB) im Leistungserbringungsrecht aus. Ihr Anwendungsbereich ist indes nicht eröffnet, wenn sie gesetzliche und (normen)vertragliche Regelungen, die das Leistungs- und Leistungserbringungsgeschehen in der GKV steuern, zu unterlaufen drohen. Diese Regelungen können ihre Steuerungsfunktion nur erfüllen, wenn sie vollständig beachtet werden. Auf die Schwere des Verstoßes kommt es dabei nicht an. So liegt es hier. Die Anwendung bereicherungsrechtlicher Grundsätze zugunsten des Leistungserbringers würde den oben aufgezeigten Zweck des Substitutionsgebots missachten (vgl entsprechend 1. Senat des BSG zB BSGE 86, 66, 75 = SozR 3-2500 § 13 Nr 21 S 97; BSGE 89, 39, 44 = SozR 3-2500 § 13 Nr 25 S 121; BSGE 97, 6 = SozR 4-2500 § 13 Nr 9, RdNr 24 zu Ansprüchen aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder der ungerechtfertigten Bereicherung; vgl zu ersteren auch BSGE 109, 133 = SozR 4-1750 § 68 Nr 1, RdNr 21; 6. Senat des BSG, zB BSG Urteil vom 26.1.2000 - B 6 KA 59/98 R - Juris RdNr 26; BSGE 80, 1, 4 = SozR 3-5545 § 19 Nr 2 S 9; BSGE 79, 239, 249 f = SozR 3-2500 § 87 Nr 14 S 57 f; 3. Senat des BSG BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 7 RdNr 29, zur Vergütung von Krankenhausleistungen außerhalb des Versorgungsauftrags des Krankenhauses; BSGE 94, 213 RdNr 26 = SozR 4-5570 § 30 Nr 1 RdNr 23 mwN, zu einem rechtswidrig importierten Arzneimittel).

27

d) § 129 Abs 1 S 3 SGB V und § 4 Abs 2 S 2 RV verstoßen in der vorgenommenen Auslegung nicht gegen höherrangiges Recht. Insbesondere ist die darin liegende Berufsausübungsregelung für Apotheker wie den Kläger gerechtfertigt. Die Regelung, die Apothekern abverlangt, das dargelegte Substitutionsgebot zu beachten, ist als Berufsausübungsregelung an Art 12 Abs 1 GG zu messen (vgl zB zu Preisregelungen für Apotheker BVerfGE 114, 196 = SozR 4-2500 § 266 Nr 9, RdNr 129 ff; s auch BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 7 RdNr 15). Die damit verbundene Belastung ist für Apotheker spürbar, aber gering: Sie dürfen vertragsärztlich verordnete Arzneimittel nur unter zusätzlicher Achtung des Substitutionsgebots an Versicherte abgeben. Dies entspricht den von ihnen zu fordernden und zu erwartenden professionellen Fähigkeiten. Sie müssen hierzu die ihnen zur Verfügung stehenden, durch Softwareprogramme abrufbaren Daten über Rabattverträge nutzen, um die Ersetzungsvoraussetzungen zu prüfen und Rabattvertragsarzneimittel auszuwählen.

28

Diese Berufsausübungsregelung ist - wie verfassungsrechtlich geboten - durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt. Sie dient - wie dargelegt - in geeigneter Weise und nach vertretbarer Einschätzung des Gesetzgebers in erforderlichem Umfang der Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV. Das Substitutionsgebot ist auch verhältnismäßig. Die Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV ist ein Gemeinwohlbelang sogar von überragender Bedeutung (vgl BVerfGE 114, 196 = SozR 4-2500 § 266 Nr 9, RdNr 233; BVerfGE 68, 193, 218 = SozR 5495 Art 5 Nr 1 S 3). Das Gebot, Rabattvertragsarzneimittel abzugeben, kann nur dann seinen Zweck sicher erfüllen, wenn es zugleich umfassend verbietet, nicht rabattierte Arzneimittel abzugeben. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Gesetz dessen strikte Einhaltung einfordert und bei insoweit fehlerhafter Abgabe einen Vergütungsanspruch vollständig ausschließt.

29

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 und 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 Teils 1 SGG iVm §§ 63 Abs 2, 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 GKG.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.282,86 Euro nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 15. Mai 2012 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Klägerin hat 80 Prozent und die Beklagte 20 Prozent der Kosten des Verfahrens zu tragen.

3. Der Streitwert wird auf 6.305,62 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die weitere Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung in Höhe von 6.305,62 Euro nebst Zinsen seit dem 10. Mai 2012.

2

Die Klägerin ist Trägerin der U. (nachfolgend: Klinik). Die Beklagte ist die gesetzliche Krankenversicherung des Patienten N.W. (geb. 1947) (nachfolgend: Versicherter W.). Der damals 61-jährige Kläger wurde krankheitsbedingt ambulant mit dem Gerinnungshemmer Clexane behandelt. Der Versicherte wurde vom 1. bis 10. Oktober 2008 stationär in der Klinik behandelt. Die Aufnahme erfolgte wegen einer Schwellung am Oberschenkel notfallmäßig. Aufnahmediagnose war eine Einblutung in den Oberschenkel unter NMH (niedermolekulares Heparin). Ein am 2. Oktober 2012 durchgeführtes MRT zeigte ein deutlich raumforderndes Hämatom rechts und ein kleineres Hämatom links. Am 2. Oktober 2008 wurde das rechte Hämatom operativ ausgeräumt. Aus dem OP-Bericht ist zu entnehmen, dass sich das unter Druck stehende Hämatom nach Eröffnen der Faszie entlastete, ohne weitere Blutung. Es waren vier Elektrozythenkonzentratgaben und wegen einer dialysepflichtigen Niereninsuffizienz mehrere Dialysen notwendig. Der Versicherte wurde am 8. Oktober 2008 nach Hause entlassen.

3

Am 31. Dezember 2008 stellte die Klägerin der Beklagten aufgrund der DRG Q02A (Verschiedene OR-Prozeduren bei Krankheiten des Blutes, der blutbildenden Organe und des Immunsystems mit äußerst schweren CC) 8.864,95 Euro in Rechnung. Als Hauptdiagnose hatte die Klägerin ICD-10-GM 2008 D68.3 „Sonstige Koagulopathien: Hämorrhagische Diathese durch Antikoagulanzien und Antikörper“ kodiert. Als Nebendiagnosen hatte die Klägerin ICD-10-GM 2008 D62 „Aplastische und sonstige Anämien: Akute Blutungsanämie – Anämie nach intra- und postoperativer Blutung“, ICD-10-GM 2008 N18.0 „Chronische Niereninsuffizienz: Terminale Niereninsuffizienz“, ICD-10- GM 2008 T81.0 „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen: Komplikationen bei Eingriffen, anderenorts nicht klassifiziert: Blutung und Hämatom als Komplikation eines Eingriffes, anderenorts nicht klassifiziert“, ICD-10- GM 2008 Z92. „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen: Medizinische Behandlung in der Eigenanamnese: Dauertherapie (gegenwärtig) mit Antikoagulanzien in der Eigenanamnese“ sowie ICD-10- GM 2008 Z95.88 „Vorhandensein von sonstigen kardialen oder vaskulären Implantaten oder Transplantaten: Vorhandensein von sonstigen kardialen oder vaskulären Implantaten oder Transplantaten: Vorhandensein einer Gefäßprothese, anderenorts nicht klassifiziert - Zustand nach peripherer Gefäßplastik o.n.A.“ kodiert. Als Prozedur wurde OPS 2008 5-850.08 „Operationen an Muskeln, Sehnen, Faszien und Schleimbeuteln: Inzision eines Muskels, längs: Oberschenkel und Knie“ angegeben. Die Rechnung wurde zunächst bezahlt.

4

Die Beklagte leitete ein Prüfverfahren bei ihrem Medizinischen Dienst BEV (nachfolgend: MDK) zu den Kodierungen der Hauptdiagnose, der Nebendiagnosen und der Prozedur ein. Dieser forderte am 5. Februar 2009 die Patientenakte bei der Klinik an, die er erhielt. Der MDK kam in einem Gutachten vom 4. April 2011 zum Ergebnis, dass zutreffende Hauptdiagnose ICD-10- GM 2008 R58 „Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind: Blutung, anderenorts nicht klassifiziert“ sei. Die bisherige Hauptdiagnose werde zur Nebendiagnose. Die Nebendiagnosen ICD-10- GM 2008 D62 und ICD-10- GM 2008 N18.0 seien korrekt. Der Kode T81.0 sei nicht belegt und entfalle. Die Prozedur OPS 2008 5-850.08 (Operationen an Muskeln, Sehnen, Faszien und Schleimbeuteln: Inzision eines Muskels, längs: Oberschenkel und Knie) sei durch die OPS 2008 5-892.1e (Operationen an Haut und Unterhaut: Andere Inzision an Haut und Unterhaut: Drainage: Oberschenkel und Knie) zu ersetzen. Die Beklagte kam beim Grouping dieser Diagnosen zur DRG F75D auf einem Rechnungsbetrag von 2.491,52 Euro. Die Differenz zum Rechnungsbetrag in Höhe von 6.305,62 Euro entspricht dem streitgegenständlichen Betrag.

5

Die Klägerin wandte mit Schreiben vom 3. Mai 2011 gegen das MDK-Gutachten ein, das Hämatom am rechten Oberschenkel sei infolge der Überdosierung von Clexane mit dem Kode D68.3 zutreffend kodiert. Diagnosen aus dem Katalog „R“ würden ausschließlich genutzt, wenn die genaue Diagnose unbekannt sei, da hier nur Symptome beschrieben würden. Dies sei hier nicht der Fall. Die kodierte Prozedur sei ebenfalls korrekt, da eine Inzision der Faszien durchgeführt worden sei. Der vom MDK vorgeschlagene Kode beschreibe keine Faszienspaltung. Der Streichung des Kodes T81.0 stimme man zu.

6

Der MDK nahm dazu am 27. Februar 2012 Stellung. Die Kodierempfehlung SEG 4 Nr. 114/274 sehe den Kode R58 für ein Spontanhämatom nach Clexane-Spritzen vor. Der von ihm vorgeschlagene OPS sei zutreffend.

7

Die Beklagte teilte am 10. Mai 2012 mit, dass sie 6.305,62 Euro mit einer unstreitigen Forderung aus der Krankenhausbehandlung ihres Versicherten H.B. (nachfolgend: Versicherter B.) verrechne. Hier hat die Klägerin mit Rechnung vom 30. April 2012 eine Forderung in Höhe von 15.429,19 Euro geltend gemacht.

8

Am 21. Dezember 2012 erhob die Klägerin Klage. Sie vertieft ihren Vortrag aus dem vorgerichtlichen Verfahren.

9

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

10

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 6.305,62 Euro nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 10. Mai 2012 zu zahlen.

11

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

12

die Klage abzuweisen.

13

Sie verweist auf das Ergebnis der MDK-Gutachten.

14

Das Gericht hat Beweis erhoben durch ein Sachverständigengutachten des Prof. Dr. S. (U. S.H.). Dieser kommt nach Auswertung der vorliegenden Krankenhausunterlagen zum Ergebnis, das Hämatom gehe auf eine spontane Blutung bei erhöhter Blutungsneigung unter Clexane-Therapie zurück. Der Aufenthalt von sieben Tagen sei erforderlich gewesen, da weitere Hämatome zu beobachten gewesen seien. Daher sei als Hauptdiagnose der Kode D68.3 zu kodieren gewesen. Der Kode R58 bilde die Diagnose nicht korrekt ab. Sie sei allgemeiner als D68.3. Die Kodierempfehlung beziehe sich außerdem allein auf Marcumar. Der R-Kode dürfe nach den Kodierrichtlinien auch deswegen nicht verwendet werden, da mit einem R-Kode allein Symptome unbekannter Ursache zu kodieren seien. Die Nebendiagnosen (ohne T81.0) seien um den Kode Y57.9! zu ergänzen.

15

Beide Beteiligten haben nach Fristsetzung keine Einwände gegen das Ergebnis des Gutachtens formuliert. Die Beklagte ging davon aus, dass das Gutachten ergeben habe, als Hauptdiagnose sei der Kode R58 zu kodieren.

16

Mit Schriftsätzen vom 2. Februar 2016 und 10. Februar 2016 haben die Beteiligten jeweils ihr Einverständnis zur Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

17

Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, die Krankenhausakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe

18

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

19

Die Klage hatte teilweise Erfolg.

20

Die Klage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig, da wegen des Gleichordnungsverhältnisses der Beteiligten die Verurteilung zu einer Geldleistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, ohne dass ein Verwaltungsakt zu ergehen hatte (vgl. für Krankenhausvergütungsstreitigkeiten BSG, Urteil vom 23. Juli 2002 – B 3 KR 64/01 R - juris Rn. 13 m.w.N.).

21

Die Klage ist im Umfang des Tenors begründet.

22

Es ist zunächst zwischen den Beteiligten im Ausgangspunkt unstreitig, dass die Behandlung des Versicherten B. im Krankenhaus der Klägerin medizinisch notwendig war und dafür 15.429,19 Euro zu zahlen waren. Es bedarf insoweit keiner weiteren Feststellung der erkennenden Kammer (vgl. auch BSG, Urteil vom 19. April 2016 – B 1 KR 28/15 R – juris Rn. 8).

23

Mit dieser Hauptforderung hat die Beklagte jedoch 6.306.62 Euro aufgerechnet. Diese Aufrechnung ist im Umfang von 5.023,76 Euro wirksam und in Höhe von 1.282,86 Euro unwirksam.

24

Gemäß dem nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V in dem streitigen Rechtsverhältnis zwischen Klägerin und Beklagter anwendbaren § 389 BGB bewirkt die Aufrechnung, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind. Nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 387 BGB kann eine Forderung gegen eine andere Forderung aufgerechnet werden, wenn zwei Personen einander Leistungen schulden, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind. Nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 388 BGB muss die Aufrechnung ausdrücklich und unbedingt erklärt werden.

25

Eine Aufrechnungserklärung liegt vor. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 30. März 2002 an die Klägerin angekündigt und mit Schreiben vom 10. Mai 2012 erklärt, eine Überzahlung auf die Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten W in Höhe von 6.305,62 mit der Forderung der Klägerin aus der Behandlung des Versicherten B zu verrechnen. Beide Forderungen sind als Geldschulden gleichartig und stehen sich gegenüber.

26

Die Aufrechnung ist in Höhe von 5.023,77 Euro wirksam. Die Beklagte hat diesen Betrag ohne Rechtsgrund als Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten W. im Krankenhaus geleistet. Insoweit steht ihr ein Herausgabeanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB zu. Nach § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB ist derjenige zur Herausgabe verpflichtet, der etwas von einem anderen durch Leistung ohne Rechtsgrund erhält. Diese Anspruchsgrundlage ist über die Verweisung des § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V anwendbar. Diesbezüglich bedarf es keines Rückgriffes auf das Rechtsinstitut des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs (ebenso SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 - S 3 KR 645/13 - Rn. 38f; a.A. BSG, Urteil vom 08.11.2011 - B 1 KR 8/11 R - Rn. 9ff.), wobei auch die andere Auffassung in der Sache zu keinem anderen Ergebnis kommt.

27

Die Krankenhausvergütung des Versicherten W. beträgt nicht 8.864,95 Euro sondern 3.842,19 Euro.

28

Rechtsgrundlage für die Höhe der Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten W. ist § 109 Abs. 4 Satz 2, 3 SGB V i.V.m. §§ 7 Abs. 1 Nr. 1, 8 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (Krankenhausentgeltgesetz - KHEntgG) und § 17b KHG sowie der durch Schiedsspruch am 01.01.2000 in Kraft getretene Vertrag nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V zwischen der Krankenhausgesellschaft Rheinland-Pfalz e.V. und den Landesverbänden der Krankenkassen über die allgemeinem Bedingungen der Krankenhausbehandlung (KBV). Soweit gemäß § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V zugelassene Krankenhäuser im Rahmen ihres Versorgungsauftrages zur Krankenhausbehandlung der Versicherten verpflichtet sind, setzt Satz 3 der Vorschrift, der die Krankenkassen und die Krankenhausträger zu Pflegesatzverhandlungen nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des Krankenhausentgeltgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung verpflichtet, die Vergütungspflicht voraus (BSG, Urteil vom 11. April 2002 - B 3 KR 24/01 R - juris Rn. 22). Ob und inwieweit einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, richtet sich allein nach den medizinischen Erfordernissen und ist vom Gericht im Streitfall grundsätzlich uneingeschränkt zu überprüfen. Die Vergütungspflicht setzt weiterhin voraus, dass aufgrund der Kodierung der Behandlung und der Verweildauer die zutreffende Fallpauschale (DRG) der Rechnung zu Grunde liegt (vgl. BSG, Urteil vom 19. April 2016 – B 1 KR 34/15 R – juris Rn. 11) sowie alle Zusatzentgelte und Zuzahlungen zutreffend angegeben sind. Die Vergütung für Krankenhausbehandlung der Versicherten bemisst sich bei zugelassenen Krankenhäusern nach vertraglichen Fallpauschalen, die nach § 8 Absatz 1 Satz 1 KHEntgG einheitlich zu berechnen sind. Die Ermittlung der zutreffenden Fallpauschale und ihrer Höhe im Einzelfall ergibt sich aus einer multifaktoriellen Berechnung mittels eines zertifizierten Softwareprogramms, das Grouper genannt wird. Der zertifizierte Grouper wendet nach Eingabe der Daten das Abrechnungsrecht in Form einer Berechnung an. Die einzugebenden Daten sind in strikter Anwendung von standardisierten Regelwerken einzugeben. Die relevanten Regelwerke waren im Jahr 2008 für die Verweildauer die Fallpauschalenvereinbarung 2008, für die Haupt- und Nebendiagnose sowie die Prozeduren die Deutschen Kodierrichtlinien Version 2008 und die von der Bundesanstalt Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) festgelegten Verzeichnisse ICD-10-GM Version 2008 (ICD-10) und Operations- und Prozedurenschlüssel (OPS) Version 2008. Es liegt auf der Hand, das ein solches System, das von einer großen Anzahl von Krankenhausbediensteten angewendet wird, auf eine hohe Genauigkeit der Kodierrichtlinien und eine ausgesprochen exakte Anwendungspraxis angewiesen ist. Es entspricht aber auch der Erfahrung, dass in komplexen Systemen, an denen eine Vielzahl mit Intelligenz und Findigkeit ausgestatteten Menschen beteiligt sind, immer wieder bei der Gestaltung des Normtextes unvorhersehbare Gestaltungsmöglichkeiten auftun, die für eine Seite vorteilhafter sind als für die andere Seite. Daher ist die Kodierung und die eventuell vorgenommenen Wertungen durch das Gericht voll überprüfbar. Allein die Verwendung der zertifizierten Grouper mit ihrem jeweiligen Rechenprogramm ist verbindlich vereinbart und entfaltet normative Wirkung (vgl. hierzu und den nachfolgenden Ausführungen grundlegend: BSG, Urteil vom 08. November 2011 – B 1 KR 8/11 R, juris). Die einzugebenden Daten sind als Tatsachen einem gerichtlichen Beweis zugänglich. Die automatisierte Subsumtion ist eine rechtliche Bewertung des Sachverhalts und damit Rechtsfrage. Die erkennende Kammer prüft die zutreffende Kodierung auf vier Stufen (vgl. für Nebendiagnosen: SG Mainz, Urteil vom 08. September 2015 – S 14 KR 548/12 – juris Rn. 25ff). Auf der ersten Stufe hat das Gericht festzustellen, ob ein Kode im ICD-10 alternativlos ist. Dabei ist das Augenmerk zuerst darauf zu richten, welche Krankheiten oder Leiden tatsächlich abzubilden sind und ob diese dem Wortlaut nach die Voraussetzungen des Kodes erfüllen. Ergeben sich im ICD-10 Alternativen, hat das Gericht über die nächsten drei Stufen zu versuchen, eine sachgerechte Auslegung vorzunehmen. Das Gericht hat auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob eine Lösung durch striktere Beachtung der Systematik des ICD-10 und der Kodierrichtlinien zu erreichen ist. Hier sind die klassischen juristischen Auslegungsmethoden zur Anwendung zu bringen. Ergibt dies kein Auslegungsergebnis, erfolgt die Prüfung auf der dritten Stufe. Auf der dritten Stufe, ist die Alternative zu wählen, die die kodierte Erkrankung am genausten abbildet, d.h. den höheren Informationswert für den Leser des Kodes erbringt. Das Streben nach Kodiergenauigkeit entnimmt die erkennende Kammer den Deutschen Kodierrichtlinien 2008, insb. D002f (Anmerkung 1), D003 (dritter Absatz und Unterpunkt „Reihenfolge der Nebendiagnosen), D005d. Die hier enthaltenen Regeln steuern den kodierenden Arzt hin zu einer für den Rechnungsempfänger aussagekräftigen Kodierung. Erbringt auch diese Regel kein eindeutiges Ergebnis, gilt nach fester Überzeugung der erkennenden Kammer auf der vierten Stufe der erste Satz der Allgemeinen Kodierrichtlinien für Krankheiten 2008, wonach die Auflistung der Diagnosen bzw. Prozeduren in der alleinigen Verantwortung des behandelnden Arztes liegt (Punkt D001a). Dies ist dann auch vom Gericht und von der Krankenkasse zu akzeptieren, selbst wenn das Ergebnis unbillig erscheinen mag. Die Vertragspartner bzw. das DIMDI haben nämlich für das Folgejahr immer die Möglichkeit, bei Neuerlass des Regelwerks diese Zweifelsfragen im Sinne eines lernenden Systems zu entscheiden (vgl. dazu. BSG, Urteil vom 08. November 2011 – B 1 KR 8/11 R, juris Rn. 27).

29

Nachdem die zutreffende Kodierung feststeht, hat das Gericht sodann den sachlichen Entscheidungsprozess nachzuvollziehen, der im Rechnerprogramm abläuft, um zu einer Fallpauschale zu gelangen. Für das Gericht muss überprüfbar gemacht werden, welche Eingabe zu welchem Ergebnis führt. In diesem Sinne muss es in den Entscheidungsgründen verdeutlichen, welche Gabelungen mit welchem Ergebnis der Grouper in dem Entscheidungsbaum "ansteuert", der dem Programm zugrunde liegt (BSG, Urteil vom 08. November 2011 – B 1 KR 8/11 R, juris n. 22). Es kann sich zu diesem Zweck eines zertifizierten Groupers bedienen und solange ein solcher vom Land den Gerichten nicht zur Verfügung gestellt wird, die Beteiligten um Berechnung bitten oder auch den im Internet aufrufbaren Webgrouper der DRG-Research-Group am Universitätsklinikum Münster nutzen.

30

Nach diesem Maßstab und Verfahren ergibt sich im hier zu entscheidenden Fall nach Überzeugung der erkennenden Kammer Folgendes:

31

Die Behandlung des Versicherten W. war nach Auffassung der erkennenden Kammer stationär im gesamten zeitlichen Umfang notwendig. Die Kammer stützt sich insoweit auf das Gutachten dem MDK vom 4. April 2011, dessen Ergebnis auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist.

32

Die erkennende Kammer ist davon überzeugt, dass in den Grouper als Hauptdiagnose die IDC-10-GM 2008 D68.3 einzugeben ist. Hauptdiagnose ist die Diagnose, die nach Analyse als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich ist (D002f Kodierrichtlinien 2008).

33

Auf der ersten Stufe ist festzustellen, dass der von der Klägerin und dem Sachverständigen präferierte Kode ICD-10-GM 2008 D68.3 „Sonstige Koagulopathien: Hämorrhagische Diathese durch Antikoagulanzien und Antikörper“ in Betracht kommt. Das vom Versicherten W. eingenommene Medikament Clexane gehört als Mittel zur Hemmung der Blutgerinnung zu den Antikoagulanzien. Der Sachverständige hat überzeugend dargestellt, dass das im Oberschenkel aufgetretene Hämatom Ergebnis einer spontanen Blutung bei erhöhter Blutungsneigung (Hämorrhagische Diathese) ist. Diese Blutung und nicht das Symptom Hämatom war die Diagnose, die für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthalts hauptsächlich verantwortlich ist.

34

Der von der Beklagten und dem MDK präferierte Kode ICD-10-GM 2008 R58 „Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind: Blutung, anderenorts nicht klassifiziert“ kann keine Anwendung finden, weil die Blutung die Erkrankung und das Hämatom nur Symptom ist. Für die Anwendung des R58 müsste aber die Blutung Symptom sein. Darüber hinaus ist die Blutung in D68.3 präzise klassifiziert, so dass R58 subsidiär ist. Die Beklagte kann mit ihrem Hinweis auf die SEG-4 Kodierempfehlung 114 nicht durchdringen, da diese ohnehin nicht rechtsverbindliche Empfehlung der MDK Sozialmedizinischen Expertengruppe 4 (Vergütung und Abrechnung) auf Marcumar bezogen ist.

35

Auch der Kode ICD-10-GM 2008 M62.95 (Muskelkrankheit, nicht näher bezeichnet, Beckenregion und Oberschenkel), den der Sachverständige diskutiert hat, bildet die Blutung nicht ab.

36

Der Kode ICD-10-GM 2008 Y57.9! (Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen) kommt in Betracht, ist aber Sekundär-Diagnoseschlüssel, der nicht als Hauptdiagnose verwendet werden kann (vgl. D012 Kodierrichtlinien 2008).

37

Die erkennende Kammer ist der Auffassung, dass in den Grouper als Nebendiagnosen die Kodes ICD-10-GM 2008 D62 „Aplastische und sonstige Anämien: Akute Blutungsanämie – Anämie nach intra- und postoperativer Blutung“, N18.0 „Chronische Niereninsuffizienz: Terminale Niereninsuffizienz“, Z92.1 „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen : Medizinische Behandlung in der Eigenanamnese: Dauertherapie (gegenwärtig) mit Antikoagulanzien in der Eigenanamnese“ und Z95.88 „Vorhandensein von sonstigen kardialen oder vaskulären Implantaten oder Transplantaten: Vorhandensein von sonstigen kardialen oder vaskulären Implantaten oder Transplantaten: Vorhandensein einer Gefäßprothese, anderenorts nicht klassifiziert - Zustand nach peripherer Gefäßplastik o.n.A.“ einzugeben sind.

38

Für Nebendiagnosen gilt D003d der Kodierrichtlinien Version 2008. Danach ist eine Nebendiagnose eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt und das Patientenmanagement in der Weise beeinflusst, dass therapeutische Maßnahmen, diagnostische Maßnahmen oder ein erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand notwendig ist.

39

Die genannten Nebendiagnosen sind - wie genannt - zwischen den Beteiligten unstreitig und vom Sachverständigen bestätigt. Eine Alternativität besteht bei den Nebendiagnosen nicht, so dass es keiner Prüfung ab Stufe 2 bedarf.

40

Der Kode ICD-10- GM 2008 T81.0 „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen: Komplikationen bei Eingriffen, anderenorts nicht klassifiziert: Blutung und Hämatom als Komplikation eines Eingriffes, anderenorts nicht klassifiziert“ ist, da unzutreffend, nach dem Gutachten des MDK von den Beteiligten zu Recht übereinstimmend gestrichen worden.

41

Ob die vom Sachverständigen nachvollziehbar vorgeschlagene Ergänzung des Kodes ICD-10-GM 2008 Y59.9! „Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen“ zwingend notwendig ist, muss die Kammer nicht entschieden, da dieser Kode sich bei Eingabe in den Grouper als nicht erlösrelevant zeigt.

42

Bei den Prozeduren ist in den Grouper neben den unstreitigen OPS 2008 3-205 „Native Computertomographie des Muskel-Skelettsystems“, OPS 2008 8-800.7f „Transfusion von Vollblut, Erythrozytenkonzentrat und Thrombozytenkonzentrat: Erythrozytenkonzentrat: 1 TE bis unter 6 TE“ und zweimal OPS 2008 8-854.2 „Hämodialyse: Intermittierend, Antikoagulation mit Heparin oder ohne Antikoagulation“ nach Überzeugung der Kammer die umstrittene OPS 2008 5-850.08 „Operationen an Muskeln, Sehnen, Faszien und Schleimbeuteln: Inzision eines Muskels, längs: Oberschenkel und Knie“ einzugeben.

43

Nach P001f Allgemeine Kodierrichtlinien für Prozeduren, die Teil der Kodierrichtlinien 2008 sind, sind alle signifikanten Prozeduren, die vom Zeitpunkt der Aufnahme bis zum Zeitpunkt der Entlassung vorgenommen wurden und im OPS abbildbar sind, zu kodieren. Dieses schließt diagnostische, therapeutische und pflegerische Prozeduren ein. Die Definition einer signifikanten Prozedur ist, dass sie entweder chirurgischer Natur ist, ein Eingriffsrisiko birgt, ein Anästhesierisiko birgt bzw. Spezialeinrichtungen oder Geräte oder spezielle Ausbildung erfordert.

44

Auf der ersten Stufe sind neben den unstreitigen Prozeduren auch die streitigen Prozeduren OPS 2008 5-850.08 „Operationen an Muskeln, Sehnen, Faszien und Schleimbeuteln: Inzision eines Muskels, längs: Oberschenkel und Knie“ sowie OPS 2008 5-892.1e (Operationen an Haut und Unterhaut: Andere Inzision an Haut und Unterhaut: Drainage: Oberschenkel und Knie) dem Wortlaut nach zutreffend. Der beim Versicherten vorgenommene Eingriff beinhaltet sowohl die Inzision der Haut als auch von Faszien.

45

Auf der zweiten Stufe erweist sich der OPS 2008 5-850.08 als spezifischer. Der Einschnitt in die Haut ist lediglich Vorbereitungshandlung für die Inzision der Faszie, die im OP-Bericht beschrieben wurde.

46

Übernimmt man diese Kodes in den Grouper, wobei das Gericht den im Internet aufrufbaren Webgrouper der DRG-Research-Group am Universitätsklinikum Münster benutzt, ergibt sich bei Eingabe der Kodes, einem Landesbasisfallwert von 2.873,51 Euro und einer Verweildauer von 7 Tagen der Preis für die DRG Q02A in Höhe von 3.238,45 Euro.

47

Bei einer Kontrollberechnung mit gleichen Parametern ergänzt um den einvernehmlich gestrichenen Kode T81.0 ergibt sich die von der Klägerin in der Rechnung vom 31. Dezember 2008 geltend gemachte Krankenhausvergütung für die DRG Q02A in Höhe von 8.155,02 Euro.

48

Die 3.238,45 Euro sind um die zwei Zusatzentgelte für die Hämodialyse Z8-ZE0101E in Höhe von je 222,12 Euro zu erhöhen. Damit beträgt das Entgelt 3.682,69 Euro.

49

Sodann sind die Entgeltzuschläge in der Rechnung zu ergänzen. Dies sind, wie in der Rechnung zutreffend ausgewiesen, als feste Entgeltzuschläge 0,90 Euro Systemzuschlag gemäß § 5 Abs. 3 Vereinbarung nach § 17b Abs. 5 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) zur Umsetzung des DRG-Systemzuschlags, 1,48 Euro Zuschlag Qualitätssicherung gemäß § 17 Vereinbarung zur Qualitätssicherung des Gemeinsamen Bundesausschusses über Maßnahmen der Qualitätssicherung für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser (Übersicht für die Länder im Internet aufgerufen unter https://www.vdek.com/vertragspartner/Krankenhaeuser/Qualitaetssicherung/zuschlaege_qs/_jcr_content/par/download_6/file.res/80zuschlag_drg_200826712.pdf), 0,64 Euro Systemzuschlag Bundesausschuss gemäß Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Höhe des Systemzuschlags vom 22. November 2007, 76,93 Euro gemäß § 6 Vereinbarung über die Errichtung und Verwaltung des Ausgleichsfonds sowie Festlegung des Ausbildungszuschlags für Ausbildungsstätten der in § 2 Nr. 1 a KHG genannten Berufe (Vereinbarung nach § 17 a Absatz 5 KHG). Hinzu kommen als variable Entgeltzuschläge, der 2008 noch bestehende AIP-Zuschlag wegen Mehrkosten aufgrund der Abschaffung des AIP (0,49 Prozent = 18,05 Euro) und der ebenfalls in 2008 noch bestehende Zuschlag zur Verbesserung der Qualität der Arbeitsbedingungen (2,17 Prozent = 79,91 Euro). Abzuziehen ist der GKV-WSG-Abschlag nach Art. 19 Nr. 2 GKV-WSG, d.h. minus 0,5 Prozent der Fallpauschale, also 18,41 Euro. Dies ergeben sich als zutreffende Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten W 3.842,19 Euro.

50

Die Beklagte hat somit 1.282,86 Euro zuviel aufgerechnet und hat diesen Teil der Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten B an die Klägerin nachzuzahlen. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.

51

Der Zinsanspruch besteht seit dem 15. Mai 2012. Er beruht auf § 9 Abs. 7 KBV. Danach kann das Krankenhaus bei Überschreitung des Zahlungsziels Verzugszinsen i.H.v. 2 Prozent über den Basiszinssatz bzw. dem jeweils geltenden Referenzzinssatz ab Fälligkeitstag (Abs. 6 Satz 1) berechnen, ohne dass es einer Mahnung bedarf (Zinstage jährlich 360, monatlich 30 Tage). Nach § 9 Abs. 6 KBV-RLP hat die Krankenkasse die Rechnung innerhalb von 14 Kalendertagen nach Rechnungseingang zu bezahlen. Nach Satz 2 gilt als Tag der Zahlung der Tag der Übergabe des Überweisungsauftrages an ein Geldinstitut oder der Übersendung von Zahlungsmitteln an das Krankenhaus. Ist der Fälligkeitstag ein Samstag, Sonntag oder gesetzlicher Feiertag, so verschiebt er sich auf den nächstfolgenden Arbeitstag. Beanstandungen rechnerischer oder sachlicher Art können auch nach Bezahlung der Rechnung geltend gemacht und Differenzbeträge verrechnet werden. Maßgebend ist hier die Rechnung aus dem Behandlungsfall zum Versicherten B. vom 30. April 2012. Letzte Zahlungsmöglichkeit ohne Verzug war am 14. Mai 2012. Verzug trat somit am 15. Mai 2012 ein. Auch bei der Zinsforderung war die Klage im Übrigen abzuweisen.

52

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung und entspricht dem Ausgang des Verfahrens. Danach hatte die Klägerin zu 20 Prozent Erfolg.

53

Der Streitwert bestimmt sich nach § 52 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes (GKG), wonach bei einem Antrag, der eine bezifferte Geldleistung betrifft, deren Höhe maßgebend ist.

54

Die Sache ist wegen Erreichen des Berufungsgegenstandes von mindestens 750 Euro berufungsfähig (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG).

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.


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Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert wird auf 4.996,16 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die ordnungsgemäße Kodierung eines stationären Behandlungsfalls.

2

Die Klägerin ist eine Hochschulklinik. In der Zeit vom 15.12.2005 bis zum 23.12.2005 wurde die bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten seinerzeit gesetzlich krankenversicherte Frau … nach Verlegung aus dem Krankenhaus … in der Herzchirurgie der Klägerin stationär behandelt.

3

Die Klägerin stellte der Beklagten mit Schreiben vom 30.12.2005 die Behandlung mit einem Gesamtbetrag von 10.326,19 € in Rechnung. Diese Rechnung wurde von der Beklagten am 19.01.2006 zunächst vollständig bezahlt.

4

Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Überprüfung der Abrechnung. Der MDK stellte in seinem Gutachten vom 28.06.2006 darauf ab, dass in der Hauptdiagnose anstelle einer "sonstigen nicht näher bezeichneten sekundären pulmonalen Hypertonie" hier eine "Lungenembolie ohne Angabe eines akuten Cor pulmonale" sowie in der Nebendiagnose an Stelle einer "Lungenembolie ohne Angabe eines akuten Cor pulmonale" hier "sonstige nicht näher bezeichnete Hypertonie" gegeben sei und kam demzufolge zu einem anderen Groupingergebnis zu Lasten der Klägerin.

5

Mit Schreiben vom 10.08.2006 erklärte die Beklagte gegenüber der Klägerin, dass die Behandlung der Patientin … nach DRG E05B anstatt F31Z zu kodieren sei, weshalb ein Betrag in Höhe von 4.996,16 Euro an die Beklagte zurückzuzahlen sei.

6

Mit Schreiben vom 10.08.2006 widersprach die Klägerin dem MDK-Gutachten.

7

Am 27.02.2007 erstellte der MDK ein weiteres Gutachten und blieb bei der Änderung auf die DRG E05B.

8

Dem Zweitgutachten widersprach die Klägerin ebenfalls mit Schreiben vom 21.05.2007.

9

Die Beklagte forderte die Klägerin zur Rückzahlung des Betrags von 4.996,16 € auf.

10

Vom 09.05.2007 bis zum 10.05.2007 behandelte die Klägerin den bei der Beklagten versicherten … und stellte für die Behandlung mit Schreiben vom 16.05.2007 einen Betrag von 6.565,95 EURO in Rechnung. Diese Abrechnung wurde von der Beklagten nicht in Frage gestellt.

11

Mit Schreiben vom 21.05.2007 erklärte die Teil-Aufrechnung der Rückforderung mit dem Vergütungsanspruch der Klägerin für den stationären Aufenthalt des Patienten … in der Zeit vom 09.05.2007 bis zum 10.05.2007.

12

Zum 01.07.2009 fusionierte die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit anderen Krankenkassen zur jetzigen Beklagten.

13

Mit Schreiben vom 17.01.2011 führte die Klägerin gegenüber der Beklagten aus, dass die Hauptdiagnose die drohende pulmonale Hypertonie gewesen sei, sodass im Schwerpunkt wegen des drohenden Rechtsherzversagens behandelt worden sei. Die Klägerin bat um Neubewertung.

14

Der MDK nahm erneut am 28.01.2011 Stellung.

15

Mit Schreiben vom 14.09.2011 erklärte die Klägerin gegenüber der Beklagten, dass sie dem Gutachten vom 28.01.2011 weiterhin widerspreche.

16

Die Klägerin hat am 20.12.2011 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, dass die Beklagte verpflichtet sei, für die Behandlung des Patienten … den Restbetrag der Behandlungskosten in Höhe von 4.996,16 Euro zuzüglich Zinsen hieraus seit dem 21.05.2007 zu zahlen. Mit Inanspruchnahme der stationären Behandlung sei der Vergütungsanspruch der Klägerin gegenüber de Beklagten entstanden. Die Klägerin habe die Rechnung für die Behandlung des Patienten … am 16.05.2007 übermittelt, so dass die sich hieraus ergebende Forderung nach Ablauf von 14 Tagen am 31.05.2007 fällig gewesen sei. Indem die Beklagte die Forderung die Forderung für die Behandlung der Patientin … 2005 erst vollständig und 2007 die Forderung für die Behandlung des Patienten nur zu einem Teilbetrag von 1.569,79 € bezahlt habe, sei weiterhin ein Betrag von 4.996,16 € zu Gunsten der Klägerin offen. Entgegen der Behauptung der Beklagten sei der Restbetrag auch nicht durch Aufrechnung erfüllt worden. Zu Unrecht nehme die Beklagte eine Aufrechnungslage an, weil der Klägerin für die Behandlung der Patientin … der volle Betrag in Höhe von 10.326,19 € zustehe. Zu Recht stelle die Klägerin der Beklagten die Behandlung D05-F 31Z 7010F31Z für "andere Eingriffe mit Herz-Lungenmaschine" unter Berücksichtigung des Verlegungsabschlags mit einem Gesamtbetrag in Höhe von 10.326,19 € in Rechnung. Entgegen der Behauptung der Beklagten und entgegen der Einschätzung der MDK-Gutachter werde der Schweregrad der Behandlung und damit die Hauptdiagnose nicht über die DRG E05B ausreichend wiedergegeben.

17

Die Klägerin beantragt:

18

Die Beklagte wird verurteilt Euro 4.996,16 zuzüglich zwei vom Hundert über dem jeweiligen Basiszinssatz an Zinsen seit dem 31.05.2007 an die Klägerin zu zahlen.

19

Die Beklagte beantragt,

20

die Klage abzuweisen.

21

Zur Begründung führt sie aus, dass der von der Klägerin verfolgte Zahlungsanspruch nicht bestehe. Die Lungenembolie sei als Hauptdiagnose zu wählen, weil sie zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme bekannt gewesen und die Aufnahme gezielt zur Entfernung des Embolus erfolgt sei. Der Anspruch sei auf Grund der Untätigkeit der Klägerin über vier Jahre auch verwirkt.

22

Auf Frage des Gerichts hat die Beklagte - von der Klägerin unwidersprochen - mitgeteilt, dass in der Zeitspanne vom 31.05.2007 bis zum 20.12.2011 keine Verhandlungen zwischen den Beteiligten über den streitgegenständlichen Fall stattgefunden haben.

23

Mit Schriftsatz vom 16.05.2014 erhob die Beklagte die Einrede der Verjährung.

24

Zur weiteren Darstellung des Tatbestands, insbesondere zum umfangreichen Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Prozessakte verwiesen. Er war Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

I.

25

Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben.

26

Die Klage ist als Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft, da ein Streit im Gleichordnungsverhältnis vorliegt. Ein Vorverfahren war deshalb nicht durchzuführen, die Einhaltung einer Klagefrist nicht geboten.

27

Die Klage ist somit zulässig.

II.

28

Die Klage ist jedoch nicht begründet.

29

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung der verrechneten unstreitigen Vergütung für die Behandlung des Patienten ….

30

1. Die Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Vergütungsanspruch in Höhe von 4.996,16 Euro ergibt sich aus § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und dem durch Schiedsspruch am 01.01.2000 in Kraft getretenen Vertrag nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V zwischen der Krankenhausgesellschaft Rheinland-Pfalz e.V. und den Landesverbänden der Krankenkassen über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung (KBVRP). Die Forderung resultiert aus der Abrechnung des Behandlungsfalls des bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherten Patienten … vom 16.05.2007. Der mit dieser Rechnung geltend gemachte Vergütungsanspruch ist zwischen den Beteiligten dem Grunde und der Höhe nach unstreitig. Nachdem die Forderung durch die Beklagte zunächst in voller Höhe beglichen worden war, hat die Beklagte mit einem behaupteten Erstattungsanspruch aus dem Behandlungsfall … gegen die Forderung vom 16.05.2007 mit Erklärung vom 21.05.2007 aufgerechnet. Seitdem steht die Restforderung von 4.996,16 € wieder offen.

31

2. Ob die Beklagte gegen die Forderung der Klägerin wirksam aufgerechnet hat, kann vorliegend offen bleiben, da der Anspruch gegebenenfalls verjährt ist. Für Vergütungsforderungen von Krankenhäusern gegen Krankenkassen gelten auf Grund der Verweisung in § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V die Verjährungsregeln des BGB.

32

Nach § 69 Abs. 1 S. 2 SGB V werden die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden abschließend im Vierten Kapitel des SGB V, in den §§ 63, 64 SGB V und im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), im KHEntG sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V gelten für diese Rechtsbeziehungen im Übrigen die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem Vierten Kapitel des SGB V vereinbar sind.

33

Regelungen über die Verjährung von Ansprüchen sind weder in den §§ 63, 64 SGB V, noch im Vierten Kapitel des SGB V (§§ 69 bis 140h SGB V) enthalten. Weder das KHG und das KHEntG noch hierzu erlassene Rechtsverordnungen enthalten Regelungen zur Verjährung. Darüber hinaus enthält das gesamte Sozialgesetzbuch (SGB) keine Regelung über die Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen bzw. generell zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern.

34

Da § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V eine ausdrückliche Verweisung auf das BGB enthält, greifen mangels speziellerer Regelung die Verjährungsvorschriften der §§ 194 ff. BGB (so auch SG Berlin, Urteil vom 27.08.2002 - S 81 KR 3690/01; SG Marburg, Urteil vom 27.05.2004 - S 6 KR 902/02; SG Marburg, Urteil vom 27.07.2004 - S 6 KR 3/03 jeweils zum wortgleichen § 69 S. 3 SGB V i.d.F. vom 22.12.1999). Demzufolge ist gemäß § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 195 BGB die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren einschlägig.

35

Die Verjährungsvorschriften des BGB sind sowohl mit § 70 SGB V (Gewährleistung einer bedarfsgerechten, dem allgemein anerkannten Standard der medizinischen Erkenntnisse entsprechender Versorgung und Hinwirkung auf humane Krankenbehandlung) als auch mit den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem Vierten Kapitel des SGB V vereinbar.

36

3. Die Kammer weicht diesbezüglich von der Rechtsprechung des BSG ab, das im Falle von Vergütungsansprüchen von Krankenhäusern gegen Krankenkassen und umgekehrt bei Erstattungsforderungen von Krankenkassen gegen Krankenhäusern von einer vierjährigen Verjährungsfrist ausgeht (BSG, Urteil vom 12.05.2005 - B 3 KR 32/04 R; BSG, Urteil vom 28.02.2007 - B 3 KR 12/06 R; BSG, Urteil vom 17.12.2013 - B 1 KR 60/12 R).

37

Das BSG begründet seine Auffassung damit, dass die Regelung des § 69 (Abs. 1) S. 3 SGB V einengend so zu interpretieren sei, dass entsprechend der Regelung des § 61 S. 2 SGB X über den öffentlich-rechtlichen Vertrag die Vorschriften des BGB nur dann in Analogie ergänzend heranzuziehen seien, wenn sich aus den übrigen Vorschriften des (gesamten) Sozialgesetzbuches (SGB) nichts anderes ergebe (§ 61 S. 1 SGB X). Die Frage der Verjährung sei schon aus dem 4. Kapitel des SGB V selbst und den hierfür geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien zu beantworten. Es bleibe daher auch für die Zeit ab dem 01.01.2000 bei der vierjährigen Verjährungsfrist für die Vergütungsansprüche der Krankenhausbetreiber gegen die Krankenkassen für die Krankenhausbehandlung von Kassenpatienten. Die Heranziehung der kürzeren Verjährungsfristen der BGB-Vorschriften könne deshalb mit den "Rechten und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel" kollidieren (BSG, Urteil vom 12.05.2005 – B 3 KR 32/04 R – Rn. 17).

38

Dieser Auffassung vermag sich die Kammer nicht anzuschließen (so bereits SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 - S 3 KR 645/13). Ohne dies auszuformulieren, hält das BSG der Sache nach an einer analogen Anwendung (u.a.) des § 45 SGB I fest, obwohl spätestens mit Einführung des § 69 S. 3 SGB V a.F. (§ 69 Abs. 1 S. 3 SGB V n.F.), wenn nicht bereits mit Einführung des § 61 S. 2 SGB X, die Voraussetzung hierfür - das Bestehen einer Regelungslücke - weggefallen ist. Damit verstößt das BSG gegen das Gebot der Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG).

39

Es ist bereits zweifelhaft, ob seit Beginn der Kodifikation des SGB eine Regelungslücke hinsichtlich der Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und gesetzlichen Krankenkassen jemals bestand, die der Ausfüllung mittels eines Analogieschlusses bedurft bzw. diese gerechtfertigt hätte (a). Selbst wenn eine solche Regelungslücke bestanden haben sollte, wäre sie mit Einführung des § 61 SGB X (b), spätestens mit Einführung des § 69 S. 3 SGB V i.d.F. des Gesetzes vom 22.12.1999 (BGBl I S. 2626), inzwischen § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V, geschlossen worden (c). Hieran kann auch die rhetorische Aufwertung der analogen Anwendung des § 45 SGB I und anderer Verjährungsvorschriften im SGB zu einem "ungeschriebenen allgemeinen Rechtsprinzip" nichts ändern (d). Über die Grenzfunktion des Wortlauts können Erwägungen zu Sinn und Zweck sowie (vermeintlicher) gesetzgeberischer Motivation nicht hinweghelfen (e). Denn sowohl ein Analogieschluss als auch eine Herleitung einer Rechtsfolge aus "ungeschriebenen allgemeinen Rechtsprinzipien" verstoßen gegen das Gebot der Gesetzesbindung, wenn hierdurch eine anhand des positiven Normtextes legitimierbare Rechtsfolge verdrängt wird (f).

40

a) In der Rechtsprechungstradition des BSG wurde das "allgemeine Rechtsprinzip der vierjährigen Verjährungsfrist" ursprünglich im Wege der Analogie aus § 45 Abs. 1 SGB I, später ergänzt durch Verweise auf § 25 Abs. 1 S. 1 SGB IV und § 113 Abs. 1 SGB X entwickelt.

41

Erstmals hat das BSG kurz nach Inkrafttreten des SGB I den damaligen § 45 Abs. 4 SGB I, der vor Inkrafttreten des SGB X die Verjährung von Ansprüchen zwischen Leistungsträgern bei vorläufiger Leistung nach § 43 SGB I regelte, auf sonstige Erstattungsansprüche zwischen Leistungsträgern analog angewandt (BSG, Urteil vom 28.04.1976 - 2 RU 119/75 - durch § 113 Abs. 1 SGB X überholt). Das BSG knüpfte seinerseits an - divergierende - ältere Rechtsprechung an, die die Frage der Verjährungsfrist bei verschiedenen nicht in der Reichsversicherungsordnung (RVO) und anderen Sozialgesetzen positiv geregelten Anspruchskategorien betraf (BSG, Urteil vom 22.03.1974 – 3 RK 47/72; BSG, Urteil vom 09.09.1971 – 3 RK 5/70; BSG, Urteil vom 18.12.1969 – 2 RU 155/67) und setzte sich von einer anderen Rechtsprechungslinie ab, die bei öffentlich-rechtlichen Erstattungsansprüchen von der (entsprechenden) Anwendbarkeit der (damals) regelmäßigen 30jährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB a.F. ausging (BSG, Urteil vom 28.07.1972 – 8 RV 127/72 m.w.N.). Bereits im Urteil vom 25.02.1966 (3 RK 9/63) hatte das BSG den Grundsatz aufgestellt, dass ein Versicherungsträger in der Frage der Verjährung nicht schlechter gestellt werden dürfe, wenn er von einem anderen Versicherungsträger anstelle des Versicherten in Anspruch genommen werde, und die zweijährige Verjährungsfrist für Leistungen der Krankenversicherung nach § 223 Abs. 1 RVO a.F. "entsprechend" auf den Ersatzanspruch zwischen Krankenkassen bei Unzuständigkeit der vorleistenden Kasse angewandt.

42

Dem Urteil vom 28.04.1976 (2 RU 119/75) und den dort in Bezug genommenen Entscheidungen ist gemein, dass sie keine näheren Ausführungen zu der Frage enthalten, ob überhaupt eine ggf. durch einen Analogieschluss ausfüllungsbedürftige Regelungslücke bestand. Um eine "Lücke" annehmen zu können, bedarf es der Formulierung eines Regelungsziels (hier: die Verjährung eines Anspruchs) und vor allem der Begründung, weshalb dieses Regelungsziel im betreffenden Zusammenhang realisiert werden muss. Zunächst müsste also begründet werden, warum eine Kategorie von Ansprüchen der Verjährung unterliegen muss, obwohl dies nicht in einem Gesetzestext positiviert worden ist. Ohne eine solche Begründung ist davon auszugehen, dass das Gesetz eine abschließende Regelung darstellt und das fragliche Ziel gerade nicht enthält (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 371), konkret: dass der betreffende Anspruch eben nicht der Verjährung unterliegt. Vor dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist eher rechtfertigungsbedürftig, dass ein Anspruch der Verjährung unterliegt, als dass er nicht der Verjährung unterliegt. Jedenfalls besteht in den vom BSG entschiedenen Konstellationen keine Regelungslücke in dem Sinne, dass der jeweilige Fall ohne Analogiebildung nicht entscheidbar gewesen wäre.

43

Darüber hinaus kann die Frage gestellt werden, ob die verjährungsrechtlichen Regelungen des BGB nicht ohnehin unmittelbar zur Anwendung kommen müssen, soweit es keine öffentlich-rechtlichen bzw. sozialrechtlichen Spezialregelungen gibt. Weder das BGB selbst noch dessen Einführungsgesetz (EGBGB) enthält eine Begrenzung des Anwendungsbereichs auf juristische und natürliche Personen des Privatrechts oder auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen.

44

Aus diesen Gründen kann bezweifelt werden, dass die im Urteil vom 28.04.1976 (2 RU 119/75) erstmals praktizierte analoge Anwendung des § 45 SGB I überhaupt methodisch und - vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 97 Abs. 1 GG) - verfassungsrechtlich zu rechtfertigen war. Hierbei ist allerdings zuzugestehen, dass auf Grund der Sachnähe des im damaligen Urteil streitigen Erstattungsanspruchs zwischen Leistungsträgern sich eine analoge Anwendung des seinerzeit in § 45 Abs. 4 SGB I geregelten Spezialfalls aufdrängte.

45

Eine analoge Anwendung des § 45 SGB I haben in der Folgezeit verschiedene Senate des BSG beispielweise in Bezug auf die Honoraransprüche der Kassen-/Vertrags(zahn)ärzte (BSG, Urteil vom 10.05.1995 - 6 RKa 17/94), den Zahlungsanspruch eines Krankenhauses gegen einen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG, Urteil vom 28.06.1988 - 2 RU 40/87), den Arzneimittelregress einer Kassenärztlichen Vereinigung gegen eine Universität (BSG, Urteil vom 27.01.1987 - 6 RKa 27/86), den Erstattungsanspruch zwischen öffentlich-rechtlichen Körperschaften im Bereich des Kassenarztrechts (BSG, Urteil vom 01.08.1991 - 6 RKa 9/89), den Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber auf Beitragszuschuss nach den §§ 257 SGB V, 61 SGB XI (BSG, Urteil vom 15.06.2000 - B 12 RJ 5/99 R) und in Bezug auf den Erstattungsanspruch der Krankenkasse gegen den Sozialhilfeträger nach § 264 Abs. 7 SGB V (BSG, Urteil vom 12.11.2013 - B 1 KR 56/12 R) bejaht.

46

Das Begründungsdefizit hinsichtlich der Regelungslücke wurde in diesen Entscheidungen nicht behoben. Für die "entsprechende" Anwendung des § 45 SGB I auf hiervon nicht erfasste Ansprüche wird beispielsweise eine "Ähnlichkeit der Sachverhalte in rechtlich-wertender Hinsicht" für ausreichend gehalten und hierfür die ausdrückliche Verweisung auf das BGB in § 61 S. 2 SGB X unter den Vorbehalt gestellt, dass sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, den Erfordernissen des öffentlichen Rechts oder den Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets nichts anderes ergibt (BSG, Urteil vom 27.01.1987 – 6 RKa 27/86 - Rn 15).

47

b) Spätestens seit Einführung des SGB X zum 01.01.1981 (BGBl. I 1980, 1469) kann für Verjährungsfragen in den Fällen, in denen auf dem Sozialgesetzbuch beruhende Rechtsbeziehungen durch öffentlich-rechtliche Verträge ausgestaltet werden, nicht mehr von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke ausgegangen werden.

48

Für öffentlich-rechtliche Verträge ist in § 61 S. 1 SGB X geregelt, dass die übrigen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs gelten, soweit sich aus den §§ 53 bis 60 SGB X nichts anderes ergibt. Nach § 61 S. 2 SGB X gelten ergänzend die Vorschriften des BGB entsprechend. Vergütungsansprüche von Krankenhausträgern gegen Krankenkassen resultieren aus öffentlich-rechtlichen Verträgen (§ 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V; §§ 108, 109 SGB V) oder werden durch öffentlich-rechtliche Verträge maßgeblich gestaltet. § 61 SGB X war (vor Inkrafttreten des § 69 S. 3 SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.1999) somit auf (u.a.) Vergütungsansprüche zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen anzuwenden.

49

Der 3. Senat des BSG hatte bezüglich des Vergütungsanspruch eines Krankenhauses gegen eine gesetzliche Krankenkasse wegen stationärer Behandlung eines Versicherten auch vor Einführung des § 69 S. 3 SGB V und entgegen der Verweisung des § 61 S. 2 SGB X die vierjährige Verjährungsfrist des § 45 SGB I herangezogen (BSG, Urteil vom 17.06.1999 - B 3 KR 6/99 R). Zur Begründung hatte er sich seinerzeit bereits auf das allgemeine "Rechtsprinzip der vierjährigen Verjährung im Sozialrecht" bezogen (BSG, a.a.O. Rn. 12) und die Termini "entsprechende" oder "analoge Anwendung" gänzlich vermieden. Das BSG konstatiert im Urteil vom 17.06.1999 zwar, dass die "Frage der Verjährung einer Krankenhausforderung für die stationäre Behandlung eines Versicherten (...) indessen weder im Zweiten Buch, Vierter Abschnitt, der RVO ("VI: Verhältnis zu Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Hebammen und Einrichtungen für Haushaltshilfe") noch (...) im Vierten Kapitel, Dritter Abschnitt, des SGB V ("Beziehungen zu Krankenhäusern und anderen Einrichtungen") oder anderswo geregelt" sei (BSG, Urteil vom 17.06.1999 - B 3 KR 6/99 R - Rn. 11). Dies führe "aber nicht dazu, wegen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages iS der §§ 53 ff SGB X gemäß § 61 Satz 2 SGB X die Verjährungsvorschriften des BGB ergänzend heranzuziehen". Vielmehr kämen nach § 61 S. 1 SGB X vorrangig die Vorschriften des SGB zur Anwendung. Das BSG räumt diesbezüglich zwar ein, dass weder § 45 SGB I noch eine andere Verjährungsregelung für Vergütungsansprüche zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern einschlägig ist, behilft sich an dieser Stelle aber mit dem Verweis auf das o.g. "allgemeine Rechtsprinzip" (BSG, a.a.O. Rn. 12).

50

Diese Auffassung kann indes bereits deshalb nicht überzeugen, weil die in Bezug genommen Vorschriften des SGB eingestandenermaßen nicht einschlägig sind, also für den entschiedenen Fall gerade nicht gelten. Genau für solche Fälle bedient sich der Gesetzgeber - wie im Falle des § 61 S. 2 SGB X - der Regelungstechnik der Verweisung auf die Kodifikation des BGB, die auf Grund ihrer systematischen Geschlossenheit für die meisten Probleme bei der Durchführung von Vertragsverhältnissen Lösungen bietet.

51

c) Mit Einführung des § 69 S. 3 SGB V i.d.F. des GKV-Gesundheitsreformgesetzes vom 22.12.1999 (BGBl. I 59, 2626), der seitdem 18.12.2008 wortgleich in den § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V übergegangen ist (GKV-OrgWG vom 15.12.2008 - BGBl. I 58, 2426), erfolgte eine Konkretisierung dieser Verweisungstechnik speziell für die Rechtsbeziehungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen, wodurch einer analogen Anwendung des § 45 SGB I oder der Heranziehung „allgemeiner Rechtsprinzipien“ vollends der Boden entzogen wurde.

52

Mangels konkreter Regelungen zur Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen (oder auch abstrakt zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern) im gesamten SGB einschließlich des SGB V und in den ergänzenden Gesetzen (KHG und KHEntG) schreibt § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V die Geltung des Verjährungsrechts des BGB vor. Dass diese Rechtsfolge im Wege semantischer Auslegung ohne weiteres begründbar ist, stellt das BSG nicht in Frage, sondern bezweifelt nur die Eindeutigkeit dieses Befundes (BSG, Urteil vom 12.05.2005 - B 3 KR 32/04 R- Rn. 17f.). Es unternimmt dies allerdings unter Verweis auf ein "ungeschriebenes" Rechtsprinzip. Die "Uneindeutigkeit" ergibt sich also gerade nicht aus dem "Geschriebenen", sondern wird durch Hinzufügung von "Ungeschriebenem" erst erzeugt.

53

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt jedoch die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 310, zum Ganzen Rn. 304 ff., 10. Aufl. 2009; vgl. auch Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.): Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 267; Hochhuth, Methodenlehre zwischen Staatsrecht und Rechtsphilosophie - zugleich eine Verschleierung des Theorie-Praxis-Bruchs?, in: Rechtstheorie 2011, S. 227 ff.). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip.

54

d) Hieran vermag auch die Aufwertung der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 SGB I (und anderer Regelungen) zu einem "allgemeinen Rechtsprinzip" nichts zu ändern. Dieses Prinzip übernimmt in der Rechtsprechung des BSG die rhetorische Funktion, das Gericht von den in Rechtswissenschaft und Rechtsprechungspraxis anerkannten methodischen Grundsätzen für eine Analogiebildung, insbesondere vom Nachweis einer Regelungslücke, zu entlasten. In den Urteilen des BSG zur Verjährung des Vergütungsanspruchs nach Einführung der Verweisung auf das BGB in § 69 SGB V (BSG, Urteil vom 12.05.2005 - B 3 KR 32/04 R; BSG, Urteil vom 28.02.2007 - B 3 KR 12/06 R) kann eine Regelungslücke, die stets (und nach jeder gängigen Rechtstheorie, vgl. nur Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Aufl. 2011, 878 ff., Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 371) Voraussetzung für einen Analogieschluss ist, ernsthaft nicht festgestellt werden.

55

In den genannten Urteilen wird darauf verzichtet, das Vorliegen einer Regelungslücke herauszuarbeiten und Überlegungen darüber anzustellen, mit Hilfe welcher sachnahen gesetzlichen Regelung im Wege einer Analogiebildung die Lücke geschlossen werden könnte. Andernfalls müsste bereits im ersten Schritt festgestellt werden, dass es an einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke fehlt. Denn unter Berücksichtigung des Verweises in § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V auf das BGB kann die Frage, ob der Anspruch verjährt ist, anhand des im Gesetzgebungsvorgang hervorgebrachten Normtextes vollständig und widerspruchsfrei beantwortet werden.

56

Die sowohl vor als auch nach Einführung des § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V durch das BSG herangezogene Berufung auf ein "allgemeines Rechtsprinzip" der vierjährigen Verjährungsfrist und vor allem die Konsequenzen, die das BSG hieraus zieht, vermögen nicht zu überzeugen.

57

Allein die Anzahl der Entscheidungen, die eine vierjährige Verjährungsfrist im Wege der Analogie konstituieren, mag zwar den Eindruck erwecken, dass es sich hierbei um ein "allgemeines Rechtsprinzip" handelt. Die Behauptung eines solchen Prinzips ist dennoch fragwürdig, weil überspielt wird, dass der Gesetzgeber mit der Einführung partikularer Verjährungsregelungen im SGB gerade keine allgemeine Verjährungsfrist für das Sozialgesetzbuch geschaffen hat und trotz der bereits in den 1970er Jahren begründeten Judikatur zum "allgemeinen Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist" (erstmals BSG, Urteil vom 11.08.1976 - 10 RV 165/75 - Rn. 18) offenbar immer wieder konkreter Regelungsbedarf für bestimmte Kategorien von Ansprüchen gesehen wurde. Empirisch lässt sich somit lediglich feststellen, dass sich im Gesetzgebungsprozess bisher weder eine Auffassung durchsetzen konnte, die eine grundsätzlich für alle aus den Sozialgesetzbüchern resultierenden Ansprüche geltende Verjährungsfrist positivieren wollte, noch eine Auffassung, die die Regelung der Verjährung von einzelnen Anspruchskategorien vor dem Hintergrund eines bereits "geltenden" ungeschriebenen Rechtsprinzips der vierjährigen Verjährungsfrist für entbehrlich hielt. So wurden etwa nach 1989 folgende - keineswegs immer vierjährige - Verjährungsfristen geregelt: § 34 Abs. 3 SGB II, § 34a Abs. 2 SGB II, § 303e Abs. 2 S. 4 SGB V, § 118 Abs. 4a SGB VI, § 286d Abs. 3 SGB VI, § 96 Abs. 4a SGB VII, § 113 SGB VII, § 103 Abs. 3 S. 1 SGB XII, § 111 Abs. 1 SGB XII. Die Aussage, dass der Gesetzgeber das allgemeine Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist in den §§ 25 Abs. 1 S. 1 und 27 Abs. 2 S. 1 SGB IV mit deren Einführung zum 01.07.1977 und in § 50 Abs. 4 SGB X (in Kraft getreten am 01.01.1981) "verdeutlicht" habe (BSG, Urteil vom 01.08.1991 - 6 RKa 9/89 - Rn. 20) führt hier nicht weiter, denn es ließe sich auch die gegenteilige Behauptung aufstellen, dass der Gesetzgeber sich bewusst gegen eine für alle Ansprüche nach dem SGB geltende vierjährige Verjährungsfrist entschieden habe.

58

Der Befund, dass die vierjährige Verjährungsfrist einem allgemeinen Prinzip des Sozialrechts entspreche, wird im Übrigen dadurch widerlegt, dass das SGB selbst andere Verjährungsfristen kennt: dreijährige Verjährungsfristen sind in § 34 Abs. 3 SGB II, § 103 Abs. 3 S. 1 SGB XII, § 111 Abs. 1 SGB XII und durch einen Verweis auf die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB in § 113 SGB VII geregelt, dreißigjährige Verjährungsfristen in § 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV und in § 52 Abs. 2 SGB X. § 303e Abs. 2 S. 4 SGB V enthält eine Verordnungsermächtigung zur Regelung (u.a.) der Verjährungsfrist. Auch historisch lässt sich ein allgemeines Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist nicht begründen, was sich beispielsweise an § 223 RVO a.F. zeigt, der bis zum Inkrafttreten des SGB I eine zweijährige Verjährungsfrist für Leistungsansprüche in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehen hatte.

59

Des Weiteren begründet das BSG nicht, auf Grund welcher Rechtfertigung dem Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist eine normative Wirkung zukommen sollte, die über die Bereitstellung eines Regelungskonzepts für den Fall des Bestehens von Regelungslücken hinausgehen und hierbei eine ausdrückliche gesetzliche Verweisung verdrängen soll. Rechts- oder Strukturprinzipien, die aus verschiedenen gesetzlichen Regelungen abgeleitet werden, können zur Auslegung unklarer Bestimmungen oder zur didaktischen Aufarbeitung eines Rechtsgebietes herangezogen werden. Sie sind jedoch keine Supranormen, die positivgesetzliche Regelungen verdrängen könnten (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008 - B 8 AY 5/07 R - Rn. 14). Deshalb ist nicht nachvollziehbar, warum die rechtlich banale Frage, ob bei einer bestimmten Kategorie von Rechtsbeziehungen eine drei- oder vierjährige Verjährungsfrist zu berücksichtigen ist, zum Gegenstand eines ungeschriebenen Rechtsprinzips mit überpositivem Geltungsanspruch hochgestuft werden muss.

60

e) Die weiteren Ausführungen des BSG im Urteil vom 12.05.2005 (B 3 KR 32/04 R - Rn. 18ff.) zu Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck des § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V vermögen an diesem Befund bereits deshalb nichts zu ändern, weil sie wegen der Verpflichtung der Gerichte zur Realisierung von Gesetzesbindung nicht dazu geeignet sind, den klaren und bestimmten Normtext in Frage zu stellen.

61

Im Übrigen sind sie nicht überzeugend. Das BSG begründet seine Auffassung damit, dass durch die Neufassung des § 69 SGB V nur die Ausgrenzung des Zivilrechts aus den Rechtsbeziehungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen bezweckt gewesen sei. Es finde sich nicht der geringste Hinweis in den Gesetzesmaterialien, dass bei Ausdehnung der öffentlich-rechtlichen Bindungen entgegen dieser Tendenz die Vorschriften des BGB noch in einem größeren Maße herangezogen werden sollten, als es schon in § 61 SGB X vorgesehen sei (BSG, a.a.O. Rn. 25).

62

Diese Begründung ist zirkulär, da sie zur Voraussetzung hat, dass die vor Einführung des jetzigen § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V etablierte Rechtsprechung (insbesondere im Urteil vom 17.06.1999 - B 3 KR 6/99 R) entgegen der bereits in § 61 S. 2 SGB X enthaltenen Verweisung auf das BGB zutreffend war. Diese beruhte aber gerade nicht auf einer gesetzgeberischen Entscheidung, sondern auf einer (fehlerhaften) Lückenfüllung per Analogieschluss, sodass mit dem Verweis auch auf die Verjährungsregelungen des BGB keine Änderung hin zum BGB verbunden ist, sondern allenfalls eine Klarstellung.

63

Davon abgesehen ändert eine Verweisung auf das BGB nichts am (nunmehr positiv definierten) öffentlich-rechtlichen Charakter der Rechtsbeziehung. Eine dreijährige Verjährungsfrist ist ebensowenig "naturgemäß" bürgerlich-rechtlich wie eine vierjährige Verjährungsfrist "naturgemäß" öffentlich-rechtlich bzw. sozialrechtlich ist.

64

Auch das Argument, dass die Einbindung der Beziehungen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen in das öffentliche Recht wegen der Behandlung von Kassenpatienten zur Wahrung von Rechtsklarheit und Einheitlichkeit die Anwendung der allgemeinen sozialrechtlichen Verjährungsvorschrift des § 45 Abs. 1 SGB I erfordere (so bereits BSG, Urteil vom 17.06.1999 - B 3 KR 6/99 R - Rn. 13 und ähnlich BSG, Urteil vom 28.11.2013 - B 3 KR 27/12 R: "Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche") vermag nicht zu überzeugen. Zunächst ist nicht ersichtlich, worin der Gewinn an Rechtsklarheit bestehen sollte. Der Verweis auf das BGB lässt sich sowohl dem § 61 S. 2 SGB X als auch dem § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V entnehmen. Die Verjährungsfrist des § 45 SGB I ist hingegen eindeutig nicht einschlägig. Gleiches gilt für die anderen im SGB normierten Verjährungsregelungen. Ein Gewinn an Rechtsklarheit lässt sich am ehesten dadurch erreichen, dass sich die Rechtsprechung möglichst eng am Wortlaut des publizierten Gesetzes orientiert. Eine von Wortlaut und Gesetzessystematik gelöste Rechtsprechung führt hingegen tendenziell zur Rechtsunklarheit, da die Normadressaten zur rechtlichen Bewertung ihres Falles stets profunde Kenntnisse der Rechtsprechung benötigen. Auf die in der BSG-Rechtsprechung zu Grunde gelegten "ungeschriebenen Prinzipien" und Gerechtigkeitspostulate ist zudem kein Verlass, da diese Entscheidungsgrundlagen mangels Gesetzeskraft keinerlei Bindungswirkung unterliegen, stets zur Disposition der Gerichte stehen und dem Gerechtigkeitsempfinden des jeweiligen Spruchkörpers fortwährend aufs Neue angepasst werden können.

65

Auch zur Wahrung der "Einheitlichkeit" ist die Anwendung der Verjährungsfrist des § 45 Abs. 1 SGB I nicht erforderlich. Da das BSG diese These im Zusammenhang mit Vergütungsansprüchen von Leistungserbringern nicht näher begründet, muss wohl davon ausgegangen werden, dass es hiermit an eine Rechtsprechungstradition anknüpft, die ein Gleichlaufen der Verjährungsfrist von Sozialleistungsansprüchen mit diesen korrespondierenden Erstattungsansprüchen als notwendig erachtet (so schon BSG, Urteil vom 25.02.1966 - 3 RK 9/63). Im Falle der Ansprüche zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern im Bereich des SGB V bedarf es einer Harmonisierung mit der Verjährungsfrist des Sozialleistungsanspruchs jedoch nicht. Der Anspruch des Leistungserbringers gegen den Leistungsträger hängt zwar vom Naturalleistungsanspruch des Versicherten ab, der (theoretisch) der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 Abs. 1 SGB I unterliegt. Der Anspruch des Leistungserbringers gegen den Leistungsträger entsteht aber erst mit Inanspruchnahme des Leistungserbringers durch den Versicherten und somit mit Erfüllung des Naturalleistungsanspruchs. Zu berücksichtigen sind also zwei zeitlich aufeinander folgende Verjährungsfristen. Es ist kein Grund dafür erkennbar, warum diese Verjährungsfristen die gleiche Länge haben müssten.

66

Dass die Heranziehung der vierjährigen Verjährungsfrist entgegen der Anwendung des § 195 BGB über § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V damit begründet wird, dass die "Regelung (...) aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten (sei), um jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen" (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 28.11.2013 - B 3 KR 27/12 R - Rn. 43) ist nicht nachvollziehbar, da die Anwendung des BGB zu einer kürzeren Verjährungsfrist führt. Wegen § 196 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 14 BGB a.F. (zweijährige Verjährungsfrist von Ansprüchen der öffentlichen Anstalten und der Inhaber von privaten Anstalten, welche der Heilung dienen und der Ansprüche von Ärzten usw.) galt dies in der Regel auch schon vor den Änderungen des Verjährungsrechts im Rahmen der Schuldrechtsreform. Daher ist es verwunderlich, dass der 1. Senat des BSG noch im Jahr 2013 von einer "kurzen" sozialrechtlichen Verjährung spricht (BSG, Urteil vom 17.12.2013 - B 1 KR 60/12 R - Rn. 13). Abgesehen davon rechtfertigen selbstverständlich auch keine "praktischen und haushaltsrechtlichen" Gründe die Überspielung von Gesetzestext und -systematik.

67

f) Die Vorgehensweise des BSG im Urteil vom 12.05.2005 (B 3 KR 32/04 R, hier insbesondere Rn. 18 ff.) besteht also im Wesentlichen darin, den Wortlaut der Regelung "einengend" auszulegen und dadurch den Regelungsgehalt der Vorschrift zu verkürzen, um dies anschließend mit einer (vorweggenommenen und unausgesprochenen) Analogiebildung zu kompensieren. Im Ergebnis führt dies dazu, dass mit der Anwendung der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 SGB I analog die nach Wortlaut und Gesetzessystematik allein maßgebliche Regelung der Verjährungsfrist des § 195 BGB contra legem verdrängt wird. Soweit das BSG eine am Normtext legitimierbare Rechtsfolge durch eine nicht am Normtext, sondern lediglich auf Grund eines ungeschriebenen Prinzips legitimierte Rechtsfolge ersetzt, überschreitet es die Grenzen zulässiger Konkretisierung und handelt wegen des Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG verfassungswidrig.

68

g) Die Heranziehung der vierjährigen Verjährungsfrist aus § 45 SGB I für die Rechtsverhältnisse zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen im Rahmen des § 69 SGB V ist nach alldem nicht zu rechtfertigen. Die vom Beklagten vorliegend geltend gemachte Vergütungsforderung unterliegt daher der dreijährigen Verjährungsfrist aus § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 195 BGB.

69

4. Die Verjährung ist eingetreten. Der (potenzielle) Vergütungsanspruch der Klägerin ist im Mai 2007 entstanden. Die Verjährungsfrist begann gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB am 31.12.2007 zu laufen und endete gemäß § 195 BGB am 31.12.2010. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 20.12.2011 war die Forderung demnach verjährt. Hemmungstatbestände liegen nicht vor. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung spätestens mit Schriftsatz vom 16.05.2014 erhoben. Sie ist daher gemäß § 214 Abs. 1 BGB berechtigt, die Leistung zu verweigern.

70

Die Klage war demzufolge abzuweisen.

III.

71

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. mit § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Demnach trägt der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens. Da die Beklagte voll obsiegt hat, waren der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

IV.

72

Der Streitwert in der Hauptsache ist nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen des Gerichts zu bestimmen (§ 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend (§ 197 a Abs. 1 SGG i.V. m. § 52 Abs. 3 GKG. Der Streitwert entspricht hier der eingeklagten Hauptforderung.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Die Krankenkassen und ihre Verbände können im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung zur Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Versorgung Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Verfahrens-, Organisations-, Finanzierungs- und Vergütungsformen der Leistungserbringung durchführen oder nach § 64 vereinbaren.

(2) Die Krankenkassen können Modellvorhaben zu Leistungen zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten, zur Krankenbehandlung sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft, die nach den Vorschriften dieses Buches oder auf Grund hiernach getroffener Regelungen keine Leistungen der Krankenversicherung sind, durchführen oder nach § 64 vereinbaren.

(3) Bei der Vereinbarung und Durchführung von Modellvorhaben nach Absatz 1 kann von den Vorschriften des Vierten und des Zehnten Kapitels dieses Buches, soweit es für die Modellvorhaben erforderlich ist, und des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des Krankenhausentgeltgesetzes sowie den nach diesen Vorschriften getroffenen Regelungen abgewichen werden; der Grundsatz der Beitragssatzstabilität gilt entsprechend. Gegen diesen Grundsatz wird insbesondere für den Fall nicht verstoßen, daß durch ein Modellvorhaben entstehende Mehraufwendungen durch nachzuweisende Einsparungen auf Grund der in dem Modellvorhaben vorgesehenen Maßnahmen ausgeglichen werden. Einsparungen nach Satz 2 können, soweit sie die Mehraufwendungen überschreiten, auch an die an einem Modellvorhaben teilnehmenden Versicherten weitergeleitet werden. Satz 1 gilt mit der Maßgabe, dass von § 284 Abs. 1 Satz 4 nicht abgewichen werden darf.

(3a) Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen wird, können insbesondere informationstechnische und organisatorische Verbesserungen der Datenverarbeitung, einschließlich der Erweiterungen der Befugnisse zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten sein. Von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches zur Verarbeitung personenbezogener Daten darf nur mit schriftlicher oder elektronischer Einwilligung des Versicherten und nur in dem Umfang abgewichen werden, der erforderlich ist, um die Ziele des Modellvorhabens zu erreichen. Der Versicherte ist vor Erteilung der Einwilligung schriftlich oder elektronisch darüber zu unterrichten, inwieweit das Modellvorhaben von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abweicht und aus welchen Gründen diese Abweichungen erforderlich sind. Die Einwilligung des Versicherten hat sich auf Zweck, Inhalt, Art, Umfang und Dauer der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten sowie die daran Beteiligten zu erstrecken.

(3b) Modellvorhaben nach Absatz 1 können vorsehen, dass Angehörige der im Pflegeberufegesetz, im Krankenpflegegesetz und im Altenpflegegesetz geregelten Berufe

1.
die Verordnung von Verbandsmitteln und Pflegehilfsmitteln sowie
2.
die inhaltliche Ausgestaltung der häuslichen Krankenpflege einschließlich deren Dauer
vornehmen, soweit diese auf Grund ihrer Ausbildung qualifiziert sind und es sich bei der Tätigkeit nicht um selbständige Ausübung von Heilkunde handelt.

(3c) Modellvorhaben nach Absatz 1 können eine Übertragung der ärztlichen Tätigkeiten, bei denen es sich um selbstständige Ausübung von Heilkunde handelt und für die die Angehörigen des im Pflegeberufegesetz geregelten Berufs auf Grundlage einer Ausbildung nach § 14 des Pflegeberufegesetzes qualifiziert sind, auf diese vorsehen. Die Krankenkassen und ihre Verbände sollen entsprechende Vorhaben spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2020 vereinbaren oder durchführen. Der Gemeinsame Bundesausschuss legt in Richtlinien fest, bei welchen Tätigkeiten eine Übertragung von Heilkunde auf die Angehörigen des in Satz 1 genannten Berufs im Rahmen von Modellvorhaben erfolgen kann. Vor der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses ist der Bundesärztekammer sowie den maßgeblichen Verbänden der Pflegeberufe Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Stellungnahmen sind in die Entscheidungen einzubeziehen. Durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nach den Sätzen 2 bis 4 festgelegte Richtlinien gelten für die Angehörigen des in Satz 1 geregelten Berufs fort.

(3d) Die Anwendung von Heilmitteln, die nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zur Behandlung krankheitsbedingter Schädigungen nur verordnungsfähig sind, wenn die Schädigungen auf Grund bestimmter Grunderkrankungen eintreten, kann auch bei anderen ursächlichen Grunderkrankungen Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 2 sein.

(4) Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 2 können nur solche Leistungen sein, über deren Eignung als Leistung der Krankenversicherung der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 im Rahmen der Beschlüsse nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 oder im Rahmen der Beschlüsse nach § 137c Abs. 1 keine ablehnende Entscheidung getroffen hat. Fragen der biomedizinischen Forschung sowie Forschungen zur Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln und Medizinprodukten können nicht Gegenstand von Modellvorhaben sein.

(5) Die Modellvorhaben sind im Regelfall auf längstens acht Jahre zu befristen. Verträge nach § 64 Abs. 1 sind den für die Vertragsparteien zuständigen Aufsichtsbehörden vorzulegen. Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen werden kann, sind auf längstens fünf Jahre zu befristen. Über Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen wird, sind der Bundesbeauftragte für den Datenschutz oder die Landesbeauftragten für den Datenschutz, soweit diese zuständig sind, rechtzeitig vor Beginn des Modellvorhabens zu unterrichten.

(6) Modellvorhaben nach den Absätzen 1 und 2 können auch von den Kassenärztlichen Vereinigungen im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung mit den Krankenkassen oder ihren Verbänden vereinbart werden. Die Vorschriften dieses Abschnitts gelten entsprechend.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Die Versorgung der Versicherten muß ausreichend und zweckmäßig sein, darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muß in der fachlich gebotenen Qualität sowie wirtschaftlich erbracht werden.

(2) Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken.

(1) Die Krankenkassen und ihre Verbände können im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung zur Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Versorgung Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Verfahrens-, Organisations-, Finanzierungs- und Vergütungsformen der Leistungserbringung durchführen oder nach § 64 vereinbaren.

(2) Die Krankenkassen können Modellvorhaben zu Leistungen zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten, zur Krankenbehandlung sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft, die nach den Vorschriften dieses Buches oder auf Grund hiernach getroffener Regelungen keine Leistungen der Krankenversicherung sind, durchführen oder nach § 64 vereinbaren.

(3) Bei der Vereinbarung und Durchführung von Modellvorhaben nach Absatz 1 kann von den Vorschriften des Vierten und des Zehnten Kapitels dieses Buches, soweit es für die Modellvorhaben erforderlich ist, und des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des Krankenhausentgeltgesetzes sowie den nach diesen Vorschriften getroffenen Regelungen abgewichen werden; der Grundsatz der Beitragssatzstabilität gilt entsprechend. Gegen diesen Grundsatz wird insbesondere für den Fall nicht verstoßen, daß durch ein Modellvorhaben entstehende Mehraufwendungen durch nachzuweisende Einsparungen auf Grund der in dem Modellvorhaben vorgesehenen Maßnahmen ausgeglichen werden. Einsparungen nach Satz 2 können, soweit sie die Mehraufwendungen überschreiten, auch an die an einem Modellvorhaben teilnehmenden Versicherten weitergeleitet werden. Satz 1 gilt mit der Maßgabe, dass von § 284 Abs. 1 Satz 4 nicht abgewichen werden darf.

(3a) Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen wird, können insbesondere informationstechnische und organisatorische Verbesserungen der Datenverarbeitung, einschließlich der Erweiterungen der Befugnisse zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten sein. Von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches zur Verarbeitung personenbezogener Daten darf nur mit schriftlicher oder elektronischer Einwilligung des Versicherten und nur in dem Umfang abgewichen werden, der erforderlich ist, um die Ziele des Modellvorhabens zu erreichen. Der Versicherte ist vor Erteilung der Einwilligung schriftlich oder elektronisch darüber zu unterrichten, inwieweit das Modellvorhaben von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abweicht und aus welchen Gründen diese Abweichungen erforderlich sind. Die Einwilligung des Versicherten hat sich auf Zweck, Inhalt, Art, Umfang und Dauer der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten sowie die daran Beteiligten zu erstrecken.

(3b) Modellvorhaben nach Absatz 1 können vorsehen, dass Angehörige der im Pflegeberufegesetz, im Krankenpflegegesetz und im Altenpflegegesetz geregelten Berufe

1.
die Verordnung von Verbandsmitteln und Pflegehilfsmitteln sowie
2.
die inhaltliche Ausgestaltung der häuslichen Krankenpflege einschließlich deren Dauer
vornehmen, soweit diese auf Grund ihrer Ausbildung qualifiziert sind und es sich bei der Tätigkeit nicht um selbständige Ausübung von Heilkunde handelt.

(3c) Modellvorhaben nach Absatz 1 können eine Übertragung der ärztlichen Tätigkeiten, bei denen es sich um selbstständige Ausübung von Heilkunde handelt und für die die Angehörigen des im Pflegeberufegesetz geregelten Berufs auf Grundlage einer Ausbildung nach § 14 des Pflegeberufegesetzes qualifiziert sind, auf diese vorsehen. Die Krankenkassen und ihre Verbände sollen entsprechende Vorhaben spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2020 vereinbaren oder durchführen. Der Gemeinsame Bundesausschuss legt in Richtlinien fest, bei welchen Tätigkeiten eine Übertragung von Heilkunde auf die Angehörigen des in Satz 1 genannten Berufs im Rahmen von Modellvorhaben erfolgen kann. Vor der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses ist der Bundesärztekammer sowie den maßgeblichen Verbänden der Pflegeberufe Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Stellungnahmen sind in die Entscheidungen einzubeziehen. Durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nach den Sätzen 2 bis 4 festgelegte Richtlinien gelten für die Angehörigen des in Satz 1 geregelten Berufs fort.

(3d) Die Anwendung von Heilmitteln, die nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zur Behandlung krankheitsbedingter Schädigungen nur verordnungsfähig sind, wenn die Schädigungen auf Grund bestimmter Grunderkrankungen eintreten, kann auch bei anderen ursächlichen Grunderkrankungen Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 2 sein.

(4) Gegenstand von Modellvorhaben nach Absatz 2 können nur solche Leistungen sein, über deren Eignung als Leistung der Krankenversicherung der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 im Rahmen der Beschlüsse nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 oder im Rahmen der Beschlüsse nach § 137c Abs. 1 keine ablehnende Entscheidung getroffen hat. Fragen der biomedizinischen Forschung sowie Forschungen zur Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln und Medizinprodukten können nicht Gegenstand von Modellvorhaben sein.

(5) Die Modellvorhaben sind im Regelfall auf längstens acht Jahre zu befristen. Verträge nach § 64 Abs. 1 sind den für die Vertragsparteien zuständigen Aufsichtsbehörden vorzulegen. Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen werden kann, sind auf längstens fünf Jahre zu befristen. Über Modellvorhaben nach Absatz 1, in denen von den Vorschriften des Zehnten Kapitels dieses Buches abgewichen wird, sind der Bundesbeauftragte für den Datenschutz oder die Landesbeauftragten für den Datenschutz, soweit diese zuständig sind, rechtzeitig vor Beginn des Modellvorhabens zu unterrichten.

(6) Modellvorhaben nach den Absätzen 1 und 2 können auch von den Kassenärztlichen Vereinigungen im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung mit den Krankenkassen oder ihren Verbänden vereinbart werden. Die Vorschriften dieses Abschnitts gelten entsprechend.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

(1) Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Die Versorgung der Versicherten muß ausreichend und zweckmäßig sein, darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muß in der fachlich gebotenen Qualität sowie wirtschaftlich erbracht werden.

(2) Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 16. Mai 2012 und des Sozialgerichts Leipzig vom 21. April 2010 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 689,94 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 22. April 2009 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 689,94 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Vergütung von Krankenhausbehandlung.

2

Die Klägerin ist Trägerin eines in den Krankenhausplan des Freistaates Sachsen aufgenommenen Krankenhauses. Es behandelte eine Versicherte der beklagten Krankenkasse (KK) stationär in der Zeit vom 23.3. bis 2.4.2004. Die Klägerin kodierte für die Abrechnung die Hauptdiagnose ICD-10 I50.9 (Herzinsuffizienz, nicht näher bezeichnet) sowie unter anderem die Nebendiagnosen ICD-10 F03 (nicht näher bezeichnete Demenz) und ICD-10 J90 (Pleuraerguss, anderenorts nicht klassifiziert). Sie berechnete die Fallpauschale (Diagnosis Related Group - DRG) F62A (Herzinsuffizienz und Schock mit äußerst schweren CC) in Höhe von 2957,19 Euro einschließlich der Zuschläge (14.4.2004). Die Beklagte bezahlte den Betrag (27.4.2004). Das Bundesversicherungsamt wies als Aufsichtsbehörde im Jahr 2006 die Beklagte auf unplausible Krankenhausabrechnungen hin. Deshalb beauftragte die Beklagte den Medizinischen Dienst des Bundeseisenbahnvermögens (MD), ua die Abrechnung der Klägerin zu überprüfen. Der MD zeigte der Klägerin seine Beauftragung an (22.10.2008) und erhielt von ihr angeforderte Behandlungsunterlagen. Er kam zu dem Ergebnis, die in Rede stehende Behandlung sei nach der DRG F62B (Herzinsuffizienz und Schock mit schweren CC) in Höhe von 2267,26 Euro einschließlich der Zuschläge zu vergüten gewesen (28.2.2009). Die Nebendiagnose ICD-10 F03 sei nicht belegt. Der Kode ICD-10 J90 entfalle, weil sich für den kodierten Pleuraerguss kein Nachweis für eine Relevanz im Sinne der Deutschen Kodierrichtlinie (DKR) D003 finde. Auch die Kriterien der DKR D008 seien nicht erfüllt, weil lediglich eine Verdachtsdiagnose gestellt worden sei, ohne dass eine spezifische Behandlung eingeleitet wurde. Die Beklagte hörte die Klägerin hierzu an und kündigte an, den nach ihrer Auffassung überzahlten Differenzbetrag von 689,94 Euro zu verrechnen (3.3.2009). Sie rechnete mit der Erstattungsforderung gegen eine Forderung der Klägerin in Höhe von 3.576,92 Euro wegen einer Krankenhausbehandlung vom 3. bis zum 17.3.2009 auf (7.4.2009; Zugang der vollständigen fehlerfreien Rechnung nebst Entlassungsanzeige am 3.4.2009). Die Klägerin ist mit ihrer Klage auf Zahlung erfolglos geblieben (SG-Urteil vom 21.4.2010). Das LSG hat ihre Berufung zurückgewiesen: Die Beklagte habe wirksam mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gegenüber der Klägerin in Höhe der Klageforderung aufgerechnet. Der Anspruch sei weder auf Grund der Sechs-Wochen-Frist des § 275 Abs 1c S 2 SGB V noch wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot ausgeschlossen noch verjährt gewesen. Die Einleitung des Prüfverfahrens habe den Eintritt der Verjährung gehemmt (Urteil vom 16.5.2012).

3

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der entsprechend anzuwendenden Regelung des § 45 Abs 1 und 2 SGB I in Verbindung mit § 204 Abs 1 Nr 8 BGB, des Beschleunigungsgebots sowie hilfsweise des § 103 SGG. Der angebliche Erstattungsanspruch sei mit Ablauf des Jahres 2008 verjährt. Die Einleitung des Prüfverfahrens habe den Eintritt der Verjährung nicht gehemmt. Das LSG habe gegen die ihm obliegende Amtsermittlungspflicht verstoßen, indem es sich auf die Stellungnahme des MD gestützt habe, ohne selbst zu ermitteln.

4

Die Klägerin beantragt nach ihrem Vorbringen sinngemäß,
die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 16. Mai 2012 sowie des Sozialgerichts Leipzig vom 21. April 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin 689,94 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 8. April 2009 zu zahlen,

5

hilfsweise
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 16. Mai 2012 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

6

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision der klagenden Krankenhausträgerin ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG die Berufung gegen das die Klage abweisende SG-Urteil zurückgewiesen. Der restliche Anspruch der Klägerin gegen die beklagte KK auf Vergütung der Krankenhausbehandlung vom 3. bis 17.3.2009 (dazu 1.) erlosch nicht durch Aufrechnung mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch der Beklagten (dazu 2.). Die Klägerin hat auch Anspruch auf Verzugszinsen, allerdings erst ab 22.4.2009, dem Zeitpunkt der Fälligkeit (dazu 3.).

9

1. Die Voraussetzungen des Anspruchs der Klägerin auf Krankenhausvergütung in Höhe von 689,94 Euro, den sie zulässig im Wege der echten Leistungsklage geltend macht (vgl nur BSG SozR 4-5562 § 9 Nr 3 RdNr 8; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17 RdNr 12), sind erfüllt. Die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich ist(stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 9). Die Beteiligten gehen nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG, die den Senat binden (§ 163 SGG), übereinstimmend von der Erfüllung der Voraussetzungen des Anspruchs in dieser Höhe aus (vgl zur Zulässigkeit des Vorgehens zB BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 7 RdNr 10; SozR 4-2500 § 130 Nr 2 RdNr 15).

10

2. Der Vergütungsanspruch der Klägerin erlosch nicht in Höhe von 689,94 Euro dadurch, dass die Beklagte analog § 387 BGB mit einer Gegenforderung aus öffentlich-rechtlicher Erstattung aufrechnete(vgl zur Aufrechnung zB BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 15 f; BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 7 RdNr 11). Die Aufrechnung war nämlich unwirksam. Der erkennende Senat muss hierzu nicht darüber entscheiden, ob der Beklagten überhaupt eine Gegenforderung aus öffentlich-rechtlicher Erstattung zustand. Eine Forderung, der eine Einrede entgegensteht, kann nämlich nicht aufgerechnet werden (§ 390 BGB idF der Bekanntmachung vom 2.1.2002, BGBl I 42). Dieser Grundsatz greift hier ein.

11

Wenn die Erstattungsforderung bestand, mit der die Beklagte aufrechnete, war sie im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung bereits verjährt. Die Klägerin hat sich auch zulässig hierauf berufen. Die reguläre Verjährungsfrist endete mit Ablauf des 31.12.2008 (vgl dazu a). Es kam weder zu einer Hemmung noch zu einem Neubeginn der Verjährung (vgl dazu b). Die Voraussetzungen der Ausnahme vom Grundsatz des § 390 BGB, wonach die Verjährung die Aufrechnung nicht ausschließt, wenn der Anspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem erstmals aufgerechnet werden konnte(vgl § 215 BGB),sind nicht erfüllt. Der - im Folgenden zu unterstellende - Erstattungsanspruch war in dem Zeitpunkt bereits verjährt, in dem die Beklagte erstmals mit ihm gegen den Vergütungsanspruch der Klägerin aufrechnen konnte, weil der Vergütungsanspruch erst später, nach Eintritt der Verjährung des Erstattungsanspruchs entstand (vgl dazu c).

12

a) Die Erstattungsforderung, mit der die Beklagte aufrechnete, war im Zeitpunkt der Aufrechnung (7.4.2009) entgegen der Auffassung der Beklagten wegen Ablaufs der regulären Verjährungsfrist verjährt. Die reguläre Verjährungsfrist für die Erstattungsforderung endete mit Ablauf des 31.12.2008. Die Klägerin hat dementsprechend zulässig die Verjährungseinrede erhoben. Es fehlt jeglicher Anhalt für einen Rechtsmissbrauch oder sonstigen Verstoß gegen Treu und Glauben (vgl hierzu zB Wagner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 45 RdNr 47 mwN).

13

Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch einer KK gegen einen Krankenhausträger unterliegt der kurzen sozialrechtlichen Verjährung (stRspr, vgl zB BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25). Die Verjährung der streitigen Erstattungsforderung begann nach Ablauf des Jahres 2004. Sie beginnt nämlich gemäß § 45 Abs 1 SGB I nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch im gleichgeordneten Leistungserbringungsverhältnis entsteht bereits im Augenblick der Überzahlung (vgl zB BSGE 69, 158, 163 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; Guckelberger, Die Verjährung im Öffentlichen Recht, 2004, S 374 f). Nach den unangegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des LSG beglich die Beklagte den in Rechnung gestellten, später im Umfang bestrittenen Vergütungsanspruch der Klägerin für die im März und April 2004 erfolgte stationäre Behandlung der Versicherten am 27.4.2004 vollständig.

14

b) Die Beauftragung des MD mit einer gutachtlichen Stellungnahme führte zu keinem Neubeginn und zu keiner Hemmung der Verjährung. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß (vgl § 45 Abs 2 SGB I idF durch Art 5 Nr 3 Buchst a Gesetz zur Einführung einer kapitalgedeckten Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und zur Änderung anderer Gesetze vom 21.6.2002, BGBl I 2167). Für einen Neubeginn der Verjährung (vgl § 212 BGB)liegt nichts vor. Die Voraussetzungen keiner der sinngemäß geltenden Regelungen für die Hemmung sind erfüllt, ihre analoge Anwendung ist ausgeschlossen.

15

Allen Hemmungstatbeständen ist gemeinsam, dass der Gläubiger dem Schuldner seinen Rechtsverfolgungswillen so deutlich macht, dass dieser sich darauf einrichten muss, auch noch nach Ablauf der ursprünglichen Verjährungsfrist in Anspruch genommen zu werden (vgl BGH Beschluss vom 28.04.1988 - IX ZR 176/87 - WM 1988, 1030; BGHZ 80, 222, 226 mwN). Leitet die KK, die unter Achtung des kompensatorischen Beschleunigungsgebots (vgl dazu zB BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 27 f; BSG SozR 4-2500 § 301 Nr 1 RdNr 34)eine Rechnung für Krankenhausbehandlung ohne volle Kenntnis ihrer Richtigkeit bezahlt, diesbezüglich ein Prüfverfahren durch Beauftragung des MD ein, macht sie gegenüber dem Krankenhaus ihren Rechtsverfolgungswillen noch nicht in einem Ausmaß deutlich, welches den Eintritt der Hemmungswirkung rechtfertigt. Die Prüfung des MD bereitet lediglich die Entscheidung der KK darüber vor, ob und ggf inwieweit sie einen Erstattungsanspruch geltend machen will. Einseitige Akte des Gläubigers, die wie die Beauftragung des MD dazu dienen, erst einen Rechtsverfolgungswillen künftig zu entwickeln, lösen keinen Hemmungstatbestand aus.

16

Keiner der Hemmungstatbestände des § 204 Abs 1 BGB greift hier ein. Das gilt insbesondere sowohl für den Tatbestand der Hemmung der Verjährung bei Verhandlungen (vgl § 203 BGB, dazu aa)als auch durch einen Güteantrag (vgl § 204 Abs 1 Nr 4 BGB, dazu bb),den Antrag auf Einleitung eines vor Klageerhebung notwendigen Verwaltungsverfahrens (§ 204 Abs 1 Nr 12 BGB, dazu cc),die Zustellung des Antrags auf Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens (§ 204 Abs 1 Nr 7 BGB, dazu dd)und den Beginn eines vereinbarten Begutachtungsverfahrens (§ 204 Abs 1 Nr 8 BGB, dazu ee),wie das LSG zutreffend entschieden hat. Entgegen der Auffassung des LSG kann sich der erkennende Senat - ausgehend von dem zuvor aufgezeigten, allen Hemmungstatbeständen innewohnenden Regelungszweck - nicht davon überzeugen, dass eine entsprechende Anwendung dieser Regelung geboten ist (dazu ff).

17

aa) Zwischen der Klägerin und der Beklagten schwebten keine Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände, die die Verjährung hemmten (vgl § 203 S 1 BGB), im Hinblick darauf, dass die Beklagte dem MD einen Prüfauftrag erteilte und die Klägerin dem MD auf dessen Anforderung Behandlungsunterlagen ohne weitere Meinungsäußerung übersandte. In Einklang mit der Rechtsprechung des BGH (stRspr, vgl zB BGH Urteil vom 15.8.2012 - XII ZR 86/11 - NJW 2012, 3633, 3635, RdNr 36; BGHZ 182, 76 RdNr 16 mwN) ist der Begriff der "Verhandlungen" zwar weit auszulegen. Der Gläubiger muss dafür lediglich klarstellen, dass er einen Anspruch geltend machen und worauf er ihn stützen will. Anschließend genügt jeder ernsthafte Meinungsaustausch über den Anspruch oder seine tatsächlichen Grundlagen, sofern der Schuldner dies nicht sofort und erkennbar ablehnt. Verhandlungen schweben schon dann, wenn eine der Parteien Erklärungen abgibt, die der jeweils anderen die Annahme gestatten, der Erklärende lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruches oder dessen Umfang ein. Nicht erforderlich ist, dass dabei Vergleichsbereitschaft oder Bereitschaft zum Entgegenkommen signalisiert wird oder dass Erfolgsaussicht besteht. An diesen Voraussetzungen fehlt es.

18

Die Beklagte stellte mit dem Prüfantrag an den MD schon nicht klar, dass sie einen Erstattungsanspruch geltend machen wollte. Sie bereitete lediglich ihre Entscheidung hierüber vor. Die Klägerin trat auch in keinen Dialog über das Bestehen eines Erstattungsanspruchs ein. Sie folgte lediglich zu unverjährter Zeit dem gesetzlichen Gebot, die angeforderten Unterlagen dem MD zu übersenden (vgl § 276 Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB V und dazu zB BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 15 ff mwN). Nach der Rechtsprechung des BSG einschließlich des erkennenden Senats passt das Rechtsinstitut der Verwirkung als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen sozialrechtlichen Verjährungsfrist nicht (vgl ausführlich zB BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN).

19

bb) Die Beklagte stellte im Rechtssinne auch keinen Güteantrag (vgl § 204 Abs 1 Nr 4 BGB),indem sie den MD mit der Prüfung beauftragte. Der Hemmungstatbestand des § 204 Abs 1 Nr 4 BGB gilt nur für Fälle obligatorischer Streitschlichtung, wie inzwischen auch § 17c Abs 4b S 3 Krankenhausfinanzierungsgesetz sie regelt(eingefügt durch Art 5c Nr 2 Buchst e Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013, BGBl I 2423, mWv 1.8.2013). Ausschlaggebend ist der Sinn und Zweck dieses Hemmungstatbestands, den Gläubiger, der nicht sofort klagen darf, sondern für die Zulässigkeit der Klage erst ein Güteverfahren durchlaufen muss (das nicht einmal nach Klageeinreichung mit heilender Wirkung nachgeholt werden kann), nicht der Gefahr der Verjährung auszusetzen (Lakkis in jurisPK-BGB Band 1, Online-Ausgabe, § 204 RdNr 55, Stand: 4.11.2013).

20

cc) Die Beklagte stellte auch keinen Antrag auf Einleitung eines vor Klageerhebung notwendigen Verwaltungsverfahrens (§ 204 Abs 1 Nr 12 BGB),als sie den MD mit der Abrechnungsprüfung beauftragte. Diese gesetzliche Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass in bestimmten Fällen wegen der besonderen Ausgestaltung des Rechtsschutzes der Berechtigte ohne die Vorentscheidung einer Behörde an der gerichtlichen Geltendmachung seines Anspruchs vor den Gerichten und dadurch an der Unterbrechung der Verjährung durch Klageerhebung gehindert ist (so bereits zur Vorgängerregelung des § 210 BGB aF BGH LM § 210 BGB Nr 5; Guckelberger, Die Verjährung im Öffentlichen Recht, 2004, S 411). Für den streitigen Erstattungsanspruch als Gegenstück zur Vergütungsforderung des Krankenhauses trifft dies nicht zu (vgl sinngemäß oben, II. 1).

21

dd) Der Prüfauftrag der Beklagten mit anschließender Anforderung der Unterlagen durch den MD entspricht auch nicht der Zustellung eines Antrags auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens (§ 204 Abs 1 Nr 7 BGB; zur Unschädlichkeit des Fehlens einer Zustellung bei Kenntnis des Antragsgegners vgl BGH NJW-RR 2013, 1169, RdNr 19). Der MD sichert nicht gerichtsförmig Beweis mit umfassenden Verfahrensrechten der Beteiligten. Er erteilt der beauftragenden KK lediglich eine gutachtliche Stellungnahme (vgl § 275 Abs 1 SGB V).

22

ee) Die Beauftragung des MD mit einer gutachtlichen Stellungnahme hemmte die Verjährung auch nicht nach § 45 Abs 2 SGB I iVm § 204 Abs 1 Nr 8 BGB, wie das LSG sorgfältig und überzeugend begründet hat. Danach tritt die Hemmung der Verjährung mit Beginn eines vereinbarten Begutachtungsverfahrens ein. Diese Voraussetzungen waren nach den unangegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG)nicht erfüllt. Es fehlte an einer konkret zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarung über die Einleitung eines Prüfverfahrens durch den MD. Ob für eine Vereinbarung iS des § 204 Abs 1 Nr 8 BGB eine kollektiv-vertragliche Vereinbarung auf der Grundlage des § 112 Abs 2 S 1 Nr 2 SGB V genügt, wie das LSG es befürwortet hat(ebenso wohl Bichler GuP 2013, 94, 99), bedarf keiner Entscheidung. Denn ein solcher Vertrag existierte im vorliegenden Fall nicht. Die Vereinbarung über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung gemäß § 112 Abs 2 Nr 1 und 2 SGB V vom 4.10.2005 in Sachsen (KHBV Sachsen) trat nach § 20 Abs 1 KHBV Sachsen erst zum 1.1.2006 in Kraft. Sie gilt nach ihrer Fußnote 6 erst für alle Aufnahmen ab diesem Zeitpunkt. Eine Vereinbarung nach § 112 Abs 2 SGB V für vor diesem Zeitpunkt erfolgte Aufnahmen zur Krankenhausbehandlung - wie vorliegend im Jahr 2004 - bestand in Sachsen demgegenüber nicht. Die einseitige Beauftragung eines Gutachters genügt dagegen nicht, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist (vgl bis 1.1.2009 § 204 Abs 1 Nr 8 BGB zur Einholung einer Fertigstellungsbescheinigung iS von § 641a BGB). Nichts Abweichendes folgt aus der bloß sinngemäßen Geltung der BGB-Vorschriften für die Hemmung (vgl § 45 Abs 2 SGB I; dafür allerdings Rehm, jurisPR-SozR 22/2012 Anm 4). Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der zitierten Rechtsprechung des BSG keinen Anlass gesehen, eine abweichende Regelung für das Leistungserbringungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung zu treffen.

23

ff) Eine analoge Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Hemmungstatbestände bei Beauftragung des MD zur Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V kommt nicht in Betracht. Eine Analogie setzt das Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke voraus (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 17 Nr 3 RdNr 22). An einer solchen fehlt es. Der Gesetzgeber hat bewusst lediglich eine sinngemäße Anwendung der Vorschriften des BGB angeordnet, soweit er einen Regelungsbedarf gesehen hat (vgl auch II.2 b ee aE; vgl ebenso BSG Urteile vom 19.9.2013 - B 3 KR 30/12 R - und - B 3 KR 31/12 R). Zudem macht eine KK, die ein Prüfverfahren durch Beauftragung des MD einleitet, wie oben dargelegt gegenüber dem Krankenhaus ihren Rechtsverfolgungswillen noch nicht in einem Ausmaß deutlich, welches den Eintritt der Hemmungswirkung rechtfertigt.

24

c) Die Beklagte kann sich schließlich auch nicht darauf berufen, dass ihr Erstattungsanspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem sie erstmals aufrechnen konnte (vgl sinngemäß § 215 BGB). Die Regelung setzt voraus, dass sich Haupt- und Gegenforderung in irgendeinem Zeitpunkt aufrechenbar gegenüber gestanden haben. Eine solche Aufrechnungslage bestand für die Forderung der Klägerin auf Krankenhausvergütung wegen der Behandlung im März 2009 und die Gegenforderung der Beklagten aus einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch nicht. Wie ausgeführt trat hinsichtlich des möglichen, hier unterstellten Erstattungsanspruchs der Beklagten mit Ablauf des Jahres 2008 Verjährung ein, während der Vergütungsanspruch der Klägerin erst im März 2009 entstand. Soweit der 3. Senat des BSG in früherer Rechtsprechung die Regelung des § 390 S 2 BGB aF(entsprechend heute § 215 BGB) aus Billigkeitserwägungen bei dauerhaften Vertragsbeziehungen der Beteiligten und daraus dem Krankenhaus fortlaufend erwachsenden Vergütungsansprüchen gegen die KK nicht angewendet hat (siehe BSGE 93, 137 = SozR 4-2500 § 137c Nr 2, RdNr 30), hat er hieran in jüngeren Entscheidungen nicht mehr festgehalten (vgl BSG Urteil vom 19.9.2013 - B 3 KR 30/12 R - RdNr 12; BSG Urteil vom 19.9.2013 - B 3 KR 31/12 R - RdNr 12).

25

3. Die Klägerin hat auch Anspruch auf Verzugszinsen auf den nicht erfüllten restlichen Vergütungsanspruch ab 6.5.2009. Für die Rechtsbeziehungen der KKn zu den Krankenhäusern gelten die Zinsvorschriften des BGB entsprechend, soweit nicht in den Verträgen nach § 112 SGB V etwas anderes geregelt ist(stRspr, vgl zB BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 7 RdNr 14 mwN). Nach § 13 Abs 1 S 1 bis 3 KHBV Sachsen hat die KK die Schlussrechnung innerhalb von 18 Tagen zu bezahlen, wenn Schlussrechnung und fristgerechte Entlassungsanzeige vollständig und fehlerfrei gemäß der Datenübermittlungsvereinbarung nach § 301 SGB V bei der KK oder deren zentraler Datenannahmestelle eingegangen sind. Der diese Frist auslösende Datenzugang erfolgte hier am 3.4.2009. Gemäß § 13 Abs 3 KHBV Sachsen kann das Krankenhaus Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz gemäß § 247 Abs 1 BGB ab dem auf den Fälligkeitstag folgenden Werktag verlangen, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn die Zahlung nicht rechtzeitig erfolgt.

26

Entgegen der Auffassung der Klägerin besteht ein Zinsanspruch nicht schon ab dem Tag, der auf die konkludente Erfüllungsverweigerung in Form der Aufrechnungserklärung folgt (8.4.2009). Eine antizipierte Erfüllungsverweigerung vor Eintritt der Fälligkeit löst noch keine Fälligkeit und damit auch keinen Verzug aus (vgl BGH Urteil vom 28.9.2007 - V ZR 139/06 - NJW-RR 2008, 210 RdNr 11; zustimmend Alpmann in jurisPK-BGB, § 286 RdNr 10, Stand: 1.10.2012; Gsell, LMK 2007, II, 94; Grüneberg in Palandt, 72. Aufl 2013, § 286 RdNr 13; Reinelt, jurisPR-BGHZivilR 46/2007 Anm 1).

27

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 770,02 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über Krankenhausvergütung.

2

Die Klägerin ist Trägerin eines Krankenhauses in Thüringen, das zur Behandlung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Versicherter zugelassen ist. Zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung (§ 140d SGB V aF) kürzte die beklagte Krankenkasse (KK) von der Klägerin im Jahr 2005 abgerechnete Krankenhausvergütung für Behandlungen ihrer Versicherten um insgesamt 770,02 Euro. Die Kürzungen erfolgten für zwei von der Beklagten zur Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung gGmbH gemeldete Verträge, den Vertrag über neurochirurgische Leistungen Marienstift A ab 1.10.2005 und den Vertrag Kinderchirurgie N Klinik ab 1.4.2005. Das SG hat die Beklagte auf die am 29.12.2009 erhobene Klage antragsgemäß verurteilt, der Klägerin 770,02 Euro nebst Zinsen zu zahlen, da die Verträge keine integrierte Versorgung im Sinne des Gesetzes zum Gegenstand gehabt hätten (Urteil vom 10.5.2013). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen: Der Vergütungsanspruch der Klägerin sei nach dem insoweit durch Schiedsstellenentscheidung geregelten Vertrag nach § 112 Abs 2 Nr 1 SGB V über die Allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung zwischen der Landeskrankenhausgesellschaft Thüringen eV und den Thüringischen Landesverbänden der KKn (KHBV) verjährt(§ 13 Abs 5 KHBV). Danach verjähren die Forderungen der Krankenhäuser sowie die Rückforderungsansprüche der KKn nach § 195 BGB in drei Jahren. Die Beklagte habe sich hierauf berufen (Urteil vom 13.6.2014).

3

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 112 Abs 2 Nr 1 SGB V. Die Verjährungsregelung des KHBV sei wegen Verstoßes gegen die gesetzliche Grundlage nichtig, das SG-Urteil zutreffend.

4

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2013 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

5

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der klagenden Krankenhausträgerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, weil es auf der Verletzung materiellen Rechts beruht und sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist. Der erkennende Senat kann wegen fehlender Tatsachenfeststellungen des LSG zum Bestehen des Vergütungsanspruchs der Klägerin, insbesondere zur Rechtmäßigkeit des Einbehalts zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung, nicht in der Sache umfassend über den Erfolg der Berufung gegen das SG-Urteil entscheiden.

8

Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den zulässigerweise mit der (echten) Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG; stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9 mwN; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 8, alle mwN) geltend gemachten Anspruch auf Zahlung von 770,02 Euro nebst Zinsen zu entscheiden. Zwar ziehen die Beteiligten nicht in Zweifel, dass die Voraussetzungen der Vergütung für die stationäre Behandlung Versicherter der beklagten KK durch die Klägerin entsprechend ihrer Abrechnung im Jahr 2005 in dieser Höhe erfüllt waren. Es steht aber nicht fest, dass die Beklagte hiervon rechtmäßig 770,02 Euro zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung einbehielt. Das LSG hat nämlich - ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt folgerichtig - keine Feststellungen zur Erfüllung der Voraussetzungen des Einbehalts getroffen (dazu 1.). Entgegen der Auffassung des LSG ist die streitige Restforderung der Klägerin nicht verjährt. Die Klägerin machte sie vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist klageweise geltend. Die vertragliche Abbedingung der vierjährigen Verjährungsfrist war nicht zulässig, sondern unwirksam. Die Restforderung ist entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht verwirkt (dazu 2.).

9

1. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung und damit korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist(stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 9). Diese Voraussetzungen waren unstreitig auch in Höhe der geltend gemachten Restforderung der Klägerin erfüllt.

10

Es steht nicht fest, dass diese Forderung durch rechtmäßigen Einbehalt zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung in Höhe von 770,02 Euro erlosch. KKn behalten von Krankenhausrechnungen Mittel zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung ein, indem sie mit einem Gegenrecht aufrechnen. Allerdings berechtigen nur geschlossene Verträge, die bei überschlägiger sozialgerichtlicher Prüfung die Grundvoraussetzungen eines Vertrags über integrierte Versorgung erfüllen, KKn zum Mitteleinbehalt zwecks Anschubfinanzierung (vgl BSGE 107, 78 = SozR 4-2500 § 140d Nr 2; dem folgend auch BSG Urteil vom 25.11.2010 - B 3 KR 6/10 R - USK 2010-166). Es fehlt hierzu an Feststellungen des LSG.

11

2. Das LSG-Urteil erweist sich auch nicht wegen des Eintritts der Verjährung oder Verwirkung der Forderung als richtig. Die Klägerin machte die Forderung vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist am 29.12.2009 klageweise geltend (dazu a). Die vertragliche Verkürzung der vierjährigen Verjährungsfrist war nicht zulässig, sondern unwirksam (dazu b). Auch der Einwand der Verwirkung greift nicht ein (dazu c).

12

a) Die Verjährung der streitigen Vergütungsforderung für 2005 begann nach Ablauf des Jahres 2005. Sie beginnt nämlich entsprechend § 45 Abs 1 SGB I nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung entsteht unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wie dargelegt (vgl oben, II. 1.). Die Forderung verjährte erst in vier Jahren nach Verjährungsbeginn. Die Klägerin hat vor Eintritt der Verjährung im Dezember 2009 Klage erhoben und damit den Eintritt der Verjährung der Forderung gehemmt (§ 45 Abs 2 SGB I analog iVm § 204 Abs 1 Nr 1 BGB).

13

Die Rechtsprechung des BSG geht einhellig davon aus, dass für Vergütungsforderungen der Leistungserbringer die kurze, sozialrechtliche vierjährige Verjährungsfrist gilt (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1; zustimmend BSGE 95, 141 RdNr 26 = SozR 4-2500 § 83 Nr 2 RdNr 34; BSG SozR 4-1200 § 45 Nr 4; BSG SozR 4-2500 § 302 Nr 1 RdNr 43; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 47/12 R - SGb 2014, 497, RdNr 9; zur entsprechenden Anwendung von Verjährungsvorschriften auf sozialrechtliche Ausschlussvorschriften vgl BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 15). Dies ist vereinbar mit dem Wortlaut des § 69 SGB V(hier anzuwenden idF durch Art 1 Nr 45 GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGBl I 2190 mWv 1.1.2004). Es entspricht der Entwicklungsgeschichte, dem Regelungssystem und dem Regelungszweck.

14

Nach dem Wortlaut des § 69 S 2 SGB V werden die Rechtsbeziehungen der KKn und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 SGB V und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Die Regelung der Verjährung ergibt sich schon aus dem 4. Kapitel des SGB V selbst und den hierfür geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 10 ff; BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 8 S 30). Denn das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient. Die ergänzende Regelung des § 69 S 3 SGB V greift insoweit nicht ein. Danach gelten ua für die Rechtsbeziehungen nach § 69 S 2 SGB V lediglich "im Übrigen" die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V "und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach" dem 4. Kapitel des SGB V vereinbar sind.

15

Der Gesetzgeber hat die zitierte ständige Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen, die gesetzlichen Regelungen zu ändern. Er wollte eine Änderung der verjährungsrechtlichen Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht herbeiführen (vgl auch BSGE 115, 40 = SozR 4-2500 § 302 Nr 1, RdNr 44; entsprechend generell für das öffentliche Recht BVerwGE 132, 324 RdNr 11 f). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem der bürgerlich-rechtlichen Verjährung auf spezialgesetzlich geregelte Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857 S 42 zu Nr 1). Hierzu wurde in der Folge das Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) erlassen. Auch dort entschied sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts, da im öffentlichen Recht grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen gelten und auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden könne (BT-Drucks 15/3653 S 10).

16

Der Gesetzgeber wollte mit der Regelung des § 69 SGB V das Leistungserbringungsrecht des 4. Kapitels im SGB V von der Anwendung kartellrechtlicher Vorschriften ausnehmen, nicht aber die Verjährungsfristen ändern. Zivilgerichte hatten in der Nachfragetätigkeit der KKn und ihrer Verbände ein Auftreten als Unternehmen im Sinne des deutschen und des europäischen Wettbewerbs- und Kartellrechts gesehen. Deswegen hatten sie Festbetragsregelungen der Spitzenverbände der KKn nach den §§ 91 f, 35 f SGB V teilweise für wettbewerbswidrig erklärt. Der Gesetzgeber wirkte lediglich dieser Tendenz mit einem Bündel von neuen Vorschriften entgegen (vgl näher BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 12).

17

b) Die Regelung des § 13 Abs 5 KHBV, die vertraglich die vierjährige Verjährungsfrist abbedingen soll, ist nicht zulässig, sondern unwirksam. Der ihr zugrunde liegende Schiedsspruch ist materiell rechtswidrig. Der Schiedsspruch ist anhand der für die Krankenhausbehandlung in der GKV maßgeblichen Rechtsmaßstäbe zu überprüfen (dazu aa). Danach widerspricht die Regelung des § 13 Abs 5 KHBV dem Wirtschaftlichkeitsgebot, soweit sie Rückforderungsansprüche der KKn der dreijährigen Verjährung unterwirft. Die Teilnichtigkeit führt zur Gesamtnichtigkeit der Regelung (dazu bb).

18

aa) Der Schiedsspruch der Landesschiedsstelle nach § 114 SGB V unterliegt uneingeschränkt der Kontrolle seiner Vereinbarkeit mit den für die Krankenhausbehandlung in der GKV geltenden unabdingbaren Rechtsmaßstäben. Er soll eine vertragliche Regelung ersetzen, die sicherstellen soll, dass Art und Umfang der Krankenhausbehandlung den Anforderungen des SGB V entsprechen (§ 112 Abs 1 SGB V; vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 31; BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 32). Ausschließlich innerhalb dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen können die Verträge auf Landesebene - wie hier der KHBV - die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung einschließlich der Aufnahme und Entlassung der Versicherten, Kostenübernahme, Abrechnung der Entgelte, Berichte und Bescheinigungen regeln (§ 112 Abs 2 S 1 Nr 1 Buchst a und b SGB V). Nur soweit diese Vertragskompetenz reicht, besteht ein Gestaltungsspielraum der Landesschiedsstelle (zur Möglichkeit der Verletzung durch untergesetzliche Normen vgl BSGE 105, 1 = SozR 4-2500 § 125 Nr 5, RdNr 26 mwN).

19

bb) Dementsprechend steht die Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht zur Disposition der Vertragspartner und der Schiedsstelle. Das Regelungssystem des SGB V begründet Ansprüche nur auf eine erforderliche Krankenhausbehandlung (§ 27 Abs 1, § 39 Abs 1 S 2 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nach objektiven Kriterien (vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 30 f; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 20 RdNr 19 ff mwN). Die Krankenhausbehandlung muss ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Nur unter diesen Voraussetzungen schuldet die KK dem Versicherten eine Krankenhausbehandlung und dem Leistungserbringer korrespondierend die vereinbarte Vergütung (§ 2 Abs 1 S 1, § 12 Abs 1 S 1, § 70 Abs 1 SGB V). Ein Anspruch auf Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung setzt dementsprechend ua voraus, dass die Behandlung unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots erforderlich war und die Voraussetzungen der gesetzlichen und vertraglich vorgesehenen Vergütungsregelungen erfüllt sind (vgl § 109 Abs 4 S 3 iVm § 39 Abs 1 S 2 SGB V). Über die Erforderlichkeit der Behandlung entscheidet allein die KK und im Streitfall das Gericht, ohne dass beide an die Einschätzung des Krankenhauses oder seiner Ärzte gebunden sind (BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 20, 26 unter Bezugnahme auf BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 27 ff). Die KKn haben ggf erst durch eine Prüfung festzustellen, dass die Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs erfüllt sind. Auch die Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser hat hieran nichts geändert (BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 23; vgl zum Ganzen BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 33). Das Vertragsrecht des SGB V kann dementsprechend nicht dazu eingesetzt werden, den gesetzlichen Rahmen für die Überprüfung der Krankenhausabrechnungen auf sachlich-rechnerische Richtigkeit und Wirtschaftlichkeit einzuschränken. Ähnlich wie im Vertragsarztrecht besteht auch im Bereich der Krankenhausbehandlung keine weitergehende Befugnis der Vertragspartner und an ihrer Stelle der Landesschiedsstelle, Überprüfungsmöglichkeiten der KKn gegenüber Vergütungsansprüchen der Krankenhäuser über die allgemeinen gesetzlichen Rahmenvorgaben hinaus zeitlich einzuschränken (vgl BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 37).

20

Die allgemeinen gesetzlichen Rahmenvorgaben für die Überprüfung von Krankenhausabrechnungen ergeben sich aus den Regelungen der Verjährung für Erstattungsansprüche, inzwischen ergänzt um die spezielle Ausschlussregelung des § 275 Abs 1c SGB V. Der Anspruch einer KK gegen einen Krankenhausträger auf Erstattung einer zu Unrecht gezahlten Vergütung unterliegt einer vierjährigen Verjährung (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 14.10.2014 - B 1 KR 27/13 R - Juris RdNr 33, für BSGE und SozR 4-2500 § 109 Nr 40 vorgesehen; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25). Dieser gesetzliche Rahmen steht nicht zur Disposition der Vertragspartner des § 112 SGB V. Vertragspartner und an ihrer Stelle die Landesschiedsstelle sind lediglich berechtigt, Modalitäten zur Abrechnung von Vertragsleistungen, zB Abrechnungsfristen und die Folgen bei Nichteinhaltung, durch Vereinbarung oder an ihrer Stelle durch Schiedsspruch zu regeln. Solche Regelungen halten die hieran gebundenen KKn und Krankenhäuser gleichermaßen dazu an, ihren Verpflichtungen nachzukommen (vgl Wahl in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 112 RdNr 41 ff). Dazu gehören etwa Zahlungsfristen, Verrechnungsmodalitäten sowie Verzugszinsen bei Überschreitung des Zahlungsziels (vgl BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 35).

21

Die Regelungen des § 13 Abs 5 KHBV sind nichtig. Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht, soweit sie den aufgezeigten Vorgaben zur Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots widersprechen. Sie schränken die gesetzlichen Möglichkeiten der Überprüfung der Krankenhausabrechnungen ein, indem sie die Rückforderungsansprüche der KKn der dreijährigen Verjährung gemäß § 195 BGB unterwerfen. Die Teilnichtigkeit der Regelung der Verjährungsfrist - bezogen auf Rückforderungsansprüche der KKn - bewirkt auch die Nichtigkeit der Geltung der dreijährigen Verjährungsfrist für Forderungen der Krankenhäuser. Denn die Schiedsstelle hat die Einbeziehung beider Forderungsarten in die Verjährungsregelung im Sinne einer ausgewogenen Gesamtregelung konzipiert. Nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB ist die gesamte Regelung der Verjährung in § 13 Abs 5 KHBV nichtig, da die Verkürzung der Verjährungsfrist für Erstattungsansprüche der KKn nichtig und nicht anzunehmen ist, dass die Schiedsstelle § 13 Abs 5 KHBV auch ohne den nichtigen Teil erlassen hätte.

22

c) Die Klägerin war nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch nicht - wie die Beklagte meint - daran gehindert, ihren Vergütungsanspruch gegenüber der Beklagten im Dezember 2009 klageweise geltend zu machen. Ihr restlicher Vergütungsanspruch ist nicht verwirkt.

23

Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Es findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN), etwa wenn eine Nachforderung eines Krankenhauses nach vorbehaltlos erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der KK erfolgt (BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27). Um eine solche Nachforderung geht es indes nicht.

24

Die Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37; BSGE 109, 22 = SozR 4-2400 § 7 Nr 14, RdNr 36; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 31; BSG SozR 4-2600 § 243 Nr 4 RdNr 36; BSG SozR 4-4200 § 37 Nr 1 RdNr 17; BSG SozR 3-2400 § 4 Nr 5 S 13; BSG Urteil vom 30.7.1997 - 5 RJ 64/95 - Juris RdNr 27; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f; BSG Urteil vom 1.4.1993 - 1 RK 16/92 - FEVS 44, 478, 483 = Juris RdNr 23; BSG SozR 2200 § 520 Nr 3 S 7; BSG Urteil vom 29.7.1982 - 10 RAr 11/81 - Juris RdNr 15; BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15; BSG Urteil vom 25.1.1972 - 9 RV 238/71 - Juris RdNr 17; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke , Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147 ff, 167 f).

25

An solchen die Verwirkung auslösenden Umständen fehlt es vorliegend. Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar (vgl auch BSG Urteil vom selben Tag - B 1 KR 7/15 R - RdNr 19, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der Umstand, dass die Klägerin erst am 29.12.2009 Zahlungsklage erhoben hat, genügt deshalb nicht. Hierdurch unterscheidet sich die Verwirkung von der Verjährung (s ferner ergänzend zu den bereits oben genannten Entscheidungen BSGE 51, 260, 262 f = SozR 2200 § 730 Nr 2 S 4; BSG Urteil vom 30.10.1969 - 8 RV 53/68 - USK 6983 S 345 = Juris RdNr 23; BSGE 38, 187, 193 f = SozR 2200 § 664 Nr 1 S 8 f; BSGE 34, 211, 214 = SozR Nr 14 zu § 242 BGB Aa 7 RS; BSGE 7, 199, 200 f; vgl auch BGH NJW 2011, 445, 446). Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (vgl BSG Urteil vom 19.6.1980 - 7 RAr 14/79 - USK 80292 S 1312 = Juris RdNr 32; BSGE 47, 194, 197 f = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 17; BSGE 45, 38, 48 = SozR 4100 § 40 Nr 17 S 55). Hierbei kann zu berücksichtigen sein, wie sich das Verhalten nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte darstellt (vgl dazu Müller-Grune, Der Grundsatz von Treu und Glauben im Allgemeinen Verwaltungsrecht, 2006, S 60; ebenso Knödler, Mißbrauch von Rechten, selbstwidersprüchliches Verhalten und Verwirkung im öffentlichen Recht, 2000, S 221).

26

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Es fehlt bereits an einem Verwirkungsverhalten. Die Klägerin gab der Beklagten keinen Anlass dafür, anzunehmen, dass sie ihre restliche Vergütungsforderung nicht mehr weiterverfolgen werde.

27

3. Das LSG wird nunmehr die gebotenen Feststellungen zu den Voraussetzungen einer rechtmäßigen Einbehaltung zwecks Anschubfinanzierung integrierter Versorgung zu treffen haben (vgl dazu grundlegend BSGE 107, 78 = SozR 4-2500 § 140d Nr 2).

28

4. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 GKG.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4. Juni 2014 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 912,41 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

2

Das für die Behandlung Versicherter zugelassene Krankenhaus der klagenden Krankenhausträgerin behandelte die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Corinna K. (im Folgenden: Versicherte) vollstationär vom 5. bis 6.4.2009 wegen einer verhaltenen Fehlgeburt (Hauptdiagnose ICD-10-GM <2009> O02.1 Missed abortion; O09.1 Schwangerschaftsdauer 5 bis 13 vollendete Wochen). Die Klägerin berechnete und erhielt hierfür die Fallpauschale (Diagnosis Related Groups - DRG <2009>) O40Z (Abort mit Dilatation und Kürettage, Aspirationskürettage oder Hysterotomie; kodiert ua: Operationen- und Prozeduren-Schlüssel 5-690.0, Therapeutische Kürettage, Abrasio uteri ohne lokale Medikamentenapplikation, 912,41 Euro, 20.4.2009; Zahlungseingang 4.5.2009). Die Beklagte forderte die Klägerin unter Hinweis auf BSG-Urteile vom 16.5.2012 und 21.3.2013 (BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 29) vergeblich auf, bis zum 8.11.2013 den Grund für den stationären Aufenthalt mitzuteilen, da die Leistung in der Regel ambulant erbracht werden könne (14.10.2013). Die Beklagte rechnete ua mit dem Rückforderungsbetrag von 912,41 Euro gegen Vergütungsansprüche der Klägerin für Krankenhausbehandlungen aus November 2013 auf (Rechnungen Nr 675883, 676021, 676103 und 676104; 10.12.2013). Das SG hat die Beklagte auf die am 18.12.2013 erhobene Klage antragsgemäß verurteilt, 912,41 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Ein Schlichtungsverfahren (§ 17c Abs 4 S 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz) sei nicht erforderlich gewesen. Zwar stufe Abschnitt 1 des AOP-Vertrags 2009 gemäß § 115b SGB V(ambulant durchführbare Operationen … aus Anhang 2 zu Kapitel 31 des EBM) die Prozedur 5-690.0 in die Kategorie 1 ein (Leistungen, die in der Regel ambulant erbracht werden können). Ein ggf entstandener Erstattungsanspruch sei aber bereits vor Aufrechnung verjährt gewesen (Urteil vom 4.6.2014).

3

Die Beklagte rügt mit ihrer Sprungrevision die Verletzung des § 17c Abs 4b S 3 KHG und sinngemäß der Grundsätze der Verjährung sozialrechtlicher Ansprüche. Das obligatorische Schlichtungsverfahren habe nicht stattgefunden. Die Voraussetzungen des unverjährten Erstattungsanspruchs seien mangels Angabe eines Grundes der Krankenhausbehandlung der Versicherten in der Abrechnung erfüllt.

4

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4. Juni 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der beklagten KK ist begründet. Das SG-Urteil ist aufzuheben, denn es verletzt materielles Recht. Die Klage auf Zahlung von 912,41 Euro Krankenhausvergütung nebst Zinsen ist zwar zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (dazu 2.).

8

1. Zu Unrecht beruft sich die Beklagte darauf, die Klage sei mangels vorangegangenen Schlichtungsverfahrens unzulässig. Das Zulässigkeitserfordernis eines vorangegangenen fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs (§ 17c Abs 4b S 3 KHG)greift nicht ein. Danach ist bei Klagen, mit denen nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V eine streitig gebliebene Vergütung gefordert wird, vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach § 17c Abs 4 KHG durchzuführen, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt.

9

a) Maßgeblich ist für die Zulässigkeit der Klage die ab 25.7.2014 geltende Fassung des § 17c KHG(idF durch Art 16a Nr 1 GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz vom 21.7.2014, BGBl I 1133), nicht die zuvor geltende Fassung (Art 5c des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013, BGBl I 2423 mWv 1.8.2013, vgl Art 6 des Gesetzes). Eine spätere Gesetzesänderung kann wegen des aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG abgeleiteten Rückwirkungsverbots nur eine unzulässige Klage zulässig, nicht aber eine zulässige Klage nachträglich unzulässig machen (vgl zB BGH Urteil vom 2.3.2012 - V ZR 169/11 - MDR 2012, 579 RdNr 4 mwN; BGH Urteil vom 10.7.2009 - V ZR 69/08 - NJW-RR 2009, 1238, 1239 RdNr 11). Schon nach dem aktuell geltenden Prozessrecht ist die Klage zulässig.

10

b) Nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts, die auch für die Zulässigkeitserfordernisse einer Klage gelten, sind Änderungen der Rechtslage grundsätzlich ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anzuwenden (vgl hierzu BSGE 115, 165 = SozR 4-2500 § 115b Nr 4, RdNr 14; Buchner, SGb 2014, 119, 121 f, mit zutreffendem Hinweis auf BVerfGE 39, 156, 167 und BVerfGE 65, 76, 98; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, Vor § 143 RdNr 10e). Für eine Abweichung von diesem Grundsatz unter weitgehender Einschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift bieten Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zielsetzung der Regelung des § 17c Abs 4b S 3 KHG keine Anhaltspunkte(vgl auch Buchner, SGb 2014, 119, 121). Nach den Gesetzesmaterialien dient die Regelung der Entlastung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Die Gesetzesbegründung bereits zur Ursprungsfassung (Art 5c Beitragsschuldengesetz vom 15.7.2013, BGBl I 2423) führt aus, bei streitig gebliebenen Vergütungsforderungen nach durchgeführter Krankenhausabrechnungsprüfung werde die Vorschaltung des Schlichtungsverfahrens auf Landesebene bei Forderungen unterhalb einer Bagatellgrenze in Höhe von 2000 Euro obligatorisch. Es sei davon auszugehen, dass im Schlichtungsverfahren ein großer Teil solcher Streitigkeiten außergerichtlich beigelegt werden könne (Beschlussempfehlung und Bericht des 14. Ausschusses für Gesundheit vom 12.6.2013, BT-Drucks 17/13947 S 40).

11

c) Zweck des vorgeschalteten obligatorischen Schlichtungsverfahrens ist es lediglich, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entlasten, nicht aber, die Beteiligten im Streit über Krankenhausvergütung nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V zu einer vom Üblichen abweichenden Klageart zu nötigen. Der erkennende Senat gibt die insoweit abweichende Auffassung des nicht mehr für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser zuständigen 3. Senats des BSG auf (vgl hierzu BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 35 ff, auch für BSGE vorgesehen; dem im Ergebnis zustimmend Felix, SGb 2015, 241, 243).

12

Klagen auf Zahlung von Krankenhausvergütung sind stets mit der echten Leistungsklage geltend zu machen (stRspr, vgl zB BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12 mwN), auch wenn zuvor ein fakultatives (bei Streitigkeiten mit einem Wert von mehr als 2000 Euro) oder obligatorisches Schlichtungsverfahren (bei Streitigkeiten mit einem Wert von bis zu 2000 Euro) stattgefunden hat. Nach § 17c Abs 4 KHG können die Ergebnisse der Prüfungen nach § 275 Abs 1c SGB V durch Anrufung eines für die Landesverbände der KKn und die Ersatzkassen gemeinsamen und einheitlichen Schlichtungsausschusses überprüft werden. Aufgabe des Schlichtungsausschusses ist die "Schlichtung zwischen den Vertragsparteien" (§ 17c Abs 4 S 2 KHG). Der Schlichtungsausschuss prüft und entscheidet auf der Grundlage fallbezogener, nicht versichertenbezogener Daten (§ 17c Abs 4 S 7 KHG). Das Gesetz umreißt ausdrücklich den Klagegegenstand: Es geht um Klagen, mit denen nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V "eine streitig gebliebene Vergütung gefordert" wird(§ 17c Abs 4b S 3 KHG). Für diese gilt, dass vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach Absatz 4 durchzuführen ist, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt (vgl ebenda).

13

Dem entspricht auch das Regelungssystem. Der Gesetzgeber ist in der konkreten Ausgestaltung außergerichtlicher Schlichtungsverfahren frei, soweit er die Grenzen seiner Gestaltungsmacht insbesondere durch das GG beachtet. Er ist nicht etwa auf ein dogmatisch vorgeformtes Regelungsmodell verpflichtet. Von dieser Gestaltungsmacht hat der Gesetzgeber im Rahmen des § 17c KHG in unterschiedlicher Form Gebrauch gemacht. Er unterscheidet selbst zwischen Klagen gegen (1.) Entscheidungen der Schiedsstellen nach § 17c Abs 2 S 3 KHG, § 17c Abs 3 S 7 KHG und § 17c Abs 4a S 5 KHG(dazu aa), (2.) Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene nach § 17c Abs 3 KHG(dazu bb) und (3.) Entscheidungen der Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG(vgl § 17c Abs 4b S 1 KHG; dazu cc). Die Differenzierung rechtfertigt sich aus den unterschiedlichen Regelungsaufgaben:

14

aa) Die erste Fallgruppe der Schiedsstellen betrifft drei Konstellationen von Klagen gegen hoheitliche Entscheidungen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (dazu (a) bis (c)), die gegenüber den Klagebefugten angreifbare Verwaltungsakte sind (vgl ähnlich zur Klage gegen einen Schiedsspruch nach § 114 SGB V BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 13 mwN).

15

(a) So hat die Schiedsstelle nach § 17c Abs 2 S 3 KHG das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs 1c SGB V zu regeln, wenn keine Vereinbarung nach § 17c Abs 2 S 1 KHG zustande kommt. Die Entscheidung ergeht als Festsetzung, die für die KKn, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich ist (§ 17c Abs 2 S 4 KHG). Die Festsetzung wirkt zugleich als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen, um diesen operationabel zu machen. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

16

(b) Die Schiedsstelle nach § 17c Abs 3 S 7 KHG trifft auf Antrag einer Vertragspartei die ausstehenden Entscheidungen, wenn die für die Einrichtung des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene erforderlichen Entscheidungen der hierzu berufenen Vertragsparteien (Spitzenverband Bund der KKn und Deutsche Krankenhausgesellschaft) nicht bis zum 31.12.2013 ganz oder teilweise zustande kommen. Die Entscheidungen der Schiedsstelle nach § 17c Abs 3 S 7 KHG ergehen ebenfalls als Verwaltungsakt. Sie sichern zusammen mit dem Notberufungsrecht der unparteiischen Mitglieder (§ 17c Abs 3 S 8 KHG) die funktionsfähige Einrichtung des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

17

(c) Die Schiedsstelle nach § 17c Abs 4a S 5 KHG trifft die ausstehenden Entscheidungen ebenfalls als Verwaltungsakt, wenn eine Vereinbarung von Spitzenverband Bund der KKn und DKG über die näheren Einzelheiten für die Durchführung und Auswertung der modellhaften Erprobung, insbesondere die Kriterien für die Überprüfung auf Auffälligkeiten und die Auswahl einer hinreichenden Anzahl teilnehmender Krankenhäuser ganz oder teilweise nicht fristgerecht zustande kommt. Die Entscheidung wirkt zugleich als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

18

bb) Die zweite Fallgruppe betrifft Klagen gegen Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene. Aufgabe dieses Schlichtungsausschusses ist die verbindliche Klärung von Kodier- und Abrechnungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung (vgl § 17c Abs 3 S 2 KHG). Dies ist notwendiges Teilelement der Ausgestaltung der Normenverträge zur Krankenhausvergütung als lernendes System. Die Entscheidungen des Schlichtungsausschusses sind zu veröffentlichen und für die KKn, den MDK und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich (vgl § 17c Abs 3 S 2 KHG). Die Entscheidungen wirken als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen. Sie eröffnen zugleich als Verwaltungsakte den Trägerorganisationen des Schlichtungsausschusses die Möglichkeit, gegen die Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene das Gericht anzurufen.

19

cc) Die dritte Fallgruppe der Klagen gegen Entscheidungen der Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG betrifft demgegenüber kein Zwangsinstrument, um den Abschluss oder die Konkretisierung normenvertraglicher Regelungen sicherzustellen. Die hier geregelten "Entscheidungen" unterwerfen nicht die Beteiligten eines Vergütungsstreits inhaltlichen Bindungen. Die Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG sollen lediglich zwischen den Vertragsparteien schlichten(vgl § 17c Abs 4 S 2 KHG). Das bedeutet, dass sie eine konsensuale Streitbeilegung erreichen sollen. Handlungsform ist der öffentlich-rechtliche Vertrag. Kommt es nicht zu einer unstreitigen Erledigung, sondern schlägt die Schlichtung - notwendigerweise gerichtsverwertbar dokumentiert (vgl zur Erfolglosigkeitsbescheinigung gemäß § 13 Abs 1 S 2 Gütestellen- und Schlichtungsgesetz NRW BVerfG Beschluss vom 14.2.2007 - 1 BvR 1351/01 - BVerfGK 10, 275, 282 = Juris RdNr 41; Buchner, SGb 2014, 119, 124) - fehl, steht einer Klage, mit der eine "streitig gebliebene Vergütung" gefordert wird, nichts mehr im Wege. Dass hierfür - bei der Leistungsklage im Gleichordnungsverhältnis - ein Vorverfahren nicht stattfindet und die Klage keine aufschiebende Wirkung hat (§ 17c Abs 4b S 2 KHG), entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 30 RdNr 11 mwN), hätte also im Gesetz keiner besonderen Erwähnung bedurft, ohne dass dies andererseits schadet.

20

Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Aufgabe des Schlichtungsausschusses bis zu seiner Bildung übergangsweise von der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG wahrzunehmen ist, wenn bis zum 31.8.2014 kein Schlichtungsausschuss anrufbar ist, und dass die Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG für diese Zeit einen vorläufigen Schlichtungsausschuss einrichten kann(§ 17c Abs 4 S 10 und S 11 KHG idF durch Art 16a Nr 1 GKV-FQWG mWv 25.7.2014). Die im Gesetz vorgesehene vorübergehende Ersetzung des eigentlich berufenen Schlichtungsausschusses durch eine Schiedsstelle ändert nichts an der Handlungsform der Schlichtung. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass auch der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG die Handlungsform des öffentlich-rechtlichen Vertrages zur Verfügung steht, wenn sie vorübergehend - bis zur Etablierung des eigentlich berufenen Schlichtungsausschusses - zur Schlichtung eines Streits über Krankenhausvergütung nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V tätig wird.

21

d) Der erkennende Senat teilt nicht die Rechtsauffassung des 3. BSG-Senats (vgl BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 32 ff, auch für BSGE vorgesehen), dass zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes eine förmliche Bekanntgabe erfolgen müsse, welches Gremium ab wann tatsächlich in der Lage sei, die Aufgaben des Schlichtungsausschusses zu bewältigen, und dass das Zulässigkeitserfordernis des obligatorischen Schlichtungsversuchs (§ 17c Abs 4b S 3 KHG)erst eingreife, wenn die Schiedsstelle oder der Schlichtungsausschuss den jeweiligen Landeskrankenhausgesellschaften und den Verbänden der KKn förmlich angezeigt hätten, dass sie "funktionsfähig errichtet" seien (Schlichtungsausschüsse) bzw die Aufgaben der Schlichtung tatsächlich übernehmen könnten (Schiedsstellen). Diese Rechtsauffassung findet in Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Regelungszweck keine Stütze. Sie überschreitet die Grenzen verfassungskonformer Auslegung.

22

Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung ergeben sich grundsätzlich aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden (vgl BVerfGE 119, 247, 274). Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung vereinbare Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten (vgl BVerfGE 88, 145, 166; BVerfGE 119, 247, 274). Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet allerdings dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch träte (vgl BVerfGE 95, 64, 93; BVerfGE 99, 341, 358; BVerfGE 101, 312, 329 mwN; stRspr). Anderenfalls könnten die Gerichte der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen oder diese unterlaufen (vgl BVerfGE 8, 71, 78 f; BVerfGE 112, 164, 183 = SozR 4-7410 § 32 Nr 1 RdNr 32; siehe zum Ganzen BVerfG Beschluss vom 16.12.2014 - 1 BvR 2142/11 - DVBl 2015, 429, 432 = DÖV 2015, 430, 434 = Juris RdNr 86 mwN).

23

Die Regelungsintention des Gesetzgebers des Art 16a GKV-FQWG ist nach allen Auslegungsmethoden klar: Die Gesetzesmaterialien weisen in Einklang mit Wortlaut und Regelungssystem darauf hin, dass die Selbstverwaltungspartner bis zur Gesetzesberatung auf Landesebene noch keinen arbeitsfähigen Schlichtungsausschuss eingerichtet hatten. Um eine flächendeckende Einrichtung der Schlichtungsausschüsse zu gewährleisten, sollte durch die vorgesehenen Regelungen eine Konfliktlösung eingeführt werden. Durch den neuen Satz 9 des § 17c Abs 4 KHG wurde vorgegeben, dass im Falle einer nicht erfolgreichen Einigung der Vertragsparteien auf Landesebene auf Einzelheiten zum Verfahren und zur Finanzierung des Schlichtungsausschusses auf Landesebene die Landesschiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG auf Antrag einer Vertragspartei entscheidet. Wenn bis zum 31.8.2014 kein arbeitsfähiger Schlichtungsausschuss auf Landesebene besteht, ist nach der neuen Regelung des § 17c Abs 4 S 10 KHG die Aufgabe des Schlichtungsausschusses bis zur Bildung des Schlichtungsausschusses übergangsweise von der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG wahrzunehmen. Allerdings kann nach der neuen Regelung des § 17c Abs 4 S 11 KHG die Landesschiedsstelle für die übergangsweise Wahrnehmung der Aufgabe des Schlichtungsausschusses einen vorläufigen Schlichtungsausschuss einrichten. Auch der vorläufige Schlichtungsausschuss muss paritätisch mit Vertretern der KKn und Krankenhäuser und einem unparteiischen Vorsitz besetzt sein (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit <14. Ausschuss> zum Entwurf eines GKV-FQWG, BT-Drucks 18/1657 S 71 f zu Art 16a Nr 1 Buchst c).

24

Da sich die Rechtspraxis im Vertrauen auf die Entscheidungsgründe des Urteils des 3. Senats des BSG auf die Notwendigkeit der dort geforderten Anzeige verlassen und das Gesetz mangels Abgabe solcher Anzeigen insoweit nicht angewendet hat (vgl Felix, SGb 2015, 241, 243, 245 f), muss es dem erkennenden Senat möglich sein, unter Achtung des verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutzes das vom 3. BSG-Senat konstruierte Anzeigeerfordernis zu beseitigen. Dementsprechend geht der erkennende Senat davon aus, dass die vom GKV-FQWG geforderte obligatorische Vorschaltung eines fehlgeschlagenen Schlichtungsverfahrens jedenfalls ab 1.9.2015 als Zulässigkeitsvoraussetzung für neu eingehende Klagen auf Krankenhausvergütung unterhalb einer Bagatellgrenze in Höhe von 2000 Euro auch dann wirkt, wenn die Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG keine Anzeige ihrer Arbeitsfähigkeit im Sinne der Entscheidung des 3. Senats des BSG abgegeben haben.

25

e) Diese vom Gesetz gewählte Ausgestaltung des Schlichtungsverfahrens als Zulässigkeitsvoraussetzung der allgemeinen Leistungsklage in der Auslegung durch den erkennenden Senat hält sich im Rahmen der Vorgaben des GG. Sowohl im Gewährleistungsbereich des Art 19 Abs 4 GG als auch des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs, der seine Grundlage in Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip hat (vgl BVerfGE 88, 118, 123; BVerfGE 97, 169, 185; BVerfGE 107, 395, 404, 407 = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1 RdNr 13, 21 ff), verfügt der Gesetzgeber hinsichtlich der Art der Gewährung des durch diesen Anspruch gesicherten Rechtsschutzes über einen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Er erstreckt sich auf die Beurteilung der Vor- und Nachteile für die jeweils betroffenen Belange sowie auf die Abwägung mit Blick auf die Folgen für die verschiedenen rechtlich geschützten Interessen (vgl zB BVerfGE 88, 118, 124 f; BVerfGE 93, 99, 108). Die Grenzen dieses Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums sind nicht überschritten.

26

Das GG gewährleistet, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten eröffnet ist, und garantiert darüber hinaus die Effektivität des Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf der normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. Deren Regelungen können für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken. Der Gesetzgeber ist nicht gehalten, nur kontradiktorische Verfahren vorzusehen. Er kann auch Anreize für eine einverständliche Streitbewältigung schaffen, etwa um die Konfliktlösung zu beschleunigen, den Rechtsfrieden zu fördern oder die staatlichen Gerichte zu entlasten. Ergänzend muss allerdings der Weg zu einer Streitentscheidung durch die staatlichen Gerichte eröffnet bleiben (vgl zum Ganzen BVerfG Beschluss vom 14.2.2007 - 1 BvR 1351/01 - BVerfGK 10, 275, 278 = Juris RdNr 26 mwN). Die geprüften Regelungen des § 17c KHG halten sich in diesem Rahmen.

27

f) Zutreffend macht die Beklagte geltend, dass es für das Zulässigkeitserfordernis des fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs nicht darauf ankommt, ob das Krankenhaus mit der Klage unmittelbar eine "streitig gebliebene Vergütung" nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung iS des § 17c Abs 4b S 3 KHG fordert, oder ob Streitgegenstand - wie vorliegend - der Anspruch auf eine an sich unstreitige Vergütung ist, gegen die die KK mit einem Erstattungsanspruch wegen einer "streitig gebliebenen Vergütung" für eine andere Behandlung aufgerechnet hat. Nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Regelungszweck zielt das Gesetz darauf ab, alle nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V streitig gebliebenen Vergütungsforderungen im Wert von maximal 2000 Euro vor Eröffnung des Rechtsweges einem Schlichtungsverfahren zu unterwerfen.

28

g) Zu Unrecht meint die Beklagte indes, für das Zulässigkeitserfordernis des fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs komme es darauf an, ob eine Abrechnungsprüfung durch den MDK nach § 275 Abs 1c SGB V durchzuführen gewesen sei. Dies ist zu verneinen. Es kommt nicht darauf an, ob eine Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V durchzuführen war, sondern darauf, dass eine solche Prüfung stattgefunden hat. Der erkennende Senat gibt die insoweit ggf abweichende, mit der Beklagten übereinstimmende Auffassung des nicht mehr für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser zuständigen 3. Senats des BSG auf (vgl hierzu BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 16, auch für BSGE vorgesehen).

29

Lediglich bei Klagen, mit denen "nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V" eine streitig gebliebene Vergütung gefordert wird, ist vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach § 17c Abs 4 KHG durchzuführen, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt. Das zeigt schon der dargelegte klare Wortlaut der Regelung des § 17c Abs 4b S 3 KHG. Das Regelungssystem spricht ebenfalls hierfür. Nach § 275 Abs 1c SGB V ist bei Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V eine Prüfung nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V zeitnah durchzuführen (S 1). Die Prüfung nach Satz 1 ist spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der KK einzuleiten und durch den MDK dem Krankenhaus anzuzeigen (S 2). Falls die Prüfung nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrags führt, hat die KK dem Krankenhaus eine Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro zu entrichten (S 3). Der Spitzenverband Bund der KKn und die DKG regeln das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs 1c SGB V; in der Vereinbarung sind abweichende Regelungen zu § 275 Abs 1c S 2 SGB V möglich(§ 17c Abs 2 S 1 KHG). Das Zulässigkeitserfordernis für eine allgemeine Leistungsklage "nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Absatz 1c SGB V" knüpft an diese Gesamtregelung an. Es fordert, dass eine Prüfung von "Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V" unter Anzeige gegenüber dem Krankenhaus stattgefunden hat. Eine bloß interne Einschaltung des MDK durch die KK ohne Einbeziehung des Krankenhauses genügt hierfür nicht (aA Buchner, SGb 2014, 119). Die Auslegung widerspricht weder der Entstehungsgeschichte noch dem aufgezeigten Regelungszweck.

30

Hat tatsächlich eine Prüfung stattgefunden, die nicht von § 275 Abs 1c SGB V erfasst ist, oder ist es überhaupt nicht zu einer MDK-Prüfung gekommen, greift das Zulässigkeitserfordernis nicht ein. So liegt es etwa, wenn ein vorangegangenes Gutachten des MDK nicht auf einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V beruht, weil nicht die Prüfung der Abrechnung von Krankenhausbehandlungen nach § 39 SGB V betroffen ist, sondern zB Krankenhausaufenthalte bei Schwangerschaft und Mutterschaft(so der Fall in BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 17, auch für BSGE vorgesehen). Vorliegend fehlt es gänzlich an einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V unter Einschaltung des MDK. Die Beklagte hat nicht selbst oder durch den MDK die Klägerin von einer Prüfung nach § 275 Abs 1c SGB V informiert. Sie hat auch nicht den MDK für eine solche Prüfung eingeschaltet. Beide Sachverhalte schließen schon jeweils für sich das Eingreifen der Zulässigkeitsvoraussetzung des erfolglosen Schlichtungsverfahrens aus.

31

2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung weiterer Vergütung von 912,41 Euro nebst Zinsen. Der ursprünglich entstandene Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Vergütung von Krankenhausbehandlungsleistungen für andere Versicherte (dazu a) erlosch dadurch in dieser Höhe, dass die Beklagte wirksam mit ihrem Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten aufrechnete (dazu b). Einwendungen und Einreden gegen den Erstattungsanspruch greifen nicht durch (dazu c).

32

a) Zu Recht ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass der Klägerin aufgrund stationärer Behandlungen anderer Versicherter der Beklagten zunächst ein Anspruch auf die abgerechnete Vergütung in Höhe von weiteren 912,41 Euro zustand; eine nähere Prüfung des erkennenden Senats erübrigt sich insoweit (vgl zur Zulässigkeit dieses Vorgehens zB BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 7 RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 130 Nr 2 RdNr 15; BSG SozR 4-5562 § 9 Nr 4 RdNr 8).

33

b) Der anderweitige Vergütungsanspruch für Krankenhausbehandlung erlosch dadurch, dass die Beklagte wirksam mit ihrem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten analog § 387 BGB die Aufrechnung erklärte(zur entsprechenden Anwendung auf überzahlte Krankenhausvergütung vgl zB BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 9 ff mwN, stRspr). Der Vergütungsanspruch der Klägerin und der von der Beklagten aufgerechnete öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch waren gegenseitig und gleichartig (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 16), der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch war fällig und der Vergütungsanspruch der Klägerin erfüllbar. Die Voraussetzungen des Gegenanspruchs aus öffentlich-rechtlicher Erstattung in Höhe von 912,41 Euro waren erfüllt. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch setzt ua voraus, dass der Berechtigte im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht hat (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 15, stRspr). So liegt es hier. Die Beklagte zahlte der Klägerin 912,41 Euro ohne Rechtsgrund. Die Klägerin hatte keinen Vergütungsanspruch für die Behandlung der Versicherten vom 5. bis 6.4.2009.

34

Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung und damit korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist(stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 9).

35

Die Krankenhausbehandlung der Versicherten war nicht erforderlich. Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit ist ein Krankheitszustand, dessen Behandlung den Einsatz der besonderen Mittel eines Krankenhauses erforderlich macht (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 18 ff; BSGE 92, 300 = SozR 4-2500 § 39 Nr 2, RdNr 16; BSGE 94, 161 = SozR 4-2500 § 39 Nr 4, RdNr 14). Ob einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, richtet sich allein nach den medizinischen Erfordernissen (vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 15; BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 23). Ermöglicht es der Gesundheitszustand des Patienten, das Behandlungsziel durch andere Maßnahmen, insbesondere durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege, zu erreichen, so besteht kein Anspruch auf stationäre Behandlung und damit auch kein Vergütungsanspruch des Krankenhauses.

36

Das Krankenhaus muss in Fällen, in denen regelhaft ambulante Behandlung ausreichend ist, Angaben zu Begleiterkrankungen oder zu sonstigen Gründen machen, die Anlass für die stationäre Versorgung der Versicherten gaben (vgl BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 34), um die Anspruchsvoraussetzung der "Erforderlichkeit" der Krankenhausbehandlung zu belegen. Ohne solche Angaben darüber, warum ausnahmsweise eine stationäre Behandlung erforderlich ist, fehlen Informationen über den "Grund der Aufnahme" und damit eine der zentralen Angaben, die eine KK für die ordnungsgemäße Abrechnungsprüfung benötigt (vgl § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V und hierzu BSG Urteil vom 14.10.2014 - B 1 KR 27/13 R - Juris RdNr 21, für BSGE und SozR 4-2500 § 109 Nr 40 vorgesehen). Verweigert das Krankenhaus diese Angaben trotz eines Hinweises auf ihre Erforderlichkeit, darf das Gericht davon ausgehen, dass die Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt ist.

37

Versäumen es Beteiligte, insbesondere tatsächliche Umstände aus ihrer eigenen Sphäre anzugeben, kann für das Gericht der Anlass entfallen, diesen Fragen weiter nachzugehen, weil sich die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen dann nicht aufdrängt (vgl BFHE 113, 540, 545). Weigert sich ein Beteiligter, der aus einem bestimmten Sachverhalt ihm günstige Rechtsfolgen herleitet, trotz Aufforderung, dem Gericht nähere Angaben zu machen, obwohl er es könnte und ihm dies nicht unzumutbar ist, verletzt das Gericht seine Amtsermittlungspflicht nicht, wenn es keine weiteren Ermittlungen mehr anstellt (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 25 mwN; BVerwG NJW 1977, 163). Je nach den Einzelumständen muss das Gericht in einem solchen Fall nur dann versuchen, erforderliche Ermittlungen selbst anzustellen, wenn sie nicht unverhältnismäßig sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 5 RdNr 15). In Fällen der mangelnden Mitwirkung ist der Beteiligte allerdings über die Folgen der Nichtbeachtung einer gerichtlichen Aufforderung zur Mitwirkung zu belehren, soweit ihm dies nicht bereits konkret geläufig ist (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 25 mwN).

38

Ist einem Krankenhaus aufgrund Hinweises auf die gesetzliche Grundlage und die einschlägige BSG-Rechtsprechung konkret geläufig, dass sein Prozesserfolg von seiner Bereitschaft zur Mitwirkung im dargelegten Sinne abhängen kann, hält es aber die Mitwirkung aus Rechtsgründen dennoch für nicht geboten und verweigert es sie, bedarf es in der Revisionsinstanz schon nach allgemeinen Grundsätzen keiner Zurückverweisung zwecks ergänzender Ermittlungen (vgl entsprechend Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2014, § 170 SGG Anm 11e aa). Das gilt erst recht ebenso für die Sprungrevision, die nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden kann (vgl § 161 Abs 4 SGG). Zwar bleiben Verstöße gegen das Prozessrecht, die sich nur als prozessuale Konsequenz aus der fehlerhaften Anwendung des materiellen Rechts ergeben, auch mit der Sprungrevision rügbar (vgl BSG SozR 4-4200 § 21 Nr 15 RdNr 11 mwN; BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 15 mwN). Dies setzt aber ebenfalls das Angebot der gebotenen Mitwirkung - hier: der Klägerin - voraus, an dem es vorliegend gerade fehlt. Es war der professionell in Abrechnungsfragen der Krankenhausvergütung kundigen Klägerin jedenfalls aufgrund der Hinweise der Beklagten auf die einschlägige BSG-Rechtsprechung unter Einbeziehung der Regelung des § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V konkret geläufig, dass es der von der Beklagten geforderten Angabe über den "Grund der Aufnahme" der Versicherten bedurfte, um von der Erforderlichkeit von Krankenhausbehandlung bei der Versicherten ausgehen zu können. Lassen weder die übermittelte Hauptdiagnose noch die OPS-Nummer den naheliegenden Schluss zu, dass die Behandlung stationär erfolgen musste, hat das Krankenhaus von sich aus auch zur Begründung der Fälligkeit der Forderung gegenüber der KK die erforderlichen ergänzenden Angaben zu machen (vgl BSGE 114, 209 = SozR 4-2500 § 115a Nr 2, RdNr 26-27; BSG SozR 4-2500 § 301 Nr 1 RdNr 31; BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 32). So verhält es sich hier.

39

Abschnitt 1 des AOP-Vertrags 2009 gemäß § 115b SGB V(ambulant durchführbare Operationen … aus Anhang 2 zu Kapitel 31 des EBM) stuft die Prozedur 5-690.0 in die Kategorie 1 ein. Diese umfasst Leistungen, die in der Regel ambulant erbracht werden können. Die Klägerin legte weder in der Abrechnung noch anderweitig dar, dass ausnahmsweise dennoch ein Grund bestand, die Versicherte stationär zu behandeln. Insoweit war die Klägerin gehalten, um den Eindruck einer sachlich-rechnerischen Unrichtigkeit zu vermeiden, der Beklagten einen die stationäre Behandlung rechtfertigenden "Grund der Aufnahme" mitzuteilen. Daran fehlt es.

40

c) Einwendungen und Einreden gegen den Erstattungsanspruch greifen nicht durch. Die Beklagte leistete weder in Kenntnis ihrer Nichtschuld (dazu aa) noch erfüllte sie eine lediglich betagte Verbindlichkeit (dazu bb). Ihre Forderung war weder verjährt (dazu cc) noch verwirkt (dazu dd).

41

aa) Die Erstattung ohne Rechtsgrund gezahlter Krankenhausvergütung ist nicht in entsprechender Anwendung des § 814 BGB ausgeschlossen. Danach kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete ua nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war. Zahlt eine KK vorbehaltlos auf eine Krankenhausrechnung, kann sie deshalb mit der Rückforderung - und damit auch mit dem späteren Bestreiten ihrer Zahlungspflicht - ganz ausgeschlossen sein, wenn sie (positiv) gewusst hat, dass sie zur Leistung nicht verpflichtet war (vgl BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 30; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 47; zustimmend Wahl in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 109 RdNr 170). Daran fehlte es indes. Es liegt nach den Feststellungen des SG nichts dafür vor, dass die Beklagte die Krankenhausvergütung in positiver Rechtskenntnis ihrer Nichtschuld zahlte.

42

bb) Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin auch auf den Rechtsgedanken der Regelung des § 813 Abs 2 BGB(idF der Bekanntmachung vom 2.1.2002, BGBl I 42). Nach § 813 BGB kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete auch dann zurückgefordert werden, wenn dem Anspruch eine Einrede entgegenstand, durch welche die Geltendmachung des Anspruchs dauernd ausgeschlossen wurde. Die Vorschrift des § 214 Abs 2 BGB bleibt unberührt(Abs 1). Wird eine betagte Verbindlichkeit vorzeitig erfüllt, so ist die Rückforderung ausgeschlossen; die Erstattung von Zwischenzinsen kann nicht verlangt werden (Abs 2).

43

Es bedarf insoweit keiner Vertiefung, inwieweit diese Regelung auf den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch für ohne Rechtsgrund geleistete Krankenhausvergütung für die Behandlung Versicherter überhaupt anwendbar ist, oder ob dem spezifische Wertungen des SGB V entgegenstehen. Der Rechtsgedanke der Bestimmung des § 813 Abs 2 BGB greift schon nach allgemeinen Grundsätzen vorliegend nicht ein. Die Regelung soll nämlich bloß bei Bezahlung einer bereits bestehenden, aber noch nicht fälligen Schuld ein sinnloses Hin- und Herbewegen der an sich geschuldeten Leistung vermeiden. Demgegenüber verbleibt einem Schuldner, der trotz fehlender Fälligkeit bereits geleistet hat, unverändert ein Bereicherungsanspruch, wenn die vermeintlich erfüllte Verbindlichkeit - unabhängig von ihrer mangelnden Fälligkeit - materiell-rechtlich nicht bestand (vgl BGH Urteil vom 6.6.2012 - VIII ZR 198/11 - NJW 2012, 2659 RdNr 25 mwN). So lag es hier, wie oben dargelegt.

44

cc) Die Klägerin kann dem Anspruch der Beklagten auch nicht die Verjährung der Erstattungsforderung entgegenhalten. Der Anspruch einer KK gegen einen Krankenhausträger auf Erstattung einer zu Unrecht gezahlten Vergütung unterliegt einer vierjährigen Verjährung (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; zum - nach einhelliger Rspr aller betroffener Senate des BSG - zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsprinzip der Verjährung im Leistungserbringungsrecht vgl ausführlich Urteil des erkennenden Senats vom 21.4.2015 - B 1 KR 11/15 R - für SozR vorgesehen; entsprechend generell für das öffentliche Recht BVerwGE 132, 324 RdNr 12). Die Überlegungen des SG geben zu einer abweichenden Sicht keinen Anlass. Die Verjährung der streitigen Erstattungsforderung begann nach Ablauf des Jahres 2009. Sie beginnt nämlich entsprechend § 45 Abs 1 SGB I nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch im gleichgeordneten Leistungserbringungsverhältnis entsteht bereits im Augenblick der Überzahlung (vgl zB BSGE 69, 158, 163 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12 mwN; Guckelberger, Die Verjährung im Öffentlichen Recht, 2004, S 374 f), hier also mit der vollständigen Begleichung der Schlussrechnung am 4.5.2009. Die Klägerin hat am 18.12.2013 vor Eintritt der Verjährung Klage erhoben (§ 90 SGG)und hierdurch den Eintritt der Verjährung der Forderung gehemmt (§ 45 Abs 2 SGB I analog iVm § 204 Abs 1 Nr 1 BGB).

45

dd) Der Anspruch ist ferner nicht verwirkt. Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Es findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - Juris RdNr 18), etwa wenn eine Nachforderung eines Krankenhauses nach vorbehaltlos erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der KK erfolgt (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27). Ein solcher Fall liegt indes nicht vor.

46

Die Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl zB BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - Juris RdNr 19 mwN; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke , Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147 ff, 167 f).

47

An solchen die Verwirkung auslösenden Umständen fehlt es. Weder nach den Feststellungen des SG noch nach dem Vorbringen der Beteiligten gab es eine Vereinbarung zwischen den Beteiligten, die die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs ausschloss. Die Klägerin konnte auch nicht darauf vertrauen, dass die Beklagte innerhalb der Grenzen der Verjährung rechtsgrundlos geleistete Krankenhausvergütung nicht zurückfordern würde, etwa wenn ihr auffiel, dass die Klägerin Vergütung gefordert hatte, ohne die nach § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V erforderlichen Angaben zu machen.

48

Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar. Der Umstand, dass die Beklagte bis kurz vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist mit der Geltendmachung ihrer Forderung gewartet hat, genügt als Vertrauenstatbestand nicht. Hierdurch unterscheidet sich die Verwirkung von der Verjährung. Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (stRspr, vgl nur BSG Urteil vom 21.4.2015 - B 1 KR 7/15 R - Juris RdNr 19 mwN, für SozR vorgesehen). Dafür gibt der vorliegende Sachverhalt jedoch keine Anhaltspunkte. Soweit die Rechtsprechung des 3. Senats des BSG in obiter dicta eine abweichende Auffassung angedeutet hat (vgl BSG SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 26 ff; BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 11 RdNr 21), hat der erkennende 1. Senat des BSG diese Rechtsprechung aus Gründen der Klarstellung aufgegeben (vgl BSG Urteil vom 21.4.2015 - B 1 KR 7/15 R - Juris RdNr 20, für SozR vorgesehen). Der 3. Senat des BSG ist für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser nicht mehr zuständig.

49

3. Die Kostentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.


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Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert wird auf 4.996,16 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die ordnungsgemäße Kodierung eines stationären Behandlungsfalls.

2

Die Klägerin ist eine Hochschulklinik. In der Zeit vom 15.12.2005 bis zum 23.12.2005 wurde die bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten seinerzeit gesetzlich krankenversicherte Frau … nach Verlegung aus dem Krankenhaus … in der Herzchirurgie der Klägerin stationär behandelt.

3

Die Klägerin stellte der Beklagten mit Schreiben vom 30.12.2005 die Behandlung mit einem Gesamtbetrag von 10.326,19 € in Rechnung. Diese Rechnung wurde von der Beklagten am 19.01.2006 zunächst vollständig bezahlt.

4

Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Überprüfung der Abrechnung. Der MDK stellte in seinem Gutachten vom 28.06.2006 darauf ab, dass in der Hauptdiagnose anstelle einer "sonstigen nicht näher bezeichneten sekundären pulmonalen Hypertonie" hier eine "Lungenembolie ohne Angabe eines akuten Cor pulmonale" sowie in der Nebendiagnose an Stelle einer "Lungenembolie ohne Angabe eines akuten Cor pulmonale" hier "sonstige nicht näher bezeichnete Hypertonie" gegeben sei und kam demzufolge zu einem anderen Groupingergebnis zu Lasten der Klägerin.

5

Mit Schreiben vom 10.08.2006 erklärte die Beklagte gegenüber der Klägerin, dass die Behandlung der Patientin … nach DRG E05B anstatt F31Z zu kodieren sei, weshalb ein Betrag in Höhe von 4.996,16 Euro an die Beklagte zurückzuzahlen sei.

6

Mit Schreiben vom 10.08.2006 widersprach die Klägerin dem MDK-Gutachten.

7

Am 27.02.2007 erstellte der MDK ein weiteres Gutachten und blieb bei der Änderung auf die DRG E05B.

8

Dem Zweitgutachten widersprach die Klägerin ebenfalls mit Schreiben vom 21.05.2007.

9

Die Beklagte forderte die Klägerin zur Rückzahlung des Betrags von 4.996,16 € auf.

10

Vom 09.05.2007 bis zum 10.05.2007 behandelte die Klägerin den bei der Beklagten versicherten … und stellte für die Behandlung mit Schreiben vom 16.05.2007 einen Betrag von 6.565,95 EURO in Rechnung. Diese Abrechnung wurde von der Beklagten nicht in Frage gestellt.

11

Mit Schreiben vom 21.05.2007 erklärte die Teil-Aufrechnung der Rückforderung mit dem Vergütungsanspruch der Klägerin für den stationären Aufenthalt des Patienten … in der Zeit vom 09.05.2007 bis zum 10.05.2007.

12

Zum 01.07.2009 fusionierte die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit anderen Krankenkassen zur jetzigen Beklagten.

13

Mit Schreiben vom 17.01.2011 führte die Klägerin gegenüber der Beklagten aus, dass die Hauptdiagnose die drohende pulmonale Hypertonie gewesen sei, sodass im Schwerpunkt wegen des drohenden Rechtsherzversagens behandelt worden sei. Die Klägerin bat um Neubewertung.

14

Der MDK nahm erneut am 28.01.2011 Stellung.

15

Mit Schreiben vom 14.09.2011 erklärte die Klägerin gegenüber der Beklagten, dass sie dem Gutachten vom 28.01.2011 weiterhin widerspreche.

16

Die Klägerin hat am 20.12.2011 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, dass die Beklagte verpflichtet sei, für die Behandlung des Patienten … den Restbetrag der Behandlungskosten in Höhe von 4.996,16 Euro zuzüglich Zinsen hieraus seit dem 21.05.2007 zu zahlen. Mit Inanspruchnahme der stationären Behandlung sei der Vergütungsanspruch der Klägerin gegenüber de Beklagten entstanden. Die Klägerin habe die Rechnung für die Behandlung des Patienten … am 16.05.2007 übermittelt, so dass die sich hieraus ergebende Forderung nach Ablauf von 14 Tagen am 31.05.2007 fällig gewesen sei. Indem die Beklagte die Forderung die Forderung für die Behandlung der Patientin … 2005 erst vollständig und 2007 die Forderung für die Behandlung des Patienten nur zu einem Teilbetrag von 1.569,79 € bezahlt habe, sei weiterhin ein Betrag von 4.996,16 € zu Gunsten der Klägerin offen. Entgegen der Behauptung der Beklagten sei der Restbetrag auch nicht durch Aufrechnung erfüllt worden. Zu Unrecht nehme die Beklagte eine Aufrechnungslage an, weil der Klägerin für die Behandlung der Patientin … der volle Betrag in Höhe von 10.326,19 € zustehe. Zu Recht stelle die Klägerin der Beklagten die Behandlung D05-F 31Z 7010F31Z für "andere Eingriffe mit Herz-Lungenmaschine" unter Berücksichtigung des Verlegungsabschlags mit einem Gesamtbetrag in Höhe von 10.326,19 € in Rechnung. Entgegen der Behauptung der Beklagten und entgegen der Einschätzung der MDK-Gutachter werde der Schweregrad der Behandlung und damit die Hauptdiagnose nicht über die DRG E05B ausreichend wiedergegeben.

17

Die Klägerin beantragt:

18

Die Beklagte wird verurteilt Euro 4.996,16 zuzüglich zwei vom Hundert über dem jeweiligen Basiszinssatz an Zinsen seit dem 31.05.2007 an die Klägerin zu zahlen.

19

Die Beklagte beantragt,

20

die Klage abzuweisen.

21

Zur Begründung führt sie aus, dass der von der Klägerin verfolgte Zahlungsanspruch nicht bestehe. Die Lungenembolie sei als Hauptdiagnose zu wählen, weil sie zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme bekannt gewesen und die Aufnahme gezielt zur Entfernung des Embolus erfolgt sei. Der Anspruch sei auf Grund der Untätigkeit der Klägerin über vier Jahre auch verwirkt.

22

Auf Frage des Gerichts hat die Beklagte - von der Klägerin unwidersprochen - mitgeteilt, dass in der Zeitspanne vom 31.05.2007 bis zum 20.12.2011 keine Verhandlungen zwischen den Beteiligten über den streitgegenständlichen Fall stattgefunden haben.

23

Mit Schriftsatz vom 16.05.2014 erhob die Beklagte die Einrede der Verjährung.

24

Zur weiteren Darstellung des Tatbestands, insbesondere zum umfangreichen Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Prozessakte verwiesen. Er war Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

I.

25

Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben.

26

Die Klage ist als Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft, da ein Streit im Gleichordnungsverhältnis vorliegt. Ein Vorverfahren war deshalb nicht durchzuführen, die Einhaltung einer Klagefrist nicht geboten.

27

Die Klage ist somit zulässig.

II.

28

Die Klage ist jedoch nicht begründet.

29

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung der verrechneten unstreitigen Vergütung für die Behandlung des Patienten ….

30

1. Die Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Vergütungsanspruch in Höhe von 4.996,16 Euro ergibt sich aus § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und dem durch Schiedsspruch am 01.01.2000 in Kraft getretenen Vertrag nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V zwischen der Krankenhausgesellschaft Rheinland-Pfalz e.V. und den Landesverbänden der Krankenkassen über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung (KBVRP). Die Forderung resultiert aus der Abrechnung des Behandlungsfalls des bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherten Patienten … vom 16.05.2007. Der mit dieser Rechnung geltend gemachte Vergütungsanspruch ist zwischen den Beteiligten dem Grunde und der Höhe nach unstreitig. Nachdem die Forderung durch die Beklagte zunächst in voller Höhe beglichen worden war, hat die Beklagte mit einem behaupteten Erstattungsanspruch aus dem Behandlungsfall … gegen die Forderung vom 16.05.2007 mit Erklärung vom 21.05.2007 aufgerechnet. Seitdem steht die Restforderung von 4.996,16 € wieder offen.

31

2. Ob die Beklagte gegen die Forderung der Klägerin wirksam aufgerechnet hat, kann vorliegend offen bleiben, da der Anspruch gegebenenfalls verjährt ist. Für Vergütungsforderungen von Krankenhäusern gegen Krankenkassen gelten auf Grund der Verweisung in § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V die Verjährungsregeln des BGB.

32

Nach § 69 Abs. 1 S. 2 SGB V werden die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden abschließend im Vierten Kapitel des SGB V, in den §§ 63, 64 SGB V und im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), im KHEntG sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V gelten für diese Rechtsbeziehungen im Übrigen die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem Vierten Kapitel des SGB V vereinbar sind.

33

Regelungen über die Verjährung von Ansprüchen sind weder in den §§ 63, 64 SGB V, noch im Vierten Kapitel des SGB V (§§ 69 bis 140h SGB V) enthalten. Weder das KHG und das KHEntG noch hierzu erlassene Rechtsverordnungen enthalten Regelungen zur Verjährung. Darüber hinaus enthält das gesamte Sozialgesetzbuch (SGB) keine Regelung über die Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen bzw. generell zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern.

34

Da § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V eine ausdrückliche Verweisung auf das BGB enthält, greifen mangels speziellerer Regelung die Verjährungsvorschriften der §§ 194 ff. BGB (so auch SG Berlin, Urteil vom 27.08.2002 - S 81 KR 3690/01; SG Marburg, Urteil vom 27.05.2004 - S 6 KR 902/02; SG Marburg, Urteil vom 27.07.2004 - S 6 KR 3/03 jeweils zum wortgleichen § 69 S. 3 SGB V i.d.F. vom 22.12.1999). Demzufolge ist gemäß § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 195 BGB die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren einschlägig.

35

Die Verjährungsvorschriften des BGB sind sowohl mit § 70 SGB V (Gewährleistung einer bedarfsgerechten, dem allgemein anerkannten Standard der medizinischen Erkenntnisse entsprechender Versorgung und Hinwirkung auf humane Krankenbehandlung) als auch mit den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem Vierten Kapitel des SGB V vereinbar.

36

3. Die Kammer weicht diesbezüglich von der Rechtsprechung des BSG ab, das im Falle von Vergütungsansprüchen von Krankenhäusern gegen Krankenkassen und umgekehrt bei Erstattungsforderungen von Krankenkassen gegen Krankenhäusern von einer vierjährigen Verjährungsfrist ausgeht (BSG, Urteil vom 12.05.2005 - B 3 KR 32/04 R; BSG, Urteil vom 28.02.2007 - B 3 KR 12/06 R; BSG, Urteil vom 17.12.2013 - B 1 KR 60/12 R).

37

Das BSG begründet seine Auffassung damit, dass die Regelung des § 69 (Abs. 1) S. 3 SGB V einengend so zu interpretieren sei, dass entsprechend der Regelung des § 61 S. 2 SGB X über den öffentlich-rechtlichen Vertrag die Vorschriften des BGB nur dann in Analogie ergänzend heranzuziehen seien, wenn sich aus den übrigen Vorschriften des (gesamten) Sozialgesetzbuches (SGB) nichts anderes ergebe (§ 61 S. 1 SGB X). Die Frage der Verjährung sei schon aus dem 4. Kapitel des SGB V selbst und den hierfür geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien zu beantworten. Es bleibe daher auch für die Zeit ab dem 01.01.2000 bei der vierjährigen Verjährungsfrist für die Vergütungsansprüche der Krankenhausbetreiber gegen die Krankenkassen für die Krankenhausbehandlung von Kassenpatienten. Die Heranziehung der kürzeren Verjährungsfristen der BGB-Vorschriften könne deshalb mit den "Rechten und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel" kollidieren (BSG, Urteil vom 12.05.2005 – B 3 KR 32/04 R – Rn. 17).

38

Dieser Auffassung vermag sich die Kammer nicht anzuschließen (so bereits SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 - S 3 KR 645/13). Ohne dies auszuformulieren, hält das BSG der Sache nach an einer analogen Anwendung (u.a.) des § 45 SGB I fest, obwohl spätestens mit Einführung des § 69 S. 3 SGB V a.F. (§ 69 Abs. 1 S. 3 SGB V n.F.), wenn nicht bereits mit Einführung des § 61 S. 2 SGB X, die Voraussetzung hierfür - das Bestehen einer Regelungslücke - weggefallen ist. Damit verstößt das BSG gegen das Gebot der Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG).

39

Es ist bereits zweifelhaft, ob seit Beginn der Kodifikation des SGB eine Regelungslücke hinsichtlich der Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und gesetzlichen Krankenkassen jemals bestand, die der Ausfüllung mittels eines Analogieschlusses bedurft bzw. diese gerechtfertigt hätte (a). Selbst wenn eine solche Regelungslücke bestanden haben sollte, wäre sie mit Einführung des § 61 SGB X (b), spätestens mit Einführung des § 69 S. 3 SGB V i.d.F. des Gesetzes vom 22.12.1999 (BGBl I S. 2626), inzwischen § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V, geschlossen worden (c). Hieran kann auch die rhetorische Aufwertung der analogen Anwendung des § 45 SGB I und anderer Verjährungsvorschriften im SGB zu einem "ungeschriebenen allgemeinen Rechtsprinzip" nichts ändern (d). Über die Grenzfunktion des Wortlauts können Erwägungen zu Sinn und Zweck sowie (vermeintlicher) gesetzgeberischer Motivation nicht hinweghelfen (e). Denn sowohl ein Analogieschluss als auch eine Herleitung einer Rechtsfolge aus "ungeschriebenen allgemeinen Rechtsprinzipien" verstoßen gegen das Gebot der Gesetzesbindung, wenn hierdurch eine anhand des positiven Normtextes legitimierbare Rechtsfolge verdrängt wird (f).

40

a) In der Rechtsprechungstradition des BSG wurde das "allgemeine Rechtsprinzip der vierjährigen Verjährungsfrist" ursprünglich im Wege der Analogie aus § 45 Abs. 1 SGB I, später ergänzt durch Verweise auf § 25 Abs. 1 S. 1 SGB IV und § 113 Abs. 1 SGB X entwickelt.

41

Erstmals hat das BSG kurz nach Inkrafttreten des SGB I den damaligen § 45 Abs. 4 SGB I, der vor Inkrafttreten des SGB X die Verjährung von Ansprüchen zwischen Leistungsträgern bei vorläufiger Leistung nach § 43 SGB I regelte, auf sonstige Erstattungsansprüche zwischen Leistungsträgern analog angewandt (BSG, Urteil vom 28.04.1976 - 2 RU 119/75 - durch § 113 Abs. 1 SGB X überholt). Das BSG knüpfte seinerseits an - divergierende - ältere Rechtsprechung an, die die Frage der Verjährungsfrist bei verschiedenen nicht in der Reichsversicherungsordnung (RVO) und anderen Sozialgesetzen positiv geregelten Anspruchskategorien betraf (BSG, Urteil vom 22.03.1974 – 3 RK 47/72; BSG, Urteil vom 09.09.1971 – 3 RK 5/70; BSG, Urteil vom 18.12.1969 – 2 RU 155/67) und setzte sich von einer anderen Rechtsprechungslinie ab, die bei öffentlich-rechtlichen Erstattungsansprüchen von der (entsprechenden) Anwendbarkeit der (damals) regelmäßigen 30jährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB a.F. ausging (BSG, Urteil vom 28.07.1972 – 8 RV 127/72 m.w.N.). Bereits im Urteil vom 25.02.1966 (3 RK 9/63) hatte das BSG den Grundsatz aufgestellt, dass ein Versicherungsträger in der Frage der Verjährung nicht schlechter gestellt werden dürfe, wenn er von einem anderen Versicherungsträger anstelle des Versicherten in Anspruch genommen werde, und die zweijährige Verjährungsfrist für Leistungen der Krankenversicherung nach § 223 Abs. 1 RVO a.F. "entsprechend" auf den Ersatzanspruch zwischen Krankenkassen bei Unzuständigkeit der vorleistenden Kasse angewandt.

42

Dem Urteil vom 28.04.1976 (2 RU 119/75) und den dort in Bezug genommenen Entscheidungen ist gemein, dass sie keine näheren Ausführungen zu der Frage enthalten, ob überhaupt eine ggf. durch einen Analogieschluss ausfüllungsbedürftige Regelungslücke bestand. Um eine "Lücke" annehmen zu können, bedarf es der Formulierung eines Regelungsziels (hier: die Verjährung eines Anspruchs) und vor allem der Begründung, weshalb dieses Regelungsziel im betreffenden Zusammenhang realisiert werden muss. Zunächst müsste also begründet werden, warum eine Kategorie von Ansprüchen der Verjährung unterliegen muss, obwohl dies nicht in einem Gesetzestext positiviert worden ist. Ohne eine solche Begründung ist davon auszugehen, dass das Gesetz eine abschließende Regelung darstellt und das fragliche Ziel gerade nicht enthält (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 371), konkret: dass der betreffende Anspruch eben nicht der Verjährung unterliegt. Vor dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist eher rechtfertigungsbedürftig, dass ein Anspruch der Verjährung unterliegt, als dass er nicht der Verjährung unterliegt. Jedenfalls besteht in den vom BSG entschiedenen Konstellationen keine Regelungslücke in dem Sinne, dass der jeweilige Fall ohne Analogiebildung nicht entscheidbar gewesen wäre.

43

Darüber hinaus kann die Frage gestellt werden, ob die verjährungsrechtlichen Regelungen des BGB nicht ohnehin unmittelbar zur Anwendung kommen müssen, soweit es keine öffentlich-rechtlichen bzw. sozialrechtlichen Spezialregelungen gibt. Weder das BGB selbst noch dessen Einführungsgesetz (EGBGB) enthält eine Begrenzung des Anwendungsbereichs auf juristische und natürliche Personen des Privatrechts oder auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen.

44

Aus diesen Gründen kann bezweifelt werden, dass die im Urteil vom 28.04.1976 (2 RU 119/75) erstmals praktizierte analoge Anwendung des § 45 SGB I überhaupt methodisch und - vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 97 Abs. 1 GG) - verfassungsrechtlich zu rechtfertigen war. Hierbei ist allerdings zuzugestehen, dass auf Grund der Sachnähe des im damaligen Urteil streitigen Erstattungsanspruchs zwischen Leistungsträgern sich eine analoge Anwendung des seinerzeit in § 45 Abs. 4 SGB I geregelten Spezialfalls aufdrängte.

45

Eine analoge Anwendung des § 45 SGB I haben in der Folgezeit verschiedene Senate des BSG beispielweise in Bezug auf die Honoraransprüche der Kassen-/Vertrags(zahn)ärzte (BSG, Urteil vom 10.05.1995 - 6 RKa 17/94), den Zahlungsanspruch eines Krankenhauses gegen einen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG, Urteil vom 28.06.1988 - 2 RU 40/87), den Arzneimittelregress einer Kassenärztlichen Vereinigung gegen eine Universität (BSG, Urteil vom 27.01.1987 - 6 RKa 27/86), den Erstattungsanspruch zwischen öffentlich-rechtlichen Körperschaften im Bereich des Kassenarztrechts (BSG, Urteil vom 01.08.1991 - 6 RKa 9/89), den Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber auf Beitragszuschuss nach den §§ 257 SGB V, 61 SGB XI (BSG, Urteil vom 15.06.2000 - B 12 RJ 5/99 R) und in Bezug auf den Erstattungsanspruch der Krankenkasse gegen den Sozialhilfeträger nach § 264 Abs. 7 SGB V (BSG, Urteil vom 12.11.2013 - B 1 KR 56/12 R) bejaht.

46

Das Begründungsdefizit hinsichtlich der Regelungslücke wurde in diesen Entscheidungen nicht behoben. Für die "entsprechende" Anwendung des § 45 SGB I auf hiervon nicht erfasste Ansprüche wird beispielsweise eine "Ähnlichkeit der Sachverhalte in rechtlich-wertender Hinsicht" für ausreichend gehalten und hierfür die ausdrückliche Verweisung auf das BGB in § 61 S. 2 SGB X unter den Vorbehalt gestellt, dass sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, den Erfordernissen des öffentlichen Rechts oder den Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets nichts anderes ergibt (BSG, Urteil vom 27.01.1987 – 6 RKa 27/86 - Rn 15).

47

b) Spätestens seit Einführung des SGB X zum 01.01.1981 (BGBl. I 1980, 1469) kann für Verjährungsfragen in den Fällen, in denen auf dem Sozialgesetzbuch beruhende Rechtsbeziehungen durch öffentlich-rechtliche Verträge ausgestaltet werden, nicht mehr von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke ausgegangen werden.

48

Für öffentlich-rechtliche Verträge ist in § 61 S. 1 SGB X geregelt, dass die übrigen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs gelten, soweit sich aus den §§ 53 bis 60 SGB X nichts anderes ergibt. Nach § 61 S. 2 SGB X gelten ergänzend die Vorschriften des BGB entsprechend. Vergütungsansprüche von Krankenhausträgern gegen Krankenkassen resultieren aus öffentlich-rechtlichen Verträgen (§ 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V; §§ 108, 109 SGB V) oder werden durch öffentlich-rechtliche Verträge maßgeblich gestaltet. § 61 SGB X war (vor Inkrafttreten des § 69 S. 3 SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.1999) somit auf (u.a.) Vergütungsansprüche zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen anzuwenden.

49

Der 3. Senat des BSG hatte bezüglich des Vergütungsanspruch eines Krankenhauses gegen eine gesetzliche Krankenkasse wegen stationärer Behandlung eines Versicherten auch vor Einführung des § 69 S. 3 SGB V und entgegen der Verweisung des § 61 S. 2 SGB X die vierjährige Verjährungsfrist des § 45 SGB I herangezogen (BSG, Urteil vom 17.06.1999 - B 3 KR 6/99 R). Zur Begründung hatte er sich seinerzeit bereits auf das allgemeine "Rechtsprinzip der vierjährigen Verjährung im Sozialrecht" bezogen (BSG, a.a.O. Rn. 12) und die Termini "entsprechende" oder "analoge Anwendung" gänzlich vermieden. Das BSG konstatiert im Urteil vom 17.06.1999 zwar, dass die "Frage der Verjährung einer Krankenhausforderung für die stationäre Behandlung eines Versicherten (...) indessen weder im Zweiten Buch, Vierter Abschnitt, der RVO ("VI: Verhältnis zu Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Hebammen und Einrichtungen für Haushaltshilfe") noch (...) im Vierten Kapitel, Dritter Abschnitt, des SGB V ("Beziehungen zu Krankenhäusern und anderen Einrichtungen") oder anderswo geregelt" sei (BSG, Urteil vom 17.06.1999 - B 3 KR 6/99 R - Rn. 11). Dies führe "aber nicht dazu, wegen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages iS der §§ 53 ff SGB X gemäß § 61 Satz 2 SGB X die Verjährungsvorschriften des BGB ergänzend heranzuziehen". Vielmehr kämen nach § 61 S. 1 SGB X vorrangig die Vorschriften des SGB zur Anwendung. Das BSG räumt diesbezüglich zwar ein, dass weder § 45 SGB I noch eine andere Verjährungsregelung für Vergütungsansprüche zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern einschlägig ist, behilft sich an dieser Stelle aber mit dem Verweis auf das o.g. "allgemeine Rechtsprinzip" (BSG, a.a.O. Rn. 12).

50

Diese Auffassung kann indes bereits deshalb nicht überzeugen, weil die in Bezug genommen Vorschriften des SGB eingestandenermaßen nicht einschlägig sind, also für den entschiedenen Fall gerade nicht gelten. Genau für solche Fälle bedient sich der Gesetzgeber - wie im Falle des § 61 S. 2 SGB X - der Regelungstechnik der Verweisung auf die Kodifikation des BGB, die auf Grund ihrer systematischen Geschlossenheit für die meisten Probleme bei der Durchführung von Vertragsverhältnissen Lösungen bietet.

51

c) Mit Einführung des § 69 S. 3 SGB V i.d.F. des GKV-Gesundheitsreformgesetzes vom 22.12.1999 (BGBl. I 59, 2626), der seitdem 18.12.2008 wortgleich in den § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V übergegangen ist (GKV-OrgWG vom 15.12.2008 - BGBl. I 58, 2426), erfolgte eine Konkretisierung dieser Verweisungstechnik speziell für die Rechtsbeziehungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen, wodurch einer analogen Anwendung des § 45 SGB I oder der Heranziehung „allgemeiner Rechtsprinzipien“ vollends der Boden entzogen wurde.

52

Mangels konkreter Regelungen zur Verjährung von Ansprüchen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen (oder auch abstrakt zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern) im gesamten SGB einschließlich des SGB V und in den ergänzenden Gesetzen (KHG und KHEntG) schreibt § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V die Geltung des Verjährungsrechts des BGB vor. Dass diese Rechtsfolge im Wege semantischer Auslegung ohne weiteres begründbar ist, stellt das BSG nicht in Frage, sondern bezweifelt nur die Eindeutigkeit dieses Befundes (BSG, Urteil vom 12.05.2005 - B 3 KR 32/04 R- Rn. 17f.). Es unternimmt dies allerdings unter Verweis auf ein "ungeschriebenes" Rechtsprinzip. Die "Uneindeutigkeit" ergibt sich also gerade nicht aus dem "Geschriebenen", sondern wird durch Hinzufügung von "Ungeschriebenem" erst erzeugt.

53

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt jedoch die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 310, zum Ganzen Rn. 304 ff., 10. Aufl. 2009; vgl. auch Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.): Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 267; Hochhuth, Methodenlehre zwischen Staatsrecht und Rechtsphilosophie - zugleich eine Verschleierung des Theorie-Praxis-Bruchs?, in: Rechtstheorie 2011, S. 227 ff.). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip.

54

d) Hieran vermag auch die Aufwertung der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 SGB I (und anderer Regelungen) zu einem "allgemeinen Rechtsprinzip" nichts zu ändern. Dieses Prinzip übernimmt in der Rechtsprechung des BSG die rhetorische Funktion, das Gericht von den in Rechtswissenschaft und Rechtsprechungspraxis anerkannten methodischen Grundsätzen für eine Analogiebildung, insbesondere vom Nachweis einer Regelungslücke, zu entlasten. In den Urteilen des BSG zur Verjährung des Vergütungsanspruchs nach Einführung der Verweisung auf das BGB in § 69 SGB V (BSG, Urteil vom 12.05.2005 - B 3 KR 32/04 R; BSG, Urteil vom 28.02.2007 - B 3 KR 12/06 R) kann eine Regelungslücke, die stets (und nach jeder gängigen Rechtstheorie, vgl. nur Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Aufl. 2011, 878 ff., Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 371) Voraussetzung für einen Analogieschluss ist, ernsthaft nicht festgestellt werden.

55

In den genannten Urteilen wird darauf verzichtet, das Vorliegen einer Regelungslücke herauszuarbeiten und Überlegungen darüber anzustellen, mit Hilfe welcher sachnahen gesetzlichen Regelung im Wege einer Analogiebildung die Lücke geschlossen werden könnte. Andernfalls müsste bereits im ersten Schritt festgestellt werden, dass es an einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke fehlt. Denn unter Berücksichtigung des Verweises in § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V auf das BGB kann die Frage, ob der Anspruch verjährt ist, anhand des im Gesetzgebungsvorgang hervorgebrachten Normtextes vollständig und widerspruchsfrei beantwortet werden.

56

Die sowohl vor als auch nach Einführung des § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V durch das BSG herangezogene Berufung auf ein "allgemeines Rechtsprinzip" der vierjährigen Verjährungsfrist und vor allem die Konsequenzen, die das BSG hieraus zieht, vermögen nicht zu überzeugen.

57

Allein die Anzahl der Entscheidungen, die eine vierjährige Verjährungsfrist im Wege der Analogie konstituieren, mag zwar den Eindruck erwecken, dass es sich hierbei um ein "allgemeines Rechtsprinzip" handelt. Die Behauptung eines solchen Prinzips ist dennoch fragwürdig, weil überspielt wird, dass der Gesetzgeber mit der Einführung partikularer Verjährungsregelungen im SGB gerade keine allgemeine Verjährungsfrist für das Sozialgesetzbuch geschaffen hat und trotz der bereits in den 1970er Jahren begründeten Judikatur zum "allgemeinen Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist" (erstmals BSG, Urteil vom 11.08.1976 - 10 RV 165/75 - Rn. 18) offenbar immer wieder konkreter Regelungsbedarf für bestimmte Kategorien von Ansprüchen gesehen wurde. Empirisch lässt sich somit lediglich feststellen, dass sich im Gesetzgebungsprozess bisher weder eine Auffassung durchsetzen konnte, die eine grundsätzlich für alle aus den Sozialgesetzbüchern resultierenden Ansprüche geltende Verjährungsfrist positivieren wollte, noch eine Auffassung, die die Regelung der Verjährung von einzelnen Anspruchskategorien vor dem Hintergrund eines bereits "geltenden" ungeschriebenen Rechtsprinzips der vierjährigen Verjährungsfrist für entbehrlich hielt. So wurden etwa nach 1989 folgende - keineswegs immer vierjährige - Verjährungsfristen geregelt: § 34 Abs. 3 SGB II, § 34a Abs. 2 SGB II, § 303e Abs. 2 S. 4 SGB V, § 118 Abs. 4a SGB VI, § 286d Abs. 3 SGB VI, § 96 Abs. 4a SGB VII, § 113 SGB VII, § 103 Abs. 3 S. 1 SGB XII, § 111 Abs. 1 SGB XII. Die Aussage, dass der Gesetzgeber das allgemeine Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist in den §§ 25 Abs. 1 S. 1 und 27 Abs. 2 S. 1 SGB IV mit deren Einführung zum 01.07.1977 und in § 50 Abs. 4 SGB X (in Kraft getreten am 01.01.1981) "verdeutlicht" habe (BSG, Urteil vom 01.08.1991 - 6 RKa 9/89 - Rn. 20) führt hier nicht weiter, denn es ließe sich auch die gegenteilige Behauptung aufstellen, dass der Gesetzgeber sich bewusst gegen eine für alle Ansprüche nach dem SGB geltende vierjährige Verjährungsfrist entschieden habe.

58

Der Befund, dass die vierjährige Verjährungsfrist einem allgemeinen Prinzip des Sozialrechts entspreche, wird im Übrigen dadurch widerlegt, dass das SGB selbst andere Verjährungsfristen kennt: dreijährige Verjährungsfristen sind in § 34 Abs. 3 SGB II, § 103 Abs. 3 S. 1 SGB XII, § 111 Abs. 1 SGB XII und durch einen Verweis auf die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB in § 113 SGB VII geregelt, dreißigjährige Verjährungsfristen in § 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV und in § 52 Abs. 2 SGB X. § 303e Abs. 2 S. 4 SGB V enthält eine Verordnungsermächtigung zur Regelung (u.a.) der Verjährungsfrist. Auch historisch lässt sich ein allgemeines Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist nicht begründen, was sich beispielsweise an § 223 RVO a.F. zeigt, der bis zum Inkrafttreten des SGB I eine zweijährige Verjährungsfrist für Leistungsansprüche in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehen hatte.

59

Des Weiteren begründet das BSG nicht, auf Grund welcher Rechtfertigung dem Prinzip der vierjährigen Verjährungsfrist eine normative Wirkung zukommen sollte, die über die Bereitstellung eines Regelungskonzepts für den Fall des Bestehens von Regelungslücken hinausgehen und hierbei eine ausdrückliche gesetzliche Verweisung verdrängen soll. Rechts- oder Strukturprinzipien, die aus verschiedenen gesetzlichen Regelungen abgeleitet werden, können zur Auslegung unklarer Bestimmungen oder zur didaktischen Aufarbeitung eines Rechtsgebietes herangezogen werden. Sie sind jedoch keine Supranormen, die positivgesetzliche Regelungen verdrängen könnten (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008 - B 8 AY 5/07 R - Rn. 14). Deshalb ist nicht nachvollziehbar, warum die rechtlich banale Frage, ob bei einer bestimmten Kategorie von Rechtsbeziehungen eine drei- oder vierjährige Verjährungsfrist zu berücksichtigen ist, zum Gegenstand eines ungeschriebenen Rechtsprinzips mit überpositivem Geltungsanspruch hochgestuft werden muss.

60

e) Die weiteren Ausführungen des BSG im Urteil vom 12.05.2005 (B 3 KR 32/04 R - Rn. 18ff.) zu Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck des § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V vermögen an diesem Befund bereits deshalb nichts zu ändern, weil sie wegen der Verpflichtung der Gerichte zur Realisierung von Gesetzesbindung nicht dazu geeignet sind, den klaren und bestimmten Normtext in Frage zu stellen.

61

Im Übrigen sind sie nicht überzeugend. Das BSG begründet seine Auffassung damit, dass durch die Neufassung des § 69 SGB V nur die Ausgrenzung des Zivilrechts aus den Rechtsbeziehungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen bezweckt gewesen sei. Es finde sich nicht der geringste Hinweis in den Gesetzesmaterialien, dass bei Ausdehnung der öffentlich-rechtlichen Bindungen entgegen dieser Tendenz die Vorschriften des BGB noch in einem größeren Maße herangezogen werden sollten, als es schon in § 61 SGB X vorgesehen sei (BSG, a.a.O. Rn. 25).

62

Diese Begründung ist zirkulär, da sie zur Voraussetzung hat, dass die vor Einführung des jetzigen § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V etablierte Rechtsprechung (insbesondere im Urteil vom 17.06.1999 - B 3 KR 6/99 R) entgegen der bereits in § 61 S. 2 SGB X enthaltenen Verweisung auf das BGB zutreffend war. Diese beruhte aber gerade nicht auf einer gesetzgeberischen Entscheidung, sondern auf einer (fehlerhaften) Lückenfüllung per Analogieschluss, sodass mit dem Verweis auch auf die Verjährungsregelungen des BGB keine Änderung hin zum BGB verbunden ist, sondern allenfalls eine Klarstellung.

63

Davon abgesehen ändert eine Verweisung auf das BGB nichts am (nunmehr positiv definierten) öffentlich-rechtlichen Charakter der Rechtsbeziehung. Eine dreijährige Verjährungsfrist ist ebensowenig "naturgemäß" bürgerlich-rechtlich wie eine vierjährige Verjährungsfrist "naturgemäß" öffentlich-rechtlich bzw. sozialrechtlich ist.

64

Auch das Argument, dass die Einbindung der Beziehungen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen in das öffentliche Recht wegen der Behandlung von Kassenpatienten zur Wahrung von Rechtsklarheit und Einheitlichkeit die Anwendung der allgemeinen sozialrechtlichen Verjährungsvorschrift des § 45 Abs. 1 SGB I erfordere (so bereits BSG, Urteil vom 17.06.1999 - B 3 KR 6/99 R - Rn. 13 und ähnlich BSG, Urteil vom 28.11.2013 - B 3 KR 27/12 R: "Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche") vermag nicht zu überzeugen. Zunächst ist nicht ersichtlich, worin der Gewinn an Rechtsklarheit bestehen sollte. Der Verweis auf das BGB lässt sich sowohl dem § 61 S. 2 SGB X als auch dem § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V entnehmen. Die Verjährungsfrist des § 45 SGB I ist hingegen eindeutig nicht einschlägig. Gleiches gilt für die anderen im SGB normierten Verjährungsregelungen. Ein Gewinn an Rechtsklarheit lässt sich am ehesten dadurch erreichen, dass sich die Rechtsprechung möglichst eng am Wortlaut des publizierten Gesetzes orientiert. Eine von Wortlaut und Gesetzessystematik gelöste Rechtsprechung führt hingegen tendenziell zur Rechtsunklarheit, da die Normadressaten zur rechtlichen Bewertung ihres Falles stets profunde Kenntnisse der Rechtsprechung benötigen. Auf die in der BSG-Rechtsprechung zu Grunde gelegten "ungeschriebenen Prinzipien" und Gerechtigkeitspostulate ist zudem kein Verlass, da diese Entscheidungsgrundlagen mangels Gesetzeskraft keinerlei Bindungswirkung unterliegen, stets zur Disposition der Gerichte stehen und dem Gerechtigkeitsempfinden des jeweiligen Spruchkörpers fortwährend aufs Neue angepasst werden können.

65

Auch zur Wahrung der "Einheitlichkeit" ist die Anwendung der Verjährungsfrist des § 45 Abs. 1 SGB I nicht erforderlich. Da das BSG diese These im Zusammenhang mit Vergütungsansprüchen von Leistungserbringern nicht näher begründet, muss wohl davon ausgegangen werden, dass es hiermit an eine Rechtsprechungstradition anknüpft, die ein Gleichlaufen der Verjährungsfrist von Sozialleistungsansprüchen mit diesen korrespondierenden Erstattungsansprüchen als notwendig erachtet (so schon BSG, Urteil vom 25.02.1966 - 3 RK 9/63). Im Falle der Ansprüche zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern im Bereich des SGB V bedarf es einer Harmonisierung mit der Verjährungsfrist des Sozialleistungsanspruchs jedoch nicht. Der Anspruch des Leistungserbringers gegen den Leistungsträger hängt zwar vom Naturalleistungsanspruch des Versicherten ab, der (theoretisch) der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 Abs. 1 SGB I unterliegt. Der Anspruch des Leistungserbringers gegen den Leistungsträger entsteht aber erst mit Inanspruchnahme des Leistungserbringers durch den Versicherten und somit mit Erfüllung des Naturalleistungsanspruchs. Zu berücksichtigen sind also zwei zeitlich aufeinander folgende Verjährungsfristen. Es ist kein Grund dafür erkennbar, warum diese Verjährungsfristen die gleiche Länge haben müssten.

66

Dass die Heranziehung der vierjährigen Verjährungsfrist entgegen der Anwendung des § 195 BGB über § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V damit begründet wird, dass die "Regelung (...) aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten (sei), um jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen" (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 28.11.2013 - B 3 KR 27/12 R - Rn. 43) ist nicht nachvollziehbar, da die Anwendung des BGB zu einer kürzeren Verjährungsfrist führt. Wegen § 196 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 14 BGB a.F. (zweijährige Verjährungsfrist von Ansprüchen der öffentlichen Anstalten und der Inhaber von privaten Anstalten, welche der Heilung dienen und der Ansprüche von Ärzten usw.) galt dies in der Regel auch schon vor den Änderungen des Verjährungsrechts im Rahmen der Schuldrechtsreform. Daher ist es verwunderlich, dass der 1. Senat des BSG noch im Jahr 2013 von einer "kurzen" sozialrechtlichen Verjährung spricht (BSG, Urteil vom 17.12.2013 - B 1 KR 60/12 R - Rn. 13). Abgesehen davon rechtfertigen selbstverständlich auch keine "praktischen und haushaltsrechtlichen" Gründe die Überspielung von Gesetzestext und -systematik.

67

f) Die Vorgehensweise des BSG im Urteil vom 12.05.2005 (B 3 KR 32/04 R, hier insbesondere Rn. 18 ff.) besteht also im Wesentlichen darin, den Wortlaut der Regelung "einengend" auszulegen und dadurch den Regelungsgehalt der Vorschrift zu verkürzen, um dies anschließend mit einer (vorweggenommenen und unausgesprochenen) Analogiebildung zu kompensieren. Im Ergebnis führt dies dazu, dass mit der Anwendung der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 SGB I analog die nach Wortlaut und Gesetzessystematik allein maßgebliche Regelung der Verjährungsfrist des § 195 BGB contra legem verdrängt wird. Soweit das BSG eine am Normtext legitimierbare Rechtsfolge durch eine nicht am Normtext, sondern lediglich auf Grund eines ungeschriebenen Prinzips legitimierte Rechtsfolge ersetzt, überschreitet es die Grenzen zulässiger Konkretisierung und handelt wegen des Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG verfassungswidrig.

68

g) Die Heranziehung der vierjährigen Verjährungsfrist aus § 45 SGB I für die Rechtsverhältnisse zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen im Rahmen des § 69 SGB V ist nach alldem nicht zu rechtfertigen. Die vom Beklagten vorliegend geltend gemachte Vergütungsforderung unterliegt daher der dreijährigen Verjährungsfrist aus § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 195 BGB.

69

4. Die Verjährung ist eingetreten. Der (potenzielle) Vergütungsanspruch der Klägerin ist im Mai 2007 entstanden. Die Verjährungsfrist begann gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB am 31.12.2007 zu laufen und endete gemäß § 195 BGB am 31.12.2010. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 20.12.2011 war die Forderung demnach verjährt. Hemmungstatbestände liegen nicht vor. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung spätestens mit Schriftsatz vom 16.05.2014 erhoben. Sie ist daher gemäß § 214 Abs. 1 BGB berechtigt, die Leistung zu verweigern.

70

Die Klage war demzufolge abzuweisen.

III.

71

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. mit § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Demnach trägt der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens. Da die Beklagte voll obsiegt hat, waren der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

IV.

72

Der Streitwert in der Hauptsache ist nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen des Gerichts zu bestimmen (§ 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend (§ 197 a Abs. 1 SGG i.V. m. § 52 Abs. 3 GKG. Der Streitwert entspricht hier der eingeklagten Hauptforderung.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Ansprüche auf Beiträge verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie fällig geworden sind. Ansprüche auf vorsätzlich vorenthaltene Beiträge verjähren in dreißig Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie fällig geworden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß. Die Verjährung ist für die Dauer einer Prüfung beim Arbeitgeber gehemmt; diese Hemmung der Verjährung bei einer Prüfung gilt auch gegenüber den auf Grund eines Werkvertrages für den Arbeitgeber tätigen Nachunternehmern und deren weiteren Nachunternehmern. Satz 2 gilt nicht, wenn die Prüfung unmittelbar nach ihrem Beginn für die Dauer von mehr als sechs Monaten aus Gründen unterbrochen wird, die die prüfende Stelle zu vertreten hat. Die Hemmung beginnt mit dem Tag des Beginns der Prüfung beim Arbeitgeber oder bei der vom Arbeitgeber mit der Lohn- und Gehaltsabrechnung beauftragten Stelle und endet mit der Bekanntgabe des Beitragsbescheides, spätestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Abschluss der Prüfung. Kommt es aus Gründen, die die prüfende Stelle nicht zu vertreten hat, zu einem späteren Beginn der Prüfung, beginnt die Hemmung mit dem in der Prüfungsankündigung ursprünglich bestimmten Tag. Die Sätze 2 bis 5 gelten für Prüfungen der Beitragszahlung bei sonstigen Versicherten, in Fällen der Nachversicherung und bei versicherungspflichtigen Selbständigen entsprechend. Die Sätze 1 bis 5 gelten auch für Prüfungen nach § 28q Absatz 1 und 1a sowie nach § 251 Absatz 5 und § 252 Absatz 5 des Fünften Buches.

(1) Erstattungsansprüche verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über dessen Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. Rückerstattungsansprüche verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Erstattung zu Unrecht erfolgt ist.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßen Ermessen bestimmt. Er hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags.

(2) Für die Leistungen nach Absatz 1 gilt § 42 Abs. 2 und 3 entsprechend. Ein Erstattungsanspruch gegen den Empfänger steht nur dem zur Leistung verpflichteten Leistungsträger zu.

(3) (weggefallen)

(1) Erstattungsansprüche verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über dessen Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. Rückerstattungsansprüche verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Erstattung zu Unrecht erfolgt ist.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

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Tenor

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.

2. Dem Bundesverfassungsgericht werden folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

a) Ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

b) Ist § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917), mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

Tatbestand

1

Die Kläger begehren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab dem 01.11.2015.

2

Der am …..geborene Kläger zu 1 ist usbekischer Staatsangehöriger und lebt seit mehreren Jahren in Deutschland. Er ist mit der am ……. geborenen Klägerin zu 2 verheiratet und beide sind Eltern der am …… in Deutschland geborenen Klägerin zu 3. Auch die Klägerinnen zu 2 und 3 sind usbekische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1 lebt seit dem Jahr 2006 in Deutschland, die Klägerin zu 2 seit 2011, die Klägerin zu 3 seit ihrer Geburt.

3

Der Kläger zu 1 hat von Oktober 2007 bis November 2015 ein Studium der Humanmedizin an der Universität ….. absolviert und das Studium am 18.11.2015 mit dem mündlich-praktischen Teil der Ärztlichen Prüfung (§ 30 der Approbationsordnung für Ärzte) abgeschlossen. Die Exmatrikulation erfolgte am 14.12.2015. Er verfügte während des Studiums über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und übte neben dem Studium verschiedene Erwerbstätigkeiten aus.

4

Unter dem 06.10.2011 hatte Frau …….. sich in einer Verpflichtungserklärung gemäß § 68 Abs. 1 AufenthG gegenüber der beigeladenen Stadt …. dazu verpflichtet, die Kosten für den Lebensunterhalt des Klägers zu 1 für die Dauer seines tatsächlichen Aufenthaltes zu tragen.

5

Der Kläger zu 1 ist bereits seit mehreren Jahren mit wechselnden Arbeitsverträgen beim ….Klinikum in …… im dortigen Schlaflabor in Teilzeit beschäftigt. Die Auszahlung des Nettolohnes erfolgt hierbei jeweils im Folgemonat. Der Kläger zu 1 erzielt hierbei schwankendes Einkommen auf Grundlage eines Stundenlohnes von derzeit 11,68 Euro im Umfang von derzeit regelmäßig 3,90 Wochenstunden. Der zuletzt gültige Arbeitsvertrag vom 27.11.2013 war auf den 31.12.2015 befristet. Durch Änderung des Vertrags zum 15.12.2015 wurde der Vertrag entfristet, so dass der Kläger zu 1 nunmehr in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis steht.

6

Seit dem 24.11.2015 verfügt der Kläger zu 1 über eine von der mit Beschluss vom 04.03.2016 gemäß §§ 75 Abs. 2, 106 Abs. 3 Nr. 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladenen Stadt ….. erteilte Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche nach dem Studium nach § 16 Abs. 4 AufenthG. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist ihm gestattet. Der Aufenthaltstitel ist bis zum 22.05.2017 befristet. Die Klägerin zu 2 verfügt seit dem 24.11.2015, ebenfalls befristet bis zum 22.05.2017, über eine Aufenthaltserlaubnis wegen Ehegattennachzugs nach § 30 AufenthG. Auch ihr ist eine Erwerbstätigkeit erlaubt. Die Klägerin zu 3 besitzt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG wegen ihrer Geburt im Bundesgebiet.

7

Die Kläger wohnen seit dem 01.06.2015 gemeinsam in einer 41 m² großen Wohnung zur Miete. Mietvertragspartner sind auf Mieterseite sowohl der Kläger zu 1 als auch die Klägerin zu 2. Für die Überlassung der Wohnung haben die Kläger zu 1 und 2 eine monatliche Bruttowarmmiete in Höhe von 450 Euro zu entrichten.

8

Mit Bescheid vom 22.09.2015 hatte die Familienkasse ……. der Klägerin zu 2 Kindergeld für die Klägerin zu 3 in Höhe von 188 Euro monatlich ab April 2015, befristet bis August 2032 bewilligt.

9

Mit Bescheid ebenfalls vom 22.09.2015 hatte die Beigeladene der Klägerin zu 2 Elterngeld für die Betreuung und Erziehung der Klägerin zu 3 auf Grund eines Antrags vom 08.09.2015 für den Zeitraum vom 14.05.2015 bis zum 13.10.2015 in Höhe von insgesamt 1.500 Euro bewilligt. Als Zahltermin für den Gesamtbetrag wurde der 01.10.2015 festgesetzt.

10

Am 26.11.2015 beantragten die Kläger anlässlich einer persönlichen Vorsprache des Klägers zu 1 beim Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

11

Im Antragsformular gab der Kläger zu 1 am 07.12.2015 an, über Bargeld in Höhe von ca. 1.500 Euro zu verfügen. Die Existenz von sämtlichen abgefragten weiteren Vermögenswerten verneinte er. Die Kläger gaben darüber hinaus an, dass die Klägerin zu 2 über Einkommen in Form des Kindergelds für die Klägerin zu 3 in Höhe von 188 Euro monatlich verfüge. Weitere Einnahmen wurden nicht angegeben.

12

Der Kläger zu 1 verfügt über ein Girokonto bei der ….. Bank (Kontonummer ……). Das Konto wies am 30.10.2015 einen positiven Saldo von 3.510,83 Euro auf, der bis zur nächsten Abbuchung am 02.11.2015 Bestand hatte. Am 28.10.2015 hatte der Kläger zu 1 eine Überweisung in Höhe von 3.257 Euro von Herrn ……. erhalten. Am 29.10.2015 war dem Kläger eine Vergütung von 1.050,71 Euro aus seiner Erwerbstätigkeit ausgezahlt worden. Am gleichen Tag erfolgte eine weitere Zahlung des Arbeitgebers in Höhe von 144,52 Euro. Am 30.10.2015 hatte der Kläger zu 1 einen Betrag von 1.000 Euro auf das Girokonto der Klägerin zu 2 überwiesen.

13

Die Klägerin zu 2 verfügt ebenfalls über ein Girokonto bei der Deutschen Bank (Kontonummer ………). Das Konto wies am 31.10.2015 einen positiven Saldo von 1.183,32 Euro auf, der bis zur nächsten Abbuchung am 02.11.2015 Bestand hatte. Am 28.09.2015 hatte die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit der Klägerin zu 2 einen Betrag von 1.128 Euro überwiesen. Am 01.10.2015 hatte die Klägerin zu 2 eine Zahlung von Elterngeld in Höhe von 1.500 Euro erhalten. Am 07.10.2015 hatte die Klägerin zu 2 einen Betrag von 2.500 Euro abgehoben. Am 20.10.2015 hatte sie Kindergeld in Höhe von 188 Euro erhalten. Nachdem der Kontostand am 29.10.2015 bei 183,32 Euro lag, erfolgte am 30.10.2015 die Überweisung von 1.000 Euro durch den Kläger zu 1.

14

Am 11.11.2015 erhielt der Kläger zu 1 eine Überweisung in Höhe von 175 Euro von Frau ……… mit dem Verwendungszweck „für Interneteinkauf Danke“. Am 24.11.2015 hob der Kläger zu 1 einen Betrag von 2.100 Euro ab. Am 27.11.2015 wurde dem Kläger eine Vergütung in Höhe von 807,20 Euro aus seiner Erwerbstätigkeit ausgezahlt. Am 30.11.2015 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben von 1.271,85 Euro.

15

Mit Bescheid vom 07.12.2015 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) dem Grunde nach für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 23.09.2016 auf Basis eines kalendertäglichen Leistungssatzes von 17,46 Euro. In Folge der Verhängung einer Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitslosmeldung wurde dem Kläger zu 1 jedoch für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 30.11.2015 kein Arbeitslosengeld gezahlt. Für den Zeitraum vom 01.12.2015 bis zum 31.08.2016 wurde Nebeneinkommen in Höhe des vollen kalendertäglichen Leistungssatzes von 17,46 Euro angerechnet, so dass auch für diesen Zeitraum zunächst effektiv kein Arbeitslosengeld bewilligt wurde. Lediglich für die Zeit vom 01.09.2016 bis zum 23.09.2016 wurde die Zahlung von Arbeitslosengeld in Höhe von kalendertäglich 1,30 Euro, insgesamt 39 Euro, verfügt. Hierbei wurde auf den Leistungssatz von 17,46 Euro Nebeneinkommen in Höhe von 16,16 Euro täglich angerechnet.

16

Mit Schreiben vom 08.12.2015 forderte der Beklagte den Kläger zur Mitwirkung auf und verlangte neben der Vorlage der Bescheide über die Bewilligung von Arbeitslosengeld und Elterngeld, von Kopien der Lohnabrechnungen und von Kontoauszügen eine Stellungnahme zur Überweisung von 3.257 Euro am 28.10.2015 auf das Konto des Klägers zu 1.

17

Der Kläger zu 1 nahm mit Schreiben vom 14.12.2015 dahingehend Stellung, dass er Herrn …….. am 07.10.2015 ca. 3.300 Euro Bargeld geliehen habe. Aus den Kontoauszügen sei ersichtlich, dass an diesem Tag vom Konto seiner Ehefrau (der Klägerin zu 2) 2.500 Euro und von seinem eigenen Konto 800 Euro abgehoben worden seien. Seine Ehefrau habe kurz zuvor Elterngeld und Kindergeld rückwirkend ausgezahlt bekommen. Das geliehene Geld habe Herr …. am 28.10.2015 in voller Höhe auf das Konto des Klägers zu 1 überwiesen, wovon er wiederum 1.000 Euro auf das Konto seiner Frau überwiesen habe. Dies könne anhand der Kontoauszüge nachvollzogen werden.

18

Mit Bescheid vom 15.12.2015 lehnte der Beklagte den Antrag vom 26.11.2015 ab. Hierbei führte der Beklagte wörtlich aus:

19

„Sehr geehrter Herr ……,

20

leider muss Ihr Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch SozialgesetzbuchSGB II vom 26.11.2015 abgelehnt werden.

21

Sie haben keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, weil Sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche haben.

22

Die Entscheidung beruht auf § 7 Absatz 1 Satz 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

23

Ihr Aufenthaltstitel begründet sich auf § 16 Abs. 4 AufenthG. Demnach sind Sie und Ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

24

Beachten Sie bitte, dass Sie einen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII beim zuständigen Sozialamt stellen können.“

25

Am 18.12.2015 beantragten die Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) bei der Beigeladenen. Im Antragsformular (unterzeichnet am 04.01.2016) gaben sie unter anderem an, über Bargeld in Höhe von ca. 1.000 Euro zu verfügen.

26

Am 29.12.2015 erhielt der Kläger zu 1 zwei Gehaltszahlungen in Höhe von zusammen 203,42 Euro.

27

Am 31.12.2015 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben in Höhe von 513,38 Euro, am 04.01.2016 über ein Guthaben in Höhe von 53,38 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am 31.12.2015 über ein Guthaben von 416,59 Euro.

28

Mit Bescheid vom 06.01.2016 lehnte die Beigeladene den Antrag der Kläger auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ab. Zur Begründung führte sie aus, dass aus den vorgelegten Unterlagen hervorgehe, dass der Kläger zu 1 einen Aufenthaltstitel nach § 16 Abs. 4 AufenthG habe, der der Arbeitsplatzsuche nach dem Studium diene. Die Ablehnung ergebe sich aus § 23 Abs. 3 SGB XII. Demnach hätten Ausländer, die eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, sowie deren Angehörige keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Das Aufenthaltsrecht des Klägers zu 1 begründe sich aus § 16 Abs. 4 AufenthG und diene dem Zweck der Arbeitsplatzsuche, sodass der Kläger zu 1 und seine Angehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII hätten.

29

Gegen den Bescheid des Beklagten vom 15.12.2015 erhoben alle drei Kläger mit Schreiben vom 07.01.2016 Widerspruch. Zur Begründung führten sie aus, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht greife, da das Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG ein Annex des Aufenthaltsrechts zum Zwecke der Ausbildung darstelle. Da dieses Aufenthaltsrecht auch eine Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit umfasse, könne spätestens ab dem Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme diese nicht mehr als Aufenthaltserlaubnis allein zum Zwecke der Arbeitsplatzsuche angesehen werden. Da der Kläger zu 1 einer Erwerbstätigkeit nachgehe, sei auch dieser Gesichtspunkt vorliegend gegeben. Dies sei auch nachvollziehbar, denn Sinn und Zweck von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei es, zu verhindern, dass Personen zur Arbeitsuche einreisen und dann Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Sinn und Zweck der Norm sei gerade nicht, Menschen, die bereits seit längerer Zeit aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht haben, von den Leistungen auszuschließen. Die gesetzgeberische Intention des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II habe ferner eindeutig darauf gezielt zu verhindern, dass EU-Bürger im Wege der Freizügigkeit einreisen und sofort Sozialleistungen kassieren. Für Fälle von Drittstaatsangehörigen sei die Regelung nicht erdacht worden. Es sei auch nicht erkennbar, weshalb es notwendig sein sollte, erwerbsfähige Drittstaatsangehörige, die ansonsten unzweifelhaft einen Anspruch nach dem SGB XII hätten, anders zu behandeln, als erwerbsfähige Deutsche, denn Leistungseinsparungen könnten hierdurch nicht erzielt werden. Die Drittstaatsangehörigen könnten allenfalls weniger Pflichten bei der Integration in den Arbeitsmarkt haben.

30

Am 07.01.2016 stellten die Kläger auch einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht (SG) Mainz (Az. S 11 AS 7/16 ER).

31

Am 19.01.2016 erhoben die Kläger Widerspruch gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016. Zur Begründung führten sie aus, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.) nach der neuesten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Verweis auf den Terminsbericht Nr. 61/15 des BSG vom 16.12.2015) bei tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland, insbesondere wenn dieser rechtmäßig sei, die Bejahung eines Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB XII gebiete. Diese Rechtsprechung sei auf die Kläger anwendbar und vorliegend zu berücksichtigen. Die Kläger hätten somit einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII gegen die Beigeladene.

32

Über den Widerspruch der Kläger gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016 wurde bislang noch nicht entschieden.

33

Am 21.01.2016 zahlte die Familienkasse 566 Euro Kindergeld für die Monate November und Dezember 2015 sowie Januar 2016 an die Klägerin zu 2.

34

Mit Beschluss vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) verpflichtete die 11. Kammer des SG Mainz die auch im dortigen Verfahren beigeladene Stadt …. zur vorläufigen Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII für den Regelbedarf in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 07.01.2016 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30.06.2016.

35

Am 28.01.2016 erhielt der Kläger zu 1 Arbeitsentgelt in Höhe von 291,31 Euro für den Monat Januar 2016 ausgezahlt. Am 29.01.2016 verfügte der Kläger zu 1 auf seinem Girokonto über ein Guthaben von 282,09 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am gleichen Tag über ein Guthaben von 704,76 Euro auf ihrem Girokonto.

36

Die Beigeladene führte den Beschluss vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) mit einem Bescheid vom 05.02.2016 aus und bewilligte den Klägern vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt ab dem 07.01.2016 für den Monat Januar 2016 in Höhe von insgesamt 531,50 Euro und für den Monat Februar 2016 in Höhe von 571,08 Euro.

37

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.01.2016 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 15.12.2015 zurück. Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt noch aus den Unterlagen ersichtlich. Der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.

38

Am 11.02.2016 überwies die Beigeladene dem Kläger zu 1 in Ausführung des Bescheids vom 05.02.2016 und des Beschlusses des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) einen Betrag von 1.102,58 Euro.

39

Mit Änderungsbescheid vom 11.02.2016 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld für den Zeitraum vom 01.12.2015 bis zum 23.09.2016 in Höhe von monatlich 523,80 Euro bei einem täglichen Zahlbetrag von 17,46 Euro. Für die Zeit vom 01.12.2015 bis zum 31.01.2016 erfolgte eine Nachzahlung in Höhe von 1.047,60 Euro, die dem Kläger zu 1 am 16.02.2016 überwiesen wurde. Am 29.02.2016 erfolgte die Auszahlung von Arbeitslosengeld in Höhe von 523,80 Euro für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016.

40

Die Beigeladene hat am 24.02.2016 Beschwerde gegen den Beschluss vom 27.01.2016 zum Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz eingelegt (Az. L 3 AS 98/16 B ER). Das Beschwerdeverfahren ist noch anhängig.

41

Am 26.02.2016 erhielt der Kläger zu 1 eine Entgeltzahlung in Höhe von 166,35 Euro.

42

Die Kläger haben am 26.02.2016 die vorliegende Klage erhoben. Die Klageerhebung erfolgte zunächst fristwahrend. Die Kläger regten zunächst an, die Klage ruhend zu stellen, bis geklärt sei, ob das Sozialamt Leistungen nach dem SGB XII zu erbringen habe. Hintergrund sei, dass der Beklagte als Verpflichteter in Betracht komme, das Gericht aber in dem Verfahren S 11 AS 7/16 ER die vorläufige Auffassung vertreten habe, der Anspruch der Kläger richte sich nach dem SGB XII und nicht nach dem SGB II.

43

Die Kläger beantragen,

44

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 zu verurteilen, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 01.11.2015 in gesetzlicher Höhe zu zahlen,

45

hilfsweise die Beigeladene unter Aufhebung des Bescheids vom 06.01.2016 zu verurteilen, den Klägern Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII ab dem 01.11.2015 in gesetzlicher Höhe zu zahlen.

46

Der Beklagte beantragt,

47

die Klage abzuweisen.

48

Zur Begründung trägt er vor, dass die Klage ausweislich des Beschlusses des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) keine Aussicht auf Erfolg habe. Auf den Beschluss des LSG Rheinland-Pfalz vom 11.02.2016 (L 3 AS 668/15 B ER) werde verwiesen.

49

Die Beigeladene nimmt unter Verweis auf einen Hinweis des 3. Senats des LSG Rheinland-Pfalz im Verfahren L 3 AS 98/16 B ER dahingehend Stellung, dass hilfebedürftige Personen, die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien, schon nach § 21 Satz 1 SGB XII keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten könnten. Für diese Auslegung spreche der Wortlaut des Gesetzes und die den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmende gesetzgeberische Absicht. Der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz nehme auch Bezug auf die Rechtsfrage, ob eine verfassungskonforme Auslegung des SGB II einen Anspruch der Kläger auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Hilfegewährung nach § 42a SGB II begründe. Der Senat sehe diese Rechtsfrage als im Hauptsacheverfahren klärungsbedürftig an. Weiter führe der Senat aus, dass er auf Grund des bisherigen Vortrags der Kläger (im dortigen Beschwerdeverfahren) nicht feststellen könne, dass im vorliegenden Fall die gesetzlichen Voraussetzungen einer Leistung von Sozialhilfe nach Ermessen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII vorlägen. Vor diesem Hintergrund spreche Vieles dafür, dass das LSG Rheinland-Pfalz die rechtliche Einschätzung der Beigeladenen teile und diese im vorliegenden Fall daher nicht zu Leistungen von Sozialhilfe nach Ermessen verpflichtet werden könne.

50

Am 30.03.2016 erhielt der Kläger zu 1 eine Entgeltzahlung in Höhe von 166,35 Euro. An diesem Tag verfügte er auf seinem Girokonto über ein Guthaben in Höhe von 647,49 Euro. Die Klägerin zu 2 verfügte am 30.03.2016 über ein Guthaben auf ihrem Girokonto in Höhe von 314,89 Euro. Am 31.03.2016 überwies die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit Mainz – dem Kläger zu 1 Arbeitslosengeld in Höhe von 523,80 Euro für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis zum 31.03.2016.

51

Mit einem Schreiben vom 04.04.2016 teilte die Beigeladene den Klägern zu 1 und 2 mit, dass in Folge der Mitteilung weiterer Einkünfte nunmehr eine Anpassung der vorläufigen Leistungen erfolge. Demnach hätten die Kläger im Februar Arbeitslosengeld I in Höhe von 1.571,40 Euro erhalten. Das Arbeitseinkommen in Höhe von 237 Euro für den Monat Februar 2016 sei abzüglich der Freibeträge genauso wie das Kindergeld bei der Ermittlung des Anspruchs in Höhe von 571,08 Euro für den Monat Februar bereits berücksichtigt worden. Das Einkommen in Höhe von 1.571,40 Euro aus dem Arbeitslosengeld I reiche daher aus, um den monatlichen Regelbedarf in gesetzlicher Höhe zu decken. Da die Leistungen für den Monat Februar 2016 zum Zeitpunkt der Mitteilung bereits an die Kläger ausgezahlt worden seien, sei eine Überzahlung in Höhe von 571,08 Euro entstanden. Der monatliche Regelbedarf für den Monat März 2016 betrage 965 Euro. Davon seien das Erwerbseinkommen abzüglich der Freibeträge nach § 82 Abs. 3 SGB XII in Höhe von 116,44 Euro, das Kindergeld in Höhe von 190 Euro sowie Arbeitslosengeld I in Höhe von monatlich 523,80 Euro in Abzug zu bringen. Damit verbleibe ein nicht durch Einkommen gedeckter Bedarf in Höhe von 134,76 Euro. Dieser Betrag werde jedoch nicht an die Kläger ausgezahlt, sondern mit der entstandenen Überzahlung im Monat Februar 2016 in Höhe von 571,08 Euro verrechnet.

52

Auf Anfrage des Gerichts teilten die Kläger mit, dass sie keinerlei rechtliche Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), zu Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) oder zur Schweiz haben. Im letzten Jahr der Studienzeit des Klägers zu 1 hätten die Kläger ihren Lebensunterhalt durch Nebenjobs des Klägers zu 1 als Mitarbeiter im Schlaflabor des …. Klinikums ….. und durch die monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 300 Euro für das Praktische Jahr, durch Kindergeld und zeitweise durch Elterngeld bestritten. Von Frau …… habe es keine Zahlungen gegeben.

53

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.04.2016 teilte der Kläger zu 1 mit, dass er für die Erteilung eines Aufenthaltstitels eine Verpflichtungserklärung benötigt habe. Diese sei durch seine Kollegin Frau ………. unterzeichnet worden. Er habe aber nie die Absicht gehabt, Geld von ihr in Anspruch zu nehmen und von ihr auch nie Geld erhalten. Er habe seinen Lebensunterhalt bislang selbst finanziert.

54

Das Gericht hat die Prozessakten zum Verfahren S 11 AS 7/16 ER bzw. L 3 AS 98/16 B ER einschließlich der dort beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Beigeladenen beigezogen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

A.

55

Der Rechtsstreit ist gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auszusetzen und es sind Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darüber einzuholen, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, soweit Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen vom Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind, und ob § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917) mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, soweit Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) oder der §§ 51, 57 und 58 SGB Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) dem Grunde nach förderungsfähig ist, über § 27 SGB II hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II haben.

56

Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG (konkrete Normenkontrolle) hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist zu begründen, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des Gerichts abhängig und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die Vorschrift unvereinbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2014 – 2 BvL 2/11 – Rn. 5 – alle Gerichtsentscheidungen zitiert nach juris, wenn nicht anders angegeben). Die Voraussetzungen für die Durchführung eines konkreten Normenkontrollverfahrens sind vorliegend erfüllt.

57

Die Überzeugung der Kammer von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II beruht darauf, dass es dem Gesetzgeber nach Maßgabe des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verwehrt ist, Personen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten, bei Vorliegen von Hilfebedürftigkeit von sämtlichen existenzsichernden Sozialleistungssystemen auszuschließen.

58

Die Überzeugung der Kammer von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II beruht darauf, dass es dem Gesetzgeber nach Maßgabe des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verwehrt ist, die Gewährung jeder Art von existenzsichernden Leistungen von Handlungen oder Unterlassungen der betroffenen Personen abhängig zu machen, die weder zur Feststellung der Leistungsvoraussetzungen erforderlich noch unmittelbar dazu führen, die Hilfebedürftigkeit der Betroffenen zu beseitigen.

I.

59

Die Zuständigkeit des BVerfG ist gegeben, da das vorlegende Gericht Vorschriften eines Bundesgesetzes für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar hält (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GG).

II.

60

Die vorlegende Kammer ist als Spruchkörper des Sozialgerichts Mainz ein vorlageberechtigtes Gericht im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG.

III.

61

Bei den als verfassungswidrig gerügten Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II handelt es sich um Vorschiften eines formellen, nachkonstitutionellen Bundesgesetzes. Sie sind daher vorlagefähig.

IV.

62

Die Vorlagefragen sind für das dem Beschluss zu Grunde liegende Klageverfahren entscheidungserheblich.

63

Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist ein Vorlageverfahren nur dann zulässig, wenn es für die Entscheidung auf die Gültigkeit des für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes ankommt.

64

Dies setzt – wenn nicht die Zulässigkeitsvoraussetzungen selbst Gegenstand der Vorlage sind – zunächst voraus, dass die dem Vorlagebeschluss zu Grunde liegende Klage zulässig ist (1) und dass im Falle der – hier vorliegenden – Leistungsklage die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen (2). Ferner muss es für die Entscheidung des Gerichts auf die Gültigkeit der zur Prüfung vorgelegten Normen ankommen. Dies setzt voraus, dass bei Gültigkeit der Regelungen ein anderes Entscheidungsspektrum eröffnet wird, als bei deren Nichtigkeit (3). Der Klage dürfte auch nicht aus einem anderen Rechtsgrund stattzugeben sein (4).

65

1. Die Klage ist zulässig. Das Gericht ist zur Sachentscheidung berufen.

66

1.1 Die Kläger haben ihre Klage frist- und formgerecht erhoben. Das Widerspruchsverfahren gegen den in erster Linie streitgegenständlichen Bescheid des Beklagten vom 15.12.2015 ist durchgeführt und abgeschlossen worden.

67

1.2 Obwohl dem Gericht bislang keine schriftliche Vollmacht vorliegt, ist gemäß § 73 Abs. 6 Satz 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einstweilen von einer wirksamen Bevollmächtigung des die Kläger vertretenden Rechtsanwalts auszugehen. Das Gericht hat einen Mangel der Vollmacht nur dann von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn als Bevollmächtigter kein Rechtsanwalt auftritt.

68

1.3 Die Kläger sind klagebefugt im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 SGG, da sie geltend machen, durch den angefochtenen Verwaltungsakt in ihren Rechten verletzt zu sein.

69

1.4 Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage, mit der die Kläger die Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 und die Zahlung von Geldleistungen nach dem SGB II verlangen, ist nach §§ 54 Abs. 4, 56 SGG statthaft. Der Streitgegenstand wurde im Sinne des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG hinreichend bestimmt. Eine exakte Bezifferung des geltend gemachten Anspruchs ist nicht erforderlich. § 92 Abs. 1 Satz 3 SGG enthält hinsichtlich der Bestimmtheit des Antrags lediglich eine Sollvorschrift. Aus dem systematischen Zusammenhang mit der Regelung zum Grundurteil in § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG ergibt sich zudem, dass bei Geldleistungen keine Bezifferung des Antrags erfolgen muss. Nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG kann zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt werden, wenn gemäß § 54 Abs. 4 SGG oder § 54 Abs. 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Aus der Befugnis des Gerichts, ein Grundurteil zu erlassen, folgt die Statthaftigkeit einer entsprechenden unbezifferten Antragstellung. Im Übrigen lässt sich das klägerische Begehren in hinreichender Bestimmtheit dem Vorbringen in der Klageschrift, in dem vorangegangenen Widerspruchsverfahren und im vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entnehmen.

70

1.5 Der für die Zulässigkeit der gegenüber der reinen Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG vorrangigen Anfechtungs- und Leistungsklage erforderliche Ausgangsverwaltungsakt (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2006 – B 2 U 24/04 R – Rn. 24) liegt auch bezüglich der Klägerinnen zu 2 und 3 vor. Der angefochtene Verwaltungsakt vom 15.12.2015 ist bei verständiger Würdigung an alle drei Kläger gerichtet. Zwar wird sowohl in der Anrede als auch im weiteren Text nur der Kläger zu 1 direkt angesprochen, auch soweit auf seinen Antrag Bezug genommen wird. Allerdings lässt sich dem Satz „Demnach sind Sie und Ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen“ mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass der Leistungsantrag für alle drei Kläger abgelehnt wurde. Der nur abstrakt umschriebene, abgesehen vom Kläger zu 1 nicht namentlich genannte Adressatenkreis erschließt sich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 Zehntes Buch SozialgesetzbuchSGB X) aus der vorangegangenen Antragstellung aller drei Kläger und aus deren Lebensumständen.

71

Der Bescheid ist auch gegenüber allen Klägern wirksam bekanntgegeben worden (§ 37 Abs. 1 SGB X). Auch diesbezüglich ist es unschädlich, dass der Bescheid in der Anrede nur an den Kläger zu 1 gerichtet war, da der Bescheid an die gemeinsame Wohnadresse übersandt wurde, der Verwaltungsakt aus dem Bescheidtext hinreichend deutlich erkennbar auch an die Klägerin zu 2 gerichtet war und zudem in Folge der Umstände der Antragstellung und der nachfolgenden Widerspruchs- und Klageerhebung auch durch die Klägerin zu 2 von einer Bevollmächtigung des Klägers zu 1 durch die Klägerin zu 2 ausgegangen werden kann (vgl.Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 38 Rn. 40, Stand 10.03.2015). Auf eine gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II nur für die Antragstellung und die Entgegennahme von Leistungen geltende Vertretungsvermutung kommt es daher nicht an (für die Erstreckung der Vermutungswirkung u.a. auch auf die Entgegennahme von ablehnenden Bescheiden z.B. Schoch in: LPK-SGB II, § 38 Rn. 19, 5. Auflage 2013).

72

Selbst wenn jedoch angenommen würde, dass gegenüber den Klägerinnen zu 2 und 3 noch keine Entscheidung über den Leistungsantrag durch den Beklagten vorliegt und die kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen der Klägerinnen in Folge dessen als unzulässig angesehen würden, führte dies nicht zu einem Wegfall der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen, weil beide jedenfalls auch für die vom Kläger zu 1 gestellten Klageanträge von entscheidungserheblicher Bedeutung sind.

73

1.6 Zulässiger Streitgegenstand ist zunächst der Bescheid vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 (§ 95 SGG). In zeitlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand vorerst und vorbehaltlich einer zukünftigen Begrenzung des Antrags auf den letzten mündlichen Verhandlungstag der Tatsacheninstanzen begrenzt (BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 4 AS 99/11 R – Rn. 11). Zum Zeitpunkt des Vorlagebeschlusses der Kammer ist dies der 18.04.2016. Dass für den zukunftsoffenen streitgegenständlichen Zeitraum der Sachverhalt naturgemäß noch nicht abschließend aufgeklärt ist, stellt kein Zulässigkeitshindernis für das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dar, weil sich die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der entscheidungserheblichen Normen jedenfalls für den bereits zurückliegenden Zeitraum stellt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 129).

74

1.7 Gemäß § 75 Abs. 5 SGG kommt auch eine Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers zur Zahlung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII in Betracht (vgl. BSG Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R; BSG, Urteil vom 17.03.2016 – B 4 AS 32/15 R). Insoweit wäre auch der Ablehnungsbescheid der Beigeladenen vom 06.01.2016 Gegenstand des Verfahrens. Auf Grund der fristgerechten Erhebung des Widerspruchs durch die Kläger am 19.01.2016 ist bislang keine Bestandskraft eingetreten. Der Abschluss des Vorverfahrens ist insoweit keine Sachurteilsvoraussetzung (vgl. Groß in Lüdtke, SGG, § 75 Rn. 16, 4. Auflage 2012).

75

2. Die Kläger erfüllen abgesehen von den den Gegenstand der Vorlagefragen bildenden Ausschlussregelungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (für die Zeit ab dem 24.11.2015) und § 7 Abs. 5 SGB II (bei dem Kläger zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015) alle Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II.

76

2.1 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind – vorbehaltlich der hier verfahrensgegenständlichen Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Beide sind älter als 15 Jahre und haben die für beide Kläger nach § 7a Satz 2 SGB II maßgebliche Altersgrenze von 67 Jahren noch nicht erreicht. Die Klägerin zu 3 hat das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet und kann deshalb nur in Abhängigkeit einer grundsätzlichen Leistungsberechtigung ihrer Eltern einen Anspruch auf Sozialgeld nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 SGB II haben.

77

2.2 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Kläger leben in Mainz. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kläger nur vorübergehend in Deutschland aufhalten könnten, sind nicht erkennbar. Die aktuellen Aufenthaltstitel sind bis zum 22.05.2017 befristet. Für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts kommt es auf aufenthaltsrechtliche Aspekte im Übrigen nicht an (BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R – Rn. 18 f.).

78

2.3 Der Kläger zu 1 hat den nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II erforderlichen Antrag gestellt. Der Antrag vom 26.11.2015 wirkt gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 SGB II im Hinblick auf die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den 01.11.2015 zurück. Die Antragstellung wirkt gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II auch zu Gunsten der Klägerinnen zu 2 und 3.

79

2.4 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II, insbesondere ist beiden die Aufnahme einer Beschäftigung als Nebenbestimmung zur Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bzw. § 30 AufenthG erlaubt (§ 8 Abs. 2 Satz 1 SGB II).

80

2.5 Die Kläger sind für den größeren Teil des bisherigen streitgegenständlichen Zeitraums hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Hilfebedürftigkeit liegt gemäß § 9 Abs. 1 SGB II vor, wenn jemand seinen eigenen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus dem zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen, sichern kann und die nötige Hilfe nicht von anderen erhält. In Folge der Einkommens- und Vermögenszurechnungsregelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II, nach der jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig gilt, sofern der gesamte Bedarf nicht aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist („horizontale Berechnungsmethode“), kommt es für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nur darauf an, dass der Gesamtbedarf der Kläger durch Einkommen oder Vermögen der Kläger zu irgendeinem Zeitpunkt in den streiterheblichen Zeiträumen nicht vollständig gedeckt war.

81

Im Hinblick auf die erste Vorlagefrage ist diesbezüglich der Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 18.04.2016 relevant, weil der Kläger zu 1 seit dem 24.11.2015 über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügt. Für die zweite Vorlagefrage ist der Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 von Bedeutung, weil der Kläger zu 1 am 18.11.2015 sein Studium abgeschlossen hat.

82

Die Voraussetzung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II ist im vorliegenden Fall zeitweise erfüllt, weil dem Gesamtbedarf der Kläger zum Lebensunterhalt jedenfalls in der Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.01.2016 und vom 01.03.2016 bis zum 31.03.2016 kein Einkommen oder Vermögen gegenüberstand, das den Bedarf vollständig hätte decken können.

83

2.5.1 Bei dem Kläger zu 1 und bei der Klägerin zu 2 ist jeweils für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 360 Euro monatlich (§ 20 Abs. 4 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2015 vom 15.10.2014 (BGBl. Teil I S. 1620) auszugehen, für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Regelbedarf in Höhe von 364 Euro monatlich (§ 20 Abs. 4 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2016 vom 22.10.2015 (BGBl. Teil I S. 1792)), da sie als Partner miteinander in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 a) SGB II leben und das 18. Lebensjahr vollendet haben.

84

Bei der Klägerin zu 3 ist für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 234 Euro monatlich (§ 23 Nr. 1 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2015 vom 15.10.2014 (BGBl. Teil I S. 1620)) auszugehen, für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Regelbedarf in Höhe von 237 Euro monatlich (§ 23 Nr. 1 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2016 vom 22.10.2015 (BGBl. Teil I S. 1792)), da sie das 6. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

85

Darüber hinaus ist von einem Gesamtbedarf für Unterkunft und Heizung nach §§ 19 Abs. 1 Satz 3, 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 450 Euro – nachgewiesen durch Mietvertrag, Mietbescheinigung und Abbuchungen auf Kontoauszügen – monatlich auszugehen. Ob der Unterkunfts- und Heizungsbedarf richtigerweise nach Maßgabe der mietvertraglichen gesamtschuldnerischen Verpflichtung hälftig (je 225 Euro) zwischen dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 (so SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 289 ff.) oder nach dem Kopfteilprinzip zu je einem Drittel (je 150 Euro) zwischen allen Bedarfsgemeinschaftsmitgliedern aufzuteilen ist (so z.B. BSG, Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 1/06 R – Rn. 28 f.; BSG, Urteil vom 31.10.2007 – B 14/11b AS 7/07AS 7/07 R – Rn. 19; BSG, Urteil vom 23.05.2013 – B 4 AS 67/12 R – Rn. 19), spielt für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen keine Rolle, weil sich der Gesamtbedarf hierdurch nicht ändert. Die Frage, ob die Aufwendungen der Kläger für Unterkunft und Heizung angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II sind, kann vorliegend offenbleiben, da die Kläger mangels Kostensenkungsaufforderung jedenfalls keine Kostensenkungsobliegenheit trifft und daher die Kosten nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II bis auf Weiteres unabhängig von ihrer Angemessenheit in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen sind. Die Frage, ob § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II verfassungswidrig ist (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschlüsse vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 und S 3 AS 370/14), ist daher im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich.

86

Bei dem Kläger zu 1 ist somit für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 ein monatlicher Gesamtbedarf in Höhe von 585 Euro und für die Zeit ab dem 01.01.2016 in Höhe von 589 Euro auszugehen. Bei einer Berücksichtigung der Unterkunftsbedarfe nach Kopfteilen läge der Gesamtbedarf bei 510 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 und bei 514 Euro ab dem 01.01.2016. Entsprechendes gilt für die Klägerin zu 2.

87

Bei der Klägerin zu 3 ist der individuelle Gesamtbedarf mit dem Regelbedarf identisch, so dass für die Zeit vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 von einem Bedarf von 234 Euro monatlich und für die Zeit ab dem 01.01.2016 von einem Bedarf von 237 Euro auszugehen ist. Bei Zugrundelegung der „Kopfteilmethode“ ergäbe sich allerdings ein weiterer Bedarf nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 150 Euro monatlich, somit ein monatlicher individueller Gesamtbedarf von 384 Euro bzw. 387 Euro.

88

Für die aus dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 (§ 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II und § 7 Abs. 3 Nr. 3 a) SGB II) sowie der Klägerin zu 3 (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) bestehende Bedarfsgemeinschaft ist somit für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 31.12.2015 ein Gesamtbedarf in Höhe von 1.404 Euro monatlich, für die Zeit ab dem 01.01.2016 in Höhe von 1.415 Euro zu Grunde zu legen.

89

2.5.2 Vermögen haben die Kläger zur Bedarfsdeckung nicht einzusetzen.

90

Nach § 12 Abs. 1 SGB II sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Gemäß § 12 Abs. 2 SGB II sind vom verwertbaren Vermögen jedoch Freibeträge abzusetzen.

91

Zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums am 01.11.2015 verfügte der Kläger zu 1 über einen positiven Saldo von 3.510,83 Euro auf seinem Girokonto. Die Klägerin zu 2 verfügte auf ihrem Girokonto über einen positiven Saldo von 1.183,32 Euro. Hinzu kommt nach den Angaben des Klägers zu 1 zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Bargeldbetrag von ca. 1.500 Euro, so dass für den maßgeblichen Zeitpunkt des Beginns des potenziellen Bewilligungszeitraums (vgl. Radüge in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 12 Rn. 41, Stand 08.09.2015) am 01.11.2015 von einem Gesamtvermögen der Kläger in Höhe von ca. 4.700 Euro auszugehen ist.

92

Die kurz vor Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums erfolgten größeren Vermögensverschiebungen sind anhand der Erklärungen des Klägers zu 1 nachvollziehbar. Durch die Nachzahlung von Kindergeld in Höhe von 1.128 Euro am 28.09.2015 und von Elterngeld in Höhe von 1.500 Euro am 01.10.2015 war der Kläger zu 1 im Oktober 2015 dazu in der Lage, Herrn …kurzfristig einen Geldbetrag in Höhe von ca. 3.250 Euro zu leihen, den er noch im gleichen Monat zurückerhielt. Der Vorgang lässt sich anhand der Kontoauszüge des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 und der Erläuterungen des Klägers zu 1 nachvollziehen.

93

Als Vermögensfreibetrag ist gemeinsam für den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 ein Betrag von 9.900 Euro, ab Februar 2016 von 10.050 Euro zu berücksichtigen. Dieser errechnet sich aus dem Grundfreibetrag für den Kläger zu 1 von 4.650 Euro bzw. 4.800 Euro gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II (31 bzw. 32 Lebensjahre x 150 Euro), aus dem Grundfreibetrag für die Klägerin zu 2 in Höhe von 3.750 Euro (25 Lebensjahre x 150 Euro) und dem jeweiligen Anschaffungsfreibetrag von 750 Euro gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB II, zusammen 1.500 Euro.

94

Das Vermögen des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 lag demnach zu Beginn des Bewilligungszeitraums am 01.11.2015 deutlich unter der maßgeblichen Vermögensfreigrenze. Daher kann vorliegend offenbleiben, ob der Anschaffungsfreibetrag für die Klägerin zu 3 in Höhe von weiteren 750 Euro ebenfalls bei dem Vermögen des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 zu berücksichtigen ist (so Geiger in LPK-SGB II, § 12 Rn. 35, 5. Auflage 2013), da das Gesamtvermögen der Kläger am 01.11.2015 und in der Folgezeit stets unter dem jedenfalls anzusetzenden Freibetrag von 9.900 Euro bzw. 10.050 Euro lag. Der Grundfreibetrag der Klägerin zu 3 nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a SGB II in Höhe von weiteren 3.100 Euro spielt mangels eigenem Vermögen der Klägerin zu 3 keine Rolle.

95

In Folge der Rückwirkung des Antrags auf den 01.11.2015 sind nach diesem Zeitpunkt durch die Kläger erzielte Vermögenszuwächse im jeweiligen Zuflussmonat als Einkommen im Sinne des § 11 SGB II zu behandeln. Der kumulierte Vermögensfreibetrag des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 wurde durchgehend seit dem 01.11.2015 bis mindestens zum 31.03.2016 deutlich unterschritten.

96

2.5.3 Die Kläger verfügen jedoch über anzurechnendes Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, das den Bedarf mindert und zeitweilig vollständig deckt.

97

Als Einkommen zu berücksichtigen ist für den Monat November 2015 das Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung des Klägers zu 1 in Höhe von 807,20 Euro. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 141,44 Euro, mithin ein Gesamtfreibetrag von 241,44 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 665,76 Euro. Hinzu kommt – vorbehaltlich einer abweichenden abschließenden rechtlichen Würdigung – die Zahlung von 175 Euro durch Frau …. am 11.11.2015, so dass sich für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 30.11.2015 ein anzurechnendes Gesamteinkommen des Klägers zu 1 von 840,76 Euro errechnet. Das Einkommen der Klägerin zu 2 aus Kindergeld ist nach § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II in Höhe von 188 Euro vollständig bei der Klägerin zu 3 anzurechnen, da es zur Sicherung des Lebensunterhalts der Klägerin zu 3 benötigt wird. Das insgesamt somit maximal zu berücksichtigende Einkommen von 1.028,76 Euro reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.404 Euro nicht aus.

98

Im Monat Dezember 2015 ist als Einkommen die an den Kläger zu 1 gezahlte Vergütung in Höhe von 203,42 Euro zu berücksichtigen. Nach Abzug des Freibetrags nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro und des Freibetrags nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Höhe von 20,68 Euro verbleibt ein anzurechnendes Einkommen von 82,74 Euro. Weitere Einnahmen hatten die Kläger in diesem Monat nicht, insbesondere wurde in diesem Monat kein Kindergeld ausgezahlt. Das Einkommen reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.404 Euro nicht aus.

99

Als Einkommen des Klägers zu 1 für den Monat Januar 2016 ist zunächst die Vergütung in Höhe von 291,31 Euro zu berücksichtigen. Nach Abzug des Freibetrags nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro und des Freibetrags nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Höhe von 38,26 Euro verbleibt ein anzurechnendes Einkommen von 153,05 Euro. Im Monat Januar 2016 ist darüber hinaus die Zahlung von Kindergeld in Höhe von 566 Euro als Einkommen zu berücksichtigen. Der Bedarf der Klägerin zu 3 (237 Euro bzw. 387 Euro) wird hierdurch gemäß der Zuordnungsregel des § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II vollständig gedeckt, so dass die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 31.01.2016 keinen Anspruch auf Sozialgeld hat. Der Differenzbetrag von 329 Euro (179 Euro) ist als Einkommen der Klägerin zu 2 nach Abzug der Versicherungspauschale von 30 Euro nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) in Höhe von 299 Euro (149 Euro) zu berücksichtigen. Das zur Anrechnung bei dem Kläger zu 1 und der Klägerin zu 2 insgesamt zu berücksichtigende Einkommen in Höhe von 452,05 (302,05 Euro) reicht zur Deckung des Bedarfs des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2 in Höhe von zusammen 1.178 Euro (1.028 Euro) nicht aus.

100

Im Monat Februar 2016 ist als Einkommen des Klägers zu 1 Arbeitslosengeld I in Höhe von 1.571,40 Euro als laufende Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen. Für die Qualifizierung einer Einnahme als laufende Einnahme reicht es aus, wenn sie in einem Gesamtbetrag erbracht wird, aber nach dem zu Grunde liegenden Rechtsgrund regelmäßig zu erbringen gewesen wäre (BSG, Urteil vom 24.04.2015 – B 4 AS 32/14 R – Rn. 16). Dies ist vorliegend der Fall, weil dem Kläger zu 1 im Februar 2016 Arbeitslosengeld für insgesamt drei Monate ausgezahlt wurde. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist das im Februar 2016 ausgezahlte Arbeitslosengeld daher vollständig und ausschließlich im Februar 2016 als Einkommen auf den Bedarf der Kläger anzurechnen. Eine Versicherungspauschale nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V ist nicht abzusetzen, weil bei dem Kläger zu 1 im Februar 2016 auch Einnahmen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 166,35 Euro zu berücksichtigen sind. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 13,27 Euro, folglich ein Gesamtfreibetrag von 113,27 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 53,08 Euro. Der Erwerbstätigenfreibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II enthält bereits den Absetzbetrag für Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II, so dass für eine zusätzliche Heranziehung der Versicherungspauschale nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V bei den Einnahmen aus Arbeitslosengeld kein Raum bleibt. Des Weiteren ist im Februar 2016 bei der Klägerin zu 3 Einkommen aus Kindergeld in Höhe von 190 Euro zu berücksichtigen. Die Auszahlung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt durch die Beigeladene in Höhe von 1.102,58 Euro im Februar 2016 ist bei der Einkommensanrechnung nicht zu berücksichtigen, da diese in Ausführung der Verpflichtung zur vorläufigen Leistung durch den Beschluss des SG Mainz vom 27.01.2016 (S 11 AS 7/16 ER) erfolgte. Das anzurechnende Gesamteinkommen beträgt somit 1.814,48 Euro. Der Gesamtbedarf der Kläger in Höhe von 1.415 Euro ist durch das Einkommen der Kläger im Februar 2016 daher gedeckt. Da es sich bei sämtlichen im Monat Februar 2016 zufließenden Einnahmen (Arbeitslosengeld, Arbeitsentgelt, Kindergeld) um laufende Einnahmen im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II handelt, ist das Einkommen trotz Bedarfsdeckung nicht nach § 11 Abs. 3 Satz 3 SGB II über einen Zeitraum von sechs Monaten gleichmäßig zu verteilen (vgl. Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 11, Rn. 70.2, Stand 28.12.2015). Die rechnerische Bedarfsdeckung führt vielmehr dazu, dass die Kläger für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016 mangels Hilfebedürftigkeit unabhängig von der ersten Vorlagefrage keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben.

101

Im Monat März 2016 ist als Einkommen des Klägers zu 1 Arbeitslosengeld I in Höhe von 523,80 Euro zu berücksichtigen. Weiter erhielt der Kläger eine Vergütung in Höhe von 166,35 Euro. Hiervon ist ein Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 Euro abzusetzen und nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein weiterer Freibetrag in Höhe von 13,27 Euro, folglich ein Gesamtfreibetrag von 113,27 Euro. Hieraus ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 53,08 Euro. Die Klägerin zu 2 erhielt eine Kindergeldzahlung in Höhe von 190 Euro. Das anzurechnende Gesamteinkommen von 766,88 Euro reicht zur Deckung des Gesamtbedarfs von 1.415 Euro nicht aus.

102

2.5.4 Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger entgegen ihrer Erklärung seit dem 01.11.2015 weitere Einnahmen aus anderen Quellen gehabt haben könnten.

103

Der Kläger zu 1 hat insbesondere glaubhaft versichert, dass er zu keinem Zeitpunkt Zahlungen von Frau ….. erhalten hat. Darauf, ob die Verpflichtungserklärung vom 06.10.2011 – die sich ohnehin nur auf den Kläger zu 1 bezieht – weiterhin Bestand hat oder beispielsweise auf Grund des Wechsels des Aufenthaltszwecks mit dem Ende des Studiums zwischenzeitlich entfallen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 – 1 C 33/97 – Rn. 34), kommt es daher vorliegend nicht an. Im Übrigen verschafft eine Verpflichtungserklärung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG lediglich eine Regressmöglichkeit für die öffentliche Hand, nicht jedoch einen unmittelbaren Unterhaltsanspruch des Aufenthaltsberechtigten gegen den Erklärenden (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09.10.2015 – L 5 AS 643/15 B ER – Rn. 30), so dass auch kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich ist, dass der Kläger zu 1 einen zivilrechtlichen Anspruch auf Unterhaltsleistungen gegen Frau …..haben könnte.

104

Die Kläger haben neben den bei der Einkommensanrechnung berücksichtigten keine weiteren Sozialleistungen erhalten. Einen Anspruch auf Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz (BKGG) hatten die Kläger jedenfalls bis zum 31.03.2016 nicht, da selbst bei Gewährung des Höchstbetrags nach § 6a Abs. 2 Satz 1 BKGG von 140 Euro die Hilfebedürftigkeit in den Monaten, in denen sie vorlag, nicht nach dem Maßstab des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BKGG vermieden worden wäre.

105

2.6 Abgesehen von den als verfassungswidrig gerügten Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II sind die Kläger nicht aus anderen Gründen von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

106

2.6.1 Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II von der Leistungsberechtigung ausgenommen, da sie sich bereits länger als drei Monate in Deutschland aufhalten.

107

Sie sind auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ausgeschlossen, da sie nicht Leistungsberechtigte nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sind. Insbesondere sind sie nicht vollziehbar ausreisepflichtig im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG und waren dies zu keinem Zeitpunkt seit dem 01.11.2015, da sie stets über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG, nach § 16 Abs. 4 AufenthG (Kläger zu 1) oder nach § 30 AufenthG (Klägerin zu 2) verfügten.

108

Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ergibt sich auch nicht daraus, dass die Kläger einen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG in analoger Anwendung haben könnten. Selbst wenn man eine analoge Heranziehung entgegen der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung der erkennenden Kammer zur der Leistungsansprüche des AsylbLG zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für möglich hielte (so z.B. Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, S. 117 f., 3. Auflage 2012), würde hieraus nicht folgen, dass der auf diese Weise berechtigte Personenkreis im regelungstechnischen Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG wäre. Denn die Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung nach § 1 AsylbLG lägen gerade nicht vor. Um einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II auch für diesen Personenkreis anzunehmen, bedürfte es daher einer weiteren analogen Anwendung dieser Vorschrift für Personen, die nach dem AsylbLG analog leistungsberechtigt wären. Für eine solche doppelte Analogie ist kein Sachgrund erkennbar, weil der betroffene Personenkreis gerade wegen eines ohnehin schon vorhandenen Leistungsausschlussgrundes auf Leistungen nach dem AsylbLG analog verwiesen würde.

109

2.6.2 Die Kläger sind auch nicht nach § 7 Abs. 4 SGB II oder § 77 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 7 Abs. 4a SGB II a.F. von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.

110

2.6.3 Seit dem 19.11.2015 ist der Kläger zu 1 auch nicht mehr gemäß § 7 Abs. 5 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Bis zum 23.11.2015 waren die Kläger wiederum nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil der Kläger zu 1 über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck des Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG und die Klägerinnen zu 2 und 3 über hieraus abgeleitete Aufenthaltsrechte verfügten.

111

3. Die Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist für die durch das Gericht zu treffende Sachentscheidung über die Ansprüche der Kläger entscheidungserheblich. Das Gleiche gilt für die Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II.

112

3.1 Entscheidungserheblichkeit im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG liegt vor, wenn bei Gültigkeit der Vorschrift ein Entscheidungsspektrum eröffnet wird, das eine Abweichung von der Entscheidung bei Nichtigkeit der Vorschrift (3.2) ermöglicht (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 127).

113

3.1.1 Im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wäre die Klage für die Zeit ab dem 24.11.2015 hinsichtlich des Hauptantrags (Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Leistungen nach dem SGB II an die Kläger) abzuweisen.

114

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

115

a) Der Kläger zu 1 wäre seit dem 24.11.2015 nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

116

Die Ausschlussregelung erfasst auch Ausländer, die – wie der Kläger zu 1 – über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügen (so auchWolff-Dellen in Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 11, 3. Auflage 2011; Thie in LPK-SGB II, § 7 Rn. 27, 5. Auflage 2013¸ Hänlein in: Gagel, SGB II, § 7 Rn. 71, beck-online; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 93, Stand 14.03.2016; SG Mainz, Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht; in diesem Sinne auch die Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales: BT-Drucks. 16/688, S. 13).

117

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom 29.08.2013 kann einem Ausländer zum Zweck des Studiums an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule oder vergleichbaren Ausbildungseinrichtung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AufenthG umfasst der Aufenthaltszweck des Studiums auch studienvorbereitende Maßnahmen. Nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Abschluss des Studiums für bis zu 18 Monate zur Suche eines diesem Abschluss angemessenen Arbeitsplatzes, sofern er nach den Bestimmungen der §§ 18, 19, 19a und 21 AufenthG von Ausländern besetzt werden darf, verlängert werden. Gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 AufenthG berechtigt die Aufenthaltserlaubnis während dieses Zeitraums zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Aus dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geht mithin hervor, dass der nach dieser Vorschrift verliehene Aufenthaltstitel zum Zwecke der Suche eines Arbeitsplatzes erteilt wird.

118

Die Auffassung von Brühl/Schoch (in: LPK-SGB II, 3. Auflage 2009, § 7 Rn. 34; implizit aufgegeben in der Folgeauflage durch Thie/Schoch in: LPK-SGB II, 4. Auflage 2011, § 7 Rn. 27), dass es bei den genannten Drittstaatsangehörigen kein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche gebe (Verweis auf §§ 4-6, 16-38a AufenthG) und dies auch für die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Studienabschluss nach § 16 Abs. 4 AufenthG, die einen Annex des Aufenthaltsrechts zum Zweck der Ausbildung darstelle, gelten dürfte, trifft nicht zu. Dass das vorherige Vorliegen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG ist, führt nicht dazu, dass Letztere weiterhin zum Zwecke des Studiums erteilt wird. Die Verlängerung des Aufenthaltsrechts nach erfolgreichem Studium gemäß § 16 Abs. 4 AufenthG dient gerade nicht mehr der Ausbildung, sondern der Arbeitsplatzsuche. Für andere bzw. weitere Zwecksetzungen gibt der Wortlaut des § 16 Abs. 4 AufenthG keine Anhaltspunkte. Dass hierbei eine Erwerbstätigkeit gestattet wird, führt nicht dazu, dass die Ausübung einer Erwerbstätigkeit selbst zum Zweck dieses Aufenthaltsrechts wird. Auch wirkt der Aufenthaltszweck der Durchführung eines Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG nicht im Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG fort. Dieser Zweck wurde in diesen Fällen bereits erreicht und hat sich erledigt, weshalb zur anschließenden Arbeitsplatzsuche ein anderer Aufenthaltstitel erforderlich wird. Mit der Möglichkeit, die Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche um bis zu 18 Monate zu verlängern ist mithin ein Wechsel des Aufenthaltszwecks verbunden (Christ in Kluth/Heusch, BeckOK-AuslR, § 16 AufenthG Rn. 51, beck-online, Stand 01.11.2015).

119

Auch der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Ausschluss nicht greifen soll, wenn zu einem früheren Zeitpunkt oder auch unmittelbar vor Erlangung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht zu anderen Zwecken bestand. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem betroffenen Personenkreis weder um EU-Bürger handelt, auf die die Ausschlussmöglichkeit der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38/EG), abzielt, noch eine Einreise zum Zwecke der Arbeitssuche vorgelegen haben muss (vgl. Brandmayer in: BeckOK-SGB II, § 7 Rn. 9, beck-online, Stand: 01.12.2015).

120

Ob der Kläger zu 1 die materiellen Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht erfüllt, das nicht dem Zweck der Arbeitsuche dient – wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt –, ist vorliegend unerheblich. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der EU oder durch Rechtsverordnung etwas Anderes bestimmt ist oder auf Grund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht. Dementsprechend besteht ein Aufenthaltsrecht außer in den zuletzt genannten Fällen erst dann, wenn ein Aufenthaltstitel erteilt wurde und nicht bereits ab dem Zeitpunkt, an dem die tatsächlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen.

121

Anders als potenziell bei Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer sich bei unfreiwilliger, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) verlängern kann (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.10.2015 – L 20 AS 2197/15 B ER – Rn. 8 ff.), ändert die Arbeitslosigkeit und der Arbeitslosengeldbezug des Klägers zu 1 nichts an dem Zweck des ihm erteilten Aufenthaltstitels.

122

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind im Falle des Klägers zu 1 ab dem 24.11.2015 mithin erfüllt.

123

b) Die Klägerin zu 2 wäre als Familienangehörige des Klägers zu 1 ebenfalls gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II seit dem 24.11.2015 von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

124

Familienangehörige im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Personen, die zu der Person, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt, in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen und über ein Aufenthaltsrecht allein auf Grund des Verwandtschaftsverhältnisses zu der Person mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche verfügen. Sofern die erste Person ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 2a FreizügG/EU verfügt, ergibt sich der vom Leistungsausschluss mitbetroffene Kreis der Familienangehörigen aus einzelnen Tatbeständen des § 3 FreizügG/EU. Sofern die erste Person über eine Aufenthaltserlaubnis aus § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG verfügt, ergibt sich der Kreis der mitbetroffenen Familienangehörigen aus den Regelungen zum Familiennachzug gemäß §§ 27, 30, 32, 33 AufenthG. Ausgenommen sind wiederum diejenigen Familienangehörigen, die über ein eigenständiges, d.h. nicht dem Aufenthaltsrecht der ersten Person gemäß § 27 Abs. 4 Satz 1 AufenthG akzessorisches Aufenthaltsrecht beispielsweise nach den §§ 31, 34 Abs. 2 oder 35 AufenthG verfügen.

125

Die Klägerin zu 2 verfügt als Ehefrau des Klägers zu 1 über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG in Abhängigkeit vom Aufenthaltstitel des Klägers zu 1. Ob die Klägerin zu 2 die materiellen Voraussetzungen für ein vom Aufenthaltstitel des Klägers zu 1 unabhängiges Aufenthaltsrecht erfüllt, das seinerseits nicht dem Zweck der Arbeitsuche dient – wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt –, ist vorliegend wiederum unerheblich (s.o. unter a).

126

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind im Falle der Klägerin zu 2 ab dem 24.11.2015 mithin ebenfalls erfüllt.

127

c) Die Klägerin zu 3 wäre im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie in diesem Fall nicht als Angehörige mindestens eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II leben würde.

128

d) Den Klägern kommt der Umstand nicht zu Gute, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf Grund des Verstoßes gegen zwingendes und unmittelbar geltendes Recht der Europäischen Union bei Unionsbürgern nicht anzuwenden ist. Die Regelung verstößt zwar gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen System der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) gerechtfertigt werden (SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 41 ff.; a.A. ohne nähere Begründung: EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63, dem die meisten Spruchkörper der Sozialgerichtsbarkeit ohne weitere sachliche Auseinandersetzung folgen). Die Kläger unterfallen, da sie nicht Staatsangehörige eines (anderen) EU-Mitgliedstaates (bzw. eines der übrigen EWR-Staaten oder der Schweiz, vgl.Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 27.1, Stand 26.01.2015) sind, gemäß Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 jedoch nicht dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung.

129

e) Die VO (EG) 883/2004 findet bei den Klägern auch nicht auf Grund von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 Anwendung. Nach dieser Vorschrift gilt u.a. die VO (EG) 883/2004 auch für Drittstaatsangehörige, die ausschließlich auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die genannte Verordnung fallen, sowie für ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich „in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft“. Unbeschadet der Unbestimmtheit der Regelung im Hinblick auf die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betreffenden Lage (vgl. Bokeloh, ZESAR 2016, S. 71), sind die Voraussetzungen des Art. 1 VO (EG) 1231/2010 im Fall der Kläger nicht gegeben, da diese über keinerlei rechtliche Beziehungen zu anderen EU-Mitgliedstaaten (bzw. zu den anderen EWR-Staaten oder der Schweiz) verfügen.

130

3.1.2 Im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II wäre die Klage des Klägers zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 abzuweisen.

131

a) Nach § 7 Abs. 5 SGB II in der seit dem 01.04.2012 geltenden Fassung haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) oder der §§ 51, 57 und 58 des SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, über die Leistungen nach § 27 SGB II hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

132

Auf Grund dessen, dass das Bezugswort zum Terminus „dem Grunde nach förderungsfähig“ in § 7 Abs. 5 SGB II „Ausbildung“ und nicht etwa „Auszubildende“ ist, kommt es für das Eingreifen des Ausschlusstatbestands nicht darauf an, ob im Einzelfall tatsächlich eine Förderung nach dem BAföG oder dem SGB III erfolgt (so im Ergebnis auch BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R – Rn. 17 m.w.N.). Das Fehlen individueller Voraussetzungen für eine Förderung ist unerheblich und ändert nichts an der Förderungsfähigkeit dem Grunde nach, auch wenn Auszubildende keine Leistungen nach dem BAföG erhalten, z.B. wegen mangelnder Eignung (§ 9 BAföG), wegen Überschreitens der Altersgrenze (§ 10 BAföG), bei Überschreiten der Förderungshöchstdauer (§ 15a BAföG) oder wegen des Fehlens der Voraussetzungen für die Förderung einer weiteren Ausbildung bei einem nach Maßgabe des Gesetzes unbegründeten Ausbildungs- und Fachrichtungswechsel (§ 7 Abs. 2, 3 BAföG). Die Ausbildung eines ausländischen Studenten ist dem Grunde nach förderungsfähig, auch wenn er tatsächlich keine Ausbildungsförderung erhält, weil er – wie der Kläger zu 1 – die in § 8 BAföG aufgeführten aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 297, Stand 14.03.2016).

133

b) Bei dem Kläger zu 1 liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für diesen Leistungsausschluss für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 vor.

134

Das Studium der Humanmedizin an der Universität …., einer staatlichen Hochschule im Inland, gehört nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BAföG zu den nach dem BAföG förderungsfähigen Ausbildungen.

135

Nach § 15b Abs. 3 Satz 1 BAföG endet die Ausbildung mit dem Bestehen der Abschlussprüfung des Ausbildungsabschnitts oder, wenn eine solche nicht vorgesehen ist, mit der tatsächlichen planmäßigen Beendigung des Ausbildungsabschnitts. Hiervon abweichend ist nach § 15b Abs. 3 Satz 2 BAföG, sofern ein Prüfungs- oder Abgangszeugnis erteilt wird, das Datum dieses Zeugnisses maßgebend; für den Abschluss einer Hochschulausbildung ist stets der Zeitpunkt des letzten Prüfungsteils maßgebend. Auf den Zeitpunkt der Exmatrikulation (vorliegend der 14.12.2015) kommt es demnach nicht an.

136

Die dem Grunde nach durch Leistungen des BAföG förderungsfähige Ausbildung des Klägers zu 1 ist demnach seit dem 18.11.2015 beendet und der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II bis zu diesem Zeitpunkt begrenzt.

137

c) Eine Rückausnahme nach § 7 Abs. 6 SGB II liegt im Falle des Klägers zu 1 nicht vor. Der Kläger hat insbesondere nicht im Sinne des § 7 Abs. 6 Nr. 1 SGB II auf Grund des § 2 Abs. 1a BAföG keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung, weil er keine Ausbildungsstätte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BAföG (weiterführende allgemeinbildenden Schulen und Berufsfachschulen) besucht hat. Der Bedarf des Klägers würde sich nicht entsprechend § 7 Abs. 6 Nr. 2 SGB II nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 BAföG bemessen, weil der Kläger keine Berufsfachschule oder Fachschulklasse besucht hat. Auch § 7 Abs. 6 Nr. 3 SGB II greift nicht, weil der Kläger zu 1 keine der dort genannten Abendschultypen besucht hat. Die an nach dem SGB III förderungsfähige Ausbildungen anknüpfenden Rückausnahmen in § 7 Abs. 6 SGB II sind für das Hochschulstudium des Klägers zu 1 ebenfalls nicht einschlägig.

138

d) Der Kläger zu 1 hat weder einen Anspruch auf Leistungen in Höhe der Mehrbedarfe nach § 27 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 21 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 oder Abs. 6 SGB II noch gegenwärtig auf Erstausstattungsleistungen nach § 27 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II.

139

Ergänzende Leistungen gemäß § 27 Abs. 3 SGB II kommen ebenfalls nicht in Betracht, weil der Kläger zu 1 in der Zeit vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 weder Berufsausbildungsbeihilfe oder Ausbildungsgeld nach dem SGB III oder Leistungen nach dem BAföG erhalten hat, noch diese Leistungen nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten hat.

140

e) Der Kläger zu 1 begehrt im vorliegenden Verfahren die zuschussweise Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II, so dass auch die theoretische Möglichkeit, Darlehensleistungen nach § 27 Abs. 4 Satz 1 SGB II für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auf Grund einer Ermessensentscheidung zu erhalten, sofern der Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 5 SGB II eine besondere Härte bedeuten würde, an der (teilweisen) Klageabweisung für den Fall der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II nichts ändern würde. Im Übrigen wäre hier wohl das Vorliegen einer besonderen Härte zu verneinen, weil der Kläger zu 1 zum Zeitpunkt der Wirkung der Antragstellung am 01.11.2015 noch über ausreichendes Vermögen verfügte, um sein Studium erfolgreich abschließen zu können (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.08.2008 – L 34 B 1550/08 AS ER – Rn. 8; BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 R – Rn. 46). Die begehrte Verurteilung zur Leistung könnte selbst bei Annahme eines besonderen Härtefalls nur unter der Voraussetzung einer Ermessensreduzierung auf Null erfolgen, die bereits auf Grund des noch vorhandenen Schonvermögens nicht in Betracht kommt.

141

3.2 Der Kläger zu 1 hätte für den Fall, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II für nichtig erklärt würde einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015. Für die Zeit vom 19.11.2015 bis zum 23.11.2015 hat er unabhängig von den Vorlagefragen einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 hätte er für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, ebenfalls einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II.

142

Die Klägerin zu 2 hat für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, hätte sie für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 ebenfalls einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II.

143

Die Klägerin zu 3 hat für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 einen Anspruch auf Sozialgeld gemäß §§ 7 Abs. 2, 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Für den Fall, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtig erklärt würde, hätte sie für die Zeit vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und für die Zeit vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 ebenfalls einen Anspruch auf Sozialgeld.

144

4. Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen wird ferner nicht dadurch beseitigt, dass der streitgegenständliche Bescheid aus einem anderen Rechtsgrund aufzuheben wäre und/oder den Klägern aus anderen Rechtsgründen Leistungen nach dem SGB II seit dem 01.11.2015 zustehen könnten. Insbesondere liegen weder wirksame Bewilligungsbescheide noch Zusicherungen im Sinne des § 34 SGB X vor, die den Beklagten unabhängig von der materiellen Rechtslage zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an die Kläger verpflichten könnten.

145

5. Die im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit relevante Frage, ob nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II oder nach § 7 Abs. 5 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossene Personen – insbesondere auch die Kläger – Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG haben können, berührt die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nicht. Denn in einem solchen Fall hätte die durch das Gericht zu treffende Entscheidung einen anderen Inhalt. An Stelle des Beklagten wäre die Beigeladene zu einer anderen als der im Hauptantrag begehrten Leistung zu verurteilen. Insbesondere im Hinblick auf unterschiedliche Einkommens- und Vermögensanrechnungsvorschriften wären Leistungen in insgesamt niedrigerer Höhe und unter abweichender Verteilung zwischen den Klägern zu gewähren.

146

6. Im Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wäre der Beklagte daher unter (Teil-)Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.01.2016 und vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 sowie zur Zahlung von Sozialgeld an die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und vom 01.03.2016 bis mindestens zum 31.03.2016 zu verurteilen, da die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen gegeben sind.

147

Im Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit auch des § 7 Abs. 5 SGB II wäre der Beklagte unter (Teil-)Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 dem Grunde nach zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an den Kläger zu 1 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 zu verurteilen.

148

Unabhängig vom Ausgang des Vorlageverfahrens wird der Beklagte unter (Teil-) Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2015 dem Grunde nach zur Zahlung von Arbeitslosengeld II an die Klägerin zu 2 und zur Zahlung von Sozialgeld an die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 23.11.2015 zu verurteilen sein. Denn in diesem Zeitraum verfügte der Kläger zu 1 noch über ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke des Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG, so dass die Klägerin zu 2 nicht als dessen Familienangehörige nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen war. Der Leistungsausschluss des Klägers zu 1 nach § 7 Abs. 5 SGB II gilt anders als der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht auch für Familienangehörige. Die Klägerin zu 3 hat für diese Zeit einen Anspruch auf Sozialgeld jedenfalls auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Bedarfsgemeinschaft der Klägerin zu 2 nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II.

149

Unabhängig vom Ausgang des Vorlageverfahrens wird die Klage abzuweisen sein, soweit die Klägerin zu 3 die Zahlung von Sozialgeld für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 31.01.2016 begehrt und soweit alle Kläger Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 29.02.2016 begehren.

150

7. Die erste Vorlagefrage ist somit entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, da die Klage im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II für den Zeitraum ab dem 24.11.2015 für alle Kläger abzuweisen wäre, bei Nichtigkeit der Vorschrift der Klage für den Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 jedenfalls für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.03.2016 und für die Klägerin zu 3 für den Zeitraum vom 24.11.2015 bis zum 31.12.2015 und für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 31.03.2016 hingegen stattzugeben wäre.

151

Die zweite Vorlagefrage ist entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, da die Klage im Falle der Gültigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis zum 18.11.2015 abzuweisen wäre, bei Nichtigkeit der Vorschrift der Klage jedoch auch für diesen Zeitraum stattzugeben wäre.

V.

152

Die Kammer ist von der Verfassungswidrigkeit der genannten Vorschriften überzeugt.

153

Die Kammer hat sich mit der Frage der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (1.) und des § 7 Abs. 5 SGB II (2.) einschließlich der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung und der zu dieser Thematik veröffentlichten Rechtsprechung und Literatur auseinandergesetzt.

154

1. Nachdem der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zunächst vor allem im Hinblick auf dessen mögliche Europarechtswidrigkeit Gegenstand zahlreicher Gerichtsentscheidungen und rechtswissenschaftlicher Diskussionen war, steht seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15.09.2015 (C-67/14) die Frage der Verfassungswidrigkeit der Regelung stärker im Fokus. Hierbei wurden bislang – soweit ersichtlich – ausschließlich Entscheidungen veröffentlicht, die ausländische Staatsangehörige aus Staaten der EU oder deren Familienangehörige betreffen. In der Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig oder zumindest verfassungsrechtlich bedenklich sei (1.1). Des Weiteren wird in verschiedenen Varianten die Auffassung vertreten, dass ein vollständiger Leistungsausschluss von ausländischen Staatsangehörigen wohl gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstieße, ein derartiger Verstoß aber durch „verfassungskonforme Auslegung“ und/oder Heranziehung anderer Normen vermieden werden könne (1.2). Eine dritte Auffassung hält mit unterschiedlichen Begründungen den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unabhängig von anderen existenzsichernden Ansprüchen gegen inländische Leistungsträger für verfassungsgemäß (1.3). In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Verfassungsmäßigkeit eines vollständigen Leistungsausschlusses von ausländischen Staatsangehörigen wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überwiegend bezweifelt, jedenfalls aber für klärungsbedürftig gehalten (1.4).

155

1.1 Die Auffassung, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist, wird in dieser Klarheit – soweit anhand veröffentlichter Entscheidungen ersichtlich – bislang nur von der erkennenden Kammer und der 22. Kammer des SG Hamburg vertreten. Bereits zuvor wurden in der Rechtsprechung allerdings deutliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung geäußert.

156

1.1.1 Der 2. Senat des LSG Sachsen-Anhalt hat im Rahmen einer Folgenabwägung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU (bis zur Feststellung der Ausländerbehörde, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht bestehe) nicht ausreisepflichtigen Antragstellern rumänischer Staatsangehörigkeit festgestellt, dass das Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums greife, solange sie sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und damit im Geltungsbereich des GG aufhielten. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schütze und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden könne (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Die Antragsteller (des dortigen Verfahrens) könnten zur Deckung ihres menschenwürdigen Existenzminimums nicht auf Leistungen nach § 23 SGB XII oder Leistungen nach dem AsylbLG zurückgreifen. Denn nach § 23 Abs. 3 Satz 1 XII hätten Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, und ihre Familienangehörigen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Das AsylbLG gelte für die Antragsteller nicht, weil sie nicht zu dem in § 1 Abs. 1 AsylbLG genannten Personenkreis gehörten. Ob die Antragsteller möglicherweise Ansprüche auf Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII hätten, weil § 21 Satz 1 SGB XII gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen sein könnte, dass für betroffene Unionsbürger ein Leistungsanspruch nach dem SGB II "dem Grunde nach" gerade nicht bestehe und damit der Leistungsausschluss des § 21 Satz 1 SGB XII nicht greife (Bezugnahme auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.10.2012 – 19 AS 1393/12 B ER u.a. – Rn. 71) sei zweifelhaft, wenn sich der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 23 Abs. 3 Satz 1 XII dafür entschieden habe, Versuche, den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durch Rückgriff auf § 23 SGB XII zu umgehen, zu unterbinden (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 01.11.2013 – L 2 AS 841/13 B ER – Rn. 36 f.; ausdrücklich aufgegeben allerdings mit Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40).

157

1.1.2 Im Urteil vom 27.11.2013 weist der 6. Senat des Hessischen LSG (L 6 AS 378/12 – Rn. 63) ergänzend darauf hin, dass ein Totalausschluss von Leistungen zur Sicherung der Menschenwürde allein auf Grund einer Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit am Maßstab der Entscheidungen des BVerfG vom 07.02.2012 (1 BvL 14/07) und vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) verfassungswidrig sein dürfte.

158

In einem Beschluss vom 07.04.2015 (L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 54) hat der 6. Senat des Hessischen LSG das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums der Ausdehnung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Wege einer Analogie auf Personen, deren Aufenthalt allein auf Grund der Freizügigkeitsvermutung legal ist, entgegengehalten. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlange bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger dürfe nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet sei. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthalte (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 31 BvL 3/09, 1 BvL 41 BvL 4/09 – Rn. 136).

159

1.1.3 Auch der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen hält in einem im Wesentlichen zusprechenden Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter Bezugnahme auf das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) fest, dass der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in die Erwägungen einzubeziehen sei, wonach das Existenzminimum eines Ausländers auch bei kurzer Aufenthaltsdauer oder kurzer Aufenthaltsperspektive in Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein müsse. Dieser Anspruch könne weder auf Grund migrationspolitischer Erwägungen – zur Minimierung von Anreizen sozialleistungsmotivierter Wanderbewegungen – verringert, noch könne pauschal nach Aufenthaltstiteln differenziert werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.03.2015 – L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 27).

160

1.1.4 Die vorlegende 3. Kammer des SG Mainz vertritt im Beschluss vom 02.09.2015 die Auffassung, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen das Grundrecht auf Gewährleistungen eines menschenwürdigen Existenzminimums verstößt (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER – Rn. 38 ff. mit Anmerkung Blischke, jurisPR-SozR 4/2016 Anm. 2). Die Begründung fußt im Wesentlichen darauf, dass Leistungsausschlüsse dem Grunde nach, die trotz bestehender Hilfebedürftigkeit eintreten und durch kein anderes existenzsicherndes Leistungssystem (z.B. durch Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG) aufgefangen werden, per se verfassungswidrig seien, da sie evident die Gewähr dafür entzögen, ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sei (Verweis auf SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 219). Das Grundrecht sei – unbeschadet der Beschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) – dem Grunde nach unverfügbar und insoweit – wie es der überkommenen Dogmatik der Menschenwürdegarantie entspreche – abwägungsfest (Bezugnahme auf Baer, NZS 2014, S. 3). Als Menschenrecht stehe das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Ein völliger Ausschluss von Leistungen lasse sich nicht mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG vereinbaren. Ein Rückgriff auf die Auffangregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII sei auf Grund deren systematischer Stellung ausgeschlossen. Eine verfassungskonforme Auslegung sei nur unter Beachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlautes und unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik zulässig. Andernfalls würde die Verfassungskonformität der "ausgelegten" Vorschrift durch einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG und zugleich gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz erkauft. Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums könne nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden.

161

1.1.5 Dieser Auffassung hat sich die (seinerzeit mit der 3. Kammer personalidentische) 12. Kammer des SG Mainz mit Beschluss vom 12.11.2015 (S 12 AS 946/15 ER – Rn. 61 ff.; vgl. auch Krämer, SozSich plus 2016, S. 12) unter Auseinandersetzung mit dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) und der hierzu wiederum ergangenen sozialgerichtlichen Rechtsprechung angeschlossen.

162

1.1.6 Auch die 22. Kammer des SG Hamburg vertritt die Auffassung, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren ist (SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER –Rn. 20 f.). Nach der maßgeblichen Rechtsprechung des BVerfG hänge der individuelle Leistungsanspruch gegen den Staat auf Sicherung des Existenzminimums nicht vom Aufenthaltsstatus, sondern lediglich vom tatsächlichen Aufenthalt im Staatsgebiet ab. Insofern könne der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) auch nicht auf die Inanspruchnahme von existenzsichernden Sozialleistungen in dessen Herkunftsstaat Bulgarien verwiesen werden, etwa weil in allen EU-Staaten ein hinreichendes Mindestsicherungsniveau garantiert sein sollte. Denn auch eine prognostiziert kurze Aufenthaltsdauer rechtfertige keine Einschränkung des Grundrechts. Ein gegenüber dem Existenzsicherungsniveau deutscher Staatsbürger abgesenktes Leistungsniveau könne nicht durch migrationspolitische Erwägungen gerechtfertigt werden. Umso weniger könne ein einfachgesetzlicher vollständiger Entzug notwendiger Leistungen gerechtfertigt werden. Sofern den durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen keine den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechende andere Leistung zustehe, liege ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums vor. Schließlich sei hervorzuheben, dass dem Einzelnen aus verfassungsrechtlichen Gründen einfachgesetzlich ein Leistungsanspruch einzuräumen sei. Die Einräumung einer bloßen Leistungsmöglichkeit ohne Normierung der Leistungsinhalte, beispielsweise im Rahmen einer nicht näher konkretisierten Ermessensvorschrift, sei unzureichend und damit verfassungswidrig. Dem könne nicht durchgreifend entgegengehalten werden, dass das BVerfG in einem Nichtannahmebeschluss vom 09.02.2001 (1 BvR 781/98 – Rn. 25) es unter bestimmten Bedingungen für in der Regel ausreichend gehalten habe, unabweisbare Hilfe in Form von Reise- und Verpflegungskosten zu leisten. Zum einen habe den dort betroffenen Ausländern jedenfalls andernorts im Inland ein Leistungsanspruch zugestanden. Zum anderen könne nicht davon ausgegangen werden, dass die genannte Entscheidung nach den Entscheidungen des BVerfG zur Regelleistung und zum AsylbLG noch den Stand der verfassungsrechtlichen Dogmatik wiedergebe. Vor der Entscheidung zur Regelleistung im Jahr 2010 sei noch nicht einmal geklärt gewesen, ob die Sicherung des Existenzminimums als subjektive Grundrechtsposition des Einzelnen anzusehen sei.

163

1.1.7 Der 6. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen betont im Beschluss vom 30.11.2015 (L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 16 ff.), dass auch nach der Entscheidung des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) die mitgliedsstaatlichen Grundrechte trotz der Einschlägigkeit des Unionsrechts ihre eigenständige Funktion behielten (Hinweis auf Kingreen, NVwZ 2015, S. 1506). Auf der Grundlage gerade auch der Rechtsprechung des BVerfG bestünden berechtigte Bedenken, ob die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der geltenden Form verfassungsgemäß sei. Denn das BVerfG habe in seiner Entscheidung zum AsylbLG (Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10,1 BvL 2/11) ausgeführt, Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG begründe einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zustehe. Insofern müsse ein Leistungsanspruch eingeräumt werden. Soweit diesem Anspruch entgegengehalten werde, es stehe dem Antragsteller frei, in sein Heimatland zurückzukehren, habe dieser Einwand seine sozialpolitische Bedeutung, aber keinen inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Denn der Gewährleistungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG entspreche deshalb ein Leistungsanspruch des Grundrechts-/Menschenrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde des Einzelnen schütze und diese Würde in solchen Notlagen nur oder doch zumindest in erster Linie durch materielle Unterstützung gesichert werden könne. Der Einwand beantworte schlicht die Frage nicht, auf welche Weise und in welchem Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur Ausreise sichergestellt werde, wenn der Betroffene nicht zur Ausreise verpflichtet sei – erst die (vollziehbare) Verpflichtung zur Ausreise würde diese Ausländer dem AsylbLG als Sicherungssystem zuweisen (Hinweis auf § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG).

164

1.2 Die für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG und andere Sozialgerichte halten die Gewährung von existenzsichernden Leistungen trotz der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II an die betroffenen Personen für möglich und gehen aus diesem Grund implizit oder ausdrücklich von der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II aus.

165

1.2.1 Der 16. Senat des Bayerischen LSG hält den zeitlich unbeschränkten völligen Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, der durch den gleich formulierten Ausschluss von Sozialhilfe in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII flankiert werde, im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das vom BVerfG aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet werde, für bedenklich (Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 59 f.). Da es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um kein Grundrecht nur für Deutsche, sondern um ein Menschenrecht handele, gelte es auch für Ausländer, die sich in Deutschland aufhielten, vor allem wenn dieser Aufenthalt rechtmäßig sei. Zwar gestehe das BVerfG dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der zur Gewährleistung dieses Existenzminimums zu erbringenden Leistungen einen Gestaltungsspielraum zu. Es frage sich aber, ob nicht der zeitlich unbegrenzte Ausschluss jeglicher Leistungen für Ausländer, die sich rechtmäßig zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, in den von Art. 19 Abs. 2 GG für unantastbar erklärten Wesensgehalt dieses Grundrechts eingreife. Ob der zeitlich unbefristete Ausschluss von Leistungen an arbeitsuchende Unionsbürger mit der Begründung gerechtfertigt werden könne, dass diese auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen werden könnten (Hinweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30), dürfe zumindest zweifelhaft sein. Ferner sei im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zweifelhaft, ob eine durch sachliche Gründe zu rechtfertigende Ungleichbehandlung darin liege, dass Ausländer, die vollziehbar ausreisepflichtig seien, wenigstens gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG das "reduzierte" Existenzminimum nach dem AsylbLG erhielten, dagegen Ausländer, die die Unionsbürgerschaft besäßen und sich legal in Deutschland aufhielten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ohne zeitliche Begrenzung von jeglichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen seien. Ohne sich endgültig auf eine Rechtsgrundlage festzulegen, verpflichtete der Senat den dortigen Antragsgegner zur Gewährung vorläufiger Leistungen in der nach dem AsylbLG vorgesehenen Höhe (Bayerisches LSG, Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 69).

166

1.2.2 Der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 14) weist darauf hin, dass in der Literatur mit überzeugenden Argumenten die Auffassung vertreten werde, dass selbst hilfebedürftigen Ausländern, bei denen ein Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 SGB XII bzw. eine Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 8 Abs. 2 SGB II vorliege, zumindest Leistungen analog § 1a AsylbLG vom Leistungsträger nach dem SGB XII zur Verfügung gestellt werden müssten, wenn sie nicht Mittel zur Ausreise erhielten. Darüber hinaus gehende Leistungen stünden im Ermessen der Sozialhilfeträger.

167

In einer späteren Entscheidung hält der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für klärungsbedürftig, jedoch im Falle des Eingreifens dieses Leistungsausschlusses in Übereinstimmung mit seiner früheren Entscheidung einen Anspruch auf Sozialhilfe im Ermessenswege für möglich, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.09.2015 – L 19 AS 1260/15 B ER – Rn. 27 und 29; ähnlich derselbe Senat mit Beschluss vom 30.09.2015 – L 19 AS 1491/15 B ER – Rn. 27 unter Hinweis auf den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG. i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG, wonach das Existenzminimum eines Ausländers auch bei kurzer Aufenthaltsdauer oder kurzer Aufenthaltsperspektive in Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein müsse).

168

1.2.3 Der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14) hält es im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für möglich, den beigeladenden Sozialhilfeträger im Rahmen der Folgenabwägung zu verpflichten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossenen Personen Regelbedarfe nach § 27a SGB XII zu gewähren. Zwar hätten Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe (§ 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII). Es begegne jedoch rechtlichen Bedenken, Neu-EU-Bürger bei einem rechtmäßigen Aufenthalt in der BRD von jeglicher staatlicher Unterstützung selbst bei untragbaren Verhältnissen auszuschließen. Solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU festzustellen, entspreche es der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen (Verweis auf BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R – Rn. 4). Erst mit der Verlustfeststellung sei die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU begründet. Auch würde sich eine Schlechterstellung der Unionsbürger aus den Beitrittsgebieten gegenüber aus entfernteren Ländern stammenden Antragstellern nach dem AsylbLG ergeben. Zur Überzeugung des Senats komme bei untragbaren Verhältnissen unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Wertungen nach Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG eine Mindestsicherung nach dem SGB XII bzw. AsylbLG im Wege einer Rechtsfolgenanwendung in Betracht.

169

1.2.4 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f.; vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 – L 15 AS 202/14 B ER – Rn. 21 ff.) erklärt, dass er die in Rechtsprechung und Literatur verschiedentlich geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Ausschluss von arbeitsuchenden Unionsbürgern von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowohl nach dem SGB II als auch nach dem SGB XII nicht teile. Dabei übersehe er nicht, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG dem Grunde nach unverfügbar sei und durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden müsse. Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlten, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen seien, sei der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhielten, gleichermaßen zu. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben könne aber dadurch Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf Mindestsicherung nach dem SGB XII eingeräumt werde. Es sei – soweit ersichtlich – in der sozialhilferechtlichen Literatur unumstritten, dass auch bei Vorliegen von Leistungsausschlussgründen Ausländern, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, ein Anspruch auf die nach den Umständen des Einzelfalls unabweisbar gebotenen Leistungen erhalten bleibe (Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 4). Welche Leistungen unabweisbar seien, hänge von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland komme in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht (Überbrückungsleistungen). Sei die Rückkehr im Einzelfall vorerst nicht möglich, seien längerfristige Leistungen zu erbringen, die das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum sicherten. Diese könnten sich an den Leistungen nach dem AsylbLG orientieren. Einem solchen Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe stehe nicht § 21 Satz 1 SGB XII entgegen, wonach Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt seien, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten. Der verfassungsrechtlich gebotene Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums lasse sich bei Unionsbürgern, die dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterlägen, im Rahmen des Regelungsgefüges des SGB II nicht verwirklichen. Im Rahmen des SGB XII werde dieser Anspruch aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, des § 1 a AsylbLG oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitet. Nach Auffassung des Senats bestehe bei arbeitsuchenden Unionsbürgern, die ohne ausreichende Existenzmittel in die Bundesrepublik eingereist seien und auf dem Arbeitsmarkt bislang weder als Arbeitnehmer noch als Selbstständige Fuß gefasst hätten, eine atypische Bedarfslage, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) rechtfertige. § 21 Satz 1 SGB II stehe der Anwendung dieser Norm, die sich nicht im 3. Kapitel des SGB XII über die Hilfe zum Lebensunterhalt finde, nicht entgegen.

170

1.2.5 Auch der 7. Senat des Hessischen LSG hält grundsätzlich einen Anspruch auf Gewährung von Hilfen in sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII gegen den Sozialhilfeträger für möglich, weil das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dem Grunde nach unverfügbar sei und durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden müsse (Hessisches LSG, Beschluss vom 18.09.2015 – L 7 AS 431/15 B ER – Rn. 21).

171

1.2.6 Der 4. Senat des LSG Hamburg vertritt unter Anschluss an den 7. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER) die Auffassung, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem nationalen Verfassungsrecht vereinbar sei. Den verfassungsrechtlichen Vorgaben könne aus Sicht des Senats dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen eingeräumt werde (Bezugnahme auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER). Welche Leistungen unabweisbar seien, hänge dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland komme in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht. Es könne dahingestellt bleiben, ob ein solcher Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, des § 1a AsylbLG oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG herzuleiten sei oder ob in entsprechenden Fällen von einer atypischen Bedarfslage auszugehen sei, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII rechtfertige. Aus der Entscheidung des BVerfG zum AsylblG (Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 2/11) folge nichts Anderes. In jener Entscheidung sei es um die Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs nach § 3 AsylbLG gegangen. Nur in diesem Zusammenhang habe das BVerfG ausgeführt, dass Leistungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren begründet werden müssten und die Höhe der Leistungsansprüche nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenziert werden dürfe. Hier jedoch gehe es um einen Leistungsausschluss, der seine Rechtfertigung in dem europäischen Konzept einer Freizügigkeit finde, ohne dass zugleich (schon) eine so genannte Sozialunion hergestellt sei. Dieses Konzept sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wobei der Senat davon ausgehe, dass in sämtlichen Mitgliedsstaaten der EU deren grundlegende, in Art. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgelegten Werte, wozu Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte gehörten, gewährleistet seien. Weiter habe das BVerfG in jener Entscheidung ausgesprochen, dass die Hilfebedürftigen nicht auf freiwillige Leistungen verwiesen werden dürften, sondern der Gesetzgeber ihnen ein entsprechendes subjektives Recht einräumen müsse. Dem genüge der oben beschriebene Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen, der – wie etwa auch der Anspruch nach § 1a oder § 11 Abs. 2 AsylbLG bzw. nach § 23 SGB XII – ein gesetzlicher Anspruch sei, selbst wenn seine konkrete Ausgestaltung im Einzelfall nicht direkt aus dem Gesetz ablesbar sei. Anders als bei der Bemessung der Leistungen nach § 3 AsylbLG stoße der Gesetzgeber wegen der Individualität und Situationsbezogenheit dieses Anspruchs an sachbezogene Grenzen. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Vielmehr beruhe er auf sachgerechten Gründen, nämlich dem bereits erwähnten europäischen Konzept der Freizügigkeit einerseits und dem grundsicherungsrechtlichen Grundsatz der Selbsthilfe andererseits. EU-Bürger seien nämlich typischerweise ohne weiteres im Stande, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren und dort unter adäquaten, menschenwürdigen Umständen zu leben. Insoweit sei ihre Situation mit der in § 11 Abs. 2 AsylbLG geregelten Lage derjenigen Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG vergleichbar, denen bei Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung im Bundesgebiet nur die unabweisbar gebotene Hilfe zu leisten sei. Zwar möge es im Hinblick auf § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG Fälle geben, in denen ausländische Nicht-EU-Bürger Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, obwohl sie ebenfalls ohne weiteres in ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten. Darin liege aber – abgesehen von der politischen Diskussion über Rechtsänderungen in diesem Bereich – kein relevanter Gleichheitsverstoß, weil der Gesetzgeber bei der ihm nur möglichen typisierenden Betrachtung nicht von der gleichmäßigen Gewähr adäquater, menschenwürdiger Umstände außerhalb der EU ausgehen müsse (LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9 ff.).

172

1.2.7 Der 4. Senat des BSG vertritt in zwei Urteilen vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R und B 4 AS 44/15 R) die Auffassung, dass Personen, die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen sind, ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII zustehen kann. Hierbei hat er zu Grunde gelegt, dass der Ausschluss arbeitsuchender Unionsbürger von SGB II-Leistungen auch für diejenigen Unionsbürger greife („erst-recht“), die über kein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügigG/EU oder dem AufenthG verfügen. Auch bei fehlender Freizügigkeitsberechtigung seien aber zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen. Im Falle eines verfestigten Aufenthalts, den das BSG bei einem Aufenthaltszeitraum von mehr als sechs Monaten annimmt, sei dieses Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen sei (BSG, Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.). Die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist, hat der 4. Senat des BSG in diesen Entscheidungen nicht ausdrücklich erörtert.

173

Der 4. Senat des BSG hat seine Rechtsprechung mit Urteilen vom 17.02.2016 (B 4 AS 24/14 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht) und vom 17.03.2016 (B 4 AS 32/15 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht), in der letzten Entscheidung allerdings von einer Nichtanwendung der Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 SGB XII bei einem Angehörigen eines EFA-Signatarstaates ausgehend, aufrechterhalten.

174

1.2.8 Der 14. Senat des BSG hat sich dem 4. Senat mit Urteilen vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R) und vom 20.01.2016 (B 14 AS 15/15 R – Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht – und B 14 AS 35/15 R) angeschlossen und hierbei auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II angesprochen, allerdings keine verfassungsrechtlichen Bedenken gesehen. Der Leistungsausschluss zu Lasten der Klägerinnen und Kläger der dortigen Verfahren sei insbesondere schon deshalb mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar, weil den jeweiligen Klägerinnen und Klägern existenzsichernde Leistungen durch den beigeladenen bzw. beizuladenden Sozialhilfeträger nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu gewähren seien (BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R – Rn. 36; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 18/14 R – Rn. 34; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 33; BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 32). Der 14. Senat des BSG führt zur Begründung des sozialhilferechtlichen Anspruchs an, dass es auf die Möglichkeit einer Heimkehr des Ausländers in sein Herkunftsland in diesem Zusammenhang nicht ankomme. Diese Möglichkeit sei im Hinblick auf die Ausgestaltung des genannten Grundrechts als Menschenrecht schon verfassungsrechtlich jedenfalls solange unbeachtlich, wie der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland von den zuständigen Behörden faktisch geduldet werde. Ungeachtet dessen finde der Verweis auf eine so verstandene Selbsthilfe in dieser Lage nach dem derzeit geltenden Recht auch sozialhilferechtlich keine Grundlage. Zwar erhalte Sozialhilfe nach dem Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XII nicht, wer sich – vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens – selbst helfen könne oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhalte. Diese Vorschrift sei jedoch nach der Rechtsprechung des Sozialhilfesenats des BSG keine eigenständige Ausschlussnorm, sondern ihr komme regelmäßig nur im Zusammenhang mit ergänzenden bzw. konkretisierenden sonstigen Vorschriften des SGB XII Bedeutung zu; ein Leistungsausschluss ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII sei mithin allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließe und Ansprüche ohne Weiteres realisierbar seien (Hinweis auf BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R – Rn. 25). Für die Annahme einer solchen Ausnahmelage fehle indes – nachdem eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für einen Verweis auf die Rückkehr in das Heimatland nach geltendem Recht im SGB XII nicht bestehe – ohne Begründung einer Ausreisepflicht des Ausländers als Ergebnis eines ausländerbehördlichen Verfahrens schon im Ansatz jeder Anhaltspunkt (BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 42).

175

1.2.9 Dem BSG haben sich inzwischen – jeweils im Rahmen von Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und vorbehaltlich einer Prüfung im Hauptsacheverfahren – die 17. Kammer des SG Darmstadt (Beschluss vom 04.12.2015 – S 17 SO 211/15 ER – Rn. 28 ff.), der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschlüsse vom 16.12.2015 – L 7 AS 1466/15 B ER – Rn. 14, vom 17.12.2015 – L 7 AS 1711/15 B ER – Rn. 12, vom 04.03.2016 – L 7 AS 2143/15 B ER – Rn. 14, vom 22.03.2016 – L 7 AS 354/16 B ER, L 7 AS L 7 AS 355/16 B – Rn. 10und vom 07.04.2016 – L 7 AS 288/16 B ER – Rn. 20 f.), der 25. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 21.12.2015 – L 25 AS 3035/15 B ER – Rn. 8), die 128. Kammer des SG Berlin (Beschluss vom 04.01.2016 – S 128 AS 25271/15 – Rn. 32 ff.), der 28. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 15.01.2016 – L 28 AS 3053/15 B ER – Rn. 8), die 3. Kammer des SG Kassel (Beschluss vom 21.01.2016 – S 3 AS 217/15 ER – Rn. 46), die 11. Kammer des SG Mainz (Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht), die 62. Kammer des SG Dortmund (Beschluss vom 11.02.2016 – S 62 SO 43/16 ER – Rn. 23 ff.), der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschlüsse vom 24.02.2016 – L 19 AS 1834/15 B ER, L 19 ASL 19 AS 1835/15 B – Rn. 18,vom 24.03.2016 – L 19 AS 289/16 B ER – Rn. 28 und vom 14.04.2016 – L 19 AS 576/16 B ER – Rn. 2), die 26. Kammer des SG Neuruppin (Beschluss vom 22.03.2016 – S 26 AS 378/16 ER – Rn. 20 ff.) und der 6. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.04.2016 – L 6 AS 2249/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 21/16 B – Rn. 20) angeschlossen (grundsätzlich dem BSG folgend, eine Ermessensreduzierung auf Null jedoch ablehnend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 23 SO 46/16 B ER, L 23 SOL 23 SO 47/16 B ER PKH –, Rn. 21 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 15 SO 53/16 B ER – Rn. 23 ff. und LSG Hamburg, Beschluss vom 14.04.2016 – L 4 AS 76/16 B ER – Rn. 8 ff.).

176

1.2.10 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen geht zwar im Beschluss vom 07.03.2016 (L 15 AS 185/15 B ER – Rn. 16 f.) mit dem BSG davon aus, dass Hilfe zum Lebensunterhalt als Ermessensleistung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII erbracht werden kann, hält die vom BSG vorgesehene Differenzierung zwischen einem Aufenthalt von bis zu sechs Monaten und einem darüberhinausgehenden Aufenthalt nicht für zulässig. Das BVerfG habe im Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) festgestellt, dass der Anspruch auf Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen gleichermaßen zustehe, er seinem Umfang nach zwischen unterschiedlichen Gruppen Hilfebedürftiger nur dann differenzierend zu bemessen sei, wenn und soweit sich eine verschiedene Bedürfnislage feststellen lasse und er im Übrigen der Konkretisierung durch vom Gesetzgeber auszugestaltende Normen bedürfe. Soweit sich hieraus Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des grundsätzlichen Anspruchsausschlusses nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII und seiner Ergänzung durch die auf Einzelfälle beschränkte Ermächtigung zu einer Leistungsgewährung nach Ermessen in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ergeben würden, wären diese nicht auf EU-Bürger mit einem Aufenthalt von mehr als sechs Monaten beschränkt. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG seien die Anforderungen der Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG an die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums vom Beginn eines Aufenthalts im Bundesgebiet an durchgängig zu verwirklichen. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines dem Wortlaut von § 23 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 1 Satz 3 SGB XII folgenden Normverständnisses, das von der Geltung eines allgemeinen Anspruchsausschlusses für arbeitssuchende und ihnen gleichzustellende Ausländer sowie einer nur im Einzelfall eröffneten Möglichkeit zu einer Leistungsbewilligung im Ermessenswege ausgehe, wären damit ganz genereller Art und angesichts des nach seinem eindeutigen Wortlaut klaren Ausnahmecharakters von § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII nur durch eine Richtervorlage nach Art. 100 GG zu klären. Der Senat halte allerdings den Anspruchsausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII und die auf Einzelfälle begrenzte Ermächtigung zu Ermessensleistungen in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII für verfassungsrechtlich unbedenklich. Gerade die Ausübung von Ermessen erlaube es nämlich dem zuständigen Sozialhilfeträger, der individuellen Lebenssituation hilfebedürftiger Ausländer Rechnung zu tragen. An ihr habe sich auch nach der Rechtsprechung des BVerfG die Hilfegewährung auszurichten (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 66, 69). Daran, dass das soziokulturelle Existenzminimum gewährleistet werden müsse, bleibe der Sozialhilfeträger auch im Rahmen einer ihm eröffneten Ermessensentscheidung gebunden.

177

1.2.11 Die 32. Kammer des SG Halle (Saale) (Beschluss vom 14.04.2016 – S 32 AS 1109/16 ER – Rn. 37 ff.) folgt zwar dem BSG dahingehend, dass Ermessensleistungen nach § 21 Abs. 1 Satz 3 SGB XII für den vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis grundsätzlich möglich seien, sieht aber das Ermessen erst eröffnet, wenn die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht besteht.

178

1.3 Insbesondere seit Bekanntgabe des Urteils des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) und verstärkt seit Bekanntwerden der Urteile des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 43/15 R und B 4 AS 44/15 R) wird von zahlreichen Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit vertreten, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei verfassungsgemäß und es sei entgegen der Auffassung der beiden für das SGB II zuständigen Senate des BSG weder nach geltendem Recht möglich noch verfassungsrechtlich geboten, hiervon betroffenen Personen Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII oder sonstige existenzsichernde Leistungen zu gewähren.

179

1.3.1 Der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen vertrat bereits mit Beschluss vom 26.02.2010 (L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30) die Auffassung, dass Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 3 GG durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verletzt werde. Der Staat sei zwar verpflichtet, dem mittellosen Bürger die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern. Dabei sei dem Gesetzgeber allerdings im Rahmen der Entscheidung, in welchem Umfang Fürsorgeleistungen unter Berücksichtigung vorhandener Mittel gewährt werden könnten, ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet (Hinweis auf Beschluss des BVerfG vom 29.05.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86). Danach sei nicht zu beanstanden, wenn Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für arbeitsuchende Unionsbürger europarechtskonform nicht gewährt und diese damit auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen würden.

180

1.3.2 Der 2. Senat des LSG Sachsen-Anhalt kam in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren unter Aufgabe der im Beschluss vom 01.11.2013 (L 2 AS 841/13 B ER – Rn. 36 f., s.o. unter 1.1.1) geäußerten Auffassung zu dem Ergebnis, dass die gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossene Antragstellerin des dortigen Verfahrens einen Leistungsanspruch, solange sie noch in der BRD lebe, auch nicht aus dem Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 GG herleiten könne. Als Menschenrecht stehe dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schütze und diese in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden könne (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Allerdings bestehe hier die Besonderheit, dass die Unionsbürgerin ihren Existenzsicherungsanspruch auch in ihrem Herkunftsland geltend machen könne, da in der EU gewisse soziale Mindeststandards bestünden, auf die sich die Mitgliedstaaten geeinigt hätten. Nach Art. 13 der Europäischen Sozialcharta vom 18.10.1961 (ESCh) verpflichteten sich die Vertragsparteien sicherzustellen, dass jedem der nicht über ausreichende Mittel verfüge und sich diese auch nicht selbst oder von anderen verschaffen könne, ausreichende Unterstützung gewährt werde. Die Tschechische Republik (Herkunftsstaat der Antragstellerin des dortigen Verfahrens) habe dieses Abkommen und diesen Artikel am 03.11.1999 ratifiziert. Die Antragstellerin habe damit einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen innerhalb der EU. Ein Anspruch darauf, ihre existenzsichernden Leistungen in einem bestimmten EU-Mitgliedstaat erhalten zu müssen, bestehe nicht. Gegebenenfalls müsse der Antragstellerin ermöglicht werden nach Tschechien zurückkehren zu können, um ihre Rechte dort wahrnehmen zu können. Anders als bei einem Asylsuchenden, der sich auf das Grundrecht aus Art. 16 GG stütze, gebe es auch keinen rechtlich beachtlichen Hinderungsgrund für eine Rückkehr in dieses Heimatland (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40).

181

1.3.3 Der 1. Senat des LSG Baden-Württemberg vertritt in einem Beschluss vom 29.06.2015 (L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39) die Auffassung, dass der dortige Antragsteller slowakischer Staatsangehörigkeit einen Leistungsanspruch nicht unmittelbar aus dem Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 GG herleiten könne. Dieses Grundrecht stehe als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsbürgern, die sich in der BRD aufhalten, gleichermaßen zu. Ein von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung daraus abgeleiteter individueller Leistungsanspruch bedürfe der Ausgestaltung durch ein Gesetz; sein Umfang könne nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden; vielmehr stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (Hinweis auf Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62-66). Darüber hinaus gelte auch das Grundrecht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht schrankenlos: Anders als ein vollziehbar ausreisepflichtiger ehemaliger Asylbewerber, dessen Rückkehr in das (eventuell von Seiten der Behörden gar nicht sicher zu ermittelnde) Herkunftsland sowohl erhebliche tatsächliche als auch rechtliche Probleme (Abschiebungshindernisse) entgegen stehen könnten, sei der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) als Unionsbürger nicht gehindert, sich innerhalb des so genannten Schengen-Raumes frei zu bewegen, weshalb einer sofortigen Rückkehr in sein Heimatland nichts entgegen stehe.

182

1.3.4 Der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz lehnte mit Beschluss vom 31.08.2015 (L 3 AS 430/15 B – nicht veröffentlicht) bezogen auf nach seiner Auffassung vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit der Begründung ab, dass die von den dortigen Klägern angeführte Rechtsprechung des BVerfG zur Höhe der Leistungen nach dem AsylbLG auf den dem Gericht vorliegenden Fall nicht übertragbar sei, da die betroffenen Personengruppen, einerseits Asylbewerber, andererseits freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger, sich nicht in vergleichbaren Notlagen befänden. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers, unterschieds- und voraussetzungslos Sozialleistungen auch an Ausländer ohne Recht zum Aufenthalt zu erbringen, bestehe auch nach dieser Rechtsprechung nicht.

183

Mit einem Beschluss vom 05.11.2015 (L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 21 ff.) hat der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz unter Aufhebung des Beschlusses der vorlegenden Kammer vom 02.09.2015 (S 3 AS 599/15 ER) seine Auffassung bekräftigt, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verfassungswidrig sei. Das Grundgesetz gebiete nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13). Vielmehr liege es in der politischen Verantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums zu bestimmen, welche Leistungen in welcher Höhe zur Existenzsicherung gewährt werden und die hierbei erforderlichen Wertungen vorzunehmen. In Ausübung seines Gestaltungsspielraums habe der parlamentarische Gesetzgeber – nach Auffassung des Senats ausreichende – Regelungen bezüglich der Gewährung von Leistungen zur Existenzsicherung getroffen. Nach der Willensbildung des parlamentarischen Gesetzgebers könnten solche heute nach dem SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG beansprucht werden. Der gemeinsame verfassungsrechtliche Kern aller drei heutigen Existenzsicherungssysteme sei das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Die erfolgten Differenzierungen hinsichtlich der Leistungshöhe in Abhängigkeit von den Besonderheiten bestimmter Personengruppen seien zulässig (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73) und schlössen die strukturelle Gleichwertigkeit der drei Leistungssysteme nicht aus. Unter Berücksichtigung der bestehenden Regelungen zur Gewährung von Leistungen zur Existenzsicherung sei das Grundrecht des (kolumbianischen) Antragstellers des dortigen Verfahrens auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht verletzt. Er könne darauf verwiesen werden, Leistungen seines Heimatlandes zur Sicherung seines Lebensunterhaltes in Anspruch zu nehmen oder von seinem Freizügigkeitsrecht innerhalb des Hoheitsgebiets der EU Gebrauch zu machen. Mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, habe der Gesetzgeber den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch der aus dem gesetzlichen Leistungsausschluss resultierende faktische Zwang ins Herkunftsland zurückkehren oder in einen anderen Mitgliedstaat reisen zu müssen, weil es dem Antragsteller nicht möglich sei, seinen Lebensunterhalt in der BRD sicherzustellen, stelle keine Verletzung seines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dar. Er sei vergleichbar mit der Situation von Auszubildenden und Studenten, die ihre Arbeitskraft für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssten (Hinweis auf BVerfG, Beschlüsse vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 und vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11). Der dem GG verpflichtete Gesetzgeber habe auch keine aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG resultierende verfassungsrechtliche Pflicht über die bereits getroffenen Regelungen hinaus jedem Menschen, der sich – aus welchen Gründen auch immer, also legal oder illegal – in der BRD aufhalte, voraussetzungslose Sozialleistungen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13) zu gewähren und die drei heutigen Existenzsicherungssysteme um eine weitere Regelung zu ergänzen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den Grundsätzen, die der 1. Senat in seiner Entscheidung vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) für die nach dem AsylbLG zu gewährenden Leistungen aufgestellt habe. Insbesondere sei hieraus nicht der Schluss zu ziehen, das BVerfG habe hier grundlegend entschieden, dass jeder Mensch, der – aus welchen Gründen auch immer – in die BRD einreise und sich hier aufhalte, generell und voraussetzungslos über die bereits bestehenden Existenzsicherungssysteme Anspruch auf (dauerhafte) staatliche Leistungen zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums unmittelbar aus der Verfassung habe. Abgesehen davon, dass ausdrücklich nur über § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und § 3 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 AsylbLG sowie § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 und § 3 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG (jeweils in der Fassung der Bekanntmachung vom 05.08.1997, BGBl. Teil I S. 2022) zu entscheiden gewesen sei, ergebe sich insbesondere aus der Begründung, dass diese Erwägungen nicht allgemein in dem vom SG (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER) angenommenen Sinne zu verstehen seien, sondern mit Blick auf die konkrete Fragestellung, nämlich ob die nach dem AsylblG für diesen Personenkreis zu gewährenden Leistungen unter Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG ausreichten, die entsprechenden Regeln also verfassungsgemäß seien.

184

Diese Rechtsauffassung hat der 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz mit Beschlüssen vom 11.02.2016 (L 3 AS 668/15 B ER – Rn. 18 ff. unter Aufhebung von SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER) und vom 18.02.2016 (L 3 AS 19/16 B ER – nicht veröffentlicht) aufrechterhalten.

185

1.3.5 Auch nach Auffassung des 20. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22 f.) begegnet der Leistungsausschluss keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere könne der Antragsteller (des dortigen Verfahrens) einen Leistungsanspruch nicht aus dem Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1, 20 GG herleiten. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum eingeräumt sei. Dies schließe es jedenfalls nicht aus, die Leistungen nur insoweit vorzuhalten, wie es erforderlich sei, um einen Betroffenen in die Lage zu versetzen, dass er existenzsichernde Leistungen seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen könne. Sei ein Unionsbürger in der Lage, ohne weiteres in sein Herkunftsland zu reisen, um dort existenzsichernde Leistungen in Anspruch zu nehmen, sei der Staat im Rahmen seiner Gewährleistungsverpflichtung allenfalls gehalten, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung (Hinweis auf BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09.02.2001 – 1 BvR 781/98 – zu § 120 Abs. 5 BSHG), vorzuhalten. Soweit angenommen werde, dass der vollständige Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II „ohne anderweitige Kompensationsmöglichkeit eine Sicherung des Existenzminimums dem Grunde nach“ ausschließe (Hinweis auf SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER), werde verkannt, dass bei einem Unionsbürger, der sich ohne Aufenthaltsrecht im Sinne des Art. 7 RL 2004/38/EG im Inland aufhalte und der nicht aus anerkennenswerten, schwerwiegenden Gründen an der Rückreise gehindert sei, gerade eine „Kompensationsmöglichkeit“ durch Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen im Herkunftsland bestehe. Im der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall bestehe dabei in Polen ein System der Fürsorgeleistungen, welches einen Anspruch für Personen vermittle, deren Nettoeinkommen 542 PLN monatlich nicht erreiche. Diese Personen erhielten Sozialhilfe in Form von Geld- und Sachleistungen. Anders als der Personenkreis, für den das AsylbLG einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen vermittle, seien Personen aus Mitgliedstaaten der EU in der Regel in der Lage, kurzfristig in ihren Herkunftsstaat zu reisen. Daher könne die Gewährleistungsverpflichtung aus Art. 1, 20 GG für den Personenkreis der Anspruchsberechtigten nach dem AsylbLG, die gerade nicht in jedem Fall kurzfristig in ein anderes Land ausreisen könnten, um dort ihre Existenz zu sichern, auch höhere und länger andauernde Leistungen zur Existenzsicherung umfassen, als für ausländische Staatsbürger, die ihrer Notlage kurzfristig selbst begegnen könnten. Bei diesem Personenkreis könne sich die Gewährleistungsverpflichtung darin erschöpfen, sie bei den Bemühungen der Selbsthilfe durch reine Nothilfemaßnahmen zu unterstützen. Über solche Leistungen (Reise- und Verpflegungskosten) sei hier nicht zu entscheiden gewesen, da der Antragsteller diese nicht geltend gemacht habe (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22).

186

1.3.6 Der 2. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen unternimmt in seinem Beschluss vom 29.09.2015 (L 2 AS 1582/15 B ER – Rn. 5; ähnlich derselbe Senat mit Beschluss vom 09.11.2015 – L 2 AS 1714/15 B ER – Rn. 4 und der 6. Senat des LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 13.10.2015 – L 6 AS 454/15 B ER – nicht veröffentlicht) keine verfassungsrechtliche Prüfung, sondern stellt lediglich fest, dass mit dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) nunmehr abschließend geklärt sei, dass der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II enthaltene Leistungsausschluss für Ausländer nicht europarechtswidrig und damit als geltendes Bundesrecht anwendbar sei.

187

1.3.7 Der 7. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 31 ff.) ist der Auffassung, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Das BVerfG habe in den Beschlüssen vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) den Ausschluss von Leistungen nach SGB II für Auszubildende gemäß § 7 Abs. 5 SGB II gebilligt. Der Leistungsausschluss sei – nach Auffassung des BVerfG – schon deswegen nicht zu beanstanden, weil während eines Studiums die Arbeitskraft nicht, wie von § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II verlangt, zur Beschaffung des Lebensunterhalts eingesetzt werde. Im Übrigen verweise das BVerfG auf eine vorrangige Förderung durch das BAföG, das in den betreffenden Fällen aber nicht zum Tragen gekommen sei. Dem entnehme der Senat, dass ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen in bestimmten Lebenssituationen grundsätzlich möglich sei. Soweit das BVerfG in diesen Beschlüssen annehme, dass Betroffene gezwungen sein könnten, ihre Lebensumstände gravierend zu ändern ("Der faktische Zwang, eine Ausbildung abbrechen zu müssen ..."), sei das vergleichbar mit dem faktischen Zwang, dass vom SGB II-Bezug ausgeschlossene Ausländer in ihr Heimatland zurückkehren und wie alle anderen dortigen Bewohner mit den Sozialleistungen bzw. Erwerbsmöglichkeiten im Heimatland zurechtkommen müssten bis sie ein neues Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat begründen könnten. Hierin unterscheide sich auch die Situation der hier Betroffenen grundlegend von der Situation der Asylsuchenden, die nicht auf diese Möglichkeit verwiesen werden könnten (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).

188

1.3.8 Der 16. Senat des Bayerischen LSG (Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 31 ff.) hat ebenfalls keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums stehe als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsbürgern, die sich in der BRD aufhielten, grundsätzlich gleichermaßen zu (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Der Staat sei im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, die materiellen Voraussetzungen für Hilfebedürftige zur Verfügung zu stellen. Migrationspolitische Erwägungen seien nicht geeignet, die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde zu relativieren. Ein daraus abgeleiteter individueller Leistungsanspruch bedürfe allerdings der Ausgestaltung durch ein Gesetz. Hinsichtlich dessen Umfang stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Auch inländischen Staatsangehörigen gewährleiste die Verfassung nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (Verweis auf BVerfG, Urteil vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09). Der Umfang des Leistungsanspruches ergebe sich weder aus Artikel 1 Abs. 1 GG noch aus der Verfassung. Er hänge von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation sowie den wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab. Dieses Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sei nicht verletzt. Die Antragstellerin (des dem Senat vorliegenden Verfahrens) könne darauf verwiesen werden, Leistungen ihres Heimatlandes zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes in Anspruch zu nehmen. Mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus der Arbeitsuche ableiteten, habe der Gesetzgeber den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert. Dies sei nicht zu beanstanden. Der faktische Zwang ins Herkunftsland zurückkehren zu müssen, weil es der Antragstellerin nicht möglich sei, ihren Lebensunterhalt in der BRD sicherzustellen, stelle keine Verletzung der Art. 1 Abs. 2, 20 Abs. 1 GG dar. Er sei vergleichbar mit der Situation von Auszubildenden und Studenten, die ihre Arbeitskraft für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssten. Das BVerfG habe die Leistungsausschlüsse für Studenten und Auszubildende gemäß § 7 Abs. 5 SGB II gebilligt (Hinweis auf Beschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 und vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11), mit der Folge, dass die Betroffenen letztlich gezwungen seien, ihre Ausbildung abzubrechen und ihre Arbeitskraft zur Beschaffung Ihres Lebensunterhaltes einzusetzen. Hierin unterscheide sich auch die Situation der Antragstellerin (des dortigen Verfahrens) grundlegend von der Situation der in den Anwendungsbereich des AsylbLG fallenden Asylsuchenden. Die Antragstellerin sei als Unionsbürgerin anders als Asylsuchende nicht daran gehindert, sich innerhalb des so genannten "Schengen-Raumes" frei zu bewegen oder in ihr Herkunftsland Portugal zurückzukehren. Soweit sie vortrage, auf Grund einer Erkrankung derzeit nicht arbeitsfähig zu sein, sei festzustellen, dass auch ihr Heimatstaat Portugal die ESCh unterzeichnet und ratifiziert habe. Portugal habe sich damit verpflichtet sicherzustellen, dass jedem, der nicht über ausreichende Mittel verfüge und sich diese auch nicht selbst oder von anderen, insbesondere durch Leistungen aus einem System der sozialen Sicherheit verschaffen könne, ausreichende Unterstützung und Krankenbehandlung gewährt werden (Verweis auf Artikel 13 ESCh – „Das Recht auf Fürsorge“). Auch tatsächlich verfüge Portugal über steuerfinanzierte und beitragsunabhängige Systeme für alle Einwohner, die sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befinden (Verweis auf die Quelle: www.sozialkompass.eu). Unberührt vom Leistungsausschluss blieben Ansprüche auf Hilfen zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII. Solche seien aber nicht Gegenstand des Eilverfahrens. Die Antragstellerin müsse also in Konsequenz der Entscheidung des Senats damit rechnen, ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik (vorübergehend) aufgeben und sich an das Fürsorgesystem ihres Herkunftsstaates Portugal wenden zu müssen, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichern könne. Dass die Verweisung der Antragstellerin auf die Inanspruchnahme dieser Leistungen in ihrem Heimatstaat gegen Art. 1 GG oder Art. 20 GG verstoßen würde, vermöge der Senat nicht zu erkennen.

189

1.3.9 Auch der 6. Senat des LSG Rheinland-Pfalz sieht in einem Beschluss vom 02.11.2015 (L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht) im Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II keinen Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht, das der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfe, gelte nicht schrankenlos. Der Gesetzgeber habe daher bei der Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes II berücksichtigen dürfen, dass Unionsbürger regelmäßig in der Lage seien, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und die dortigen Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Da der Senat keine Hinweise darauf habe, dass die (bulgarische) Beschwerdeführerin des dortigen Verfahrens aus gesundheitlichen oder anderen schwerwiegenden Gründen gehindert wäre, nach Bulgarien zurückzukehren, müsse nicht entschieden werden, ob in diesem Falle ausnahmeweise ein konkreter Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet werden könne.

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1.3.10 Seither hat eine große Anzahl von Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit Entscheidungen veröffentlicht, in denen die Verfassungswidrigkeit ebenso wie die Europarechtswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verneint wird und – insbesondere nach den Urteilen des 4. Senats des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 43/15 R und B 4 AS 44/15 R) und in kritischer Auseinandersetzung mit diesen – die Möglichkeit der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII abgelehnt wird (SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 – S 30 AS 3827/15 ER – Rn. 30 ff.; SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 26 ff.; SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 –Rn. 89 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.01.2016 – L 29 AS 20/16 B ER, L 29 ASL 29 AS 21/16 B ER PKH – Rn. 22 ff.; SG Halle (Saale), Beschluss vom 22.01.2016 – S 5 AS 4299/15 ER – Rn. 20 ff.; SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 22 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 – L 9 AS 1335/15 B ER – Rn. 56 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 22.02.2016 – S 95 SO 3345/15 ER – Rn. 42 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 02.03.2016 – S 205 AS 1365/16 ER – Rn. 22 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 17 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.03.2016 – L 9 AS 1580/15 B ER – Rn. 50 ff.; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 28 ff.; SG Speyer, Urteil vom 29.03.2016 – S 5 AS 493/14 – Rn. 49 ff.; SG Berlin, Beschluss vom 07.04.2016 – S 92 AS 359/16 ER – Rn. 15 ff.; SG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER –, Rn. 33 ff.; SG Dortmund, Beschluss vom 18.04.2016 – S 32 AS 380/16 ER – Rn. 76 ff.; SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 3966/12 – Rn. 42 ff.; SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 46 ff.; differenzierter: SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 82 ff.).

191

Das Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) wird hierbei regelmäßig unkritisch quasi als „geltende Rechtslage“ hingenommen, während dem 4. und dem 14. Senat des BSG nahezu durchgängig unter Verweis auf einen behaupteten Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot und/oder des Gewaltenteilungsprinzips auch rhetorisch massiv entgegengetreten wird – bei ebenso durchgängiger Erweiterung des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII auf Personen ohne materielles Aufenthaltsrechts über den Gesetzeswortlaut hinaus (in diesem Punkt in Übereinstimmung mit dem BSG). In verfassungsrechtlicher Hinsicht werden hierbei die aus den vorstehend wiedergegebenen Entscheidungen bekannten Begründungsansätze variiert. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wird hierbei ausdrücklich nicht in Frage gestellt.

192

Dass hierbei selbst Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz und gelegentlich auch auf Prozesskostenhilfe entgegen der mehrfach bekräftigten Rechtsauffassung des für entsprechende Hauptsacheverfahren zuständigen Revisionsgerichts abgelehnt werden, wird mitunter deutlich kritisiert, weil hierdurch effektiver Rechtsschutz im Bereich existenzieller Bedürfnisse vereitelt wird (vgl. Wenner, SozSich 2016, S. 44; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 SGB XII, Stand 08.04.2016; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.04.2016 – L 6 AS 2249/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 21/16 B – Rn. 23 ff., SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 94 ff.).

193

1.4 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Verfassungsmäßigkeit eines vollständigen Leistungsausschlusses von ausländischen Staatsangehörigen wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überwiegend bezweifelt, jedenfalls aber für klärungsbedürftig gehalten.

194

1.4.1 Pattar stellt nach Erörterung europarechtlicher und völkerrechtlicher Zusammenhänge fest, dass sich ein weiterer Einwand gegen den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aus dem in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG wurzelnden Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums herleiten lasse. Wer von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen sei, erhalte auf dem ersten Blick keinerlei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Daneben liege im vollständigen Ausschluss von Leistungen eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG, die sich in das Inland begeben hätten, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erhalten. Diese Personen erhielten trotz ihres rechtswidrigen Aufenthalts nach § 1a AsylbLG immerhin unabweisbar gebotene Leistungen. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses müssten deshalb auch die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossenen Personen mindestens analog § 1a AsylbLG Leistungen erhalten. Zuständig hierfür seien aber nicht die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sondern die Träger der Sozialhilfe als Träger des letzten Auffangsystems (Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, S. 117 f., 3. Auflage 2012).

195

1.4.2 Palsherm vertritt Bezug nehmend auf die Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII die Auffassung, dass, falls ein nach dieser Vorschrift ausgeschlossener Ausländer auch nicht unter das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) falle, ihm wegen des Teilhabemoments von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG jedenfalls dasjenige gewährt werden müsse, was den Kern eines menschenwürdigen Existenzminimums ausmache (Palsherm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, § 28 SGB I, Rn. 20, Stand 20.02.2012).

196

1.4.3 Kingreen stellt fest, dass der generelle Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verstoße, dass aber auch Differenzierungen hinsichtlich des Leistungszeitraums und -umfangs bei einem nicht nur kurzfristigen Aufenthalt nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar wären Statt oder vor einer Vorlage an den EuGH sei daher in einem geeigneten Fall auch die Vorlage an das BVerfG in Betracht zu ziehen (Kingreen, SGb 2013, S. 139).

197

Im Nachgang zum Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) führt Kingreen aus, dass das BVerfG in einer Reihe von Entscheidungen klargestellt habe, dass Ungleichbehandlungen wegen der Staatsangehörigkeit beim Sozialleistungsbezug an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen und die Rechtfertigungsanforderungen insoweit besonders hoch seien, weil die Staatsangehörigkeit von Umständen abhänge, die der Einzelne nicht beeinflussen könne. Daher dürfe der Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung sei nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Dies werde sich insbesondere bei Personen, die sich nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhielten, kaum begründen lassen (Kingreen, NVwZ 2015, S. 1506).

198

1.4.4 Frerichs vertritt unter Berufung auf das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 95) die Auffassung, dass der Gesetzgeber nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet sei, für alle Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten, vom ersten Tage an gesetzliche Regelungen vorzusehen, die nach einem inhaltlich transparenten und folgerichtigen Verfahren ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherstellen und gegen den Staat einen Rechtsanspruch auf die entsprechenden materiellen Leistungen einräumen. Dabei dürfe er – abweichend vom allgemeinen Grundsicherungsrecht – für bestimmte Personengruppen eigenständige Regelungen treffen, die sich allerdings an den prozeduralen Vorgaben zur Ermittlung des Leistungsumfangs messen lassen müssten, die im Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 aufgestellt worden seien (Frerichs, ZESAR 2014, S. 283). Hinsichtlich des nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB II und § 23 Ab. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossenen Personenkreises dränge sich die Frage auf, ob der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Pflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hinreichend nachkomme. Er habe für diese Personen keinen gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums normiert. Dies sei aber verfassungsrechtlich geboten. Dieser verfassungsrechtlichen Fragestellung durch richterliche Rechtsfortbildung zu begegnen, sei sehr problematisch. Die bisherigen Lösungsansätze, den Betroffenen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger auf eine „Mindestsicherung“ nach Maßgabe des § 23 Abs. 5 SGB XII, § 73 SGB XII oder § 1a AsylbLG zuzuerkennen (Verweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14 und vom 28.11.2012 – L 7 AS 2109/11 B ER – Rn. 14; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f.; SG Darmstadt, Beschluss vom 29. 10. 2013 – S 16 AS 534/13 ER – Rn. 83; Mangold/Pattar, VSSR 2008, S. 243, 267), seien nicht überzeugend. Eine Anlehnung an das Leistungsniveau eines für diese Personengruppe an sich nicht vorgesehenen Existenzsicherungssystems (SGB XII, AsylbLG) sei methodisch im Wege der Analogie nicht möglich. Es fehle schon an einer sich aus Systematik und Sinn und des Gesetzes ergebenden Lücke, weil der Gesetzgeber mit den Leistungsausschlüssen bewusst die nach Unionsrecht nur in engen Grenzen zulässigen Möglichkeiten habe nutzen wollen, um die Zahlung von Sozialleistungen an Unionsbürger zu beschränken (Hinweis auf BT-Drucks. 16/5065, S. 234 und BT-Drucks. 17/13322, S. 30). Auch sei der Rückgriff auf § 73 SGB XII, nach dem Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden könnten, rechtlich heikel. Eine „sonstige“ Lebenslage setze nämlich eine atypische Bedarfslage voraus, die nicht bejaht werden könne, wenn der Gesetzgeber sie gesehen und im Sinne eines Leistungsausschlusses geregelt habe (Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

199

1.4.5 Löbich konstatiert, dass es äußerst fraglich erscheine, ob ein absoluter Leistungsausschluss von Sozialleistungen für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger noch im Einklang mit den vom BVerfG gemachten Ausführungen zum Anspruch auf ein menschenwürdesicherndes Existenzminimum stehe. Verfassungsrechtlich gelte jedenfalls, dass solange nicht festgestellt sei, dass eine Person ausreisen könne, ihr ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten sei und sie gerade nicht darauf verwiesen werden dürfe, dieses im Ausland zu suchen. Ein vollständiger Leistungsausschluss komme auch bei Unionsbürgern mit Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche verfassungsrechtlich nicht in Betracht (Löbich, ZESAR 2015, S. 426 f.).

200

1.4.6 Thym hält in Auseinandersetzung mit dem Urteil des EuGH vom 11.11.2014 (C-333/13) fest, dass früher oder später das BVerfG darüber zu befinden haben werde, ob der Klägerin des dortigen Verfahrens ein Grundsicherungsanspruch nach dem GG zustehe, obgleich sie im europäischen Freiheitsraum jederzeit in den Heimatstaat reisen könne und mithin strukturell nicht im gleichen Maße von deutscher Unterstützung abhänge wie etwa Asylbewerber (Thym, NJW 2015, S. 134).

201

1.4.7 Wilksch (JuWissBlog, https://www.juwiss.de/90-2015/) bezeichnet in Auseinandersetzung mit den Urteilen des BSG vom 03.12.2015 die von diesem unter Verweis auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII eingeräumte Ermessensentscheidung als unzulässige migrationspolitische Relativierung des Existenzminimums und vertritt die Auffassung, dass das BSG zur Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII hätte kommen müssen.

202

1.4.8 Wunder hält einen Leistungsausschluss für EU-Bürger bis zu Ausreise zwar für europarechtskonform aber nicht für mit dem GG vereinbar. Sie hält es allerdings wohl für möglich, einen Leistungsanspruch unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG abzuleiten und bis zur Verabschiedung einer einfachgesetzlichen Regelung den Leistungsumfang an vergleichbare existenzsichernde Leistungen anzulehnen (Wunder, SGb 2015, S. 622).

203

1.4.9 Farahat weist in einer Besprechung des Urteils des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) darauf hin, dass die Mitgliedstaaten Arbeitsuchende wegen Art. 14 Abs. 4 b) RL 2004/38/EG weiterhin auch dann nicht ausweisen dürften, wenn sie im Aufenthaltsstaat noch nicht gearbeitet hätten oder länger als sechs Monate arbeitslos seien, ein Aufenthaltsrecht ihnen also zustehe. Allerdings dürften ihnen in diesem Fall nach dem Urteil des EuGH jegliche Sozialleistungen im Aufenthaltsstaat verweigert werden. Es liege auf der Hand, dass diese Lösung die Gefahr einer dauerhaften sozialen Exklusion im Aufenthalts-Mitgliedsstaat produziere. Unionsrechtlich sei es nun nämlich möglich, dass Unionsbürger in ihrem Aufenthalts-Mitgliedstaat zwar nicht ausgewiesen werden dürften, allerdings keinen Anspruch auf soziale Inklusion hätten. Diese Lücke werde in Deutschland künftig verfassungsrechtlich zu schließen sein. Das BVerfG habe in seiner Entscheidung zum AsylbLG bereits klargestellt, dass „migrationspolitische Erwägungen (…) von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das (…) Existenzminimum rechtfertigen“ könnten. Vor diesem Hintergrund erscheine es unwahrscheinlich, dass sich der automatische Leistungsausschluss arbeitssuchender Unionsbürger mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbaren lasse. Zu denken sei etwa an einen Anspruch auf Leistungen analog AsylbLG oder aber die Finanzierung einer „Rückreise“ in den Anwendungsbereich eines Leistungsanspruchs (Farahat, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de).

204

1.4.10 Sokołowski stellt im Rahmen einer europarechtlichen Abhandlung fest, dass die Auslegung (des § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II), die den Anspruch der Unionsbürger auf das Arbeitslosengeld II anerkenne, sich auch auf Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG stütze. Das Sozialstaatsprinzip und der Schutz der Menschenwürde verpflichteten den Staat, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein auch den Unionsbürgern zu sichern. Diese Grundrechte und Staatsprinzipien gälten nach herrschender Meinung nicht nur für Deutsche. Das BVerfG habe bereits entschieden, dass eine grundlose Ungleichbehandlung von Ausländern und Deutschen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07). Wenn der Ausschluss von Ausländern, die Nichtunionsbürger sind, vom Kindergeld und Landeserziehungsgeld für verfassungswidrig erklärt worden sei, verstoße der Ausschluss der Unionsbürger auf Arbeitsuche aus dem Arbeitslosengeld-II-System gegen Art. 3. Abs. 3 GG. Durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II würden Letztere schlechter gestellt als illegal eingereiste Asylbewerber in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts, die Leistungen nach § 1a AyslbLG erhielten. Daraus ergebe sich unabhängig vom Anwendungsvorrang des Europarechts das Gebot, das SGB II und das FreizügG/EU so auszulegen, dass die notwendige Konformität mit dem GG erreicht werde (verfassungskonforme Auslegung), d.h. hilfebedürftigen Unionsbürgern das Arbeitslosengeld II unter denselben Voraussetzungen wie den Deutschen zu gewähren. Hervorzuheben sei auch, dass es verfassungsrechtlich zweifelhaft erscheine, potenzielle „Sozialtouristen“ von der Einreise nach Deutschland abzuschrecken, indem denjenigen, die bereits eingereist seien, Leistungen verwehrt würden (Sokołowski, ZESAR 2015, S. 483; ähnlich bereits ders., ZESAR 2011, S. 377).

205

1.4.11 Leopold konstatiert, dass auf Grund der Rechtsprechung des BVerfG bestehende verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Leistungsausschluss von Ausländerinnen und Ausländern durch die Klärung unionsrechtlicher sowie staatsvertragsrechtlicher Aspekte noch nicht beseitigt würden. Ungeachtet unionsrechtlicher Gleichbehandlungsansprüche stelle sich die Frage, ob der in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgesehene Leistungsausschluss mit dem Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 GG zu vereinbaren sei (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7, Rn. 102, Stand: 14.03.2016).

206

1.4.12 Kanalan hält der u.a. von der 149. Kammer des SG Berlin vertretenen Auffassung, dass die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, da es Unionsbürgern anders als Asylbewerbern regelmäßig möglich sei, ohne drohende Gefahren für hochrangige Rechtsgüter in ihr Heimatland zurückzukehren und dort staatliche Unterstützungshandlungen zu erlangen (SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 36) entgegen, dass sie mit der dargestellten Begründung ein grundsätzlich defizitäres Verständnis des Menschenrechts auf das Existenzminimum enthalte. Das BVerfG habe unmissverständlich in seinem Urteil zum AsylbLG zum Ausdruck gebracht, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht aus Art. 1 Abs. 1 (i.V.m. Art. 20 Abs. 1) GG auch ausländischen Staatsangehörigen, die sich in Deutschland aufhalten, unabhängig von einem materiellen Aufenthaltsrecht zustehe. Es sei insbesondere ohne Relevanz, dass das Sozialrechtssystem eine Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus vornehme und mit dem AsylbLG ein Sonderregime für bestimmte Personengruppen geschaffen habe. Das verfassungsrechtlich garantierte Menschenrecht auf Existenzminimum ergebe sich dem Grunde nach aus der Verfassung und sei insoweit unabhängig vom Recht auf Aufenthalt oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe. Es gelte für alle Menschen und habe somit einen universellen Charakter. Wenn der Gesetzgeber diesen Anspruch nicht gesetzlich sichere, was unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG voraussetze, liege ein Verfassungsverstoß vor. In diesem Fall ergebe sich der Anspruch (dem Grunde nach) aus der Verfassung (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 66). Indem aber das SG Berlin anführe, dass die Unionsbürger, die nicht einmal über ein materielles Aufenthaltsrecht verfügten, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben könnten, verdeutliche dies, dass es das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht durchdrungen habe. Ein weiterer entscheidender Punkt, der demonstriere, dass weder das SG Berlin noch andere ähnlich argumentierende Gerichte den Kern des Menschenrechts auf das Existenzminimum erfasst hätten, sei der Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat und die Inanspruchnahme der Sozialleistungen des Herkunftsstaates. Dieser Argumentationsansatz sei die Folge eines grundlegend defizitären Verständnisses. Denn der Leistungsanspruch auf das Existenzminimum ergebe sich aus Art. 1 Abs. 1 GG, welcher dem Grunde nach unverfügbar sei (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62). Hieraus folge, dass der Anspruch unabhängig von einem bestimmten Verhalten der Betroffenen bestehe und somit jegliche Versagung der Leistungen mit Berufung auf ein Verhalten des Betroffenen die Menschenwürde tangiere, also einen Verfassungsverstoß darstelle. Die Gewährleistung dieses Anspruchs könne weder unter eine Bedingung gestellt noch vom Verhalten der Betroffenen abhängig gemacht werden (Hinweis auf SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER). Diese Feststellung, die bei mehreren Sozialgerichten auf Ablehnung stoße, werde insbesondere durch einen Vergleich mit dem Folterverbot deutlich. Weil Folter stets einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstelle, sei das Folterverbot absolut. Die Anwendung von Folter mit dem Argument, dass der Betroffene einer Verletzung seiner Menschenwürde entgehen könne, in dem er ein bestimmtes Verhalten vornehme, dürfte kaum überzeugen. So habe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Zusammenhang mit Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgeführt, dass der Schutz des Art. 3 EMRK absolut sei und unabhängig vom Verhalten – sogar unabhängig von der Verwerflichkeit des Verhaltens – der betreffenden Person Geltung beanspruche. Wenn dies aber so sei, könne der Hinweis auf die Ausreisemöglichkeit und Verweis auf die Sozialleistungen des Herkunftsstaates nicht überzeugen. Vielmehr bestehe der Anspruch vom ersten Moment der Bedürftigkeit an (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 99), ohne dass es dabei auf ein Verhalten der Betroffenen ankäme. Dies sei, was der Menschenwürdeschutz verlange (Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de).

207

Kanalan hält jedoch eine Lösung des Problems durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für möglich. Die Regelung sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass Unionsbürger auch im Falle des Aufenthaltsrechts zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland einen Anspruch auf die Leistungen der Grundsicherung haben, und zwar in verfassungskonformer Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II vom ersten Tag des Aufenthalts im Inland soweit Bedürftigkeit vorliege. Ein Verweis auf die Leistungen des SGB XII überzeuge aus den zutreffenden Gründen, die das SG Berlin (Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13) ausgeführt habe nur für Personen, die nicht unter den Anwendungsbereich des SGB II fielen, also insbesondere Erwerbsunfähige. Es ergebe sich auch ein weiterer Lösungsweg – in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG – unmittelbar aus der Verfassung. Danach hätten Unionsbürger einen Anspruch auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG. Der konkrete Inhalt und Umfang richte sich nach den einschlägigen Bestimmungen des SGB II und SGB XII – u.a. für Erwerbsunfähige. Dass dieser Anspruch praktisch der Ausnahmefall sein dürfte, aber theoretisch dennoch möglich sei, habe das BVerfG selbst in seiner Entscheidung zum AsylbLG demonstriert. Das BVerfG habe für die Leistungen nach dem AsylbLG das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) für die Bestimmung der Höhe der Leistungen zu Grunde gelegt und die neuen Bedarfe ermittelt (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 100 f.) (Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de).

208

1.4.13 Steffen stellt unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15 R) fest, dass das BSG die Frage nach der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses von existenzsichernden Leistungen nach einem „Voraufenthalt“ von sechs Monaten über eine Ermessensregel im SGB XII „löse“. Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sei aber dem Grunde nach unverfügbar und müsse nach den ausdrücklichen Vorgaben des BVerfG gerade unabhängig von der Aufenthaltsdauer und von der Aufenthaltsperspektive durch einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch gewährleistet werden. Er dürfe gerade nicht in das Ermessen gestellt werden (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Das BSG entziehe sich mit dieser Entscheidung einer Vorlage an das BVerfG (Steffen, ANA-ZAR 2016, S. 3).

209

1.4.14 Kötter zieht aus dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) die Schlussfolgerung, dass der Blick wieder frei werde für Fragen, die sich aus der deutschen Rechtsordnung mit Blick auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergäben, insbesondere auf die Frage seiner Vereinbarkeit mit dem GG. Das BVerfG habe in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Leistungen nach dem AsylbLG explizit festgestellt, dass das sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Menschenrecht sei, das „deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten,“ gleichermaßen zustehe. Nach dem Wortlaut der Entscheidung komme es dabei weder auf die Dauer noch auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts an, was auch die Beschränkung des Grundrechts im Rahmen von Regelungen des Aufenthaltsrechts ausschließen würde. Nach dem Urteil des BVerfG sei eine fortdauernde Anwendung der verfassungswidrigen Normen „angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen“ nicht hinnehmbar. Der elementare Lebensbedarf der Leistungsberechtigten sei in dem Augenblick zu befriedigen, in den er entstehe. Ein bloßer Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Heimatmitgliedstaat genüge daher den Begründungsanforderungen an die Einschränkung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins wohl nicht. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II könne daher verfassungswidrig sein, wenn er Unionsbürger während ihres Aufenthalts in Deutschland abschließend vom Anspruch auf Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließe. Etwas Anderes könne dann gelten, wenn Unionsbürger hilfsweise existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII beziehen könnten (Kötter, info also 2016, S. 6).

210

1.4.15 Auch Greiser stellt fest, dass der europarechtlich zulässige vollständige Ausschluss von Leistungen wenn noch keine Verbindung zur Gesellschaft bestehe bzw. eine unangemessene Belastung vorläge, gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoßen würde. Zumindest eine Mindestsicherung sei auch in diesem Fall zu gewähren (Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Anhang zu § 23, Rn. 119, Stand 23.12.2015). Im Übrigen vertritt er die Auffassung, dass das Urteil des BSG vom 03.12.2015 (B 3 AS 44/15 R) einen dogmatisch gut begründeten und praktisch handhabbaren Ausgleich zwischen den verfassungsrechtlichen Vorgaben auf der einen und dem einfachen Recht auf der anderen Seite darstelle. Insbesondere sei positiv zu bewerten, dass das BSG dem „Ob“ einer Leistungsgewährung bei einem verfestigten Aufenthalt nicht die Rückkehrmöglichkeit ins Heimatland entgegengestellt habe. Das Gericht erstrecke damit für diesen Fall die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf EU-Bürger. Auf der anderen Seite schaffe das BSG in den ersten sechs Monaten einen gewissen Spielraum, zumindest was die Höhe der Leistungen angehe. Hier wäre nach Auffassung von Greiser eine Differenzierung danach, ob ein Aufenthaltsrecht besteht, wünschenswert gewesen. Der Weg, dieses Ergebnis über einen Anspruch auf Sozialhilfe zu „konstruieren“, stelle sich – im Rahmen des geltenden Rechts – als sachgerecht dar. Gegen diese Lösung sei vorgebracht worden, in den Gesetzgebungsmaterialien habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass erwerbsfähige Ausländer von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen sein sollen (§ 21 SGB XII). Der subjektive Wille des Gesetzgebers sei aber nur nach der so genannten subjektiv-historischen Auslegung (allein) entscheidend. In der Rechtsprechung des BSG sei aber wohl die objektiv-historische Auslegung vorherrschend, die nach dem im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers frage. Zudem handele es sich vorliegend um eine verfassungskonforme Auslegung. Diese habe grundsätzlich Vorrang vor der subjektiv-historischen. Sei eine verfassungskonforme Auslegung möglich, so sei nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht relevant, dass eine nicht mit der Verfassung vereinbare Auslegung eher dem subjektiven Willen des Gesetzgebers entspräche. Eine Auslegung, die dazu führe, dass EU-Bürger, die unter den Ausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen, in keinem Fall Leistungen erhalten würden, sei mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht vereinbar (Greiser, jM 2016, S. 159).

211

1.4.16 Lenze hält dem BSG (bezugnehmend u.a. auf die Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R) anlässlich einer Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) hingegen vor, sich im Rahmen einer unzulässigen Rechtsfortbildung über den klaren Willen des Gesetzgebers in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hinweggesetzt und durch den Rückgriff auf das SGB XII außerdem in die föderale Finanzierungsverantwortung für die Grundsicherung nach § 46 SGB II eingegriffen zu haben (Lenze, NJW 2016, S. 555).

212

1.4.17 Coseriu führt in seiner Kommentierung zu § 23 SGB XII aus, dass ein völliger Ausschluss von Leistungen sich nicht mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG vereinbaren lasse. Zwar stehe es im sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers, für Ausländer besondere Regelungen zur Sicherung ihres Lebensbedarfs zu entwickeln, nicht aber, Leistungen, die zur Deckung des Lebensunterhaltes dienen, gänzlich zu versagen. Es bestehe nämlich die Verpflichtung des Staates, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren und dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gewähre Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhalten, gleichermaßen zustehe (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 73, Stand 08.04.2016). Ein genereller Leistungsausschluss würde auch dazu führen, dass Ausländer, die eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen, schlechter gestellt würden als Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG, die sich in das Bundesgebiet begeben hätten, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen, weil dieser Personenkreis, zu denen sogar vollziehbar Ausreisepflichtige gehörten, nach § 1a AsylbLG (immerhin) die nach den Umständen unabweisbar gebotenen Leistungen erhielte (Coseriu, a.a.O., Rn. 74). Zur Lösung dieses Konflikts sei eine verfassungskonforme Auslegung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII geboten, die gerade keinen absoluten, rechtsvernichtenden Charakter der zur Verhütung von Missbrauch dienenden Bestimmung gebiete. Der Ausländer, der sich mit dem dort genannten Ziel in den Geltungsbereich des SGB XII begebe, sei lediglich vom (Rechts-)Anspruch auf die in § 23 Abs. 1 SGB XII vorgesehenen Leistungen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss lasse aber gleichwohl – gegebenenfalls modifiziert – eine Hilfegewährung im Ermessenswege nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu, weil es Lebenssachverhalte geben könne, bei denen nach dem auch bei der Anwendung des § 23 SGB XII zu berücksichtigenden Gesamtverständnis des Sozialhilferechts die Leistung von (unter Umständen eingeschränkter) Hilfe selbst dann möglich bleiben müsse, wenn der Ausländer Leistungen der Sozialhilfe missbräuchlich in Anspruch nehme (Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 10.12.1987 – 5 C 32/85) (Coseriu, a.a.O., Rn. 75). Der Einwand des SG Berlin (Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13), ein Unionsbürger könne im Gegensatz zu einem Asylbewerber regelmäßig in sein Heimatland zurückkehren und dort gegebenenfalls Sozialleistungen erhalten, habe keinen inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG und lasse die Frage unbeantwortet, auf welche Weise und in welchem Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur Ausreise sichergestellt werde, wenn der Betroffene nicht zur Ausreise verpflichtet sei (Coseriu, a.a.O., Rn. 63.4). Zwar möge die Auffassung des BSG (Bezugnahme auf das Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R), nach Ablauf von sechs Monaten sei das Ermessen auf Null reduziert, angreifbar sein, einen gänzlichen Ausschluss zu bejahen, wie das LSG Rheinland-Pfalz meine (Bezugnahme auf den Beschluss vom 11.02.2016 – L 3 AS 668/15 B ER), würde aber nicht nur eine völlige Missachtung der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG, sondern auch des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG bedeuten. Der Ausweg, den das LSG Rheinland-Pfalz hierzu suche (Inanspruchnahme von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Heimatlandes), sei absurd und lasse sich mit dem GG nicht in Einklang bringen (Coseriu, a.a.O., Rn. 63.6).

213

1.5 Die vorlegende Kammer ist nach Auswertung der vertretenen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung, dass die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig ist. Eine verfassungskonforme Auslegung ist – auch über den vom BSG eingeschlagenen Weg der Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII – nicht möglich.

214

2. Die mögliche Verfassungswidrigkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II, gemäß der Parallelregelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und nach den Vorgängerregelungen im ab dem 01.01.1976 geltenden § 31 Abs. 4 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in der Fassung des Gesetzes vom 18.12.1975 (BGBl. Teil I, S. 3091) und seit dem 01.01.1982 in § 26 (Abs.1) Satz 1 BSHG zunächst in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.1981 (BGBl. Teil I S. 1523) und seither in verschiedenen Fassungen bis zum 31.12.2004 wurde bisher in Rechtsprechung (2.1) und Literatur (2.2) vergleichsweise selten thematisiert.

215

2.1 Die Rechtsprechung geht bislang weit überwiegend von der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 5 SGB II aus.

216

2.1.1 Die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG hat sich in zwei veröffentlichten Nichtannahmebeschlüssen mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung befasst.

217

a) Im Beschluss vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11 – Rn. 21 ff.) kommt sie zu dem Schluss, dass eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im der Verfassungsbeschwerde zu Grunde liegenden Fall nicht vorliege. § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. konkretisiere den Nachrang gegenüber vorrangigen besonderen Sozialleistungssystemen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Hinweis auf § 3 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB II). Der Gesetzgeber gehe im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, dass das menschenwürdige Existenzminimum, soweit eine durch die Ausbildung bedingte Bedarfslage entstanden sei, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III zu decken sei. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. führe (im Falle der Beschwerdeführerin) dazu, dass ihr für die Dauer ihrer Ausbildung keine Grundsicherungsleistungen (über Leistungen für Mehrbedarf für Alleinerziehende hinaus) gewährt würden. Dies beruhe auf den Vorgaben des BAföG, insbesondere zur Altersgrenze der Förderung und sei keine im dem Beschluss zu Grunde liegenden Verfahren zu klärende Frage zum SGB II. Der faktische Zwang, eine Ausbildung abbrechen zu müssen, weil keine Sozialleistungen die Existenz sicherten, berühre die teilhaberechtliche Dimension des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 und dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 8.05.2013 – 1 BvL 1/08 – Rn. 36 f.). Der Gesetzgeber habe mit den Vorschriften des BAföG jedoch hierfür ein besonderes Sozialleistungssystem geschaffen. Dabei habe der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums entschieden, dass eine möglichst frühzeitige Aufnahme der Ausbildung angestrebt wird (Hinweis auf BT-Drucks. 8/2467, S. 15 und BT-Drucks. 11/610, S. 16 f.). Ermöglicht werde im Allgemeinen, bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eine der Begabung entsprechende Ausbildung zu beginnen (Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 15.09.1980 – 1 BvR 715/80). Ob sich der Ausschluss der Beschwerdeführerin von der Förderung einer Ausbildung vor der Verfassung rechtfertigen lasse, sei damit nicht gesagt, aber auch nicht zu entscheiden.

218

b) Im Beschluss vom 08.01.2014 (1 BvR 886/11 – Rn. 13 ff.) kommt die 3. Kammer des BVerfG ebenfalls zu dem Ergebnis, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im der Verfassungsbeschwerde zu Grunde liegenden Fall nicht verletzt sei. Nach § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II müssten erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einsetzen; dies tue der Beschwerdeführer (des dortigen Verfahrens) nicht, wenn er studiere. Daher schließe § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. im Fall des Beschwerdeführers die Gewährung dieser Grundsicherungsleistungen aus. Soweit durch die Ausbildung existenzielle Bedarfe entstünden, würden diese insofern vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III gedeckt. Über die dortige Altersgrenze der Förderung hätten die Gerichte im vorliegenden Verfahren nicht entschieden. Daher gehe auch die Rüge einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG in diesem Verfahren ins Leere. Der faktische Zwang, ein Studium abbrechen zu müssen, weil keine Sozialleistungen zur Verfügung stehen, berührt zwar die teilhaberechtliche Dimension des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber habe mit den Vorschriften des BAföG jedoch ein besonderes Sozialleistungssystem zur individuellen Förderung der Hochschulausbildung durch den Staat geschaffen, das diese Teilhabe sichern solle. Seine Regelungen über Förderungsvoraussetzungen sowie Art, Höhe und Dauer der Leistungen seien auf die besondere Lebenssituation der Studierenden zugeschnitten, die auf öffentliche Hilfe bei der Finanzierung ihres Studiums angewiesen seien. Der Gesetzgeber habe die Förderung so ausgestaltet, dass eine möglichst frühzeitige Aufnahme der Ausbildung gefördert werde, denn im Allgemeinen müsse bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eine der Begabung entsprechende Ausbildung begonnen werden. § 10 Abs. 3 Satz 2 BAföG lasse Ausnahmen bei einer Ausbildungsaufnahme in höherem Alter zu. Es sei so derzeit möglich, ein Erststudium gefördert zu absolvieren. Ob sich insofern der Ausschluss des Beschwerdeführers von der Förderung für ein Studium nach Ausbildung und Erwerbstätigkeit vor der Verfassung rechtfertigen lässt, sei damit nicht gesagt, aber auch nicht zu entscheiden.

219

2.1.2 Nach Auffassung des 5. Senats des BVerwG (Beschluss vom 18.07.1994 – 5 B 25/94 – Rn. 5 f.) war die dem jetzigen § 7 Abs. 5 SGB II in wesentlicher Hinsicht entsprechende Ausschlussregelung des § 26 Satz 1 BSHG a.F. mit dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar. Angesichts der Weite und Unbestimmtheit dieses Grundsatzes lasse sich aus ihm regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend sei lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben seiner Bürger schaffe (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 21 BvL 26/84, 1 BvL 41 BvL 4/86 – Rn. 83). Dass diese Mindestvoraussetzungen bei Personen, die nach dem BAföG gefördert würden und zufolge des § 26 Satz 1 BSHG a.F. daneben grundsätzlich keine Hilfe zum Lebensunterhalt nach Sozialhilferecht erhalten könnten, in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise unterschritten würden, könne nicht angenommen werden. Die gegenteilige Einschätzung des Klägers (des dortigen Verfahrens) beruhe zum einen darauf, dass dieser, was die Höhe der Ausbildungsförderung nach dem BAföG angehe, mit dem Erhöhungsbetrag nach § 13 Abs. 2a BAföG (a.F.) für die Krankenversicherung von Auszubildenden an Hochschulen Leistungen unberücksichtigt lasse, die nicht nur nach Sozialhilferecht, sondern auch im Rahmen der Ausbildungsförderung gewährt werden könnten. Zum anderen bleibe in der dem Beschluss zu Grunde liegenden Beschwerde auch unerwähnt, dass nach der Rechtsprechung des BVerwG durch § 26 Satz 1 BSHG a.F. der Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nur für einen ausschließlich ausbildungsgeprägten Bedarf ausgeschlossen werde. Nicht berührt werde deshalb der Anspruch auf solche Leistungen, die zwar nach ihrer Zuordnung im Gesetz Hilfe zum Lebensunterhalt seien, jedoch einen Bedarf beträfen, der durch besondere, von der Ausbildung unabhängige Umstände bedingt sei (Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 17.01.1985 – 5 C 29/84 – Rn. 8 ff.; BVerwG, Beschluss vom 13.05.1993 – 5 B 47/93 – Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 14.10.1993 – 5 C 16/91 – Rn. 6). Neben Ausbildungsförderung nach dem BAföG könnten daher z.B. sozialhilferechtliche Leistungen wegen besonderer, nicht ausbildungsbezogener Belastungen durch Krankheit, Behinderung, Schwangerschaft oder Kinderpflege und -erziehung in Betracht kommen. Abgesehen davon sei es, was in der Rechtsprechung des BVerwG seit langem geklärt sei, auch Auszubildenden an Hochschulen grundsätzlich zumutbar, durch gelegentliche – insbesondere in die vorlesungsfreie Zeit fallende – Nebentätigkeit, bei der es sich nicht um die Aufnahme einer mit der Ausbildung unvereinbaren Erwerbstätigkeit handeln würde, einen Verdienst zu erzielen, der ausreiche, mindestens den Unterschiedsbetrag abzudecken, der sich etwa ergebe, wenn dem Betrag der gewährten Ausbildungsförderung der Betrag gegenübergestellt werde, der als Hilfe zum Lebensunterhalt nach Maßgabe der Vorschriften des BSHG in Betracht kommen könnte (Bezugnahme u.a. auf BVerwG, Urteil vom 24.04.1975 – V C 9.74 – Rn. 16). Der Auszubildende habe es danach in der Hand, im Bedarfsfall die Sozialleistungen, die er aus Mitteln der Ausbildungsförderung und gegebenenfalls – beim Vorliegen eines nicht ausbildungsgeprägten Bedarfs – im Rahmen des Sozialhilferechts erhalte, im Wege der Selbsthilfe aufzustocken.

220

2.1.3 Der 8. Senat des OVG Nordrhein-Westfalen ist im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerwG ebenfalls der Ansicht, dass es sowohl mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als auch mit dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar sei, dass § 26 Satz 1 BSHG a.F. Personen, die eine im Rahmen des BAföG dem Grunde förderungsfähige Ausbildung absolvieren, von der Hilfe zum Lebensunterhalt grundsätzlich ausschließe (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.02.1995 – 8 B 540/95 – Rn. 6).

221

2.1.4 Nach Auffassung des damaligen 14. Senats des BSG begegnet der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 24.12.2003 (BGBl. Teil I, S. 2954) keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar führe der Ausschluss sowohl im SGB II als auch im SGB XII dazu, dass im Einzelfall für Ausbildungszeiten überhaupt keine staatliche Sozialleistung zur Verfügung gestellt werde. Der Gesetzgeber stelle aber grundsätzlich ein besonderes System der Ausbildungsförderung zur Verfügung, mit dem er den Lebensunterhalt während einer Ausbildung sichere. Er sei verfassungsrechtlich nicht gehalten, darüber hinaus Ausbildungszeiten auch außerhalb dieses Systems zu fördern. Soweit jemand eine Ausbildung betreiben wolle, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung einer Ausbildung vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfülle, handele es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Sie könne zumindest nicht die Konsequenz haben, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieser Ausbildung Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach einem System (SGB II) zu gewähren, das der Existenzsicherung von Personen diene, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Einkommen erzielen wollen würden und nur wegen des Fehlens einer Erwerbsmöglichkeit (vorübergehend) der Unterstützung bedürften. Wegen der Ausbildung wäre die Klägerin (des dortigen Verfahrens) nämlich kaum in der Lage, ihren Lebensunterhalt durch eine von der Bundesagentur für Arbeit vermittelte Erwerbstätigkeit selbst zu sichern. Etwaige Härten würden dabei durch § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II (a.F.) abgefedert. Angesichts der insgesamt pauschalierten Höhe der Leistungen nach dem BAföG würde die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, jedenfalls in der Zeit vor dem Inkrafttreten des § 22 Abs. 7 SGB II zum 01.01.2007 auch zu einer nicht zu rechtfertigenden Privilegierung von Personen führen, die eine förderungsfähige Ausbildung absolvierten, aber die besonderen Voraussetzungen einer Ausbildungsförderung nach den spezialgesetzlichen Vorschriften nicht erfüllten (BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 28/06 R – Rn. 29; ähnlich: BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 36/06 R – Rn. 28).

222

2.1.5 Dieser Auffassung hat sich der 14. Senat des LSG Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 18.07.2008 (L 14 B 774/08 AS PKH – Rn. 2) ohne weitere Begründung angeschlossen.

223

2.1.6 Im Urteil vom 30.09.2008 stellt auch der 4. Senat des BSG unter Bezugnahme auf die Urteile vom 06.09.2007 (B 14/7b AS 28/06 R und B 14/7b AS 36/06 R) ohne weitere Ausführungen fest, dass eine verfassungswidrige Benachteiligung durch den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II nicht ersichtlich sei (BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 30). Die Ausschlussregelung sei auf die Erwägung zurückzuführen, dass bereits die Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder gemäß §§ 60 bis 62 SGB III (a.F.) auch die Kosten des Lebensunterhalts umfasse und deshalb im Grundsatz die Grundsicherung nicht dazu diene, durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderungsfähigen Ausbildung zu ermöglichen. Die Ausschlussregelung solle die nachrangige Grundsicherung mithin davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene zu ermöglichen (BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 14).

224

Im Urteil vom 27.09.2011 führt der 4. Senat des BSG aus, dass es der Sinn der Regelung des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II (a.F.) sei, Ausbildungsförderleistungen nur durch die dafür vorgesehenen Systeme (BAföG oder SGB III) zu gewährleisten. Ausbildungsförderung durch Leistungen aus den Fürsorgesystemen (SGB II und SGB XII) solle daher weitestgehend verhindert werden (BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 160/10 R – Rn. 19).

225

In einem weiteren Urteil vom 27.09.2011 konstatiert der 4. Senat des BSG – ohne allerdings ausdrücklich eine verfassungsrechtliche Prüfung vorzunehmen –, dass es, da grundsätzlich die Sicherung des Lebensunterhalts bei förderungsfähigen Ausbildungen durch ein anderes Sozialleistungssystem erfolgen solle als die Grundsicherung für Arbeitsuchende, in der Ausbildungssituation keiner Leistungen der Grundsicherung bedürfe. Soweit ein Student ein Studium betreiben möge, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung dessen vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfülle, handele es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Sie könne zumindest nicht die Konsequenz haben, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieses Studiums Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren, ohne dass der Student dem Gesamtsystem des SGB II unterläge. Wegen der Ausbildung sei er nämlich kaum in der Lage, seinen Lebensunterhalt durch eine von der Bundesagentur für Arbeit vermittelte Erwerbstätigkeit selbst zu sichern (BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 145/10 R – Rn. 23).

226

In einem Urteil vom 28.03.2013 hat der 4. Senat des BSG seine Auffassung bekräftigt, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne und der Gesetzgeber nicht gehalten sei, außerhalb des besonderen Systems zur Ausbildungsförderung den Lebensunterhalt während der Ausbildung sicherzustellen (BSG, Urteil vom 28.03.2013 – B 4 AS 59/12 R – Rn. 20).

227

In einem Urteil vom 02.04.2014 (B 4 AS 26/13), indem der nach dem BAföG geförderte dortige Kläger einen Zuschuss zu den ungedeckten Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 7 SGB II (a.F.) (heute weitgehend übernommen in § 27 Abs. 3 SGB II) begehrt hat, ohne dessen spezielle Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen, führt der 4. Senat des BSG aus, dass dem Ausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. die Erwägung zu Grunde liege, dass bereits die Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder eine Förderung gemäß §§ 60 bis 62 SGB III (a.F.) auch die Kosten des Lebensunterhalts umfasse und die Grundsicherung nach dem SGB II nicht dazu dienen solle, durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderungsfähigen Ausbildung zu ermöglichen. Die Ausschlussregelung im SGB II solle die nachrangige Grundsicherung (Bezugnahme auf § 3 Abs. 3 SGB II) mithin davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene zu ermöglichen. Es sollten nicht mehrere Träger zur Deckung ein und desselben Bedarfs zuständig sein (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 18). Soweit der Kläger geltend mache, der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 i.V.m. Art. 20 GG (Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 134 und BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09) erfordere seine Einbeziehung in den Kreis der nach § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. Leistungsberechtigten, vermöge der Senat dem nicht zu folgen. Der Kläger berufe sich darauf, aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG folge die staatliche Garantie der Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins erforderlich seien. Insoweit übersehe er jedoch, dass er zur Finanzierung seines Lebensunterhalts staatliche Mittel in Gestalt der Leistungen nach dem BAföG erhalten habe, insbesondere erhöhte Unterkunftsleistungen. Für Studierende, die in einer Unterkunft außerhalb des Elternhauses wohnten, habe § 13 Abs. 3 BAföG im streitigen Zeitraum im Fall der Unterdeckung bei den Unterkunftskosten eine pauschalierte Erhöhung der Leistungen hierfür um 72 Euro monatlich auf insgesamt 218 Euro vorgesehen. Inwieweit auch im BAföG – wie im SGB II – die Deckung der angemessenen tatsächlichen Aufwendungen gewährleistet werden müsse, habe hier keiner Prüfung bedurft. Der Kläger begehre ausschließlich Leistungen nach dem SGB II. Das SGB II habe jedoch wegen der Pauschalierung bei den Unterkunftskosten im BAföG nur in genau definierten Härtefällen eine Aufstockung der Ausbildungsförderungsleistungen durch § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. vorgesehen. Soweit der Kläger über die geregelten Ausnahmefälle des § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II a.F. hinaus einen weitergehenden gesetzlich nicht vorgesehenen Anspruch geltend mache, rüge er daher keine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung des Existenzminimums, sondern eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 27). Eine Verletzung des Gleichheitsgrundrechts sieht der Senat nicht (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 28 ff.).

228

2.1.7 In späteren Entscheidungen des BSG (Urteile vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R und vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R) wurde die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung nicht mehr aufgegriffen.

229

2.1.8 Auch der 28. Senat des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 26.02.2016 – L 28 AS 2230/12 – Rn. 16) ist der Auffassung, dass die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 5 SGB II nicht verfassungswidrig sei. Zur Begründung verweist er ohne weitere Erläuterungen auf den Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11).

230

2.1.9 Die vorlegende 3. Kammer des SG Mainz hat hingegen im Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 (S 3 AS 130/14 – Rn. 220) hervorgehoben, dass die in den Nichtannahmebeschlüssen des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden, obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsähen, einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der im Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik darstelle. Es sei unklar, weshalb die zur Voraussetzung der Gewährung existenzsichernder Leistungen gemachte Verhaltenserwartung des Abbruchs der Ausbildung oder des Studiums mit dem Axiom der Unverfügbarkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sein könnte.

231

Diese Auffassung wird auch im Beschluss der 12. Kammer des SG Mainz vom 12.11.2015 (S 12 AS 946/15 ER – Rn. 83) mit dem Hinweis aufgegriffen, dass das Existenzminimum auch bildungspolitisch nicht zu relativieren sein dürfte.

232

2.2 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 5 SGB II bzw. in dessen sozialhilferechtlichen Parallel- und Vorgängerregelungen überwiegend unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung für verfassungsgemäß gehalten (vgl. bereits zum BSHG: Marschner, NVwZ 1995, S. 870, Fn. 3).

233

2.2.1 Felix hat allerdings bereits zu § 26 Satz 1 BSHG a.F. in kritischer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 14.10.1993 – 5 C 16/91) hervorgehoben, dass diese Vorschrift bereits von der Systematik des BSHG her gesehen äußerst bedenklich sei, weil durch sie ganze Gruppen von Personen völlig vom Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen würden. Dies verstoße gegen den tragenden Grundsatz der individuellen Gestaltung und Bemessung der Hilfe (Bezugnahme auf § 31 BSHG a.F.), so dass § 26 BSHG a.F. bereits aus diesem Grunde auf Grund seiner Systemwidrigkeit als Ausnahmevorschrift eng ausgelegt werden müsse. Die rein formale Anknüpfung an den Status des Hilfebedürftigen – Auszubildender im Rahmen einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung –, die vom BVerwG praktiziert werde, werde diesem Erfordernis nicht gerecht. Entgegen der Auffassung des BVerwG sei stattdessen im konkreten Einzelfall danach zu fragen, ob die Durchführung der Ausbildung in kausalem Zusammenhang mit dem sozialhilferechtlichen Bedarf des Bedürftigen bestehe (Felix, NVwZ 1995, S. 246).

234

2.2.2 Voelzke stellt im Rahmen seiner Kommentierung der Parallelreglung in § 22 SGB XII fest, dass derjenige Auszubildende, der die Leistungsvoraussetzungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III nicht erfülle, bei Hilfebedürftigkeit keine Fürsorgeleistungen erhalte, sondern darauf verwiesen werde, entweder seine Ausbildung aufzugeben oder seinen Lebensunterhalt durch eine Nebenerwerbstätigkeit zu sichern (Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 22 Rn. 7, Stand 20.05.2015). Der Anspruchsausschluss bedeute im Ergebnis wegen des nicht bedarfsdeckenden Charakters der Ausbildungsförderung, dass der Auszubildende die Ausbildung durch die Hilfe Dritter (insbesondere der Eltern), durch eine ausbildungsbegleitende Tätigkeit oder durch die Aufnahme eines Darlehens kofinanzieren müsse. Stünden dem Auszubildenden derartige Möglichkeiten nicht zur Verfügung, müsse die Ausbildung in der Konsequenz der Struktur der gesetzlichen Regelungsstruktur ggf. unterbrochen oder sogar aufgegeben werden (Voelzke, a.a.O. Rn. 18). Die Vorschrift solle die Sozialhilfe davon befreien, eine (versteckte) Ausbildungshilfe auf einer zweiten Ebene zu sein. Da die Ausbildungsförderung nach dem BAföG und die Berufsausbildungsbeihilfe nach dem SGB III auch die Kosten des Lebensunterhalts umfassten, werde verhindert, dass die Sozialhilfe durch die Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts das Betreiben einer dem Grunde nach anderweitig förderbaren Ausbildung ermögliche. Es solle kein Ersatzförderungssystem installiert werden, das die im BAföG oder SGB III geregelten speziellen Anspruchsvoraussetzungen aushebeln und die Lasten der Ausbildungsförderung der Sozialhilfe auferlegen würde. Insoweit sei es Sinn und Zweck des § 22 SGB XII, die Inanspruchnahme von ergänzender Sozialhilfe zu verhindern, wenn die Notlage durch eine abstrakt förderungsfähige Ausbildung verursacht werde. Ein Wahlrecht des Auszubildenden, Ausbildungsförderung oder Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, sei diesem nicht eingeräumt. Die Sozialhilfe solle deshalb regelmäßig nicht dazu dienen, das Betreiben einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung durch Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts sicherzustellen. Der vorstehende Grundsatz werde jedoch dadurch relativiert, dass § 27 SGB II und das entsprechende Leistungsangebot im SGB XII Lücken im Leistungsangebot schließen würden (Voelzke, a.a.O., Rn. 20). Die Zielsetzung des § 22 SGB XII werde vielfach als systemwidrig und sozialpolitisch verfehlt kritisiert. Dieser Einschätzung könne jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden, denn dem Gesetzgeber sei es grundsätzlich unbenommen, für die Ausbildungsförderung ein gesondertes Leistungssystem zur Verfügung zu stellen, das er in der Folge gegen die Sozialhilfe (und die Grundsicherung für Arbeitsuchende) abgrenze. Die Abgrenzungsregelung fuße also auf der – vom Ansatz her hinzunehmenden – Auffassung des Gesetzgebers, dass die Leistungen des BAföG und des SGB III bedarfsgerecht ausgestaltet seien und neben dem speziellen Ausbildungsbedarf auch den Lebensunterhalt des Betroffenen abdeckten, so dass eine Aufstockung der Leistungen nicht erforderlich sei. Aus diesem Grunde dürfte sozialpolitisch eine Lösung der Problematik eher darin zu suchen sein, die vorrangige Ausbildungsförderung als bedarfsdeckendes Leistungssystem auszugestalten. Eine durch den Leistungsausschluss herbeigeführte verfassungswidrige Benachteiligung haben die Rechtsprechung und die überwiegende Literatur bislang verneint, weil der Gesetzgeber wegen der zwischen den in Frage kommenden Gruppen bestehenden Unterschiede berechtigt sei, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unterschiedlich zu regeln. Die unterschiedliche Behandlung rechtfertige sich dadurch, dass die Sicherung des Lebensunterhalts durch ein anderes Sozialleistungssystem erfolgen solle. Zwar könne diese Systementscheidung im Einzelfall dazu führen, dass während einer Ausbildung keine Sozialleistungen bezogen werden könnten. Soweit eine Ausbildung angetreten werde, ohne die Anforderungen des einschlägigen Leistungssystems zu erfüllen, handele es sich jedoch um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine individuelle staatliche Ausbildungsförderung bestehe nicht (Voelzke, a.a.O., Rn. 21).

235

2.2.3 Grote-Seifert ist der Auffassung, dass die Verpflichtung, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen, auch den Ausschluss der Leistungen gemäß § 7 Abs. 5 SGB II bei Aufnahme eines Studiums rechtfertige, solange der Student der Hochschule organisationsrechtlich angehöre und sein Studium betreibe (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 2 Rn. 47, Stand 10.03.2015).

236

2.2.4 Leopold hält den grundsätzlichen Ausschluss von Auszubildenden, die dem Grunde nach einen Anspruch auf Ausbildungsförderung BAföG oder auf Berufsausbildungsbeihilfe nach den §§ 51, 57, 58 SGB III haben, von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für verfassungsrechtlich unbedenklich. Dieser Leistungseinschränkung für Auszubildende liege die Annahme zu Grunde, dass die Leistungen des BAföG und des SGB III bedarfsgerecht ausgestaltet seien und neben dem speziellen Ausbildungsbedarf auch den Lebensunterhalt des Geförderten abdeckten, so dass keine Aufstockung der Leistungen durch solche des SGB II erforderlich sei. Dadurch solle eine versteckte Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene verhindert werden. Zudem sollten die Fördervoraussetzungen nach den für Ausbildungsförderung vorgesehenen Gesetzen nicht umgangen werden können. Den vom Leistungsausschluss Betroffenen mute das Gesetz zu, auf die Aufnahme bzw. Fortführung einer dem Grunde nach förderungsfähigen Ausbildung zu verzichten und sich stattdessen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 287, Stand 14.03.2016).

237

2.3 Die vorlegende Kammer ist nach Auswertung der vertretenen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur der im Folgenden noch zu begründenden Überzeugung, dass auch die Regelung des § 7 Abs. 5 SGB II verfassungswidrig ist. Eine verfassungskonforme Auslegung ist nicht möglich.

VI.

238

1. Das BVerfG hat sich mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – soweit ersichtlich – noch nicht befasst, so dass der Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage nicht der Einwand der Rechtskraft nach § 31 Abs. 1 BVerfGG entgegensteht (vgl. zu dieser Voraussetzung BVerfG, Beschluss vom 30.05.1972 – 1 BvL 18/71 – Rn. 18).

239

2. Mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II (in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung) hat sich das BVerfG bereits in den Nichtannahmebeschlüssen vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) auseinandergesetzt. Mit diesen Entscheidungen hat die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Eine Sachentscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II war hiermit jedoch nicht verbunden (vgl. Baer, NZS 2014, S. 4 zum „Stiefkinderbeschluss“ der 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 29.05.2013 – 1 BvR 1083/09). Den Beschlüssen kommt gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG keine Gesetzeskraft zu, da mit den Entscheidungsformeln der Kammer weder ein Gesetz als mit dem GG vereinbar, noch als mit dem GG unvereinbar oder für nichtig erklärt wurde. Die gleichwohl in den Beschlüssen skizzierte Auffassung, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II (a.F.) sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Beschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 22; BVerfG, Beschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 12 ff.), bringt daher keine zusätzlichen Begründungslasten oder sonstigen Anforderungen für die Zulässigkeit des Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 BVerfGG mit sich.

VII.

240

Die durch das vorlegende Gericht aufgeworfenen Vorlagefragen sind einer Prüfung durch das BVerfG nicht in Folge der von diesem proklamierten Nichtausübung der Grundrechtskontrolle über in Deutschland angewandtes Unionsrecht entzogen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 – Rn. 55 ff. – „Bananenmarktverordnung“ –; BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 117 – „Solange II“ –; BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 22 BvR 2159/92 – Rn. 70 – „Maastricht“ –; zu Ursachen und Entwicklung dieser Rechtsprechung im Verhältnis zum EuGH: Buckel, Subjektivierung und Kohäsion, 2. Auflage 2015, S. 280 ff.).

241

1. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass als Befugnisnorm und/oder verfassungsrechtliche Rechtfertigung für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II die unionsrechtliche Vorschrift des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG herangezogen wird. Anhand dieser Argumentationsfigur ließe sich die Frage anschließen, ob die eigentlich verfassungswidrige (weil Grundrechte verletzende) Vorschrift hier nicht § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, sondern Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG sein könnte, deren Grundrechtskonformität nach der Judikatur des BVerfG in Folge der „Solange II“-Entscheidung vom 22.10.1986 (2 BvR 197/83) vorläufig ausschließlich durch den EuGH zu prüfen wäre.

242

Die vorliegende Konstellation bietet jedoch keinen Anlass für den Verzicht auf die Grundrechtskontrolle durch das BVerfG. Dies beruht zunächst darauf, dass das BVerfG seine Prüfkompetenz uneingeschränkt in Anspruch nimmt, wenn der Gesetzgeber bei der Umsetzung von Unionsrecht Gestaltungsfreiheit hat, das heißt durch das Unionsrecht nicht determiniert ist (BVerfG, Urteil vom 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a. – Rn. 182). Der hier in Rede stehende Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG räumt dem nationalen Gesetzgeber lediglich die Befugnis ein, freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger unter bestimmten Umständen vom Anspruch auf Sozialhilfeleistungen auszunehmen, verpflichtet ihn aber nicht dazu. Dem Gesetzgeber verbleibt daher ein Gestaltungsspielraum, so dass die vom BVerfG entwickelte Doktrin der Nichtausübung der Grundrechtskontrolle nach dessen eigenem Verständnis in der vorliegenden Konstellation nicht einschlägig ist (vgl. auch Kingreen, SGb 2013, S. 137).

243

2. Für die zweite Vorlagefrage wird das Problem nicht aufgeworfen, da eine unionsrechtliche Grundlage für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II ersichtlich nicht besteht.

VIII.

244

Einer Rüge der Nichtigkeit der Rechtsvorschrift durch die Beteiligten bedarf es nicht (§ 80 Abs. 3 BVerfGG).

B.

245

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist verfassungswidrig (II). Die Regelung verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG (Schutz der Menschenwürde) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) (I.). Das Gleiche gilt für § 7 Abs. 5 SGB II (III).

I.

246

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Grundrecht in mehreren Entscheidungen konkretisiert und Anforderungen für dessen Gewährleistung herausgearbeitet (1-4). Die vorlegende Kammer schließt sich diesen Entscheidungen grundsätzlich an (5, 6) und zieht hieraus Schlüsse für die Anspruchsvoraussetzungen (7), den Anspruchsgegner (8) und den Anspruchsinhalt (9), sowie für das Verhältnis mehrerer möglicherweise verfassungswidriger Normen zueinander (10).

247

1. Mit dem Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.), bestätigt und ergänzt durch das Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) und durch den Beschluss vom 23.07.2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 ), hat das BVerfG die auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) gestützte staatliche Pflicht zur Existenzsicherung subjektivrechtlich fundiert und ein Recht auf parlamentsgesetzliche Konkretisierung in strikten einfachgesetzlichen Anspruchspositionen konstituiert (soRixen, SGb 2010, S. 240). Bereits mit Beschluss vom 12.05.2005 hatte das BVerfG klargestellt, dass die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates sei, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folge (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – Rn. 28).

248

Im Urteil vom 09.02.2010 stellt das BVerfG nicht nur prozedurale Anforderungen an die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums an einen beliebigen (staatlichen) Akteur, sondern weist die Bestimmung des Anspruchsinhalts auch einem konkreten Adressaten, dem Bundesgesetzgeber, zu. Der Bundesgesetzgeber stehe, da er von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Recht der öffentlichen Fürsorge aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG umfassend Gebrauch gemacht habe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 181), demnach in der Verantwortung, das Sozialstaatsprinzip selbst durch ein Gesetz hinreichend zu konkretisieren und zu gewährleisten, dass auf die zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderlichen Leistungen auch ein entsprechender Rechtsanspruch besteht (Berlit in: LPK-SGB II, § 22a Rn. 6, 5. Auflage 2013). Hiermit hat das BVerfG das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG als Gewährleistungsrecht im Sozialrecht aktiviert (Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 275).

249

2. Das BVerfG entwickelt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Das Menschenwürdeprinzip aus Art. 1 Abs. 1 GG wird dabei als eigentliche Anspruchsgrundlage herangezogen, während das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG im Sinne eines Gestaltungsgebots mit erheblichem Wertungsspielraum verstanden wird (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62). Das auf dieser Grundlage bestimmte Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG habe in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG demnach neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es sei dem Grunde nach unverfügbar und müsse eingelöst werden, bedürfe aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten habe. Dabei stehe dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133).

250

Der Gesetzgeber sei im Übrigen durch weitere Vorgaben verpflichtet, die sich aus dem Recht der Europäischen Union und aus völkerrechtlichen Verpflichtungen ergäben.Zu den in Deutschland geltenden Regeln über das Existenzminimum gehöre auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 (IPwskR, in Kraft getreten am 03.01.1976, BGBl. Teil II 1976, S. 428), dem der Deutsche Bundestag mit Gesetz vom 23.11.1973 (BGBl. Teil II, S. 1569) zugestimmt habe. Der Pakt statuiere in Art. 9 ein Recht auf Soziale Sicherheit und in Art. 15 Abs. 1 a) das Menschenrecht auf Teilnahme am kulturellen Leben (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 68).

251

Der unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstrecke sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich seien. Er gewährleiste hierbei das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasse, da der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiere (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135).

252

Das BVerfG führt hierzu weiter aus, dass die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch ein Parlamentsgesetz erfolgen müsse, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthalte. Aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebe sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. Dies gelte in besonderem Maße, wenn und soweit es um die Sicherung der Menschenwürde und der menschlichen Existenz gehe. Zudem könne sich der von Verfassungs wegen bestehende Gestaltungsspielraum des Parlaments nur im Rahmen eines Gesetzes entfalten und konkretisieren. Schließlich sei die Begründung von Geldleistungsansprüchen auch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte verbunden. Derartige Entscheidungen seien dem Gesetzgeber vorbehalten (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136). Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkomme, sei das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137).

253

Der Umfang des Anspruchs könne im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Er hänge von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und sei danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG halte den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kämen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliege es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ihm komme Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser umfasse die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und sei zudem von unterschiedlicher Weite: Er sei enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiere, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 138).

254

Zur Konkretisierung des Anspruchs habe der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen. Hierzu habe er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das GG schreibe ihm dafür keine bestimmte Methode vor (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 139). Es komme dem Gesetzgeber zu, die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auszuwählen. Die getroffene Entscheidung verändere allerdings nicht die grundrechtlichen Maßstäbe (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 78).

255

3. Als Menschenrecht stehe das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63).

256

Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen wolle, dürfe er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung sei nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73).

257

Ob und in welchem Umfang der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen für Menschen mit nur vorübergehendem Aufenthaltsrecht in Deutschland gesetzlich abweichend von dem gesetzlich bestimmten Bedarf anderer Hilfebedürftiger bestimmt werden könne, hänge allein davon ab, ob wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden könnten. Hierbei sei zu berücksichtigen, ob durch die Kürze des Aufenthalts Minderbedarfe durch Mehrbedarfe kompensiert würden, die typischerweise gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfielen. Auch hier komme dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse dieser Personengruppe wie auch die wertende Einschätzung ihres notwendigen Bedarfs umfasse, aber nicht davon entbinde, das Existenzminimum hinsichtlich der konkreten Bedarfe zeit- und realitätsgerecht zu bestimmen (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73).

258

4. Zum (verfassungs-)gerichtlichen Prüfungsmaßstab führt das BVerfG aus, dass dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums eine zurückhaltende Kontrolle durch das BVerfG entspreche.

259

Das GG selbst gebe keinen exakt bezifferten Anspruch vor. Deswegen könne auch der Umfang dieses Anspruchs im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und der dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Dem BVerfG komme nicht die Aufgabe zu, zu entscheiden, wie hoch ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums sein müsse. Es sei zudem nicht seine Aufgabe, zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste, zweckmäßigste und vernünftigste Lösung zur Erfüllung seiner Aufgaben gewählt habe. Aus verfassungsrechtlicher Sicht komme es vielmehr entscheidend darauf an, dass die Untergrenze eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht unterschritten werde und die Höhe der Leistungen zu dessen Sicherung insgesamt tragfähig begründbar sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. - Rn. 80).

260

Die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz beschränke sich darauf, ob die Leistungen evident unzureichend seien. Diese Kontrolle beziehe sich auf die Höhe der Leistungen insgesamt und nicht auf einzelne Berechnungselemente, die dazu dienten, diese Höhe zu bestimmen. Evident unzureichend seien Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich sei, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen könnten, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 81).

261

Jenseits der Evidenzkontrolle überprüfe das BVerfG, ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen seien. Das BVerfG setze sich dabei nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle des Gesetzgebers, sondern überprüfe lediglich die gesetzgeberischen Festlegungen zur Berechnung von grundgesetzlich nicht exakt bezifferbaren, aber grundrechtlich garantierten Leistungen. Ließen sich diese nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen, stünden sie mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG im Einklang (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 82).

262

Entscheidend sei, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichte und die Leistungen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs tragfähig begründet werden könnten (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 76). Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen bezögen sich nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG bringe für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Verfahren mit sich. Entscheidend sei, ob sich die Höhe existenzsichernder Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lasse. Das GG enthalte in den Art. 76 ff. GG zwar Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, die auch die Transparenz der Entscheidungen des Gesetzgebers sicherten. Das parlamentarische Verfahren mit der ihm eigenen Öffentlichkeitsfunktion sichere so, dass die erforderlichen gesetzgeberischen Entscheidungen öffentlich verhandelt würden und ermögliche, dass sie in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert würden. Die Verfassung schreibe jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen sei, sondern lasse Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Das GG verpflichte den Gesetzgeber insofern auch nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenzminimums vorzunehmen. Darum zu ringen sei vielmehr Sache der Politik (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

263

Zur Ermöglichung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bestehe für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Komme er dieser Obliegenheit nicht hinreichend nach, stehe die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 144).

264

5. Die Kammer schließt sich den Ausführungen des BVerfG im Wesentlichen an.

265

5.1 Die Entwicklung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dem Umstand geschuldet, dass sowohl die Menschenwürdegarantie als auch das Sozialstaatsprinzip als echte, einklagbare, verfassungsrechtliche Garantien verstanden werden, nicht lediglich als Programmsätze. Ein menschenwürdiges Leben, zu dessen Achtung und Schutz alle staatliche Gewalt nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet ist, kann nur mit einem Mindestmaß an materiellen und sozialen Ressourcen geführt werden (vgl. Schulz, SGb 2010, S. 203 f.). Der Schutz der Menschenwürde liefe ohne Rücksicht auf ihre ökonomischen Bedingungen ins Leere (Drohsel, NZS 2014, S. 99). Vor diesem Hintergrund erscheint es sogar vertretbar, das Grund- und Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums allein auf Art. 1 Abs. 1 GG zu stützen (vgl. Tiedemann, NVwZ 2012, S. 1032 f.).

266

5.2 Das Bekenntnis zum Sozialstaat bedingt die (Selbst-)Verpflichtung des Staates und der ihn tragenden Gesellschaft, ein menschenwürdiges Leben auch denen zu ermöglichen, die dies nicht aus eigener Kraft (bzw. mit den Mitteln, die ihnen Staat und Gesellschaft anderweitig durch Bildung, Infrastruktur etc. zur Verfügung stellen) gewährleisten können. Die objektive staatliche Verpflichtung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums enthält auch die Verpflichtung, Hilfebedürftigen einen Anspruch auf die Leistung zu verschaffen (so bereits BVerfG, Urteil vom 07.06.2005 – 1 BvR 1508/96 – Rn. 48; vgl. Baer, NZS 2014, S. 3). Diese subjektivrechtliche Seite der verfassungsrechtlichen Garantie folgt aus dem Umstand, dass Art. 1 Abs. 1 GG als echte Rechtsnorm zu verstehen ist (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 212); das Sozialstaatsprinzip allein würde diese der Verrechtlichung folgende Subjektivierung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung noch nicht erzwingen (vgl. Schulz, SGb 2010, S. 202). Ohne die aus dem Achtungs- und Schutzanspruch des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG folgende subjektivrechtliche Fundierung stünde die konkrete Ausgestaltung der sozialstaatlichen Versorgung von Hilfebedürftigen mit den zum Überleben notwendigen Mitteln weitgehend zur Disposition des Gesetzgebers. Sie wäre abhängig von der jeweiligen Staatsräson und vollständig Verhandlungsmasse im politischen Prozess (vgl. Spellbrink, NZS 2010, S. 653). Der Hilfebedürftige bliebe Almosenempfänger (Baer, NZS 2014, S. 3).

267

Die Menschenwürdegarantie führt dazu, dass der sozialstaatlichen Verpflichtung ein klagbarer verfassungsrechtlicher Anspruch entsprechen muss (skeptisch gegenüber der Notwendigkeit, das Existenzsicherungsgrundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG herzuleiten aberKingreen, NVwZ, 2010, S. 558 f.). Zugleich führt sie dazu, dass das Gewährleistungsrecht keiner Einschränkungsbefugnis unterliegt. Insofern ist es konsequent, die Garantie der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums terminologisch und dogmatisch in den Rang eines Grundrechts und Menschenrechts (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 u.a. - Rn. 62) zu erheben und hiermit auch die Möglichkeit des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG zu eröffnen (vgl. Berlit, KJ 2010, S. 147).

268

5.3 Dass das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Gestaltung des einfachrechtlichen Anspruchs belässt, gründet darauf, dass die normative Einschätzung und Bestimmung dessen, was für ein menschenwürdiges Leben unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen erforderlich ist, nur im Wege eines politischen Prozesses erfolgen kann, dessen Durchführung unter den verfassungsrechtlichen Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie den gewählten Legislativorganen obliegt (zur Kritik an der juristisch-dogmatischen Schließung des Demokratieprinzips durch das BVerfG vgl. aber Wallrabenstein in: Rixen (Hrsg.), Die Wiedergewinnung des Menschen als demokratisches Projekt: Band 1: Neue Demokratietheorie als Bedingung demokratischer Grundrechtskonkretisierung in der Biopolitik, Tübingen 2015, S. 21 ff.). Der materielle Gehalt des Grundrechts muss im Gesetzgebungsprozess konkretisiert werden (vgl. jedoch zur Kritik an der sozialpolitischen "Leere" des Urteils des BVerfG vom 09.02.2010: Schnath, NZS 2010, S. 298; zur Kritik an der eingeschränkten Überprüfbarkeit: Neskovic/Erdem, SGb 2012, S. 137 f.).

269

Die Auffassung, das BVerfG entziehe die gesellschaftlich streitbare Frage nach der Reichweite der staatlichen Verpflichtung zur Absicherung des Existenzminimums durch Verankerung des Grundrechts in Vorschriften, die der Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) unterliegen, für die Ewigkeit dem politischen Diskurs und schwäche hiermit das demokratische Prinzip (Groth, NZS 2011, S. 571; kritisch auch Rixen, NZS 2011, S. 333), vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen. Bei formaler Betrachtungsweise schwächt jedes Grundrecht und jede verfassungsrechtliche Bindung der Legislative die Demokratie, wenn man diese auf den Gesetzgebungsakt reduziert und die Voraussetzungen für den demokratischen Prozess (z.B. Meinungsfreiheit, soziale Teilhabe, politische Autonomie) ausblendet (vgl. auch Luik, jurisPR-SozR 4/2010 Anm. 1). Die Konstituierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch das BVerfG als "Gewährleistungsrecht" zwingt die Legislativorgane jedoch dazu, den demokratischen Prozess, der sich nicht im Gesetzgebungsakt erschöpft, praktisch zu realisieren, auch wenn von echten Verfahrensfehlern abgesehen nur dessen Ergebnis einer (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Daneben sind Grundrechte auf Gewährung sozial gesicherter Lebensbedingungen, wie dies für eine chancengleiche Nutzung bürgerlicher Rechte unter gegebenen Verhältnissen jeweils notwendig ist, Funktionsvoraussetzungen für Handlungsfreiheit und Aktivbürgerschaft in einem demokratischen Rechtsstaat und somit auch für den demokratischen Prozess selbst (vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 155 f., 5. Auflage 2014).

270

Die scheinbar entgegengesetzte Kritik, das BVerfG überlasse das Grundrecht weitestgehend der Disposition des nur bedingt gebundenen Gesetzgebers (Neskovic/Erdem, SGb 2012, S. 138), verdeutlicht die Kompromisshaftigkeit der vom BVerfG entwickelten Dogmatik (vgl. auch Berlit, KJ 2010, S. 145 ff.). Bei der Konstruktion des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums werden Menschenwürdegarantie und Sozialstaatsprinzip mit dem Demokratieprinzip harmonisiert. Eine Lösung, die diese Verfassungsgrundsätze prinzipiell besser miteinander in Einklang bringt, ist der vorlegenden Kammer nicht ersichtlich. Dass das BVerfG „zur sozialstaatlich elementaren Verteilungsfrage geschwiegen (hat)“ (Borchert, SGb 2015, S. 661) ist vor diesem Hintergrund konsequent.

271

5.4 Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stellt an ein Staatswesen, welches den Schutz und die Achtung der Menschenwürde zum obersten Staatsziel erklärt und der Verfassung voranstellt (Art. 1 Abs. 1 GG) und sich als "sozial" bezeichnet (Art. 20 Abs. 1 GG), keine überzogenen Anforderungen, insbesondere nicht im Hinblick auf die Finanzierung (vgl. allgemein zu diesbezüglichen Vorbehalten gegenüber sozialen Menschenrechten: Wimalasena, KJ 2008, S. 4 f.). Letzteres wird dadurch gesichert, dass der Gesetzgeber unter Nutzung seines Gestaltungsspielraums bei der inhaltlichen Bestimmung des Grundrechts den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsstand berücksichtigen kann und muss. Das Grundrecht ist zwar dem Grunde nach unverfügbar und abwägungsfest, der Höhe nach aber nicht vom gesellschaftlichen Wohlstand und dessen ökonomischen Grundlagen entkoppelt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74; Voßkuhle, SGb 2011, S. 186). Nicht die Menschenwürde ist hierbei historischen Wandlungen unterworfen, sondern das Urteil darüber, welche materiellen Voraussetzungen notwendig sind, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können (Neumann, NVwZ 1995, S. 428).

272

6. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet den Gesetzgeber zur Schaffung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen für alle Menschen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich aufhalten (Kirchhof, NZS 2015, S. 4). Dem Gesetzgeber ist es daher sowohl verwehrt, Personen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten, trotz Hilfebedürftigkeit von sämtlichen existenzsichernden Sozialleistungssystemen auszuschließen, als auch die Gewährung jeglicher existenzsichernder Leistungen von Handlungen der betroffenen Personen abhängig zu machen, die weder zur Feststellung der Leistungsvoraussetzungen erforderlich noch unmittelbar dazu geeignet sind, die Hilfebedürftigkeit des Betroffenen zu beseitigen. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und insoweit – wie es der überkommenen Dogmatik der Menschenwürdegarantie entspricht – abwägungsfest (Baer, NZS 2014, S. 3).

273

6.1 Die Unverfügbarkeit des Grundrechts (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74) resultiert aus dessen Verankerung im Grundsatz der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), soweit hierin der Schutz der Selbstbestimmung des Menschen auf Grund seines Eigenwerts angesprochen wird (vgl. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10, 4. Auflage 1999). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen. Die Eigenschaft des Menschseins ist jeder weiteren Differenzierung nach Zugehörigkeit (Staatsangehörigkeit, Herkunft) oder Status (z.B. Aufenthaltsrecht) vorgelagert, so dass aus der Menschenwürdegarantie hergeleitete Rechte durch solche und ähnliche Kategorien nicht eingeschränkt werden können.

274

Die vom BVerfG hervorgehobene Unverfügbarkeit "dem Grunde nach" bringt lediglich zum Ausdruck, dass hinsichtlich der Art und Höhe der existenzsichernden Leistungen ein Gestaltungsspielraum besteht. Diese Formulierung ist zu unterscheiden von einem lediglich "grundsätzlich" bestehenden Recht, welches im Ausnahmefall auch nicht bestehen kann. Die in der Rechtsprechung gelegentlich vertretene Auffassung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfe, gelte „nicht schrankenlos“ (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht) verfehlt deshalb den wesentlichen Punkt. Die Verpflichtung zur "Konkretisierung" und "Aktualisierung" (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74) bedeutet keine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Das Grundrecht unterliegt daher auch keinem Gesetzesvorbehalt, sondern der Gesetzgeber (d.h. die verfassungsmäßigen Organe der Legislative) einem Gestaltungsgebot (vgl. Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 279 f.).

275

Bei der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums geht es nicht darum, bestimmte selbstgewählte Lebensentwürfe zu fördern oder zu ermöglichen, sondern das physische Überleben und ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe des Menschen im Falle der Hilfebedürftigkeit unabhängig von dessen Lebensentwurf zu garantieren. Der Staat kann Art und Höhe der Gewährung von aus allgemeinen Haushaltsmitteln finanzierten Sozialleistungen generell zwar von der Erfüllung von Verhaltenserwartungen abhängig machen, nicht jedoch die Gewährleistung des Existenzminimums. Gerade hierin liegt – neben der subjektivrechtlichen Fundierung – der normative Gewinn der Herleitung des Grundrechts auf Gewährleistung eines Existenzminimums auch aus dem Gebot zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Würde der Anspruch auf Existenzsicherung isoliert als Ausfluss des Sozialstaatsprinzips betrachtet, spräche jedenfalls bei rein semantischer Auslegung des Sozialstaatsbegriffs noch nichts dagegen, den Anspruch auf Gewährleistung eines Existenzminimums von Gegenleistungen wie beispielsweise einer Arbeitspflicht bei Arbeitsfähigkeit abhängig zu machen. Hiermit könnte die Gewährleistung existenzsichernder Leistungen für den Einzelnen Staats- bzw. Gemeinschaftszwecken untergeordnet werden.

276

Der mit dem Urteil des BVerwG vom 24.06.1954 (V C 78.54 – Rn. 22 ff.) eingeleitete Bruch mit der armenpolizeilichen Tradition des Fürsorgerechts folgt dementsprechend nicht bereits aus dem Sozialstaatsprinzip (Neumann, NVwZ 1995, S. 430; zur Relativierung der Bedeutung der Entscheidung vgl. Hinrichs, KJ 2006, S. 196 f.). Dass der Staat zugleich zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen verpflichtet ist (Art. 1 Abs. 1 GG), fügt der sozialstaatlichen Schutzdimension des Art. 20 Abs. 1 GG eine liberal-grundrechtliche Dimension hinzu. Art. 1 Abs. 1 GG schützt durch die staatliche Gewährleistung des materiellen Existenzminimums (auch) die notwendigen Bedingungen der Freiheit des Einzelnen, sich seiner Autonomie zu bedienen und von seiner Befähigung zur Personalität tatsächlich Gebrauch zu machen (vgl. Nettesheim, AöR 2005, S. 103 f.).

277

Auf die konkrete Fähigkeit des Menschen zur Ausübung von Autonomie kommt es hierbei keineswegs an (vgl. zu verschiedenen Begründungsansätzen für die Expansion des Würdebegriffs: Gutmann, Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, Preprints of the Centre for Advanced Study of Bioethics, Münster 2010/2). Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch "unwürdiges" Verhalten geht sie nicht verloren (BVerfG, Beschluss vom 20.10.1992 – 1 BvR 698/89 – Rn. 107).

278

6.2 Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Gewährung existenzsichernder Leistungen darf deshalb in letzter Konsequenz nicht von der Erfüllung von bestimmten Gegenleistungen, Handlungen oder Eigenschaften des Hilfebedürftigen oder von einem bestimmten Status des Hilfebedürftigen abhängig gemacht werden. Denn keine dieser Kategorien ist dazu geeignet, den aus dem Schutz der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG resultierenden Achtungsanspruch des Einzelnen in Frage zu stellen.

279

Die Unverfügbarkeit des Grundrechts ist insbesondere nicht durch den Verweis auf ein gleichfalls aus der Menschenwürde abgeleitetes Prinzip der Selbstverantwortlichkeit zu relativieren (in diese Richtung Görisch, NZS 2011, S. 648; Berlit, info also 2013, S. 200; vgl. auch Louven, SGb 2008, S. 582; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 44; weitere Nachweise bei Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 390). Auch wenn nach bestimmten, eher vom Zeitgeist geprägten Interpretationen des Begriffs der Menschenwürde Erwerbsarbeit zur Würdeverwirklichung gehören soll, folgt hieraus nicht, dass der ebenfalls der Menschenwürdegarantie unterfallende Schutz des physischen und soziokulturellen Existenzminimums bei Verstoß gegen Erwerbsobliegenheiten wegfallen dürfte. Aus der Einbeziehung der Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit in den Schutz der Menschenwürdegarantie könnte allenfalls gefolgert werden, dass der Staat derartige Selbstverwirklichung nicht verhindern darf und möglichst fördern sollte. Einer hilfebedürftigen Person existenzsichernde Leistungen vorzuenthalten, weil sie beispielsweise einer Erwerbsarbeit nicht nachgehen will, mag eine sozialpolitische Wunschvorstellung sein; die Annahme, dass dies als ein Ausdruck der Anerkennung der Menschenwürde des Betroffenen erscheinen könne (vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 390; Berlit, info also 2013, S. 200), liegt jedoch fern. Schließlich ist mit dem Anspruch auf existenzsichernde Leistungen kein Verbot der Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit verbunden. Die Einräumung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen kann für sich genommen die Menschenwürde nicht verletzen.

280

Die Beschränkung der Reichweite des Schutzes durch Art. 1 Abs. 1 GG durch Anreicherung des Menschenwürdebegriffs mit bestimmten Vorstellungen vom „guten“, "eigenverantwortlichen" oder „gemeinschaftsdienlichen“ Leben hätte letztendlich zur Folge, dass die Verwirklichung der Würde des Menschen Staats- oder Gemeinschaftszwecken untergeordnet werden dürfte. Dies zu verhindern, ist gerade der Sinn des Art. 1 Abs. 1 GG, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt. Die Verankerung des Existenzsicherungsgrundrechts in der Menschenwürdegarantie schließt es somit aus, die Frage, wem existenzsichernde Leistungen zu gewähren sind, vom durch demokratischen Mehrheitsbeschluss zugeschriebenen Wert eines Menschen oder seiner Handlungen für die Gesellschaft abhängig zu machen (vgl. Spellbrink, NZS 2010, S. 653).

281

6.3 Soweit für die Beschränkung des Anspruchs auf Gewährleistung des Existenzminimums unter Bezugnahme auf den Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 (1 BvR 2556/09) angeführt wird, die Verfassung gewährleiste nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (so z.B. Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 34), wird übersehen, dass das BVerfG in diesem Kontext ausschließlich auf die Bedarfsabhängigkeit abstellt und dem Gesetzgeber bei der Anrechnung von Einkommen konsequenterweise einen weiten Gestaltungsspielraum zubilligt. Das Verfassungsrecht gebietet demnach nicht die Schaffung eines Anspruchs auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern die Schaffung eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen bei Hilfebedürftigkeit.

282

Dies lässt die Zulässigkeit der Schaffung von Mitwirkungsobliegenheiten unberührt, die dazu dienen, festzustellen, ob Hilfebedürftigkeit überhaupt besteht (vgl. §§ 60 ff. SGB I; vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 290) oder den Leistungsträger von der Hilfebedürftigkeit erst in Kenntnis zu setzen.

283

6.4 Leistungsausschlüsse dem Grunde nach, die trotz bestehender Hilfebedürftigkeit eintreten und nicht durch ein anderes existenzsicherndes Leistungssystem (z.B. durch Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG) aufgefangen werden, sind per se verfassungswidrig, da sie die staatliche Pflicht zur Gewährleistung von Lebensbedingungen, die physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sind, unterlaufen (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 219; so auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

284

7. Die staatliche Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hat dementsprechend lediglich drei Anspruchsvoraussetzungen:

285

7.1 Der Grundrechtsträger muss erstens ein Mensch sein, also eine natürliche Person. Abgrenzungsfragen bezüglich Beginn und Ende des menschlichen Lebens sind für das Existenzsicherungsgrundrecht bislang nicht von praktischer Bedeutung. Der Begriff des Menschen im Sinne des GG stimmt im Übrigen mit dem Gattungsbegriff (beim heutigen Menschen gleichbedeutend mit dem Artbegriff) der biologischen Klassifikation überein. Jede weitere Unterscheidung zwischen verschiedenen Menschengruppen lässt der Rekurs auf den Menschenwürdebegriff bezüglich des Existenzsicherungsgrundrechts nicht zu. Es sind ausnahmslos alle Menschen gleich welcher Herkunft oder Staatsangehörigkeit erfasst (vgl. Kirchhof, NZS 2015, S. 4).

286

7.2 Anspruchsberechtigte sind zweitens alle Menschen, die sich in Deutschland tatsächlich aufhalten (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63; Kirchhof, NZS 2015, S. 4; Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386; vgl. zum Territorialitätsprinzip auch Neumann, NVwZ 1995, S. 428). Hintergrund für die territoriale Beschränkung auf das Bundesgebiet ist letztendlich die Abhängigkeit der Realisierung und Durchsetzung der dem Anspruch nach universalen Menschenrechte von partikularen Staatsgewalten (Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 1210.2015, S. 17). Da die deutsche Staatsgewalt auf das Bundesgebiet beschränkt ist, kann ein Verfassungsverstoß durch unterlassene Gewährleistung des Hoheitsträgers nur angenommen werden, wenn er sich innerhalb des Hoheitsgebiets realisiert. Das Unterlassen der Erfüllung eines grundrechtlichen Gewährleistungsanspruchs kann als Äquivalent zu einem Eingriff in ein Abwehrrecht aufgefasst werden (vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386). Die Gewährleistung von existenzsichernden Leistungen außerhalb Deutschlands steht in letzter Konsequenz nicht in der Macht und somit nicht in der verfassungsrechtlichen Verantwortung des deutschen Gesetzgebers, auch wenn ihm die Einräumung derartiger Ansprüche selbstverständlich gestattet ist (vgl. § 24 SGB XII).

287

7.3 Drittens muss die betroffene Person tatsächlich hilfebedürftig sein. Die Grundrechtsträger haben den Gewährleistungsanspruch nur für den Fall ihrer Hilfebedürftigkeit. Der verfassungsrechtliche Begriff der Hilfebedürftigkeit ist nicht mit dem einfachrechtlichen Begriff der Hilfebedürftigkeit (z.B. in § 9 SGB II) gleichzusetzen, der über die verfassungsrechtlichen Anforderungen hinausgehen, aber nicht hinter diesen zurückbleiben darf. Im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig ist eine Person, wenn ihr die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63). Die Abstraktheit des verfassungsrechtlichen Hilfebedürftigkeitsbegriffs korreliert mit dem Umstand, dass die normative Einschätzung und Bestimmung dessen, was für ein menschenwürdiges Leben unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen erforderlich ist, in weiten Teilen dem politischen Prozess obliegt (s.o. unter 5.3).

288

Ob die Hilfebedürftigkeit des Grundrechtsträgers eine weitere Anspruchsvoraussetzung für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darstellt oder dieser Aspekt stattdessen dem Anspruchsinhalt in Form des zu gebenden einfachen Rechts zugeordnet wird (Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 386), hat für das praktische Ergebnis jedenfalls in der vorliegenden Konstellation keine Auswirkungen. Der Unterschied bestünde allein darin, dass auch nicht akut Hilfebedürftige einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schaffung eines Sozialleistungsanspruchs für den Fall ihrer Hilfebedürftigkeit hätten; diesen könnten sie jedoch mangels aktueller eigener Betroffenheit in Ermangelung eines individuellen Rechtsschutzbedürfnisses wohl nicht selbst durchsetzen.

289

8. Adressaten des Gewährleistungsanspruchs, also Anspruchsgegner, sind in Folge der konkurrierenden Gesetzgebung im Bereich der „öffentliche(n) Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) grundsätzlich sowohl der Bund als auch die Länder. Da der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Recht der öffentlichen Fürsorge umfassend Gebrauch gemacht hat, ist dieser in Folge des Ausschlusses der Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG allein verpflichtet (Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 387 f.; im Ergebnis ebenso BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 181).

290

9. Zur Erfüllung der staatlichen Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Anspruchsinhalt) müssen nach den oben entwickelten Prinzipien folgende Anforderungen erfüllt werden:

291

Erstens muss der Gesetzgeber durch formelles Gesetz eine Inhaltsbestimmung der Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vornehmen (Inhaltsbestimmung, 9.1).

292

Zweitens muss der Anspruch des hilfebedürftigen Grundrechtsträgers (d.h. jedes hilfebedürftigen Menschen, der sich in Deutschland tatsächlich aufhält, s.o. unter 7) in einem formellen Gesetz auf Grund eines verfassungsgemäß durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens konstituiert werden (formell-gesetzlicher Anspruch, 9.2).

293

Drittens muss der Leistungsanspruch im Gesetzestext selbst so hinreichend bestimmt sein, dass die Verwaltung eine Entscheidung über die Höhe des Anspruchs treffen kann, die die im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers nachvollziehbar berücksichtigt (hinreichende Bestimmtheit; konkreter Anspruch, 9.3).

294

Viertens müssen die konkreten Leistungsansprüche objektiv am Maßstab der Inhaltsbestimmung (9.1) im Ergebnis zu rechtfertigen sein (Folgerichtigkeitsprüfung, 9.4).

295

9.1 Der Gesetzgeber hat durch formelles Gesetz eine Inhaltsbestimmung der Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (d.h. des Existenznotwendigen) zu leisten. Denn die aus dem Demokratieprinzip folgende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers führt dazu, dass der Gesetzgeber sowohl auf einer ersten Ebene für die grundlegenden Wertentscheidungen hinsichtlich der für die Existenzsicherung erforderlichen Bedarfe zuständig ist, als auch für die Realisierung eines konkreten, auf existenzsichernde Leistungen gerichteten Anspruchs für jeden hilfebedürftigen Grundrechtsträger auf einer zweiten Ebene (9.2). Da nur der Gesetzgeber diese Gestaltungsaufgabe umsetzen kann, ist er hierzu auch verpflichtet – anders könnte das Grundrecht nicht realisiert werden.

296

Der Gesetzgeber hat somit sowohl den Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Leistungen zu konkretisieren als auch den Leistungsanspruch entweder in konkreter Höhe festzusetzen oder aber ein Regelungssystem zu etablieren, das eine Festsetzung der Leistungshöhe auf Grund gesetzgeberischer Wertentscheidungen ermöglicht. Die Ausgestaltung der Leistung hinsichtlich der Art und Höhe ist daher an den durch den Gesetzgeber selbst getroffenen Wertentscheidungen zu messen, die selbst allerdings auch einer (verfassungs-)gerichtlichen Prüfung unterliegen. Der Zusammenhang zwischen Inhaltsbestimmung und Leistungsanspruch muss folgerichtig sein (9.4).

297

a) Der bisherigen Judikatur des BVerfG lässt sich nicht widerspruchsfrei entnehmen, in welcher Form der Gesetzgeber die für die Ausgestaltung des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen grundlegenden Wertentscheidungen zu treffen hat, ob diese Wertentscheidungen selbst Bestandteil eines formellen Gesetzes sein müssen, oder ob sie sich zumindest aus der Gesetzesbegründung oder sonstigen Gesetzesmaterialien ergeben müssen (zur Kritik an „mäandernden Maßstäben“ vgl. Borchert, SGb 2015, S. 655 ff.).

298

Das BVerfG stellt im Urteil vom 09.02.2010 fest, dass sich der Grundrechtsschutz (auch) deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums erstrecke, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich sei (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 142). Das BVerfG prüfe deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben habe, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt habe, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt habe (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 143). Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle bestehe für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Komme der Gesetzgeber dieser Obliegenheit nicht hinreichend nach, stehe die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.143).

299

Im Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 79) führt das BVerfG diesbezüglich aus, dass sich die Art und die Höhe der Leistungen "mit einer Methode erklären lassen (müssen), nach der die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt werden und nach der sich alle Berechnungsschritte mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegen".

300

Im Beschluss vom 23.07.2014 hebt das BVerfG dann hervor, dass die Entscheidung anhand des vom BVerfG entwickelten Folgerichtigkeitsmaßstabs "tragfähig begründbar" sein müsse (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 80). Die Verfassung schreibe nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen sei (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

301

Jedenfalls nach der zuletzt vertretenen Auffassung des BVerfG stellen demnach bestimmte Qualitätsmerkmale der Gesetzesbegründung keine formelle Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen dar (kritisch diesbezüglich Borchert, SGb 2015, S. 661).

302

Auf Grund des Beschlusses des BVerfG vom Beschluss vom 23.07.2014 (1 BvL 10/12 u.a.) liegt es nahe die „tragfähige Begründbarkeit“ als rein objektiven Maßstab zu verstehen, so dass Wertentscheidungen über die Auswahl der Methoden zur Bestimmung des Existenzminimums weder anhand des Gesetzes noch anhand der Gesetzgebungsmaterialien belegbar sein müssten und es auch nicht darauf ankommen würde, wer für die Begründung oder Begründbarkeit verantwortlich zeichnet. Hierfür spricht auch, dass für die praktische Grundrechtsverwirklichung nur Art und Höhe der Leistung wesentlich sind, nicht aber die der Anspruchsausgestaltung zu Grunde liegenden Wertentscheidungen. Andererseits birgt die Reduzierung des Prüfungsmaßstabs auf eine objektivierte "tragfähige Begründbarkeit" die Gefahr, dass einer durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes festgelegten Leistungshöhe eine derartige Methode nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beliebig untergeschoben werden könnte, beispielsweise durch das Gericht selbst oder durch interessierte Teilnehmer am öffentlichen Diskurs (Beispiele für Stellungnahmen zur „richtigen“ Höhe der Regelleistungen z.B. bei Spindler, info also 2010, S. 53). Hierdurch würde die Folgerichtigkeitsprüfung tendenziell auf das Niveau einer methodisch verfeinerten Evidenzkontrolle reduziert, da jedes in die Diskussion eingebrachte Berechnungsmodell, das in sich schlüssig den gesetzlich geregelten Anspruch zu begründen oder zu unterbieten im Stande wäre, zu dessen Rechtfertigung taugen würde. Bei einer derartigen Sichtweise wäre nicht sichergestellt, dass die grundlegenden Wertentscheidungen hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums tatsächlich, wie es das Demokratieprinzip gebietet, durch den parlamentarisch-demokratischen Gesetzgeber getroffen werden. Bei der Prüfung, ob sich aus den parlamentarischen Wertentscheidungen das gefundene Ergebnis in Form des gesetzlichen Anspruchs folgerichtig ableiten lässt, fiele die erste Komponente weg.

303

Das BVerfG hat sich bei der Folgerichtigkeitsprüfung trotz der Reduzierung des Prüfungsmaßstabs auf die "tragfähige Begründbarkeit" jedoch fast ausschließlich an den zur Verfügung stehenden Gesetzgebungsmaterialien bzw. im Falle des Beschlusses vom 23.07.2014 am gesetzlich fixierten Verfahren zur Bestimmung der Regelbedarfe im RBEG orientiert (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.160 ff.; BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 91 f.; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 91 ff.). Insbesondere im Urteil vom 09.02.2010 hat das BVerfG soweit ersichtlich keine ergänzenden Expertisen zu der Frage eingeholt, ob die seinerzeit zur Überprüfung stehende Leistungshöhe nicht unabhängig von der Gesetzesbegründung „tragfähig begründbar“ gewesen sein könnte.

304

Es bleibt nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG mithin unklar, in welchem Zusammenhang die der Folgerichtigkeitsprüfung zu Grunde zu legenden Wertentscheidungen mit dem Gesetzgebungsprozess stehen müssen.

305

b) Eine Lösung auf Grundlage der Dogmatik des BVerfG besteht in der Annahme, dass die grundlegenden Wertentscheidungen im Sinne einer inhaltlichen Bestimmung des Existenznotwendigen ebenso wie der hieraus abzuleitende Leistungsanspruch im Wege eines formellen Gesetzes getroffen werden müssen.

306

Hierfür spricht, dass dem Gesetzgeber als solchem keine andere Handlungsform als das formelle Gesetz zur Verfügung steht. In Folge der pluralistischen Zusammensetzung der Gesetzgebungskörperschaften (die auf Bundesebene darüber hinaus aus zwei verschiedenen Gremien, Bundestag und Bundesrat, bestehen) gibt es keinen authentischen Interpreten der Entscheidungen des Gesetzgebers, der verbindlich gesetzgeberische Konzeptionen und Intentionen im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Prüfung darstellen oder auch "nachbessern" könnte. Daher ist auch nicht klar, wer zur Erfüllung von „Obliegenheiten“ des Gesetzgebers (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn.143) berufen sein sollte. Unter dem Aspekt der Gewaltenteilung ist es insbesondere problematisch die Bundesregierung oder ein Fachministerium hierzu heranzuziehen. Verbindliche Wertentscheidungen des Gesetzgebers können zudem nur in Gesetzesform ergehen oder gegebenenfalls mit sonstigen parlamentarischen Beschlüssen getroffen werden. Gesetzesbegründungen gehören nicht dazu. Aus dem GG lassen sich weder Begründungspflichten noch sonstige Dokumentationspflichten über den Gesetzgebungsprozess als formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für ein Bundesgesetz herleiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77; Groth, NZS 2011, S. 571 m.w.N.). Die Gestaltungsverpflichtung des Gesetzgebers kann sich in formeller Hinsicht daher nicht auf dessen Begründung beziehen. Die grundlegenden Wertentscheidungen, die der Ausgestaltung des Anspruchs auf ein menschenwürdiges Existenzminimum müssen demnach in Gesetzesform getroffen werden, um als Entscheidungen des Gesetzgebers identifizierbar zu sein.

307

Der (vom BVerfG zuletzt herangezogene) objektive Prüfungsmaßstab der "tragfähigen Begründbarkeit" kann sich demnach nur auf den folgerichtigen Zusammenhang zwischen der gesetzlich zu regelnden inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums einerseits und dem gesetzlichen Leistungsanspruch andererseits beziehen (9.4). Sofern der Gesetzgeber also seinem Auftrag zur Ausgestaltung des Grundrechts nachgekommen wäre, könnte der hieraus abgeleitete Leistungsanspruch aus objektiver Perspektive auf seine tragfähige Begründbarkeit überprüft werden.

308

In diesem Sinne objektiv zu prüfen sind allerdings auch die Wertentscheidungen, die in der abstrakten inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums zum Ausdruck kommen. Dies unternimmt das BVerfG auch, in dem es postuliert, welche Kategorien von Bedürfnissen jedenfalls zum menschenwürdigen Existenzminimum hinzugehören (Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene, Gesundheit, Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben – BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135) und einen Verfassungsverstoß in der mangelnden Berücksichtigung von Bildungs- und Teilhabebedarfen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 192) sieht, die Berücksichtigung dieser Bedürfnisse dem Grunde nach also gerade nicht einer Wertentscheidung des Gesetzgebers überlasst.

309

c) Die sich aus diesem Lösungsansatz ergebende Differenz zwischen der abstrakten Bestimmung der materiellen und sozialen Bedürfnisse, die zur Führung eines menschenwürdigen Lebens unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen befriedigt werden können müssen, und der Schaffung konkreter Leistungsansprüche, die die Erfüllung dieser Bedürfnisse gewährleisten müssen, liefert auch eine Begründung dafür, dass für verschiedene Personengruppen unterschiedliche Leistungssysteme geschaffen werden können, obwohl das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für alle Menschen gleichermaßen und in gleicher Weise Geltung beansprucht (vgl. auch Janda/Wilksch, SGb 2010, S. 570). Der dem Grundrecht inhärente Gleichbehandlungsanspruch betrifft die abstrakte Bestimmung dessen, welche materiellen Bedürfnisse zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfüllt werden müssen. Hierbei sind Ungleichbehandlungen nur auf Grund unterschiedlicher Bedürfnisse gestattet, beispielsweise bei Abweichungen von Bedarfslagen in Folge eines absehbar nur kurzfristigen Aufenthalts im Inland (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73) oder zwischen Erwachsenen und Kindern.

310

Weitere Differenzierungen auf Grund prinzipiell beliebiger politischer Kriterien (d.h. nicht bedarfsdeckungsbezogene Ziele, vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, S. 389) beispielsweise bei der Setzung von Anreizen und Sanktionen für bestimmte Verhaltensweisen können nur auf der zweiten Ebene der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs zum Zuge kommen und hierfür auch nur den Spielraum nutzen, der sich aus einer – objektiv tragfähig begründbaren – Übererfüllung der durch den Gesetzgeber selbst gesetzten Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Sinne einer Inhaltsbestimmung ergeben kann (ähnlich Görisch, NZS 2011, S. 650). Dies erfordert wiederum eine hinreichend bestimmbare Unterscheidbarkeit zwischen den gesetzgeberisch ausgestalteten Mindestanforderungen einerseits und den konkreten Leistungsansprüchen andererseits. Würden sich die Mindestanforderungen allein in den konkreten Leistungsansprüchen ausdrücken, wäre jede auch nur geringfügige bedürftigkeitsunabhängige Kürzung der Leistung verfassungswidrig.

311

Ungleichbehandlungen auf dieser zweiten Ebene haben sich jedoch an den allgemeinen und speziellen Gleichheitsgrundrechten (Art. 3 GG) messen zu lassen. Dies steht der Auffassung des BVerfG, dass Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen vermögen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 145; vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 284) nicht entgegen, sofern die „Bemessung des Existenzminimums“ nicht mit der gesetzlichen Konkretisierung des Leistungsanspruchs gleichgesetzt wird. Ungleichbehandlungen auf Grund der Staatsangehörigkeit sind aber auch auf dieser zweiten Ebene sehr enge Grenzen gesetzt, weil sie eine große sachliche Nähe zu einigen speziellen Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aufweisen (vgl. Kingreen, SGb 2013, S. 137 ff.; BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 46).

312

9.2 Der konkrete Leistungsanspruch des hilfebedürftigen Grundrechtsträgers muss seinerseits in einem formellen Gesetz auf Grund eines verfassungsgemäß durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens konstituiert werden (formell-gesetzlicher Anspruch).

313

Wenn das Sozialleistungssystem derart lückenhaft ist, dass bestimmte Personengruppen die positiven Anspruchsvoraussetzungen für keines der bestehenden Existenzsicherungssysteme erfüllen, liegt eine verfassungswidrige Unterlassung des Gesetzgebers vor. Sofern bestimmte Personenkreise durch besondere Regelungen von allen Existenzsicherungssystemen ausgeschlossen werden, sind diese Ausschlussregelungen – und zwar jede für sich – verfassungswidrig. Auch die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen staatlichen Stelle hinsichtlich der Frage, ob bei Hilfebedürftigkeit Leistungen erbracht werden, ist verfassungswidrig.

314

Aus dem Gestaltungsgebot für den Gesetzgeber folgt im Übrigen auch, dass das Fehlen eines gesetzlichen Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht richterrechtlich kompensiert werden kann (vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 287).

315

9.3 Der konkrete Leistungsanspruch muss durch den Gesetzestext selbst so hinreichend bestimmt sein, dass die Verwaltung eine Entscheidung über die Höhe des Anspruchs treffen kann, die die im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers nachvollziehbar berücksichtigt (hinreichende Bestimmtheit; konkreter Anspruch). Dies schließt sowohl die Verwendung zu unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 252 ff.) als auch die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen Stelle über den Inhalt (bei Geldleistungen: die Höhe) der Leistungsgewährung im Kernbereich der Existenzsicherung aus. In den Worten des BVerfG betrifft dieser Aspekt die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136).

316

Die das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konturierenden Entscheidungen des BVerfG (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.; BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a.) enthalten selbst keine näheren Ausführungen über den Grad der Bestimmtheit, den gesetzliche Regelungen zur Sicherung des Existenzminimums haben müssen. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass die dort zu überprüfenden Fragen ausschließlich die Verfassungsmäßigkeit der Regelleistungen bzw. des Regelbedarfes betrafen, bei denen die Leistungshöhe im Gesetz oder in den hierzu erlassenen, durch gesetzliche Regelungen weitgehend determinierten Anpassungsverordnungen numerisch exakt bestimmt war bzw. ist. Die durch das BVerfG geprüften Vorschriften wiesen – jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite – kein Bestimmtheitsproblem auf.

317

Aus der Grundrechtsrelevanz der existenzsichernden Leistungen erwachsen jedoch qualitative Anforderungen hinsichtlich der Merkmalsdichte (oder „Intensionstiefe“, vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 196) der textlich verfassten gesetzlichen Bestimmungen (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 253 ff.). Diese müssen so viele Merkmale aufweisen, dass die argumentative Rückbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der Fachgerichte (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG) an die im Gesetzgebungsverfahren erzeugten Gesetzestexte ermöglicht wird. Der Gesetzestext muss so hinreichend bestimmt sein, dass eine Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung auch und gerade vom Adressaten der Entscheidung noch als Konkretisierung eines bestimmten Gesetzgebungsakts nachvollzogen werden kann. Aus diesem Grund genügt der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Gewährleistungsverpflichtung auch dann nicht, wenn er die Gewährung existenzsichernder Leistungen dem Grunde oder der Höhe nach in das Ermessen der Verwaltung stellt. Die aus dem Demokratieprinzip resultierende Anforderung an den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen zur Grundrechtsverwirklichung selbst zu treffen, liefe andernfalls ins Leere.

318

Das Bestimmtheitsgebot ist sowohl Ausdruck des Demokratie- als auch des Rechtsstaatsprinzips. Das BVerfG formuliert die rechtsstaatlichen Bestimmbarkeitsanforderungen beispielhaft folgendermaßen (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94, 1 BvR 1120/95, 1 BvR 1408/95, 1 BvR 21 BvR 2460/95, 1 BvR 21 BvR 2471/95 – Rn. 325):

319

"Das rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit zwingt den Gesetzgeber nicht, Regelungstatbestände stets mit genau erfassbaren Maßstäben zu umschreiben. Der Gesetzgeber ist aber gehalten, seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (...). Bei der Frage, welche Bestimmtheitsanforderungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, ist auch die Intensität der Einwirkungen auf die Regelungsadressaten zu berücksichtigen (...). Die Rechtsunterworfenen müssen in zumutbarer Weise erkennen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen (...). Dabei reicht es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung der einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen lässt (...)."

320

An anderer Stelle führt das BVerfG aus, dass die grundsätzliche Zulässigkeit unbestimmter Gesetzesbegriffe den Gesetzgeber nicht davon entbinde, die Vorschrift so zu fassen, dass sie den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normklarheit und Justitiabilität entspreche (BVerfG, Beschluss vom 12.01.1967 – 1 BvR 169/63 – Rn. 17).

321

Die Aussage des BVerfG, die Rechtsunterworfenen müssten in zumutbarer Weise erkennen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge vorliegen, und hierfür reiche es aus, wenn sich dies im Wege der Auslegung der einschlägigen Bestimmung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln feststellen lasse (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94 u.a. – Rn. 325), darf nicht so verstanden werden, dass ein verfassungswidriger Bestimmtheitsmangel des Gesetzes durch Auslegung der Gerichte mit anerkannten Mitteln der juristischen Methodenlehre ausgeglichen werden könnte (in diese Richtung aber Luik, jurisPRSozR 22/2013 Anm. 1).

322

Bei der Prüfung, ob ein verfassungsrechtlich relevanter Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot vorliegt, geht es darum festzustellen, ob eine Rechtsvorschrift nach verfassungsrechtlichen Maßstäben hinreichend bestimmt ist. Hierzu muss beurteilt werden, ob die sich aus der Eigenart des Lebenssachverhalts und des Normzwecks ergebenden Anforderungen an die Merkmalsdichte des Normtextes mit der konkret gewählten Regelungstechnik erfüllt werden. Diese Frage ist mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden zu beantworten. Dies kann insbesondere mit den Methoden der semantischen und der systematischen Auslegung geschehen, da diese die einschlägigen Normtexte selbst in den Blick nehmen.

323

Bei dieser Prüfung geht es hingegen nicht darum nachzuweisen, dass ein unbestimmter Rechtsbegriff mit Hilfe anerkannter Mittel der juristischen Methodenlehre für eine gerichtliche Sachentscheidung fruchtbar gemacht werden kann; denn dies ist ausnahmslos der Fall. Gerichte können unbestimmte Rechtsbegriffe argumentativ u.a. mit Zweckerwägungen, historischen und genetischen Aspekten, Erwägungen zur „materiellen Gerechtigkeit“ und Praktikabilitätserfordernissen anreichern, um den Fall zur Entscheidungsreife zu bringen. Die Rechtsprechung ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG), d.h. sie muss auch dann, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetz Verwendung finden, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen, denn in einem funktionierenden Rechtsstaat muss es auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). Dies wirkt sich dahingehend aus, dass die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle unterliegen (vgl. zum Begriff der „Angemessenheit in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II: BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 27/09 – Rn. 21 ff.; Knickrehm, jM 2014, S. 340; zum Ganzen: SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 255 ff.). Hierfür stellt die juristische Methodenlehre Werkzeuge zu Verfügung, deren Aufgabe es ist, jeden Fall anhand rationaler Kriterien lösbar zu machen. Die normtextbezogenen Methoden der "grammatischen" und "systematischen" Auslegung verlieren durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe jedoch an Bedeutung, wodurch die Begrenzungen richterlichen und behördlichen Entscheidens durch Gesetzesbindung geschwächt werden. Durch Heranziehung vom Normtext unabhängiger, gleichwohl "anerkannter" Konkretisierungselemente wie historischer, genetischer und (insbesondere) teleologischer Auslegung lassen sich unbestimmte Rechtsbegriffe besonders leicht einer auf den Fall bezogenen Konkretisierung zuführen, da in diesen Fällen der Vorwurf des Verstoßes gegen das Gesetzesbindungsgebot kaum jemals erhoben werden kann. Entsprechendes gilt für die Einräumung von behördlichem Ermessen, bei dem, gesetzgeberisch legitimiert, die Beantwortung einer aufgeworfenen Rechtsfrage in Grenzen der Verwaltung überlassen bleibt und nur die Bestimmung dieser Grenzen im Wege der Konkretisierung durch die Rechtsprechung erfolgt.

324

Hiermit wird aber noch nichts über die Abgrenzung der Rechtserzeugungsbefugnisse zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung gesagt. Bei der Frage, ob der Gesetzgeber hinreichend bestimmte Regelungen getroffen hat, handelt es sich mithin nicht um ein methodologisches Problem im engeren Sinne, sondern um ein Problem der Legitimation. Die demokratische Willensbildung kann im Rechtsstaat nur in dem Umfang Wirkung entfalten, in dem sie durch Gesetze Verwaltung und Rechtsprechung zu binden vermag (Art. 20 Abs. 3 GG). Je weniger bedeutsame Merkmale eine Regelung aufweist, also je unbestimmter sie ist, desto geringer ist die Bindungswirkung des Gesetzes. Bei Regelungsmaterien, die aus verfassungsrechtlichen Gründen im Wesentlichen der Gestaltung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterliegen, erwächst hieraus ein Bestimmtheitsgebot. Das Bestimmtheitsgebot verlangt eine Regelungstechnik, die dazu geeignet ist, Gesetzesbindung zu erzeugen. Hierzu muss die gesetzliche Vorschrift so viele bestimmende Merkmale aufweisen, dass der durch Verwaltung und Rechtsprechung zu vollziehende Konkretisierungsprozess wirksam im Sinne des Ergebnisses der demokratischen Willensbildung gesteuert werden kann. Die Verwendung (zu) unbestimmter Rechtsbegriffe und die Einräumung von behördlichem Ermessen geraten mit dieser Anforderung gleichermaßen in Konflikt.

325

Das verfassungsrechtliche Prinzip, dass die für die Grundrechtsverwirklichung wesentlichen Bestimmungen durch den parlamentarischen Gesetzgeber getroffen werden müssen ("Wesentlichkeitstheorie"), wird im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf zweierlei Weise aufgerufen. Einerseits bewirkt bereits die dogmatische Qualifikation des Rechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Grundrecht, dass das Wesentlichkeitsprinzip berücksichtigt werden muss (vgl. Konzak, NVwZ 1997, S. 873). Andererseits bedingt die Besonderheit der Qualifikation als "Gewährleistungsrecht", dass das Grundrecht erst durch Erfüllung des gesetzgeberischen Gestaltungsauftrags zur Entfaltung kommen kann. Sowohl die Grundrechtsqualität als auch die Konstituierung des Anspruchs auf Existenzsicherung als Gewährleistungsrecht prägen mithin die "Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck" und bestimmen die "Intensität der Einwirkungen auf die Regelungsadressaten" (BVerfG, Urteil vom 22.11.2000 – 1 BvR 2307/94 u.a. – Rn. 325) in dem Sinne, dass der Gesetzgeber die Regelungen zur Sicherung des Existenzminimums möglichst präzise ausgestalten und hierdurch eine möglichst effektive Bindung der Verwaltung an die gesetzgeberischen Grundentscheidungen ermöglichen muss.

326

Umgekehrt folgt hieraus, dass eine Verwaltungs- oder Fachgerichtsentscheidung, mit der über die Gewährung existenzsichernder Leistungen entschieden wird, in qualifizierter Weise auf eine gesetzgeberische Entscheidung zurückführbar sein muss. Die hierfür wesentlichen Bestimmungen müssen im für die Sachentscheidung auf Verwaltungsebene einschlägigen Gesetzestext (Normtext bzw. amtlicher Wortlaut) enthalten sein, da nur dieser durch das formalisierte Gesetzgebungsverfahren in Geltung gesetzte Text dem parlamentarischen Willensbildungsprozess eindeutig zuzurechnen ist. Nicht einschlägige Normtexte (z.B. Parallelvorschriften) oder im Sachzusammenhang mit dem Gesetzgebungsakt stehende Nicht-Normtexte (z.B. Gesetzgebungsmaterialien) können legitimerweise Konkretisierungselemente für die Auslegung einfachen Gesetzesrechts und Richtschnur für die Ermessensausübung sein, vermögen aber nicht, die gemessen am Wesentlichkeitsvorbehalt festgestellte Unterbestimmtheit einer gesetzlichen Regelung zu kompensieren. Denn weder nicht einschlägige Normtexte noch Gesetzesmaterialien sind – bezogen auf die konkrete Regelungsmaterie – Ergebnisse des parlamentarisch-demokratischen Entscheidungsprozesses. In Bezug auf den Regelungsgegenstand unterliegen sie auch nicht den durch den parlamentarischen Prozess garantierten Sicherungen im Hinblick auf die Öffentlichkeit der Debatte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 77).

327

Für Grundrechtsträger muss darüber hinaus erkennbar sein, welche staatlichen Akteure für die Ausgestaltung ihrer Rechte verantwortlich sind. Dies betrifft den Grundrechtsträger nicht nur in seiner Eigenschaft als Leistungsberechtigten, sondern auch als Teilnehmer am demokratischen Prozess durch Wahlen oder andere Beteiligungsformen. Mit den Worten des BVerfG (Urteil vom 07.10.2014 – 2 BvR 1641/11 – Rn. 81):

328

"Demokratie und Volkssouveränität erschöpfen sich im repräsentativ- parlamentarischen System des Grundgesetzes nicht in Zurechnungsfiktionen und stellen auch nicht nur formale Mindestanforderungen an den Legitimationszusammenhang zwischen dem Volk und den handelnden Staatsorganen. (...) Der wahlberechtigte Bürger muss wissen können, wen er wofür - nicht zuletzt durch Vergabe oder Entzug seiner Stimme - verantwortlich machen kann. Daran fehlt es, wenn die Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine solche Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen (...)."

329

Dieser Verantwortungszusammenhang kann praktisch nur realisiert und sichtbar gemacht werden, indem die aus Gründen der Grundrechtsverwirklichung vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst zu treffenden Regelungen so gestaltet sind, dass sie zur maßgeblichen Beeinflussung der konkreten Entscheidungsprozesse der Verwaltung und der Fachgerichte geeignet sind.

330

Wann die Voraussetzung der hinreichenden Bestimmtheit (bzw. Bestimmbarkeit) erfüllt ist, lässt sich nicht abstrakt festlegen, da Gesetzestext, Interpretationskultur und rechtsstaatliches Verfahren – abgesehen von Fällen numerischer Exaktheit – niemals eine vollständige Determination der Fallentscheidung ermöglichen (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 195). Gesetzesbegriffe sind in diesem Sinne also immer unbestimmt. Hieraus folgt, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit eines Gesetzes nicht losgelöst von dessen Funktion betrachtet werden können und Maßstab für die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots nur ein der Regelungsmaterie angemessener Grad von Bestimmbarkeit sein kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.08.1978 – 2 BvL 8/77 – Rn. 101). Dass dieser Grad der Bestimmbarkeit bei der gesetzlichen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums besonders hoch sein muss, ergibt sich zum einen aus der Grundrechte verwirklichenden Funktion des Gesetzes (Stölting, SGb 2013, S. 545), zum anderen und wesentlich aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber die politische Transformation der "gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche" (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 138) überhaupt erst vollziehen muss, um seiner Gestaltungsverpflichtung nachzukommen. Regelungstechniken, die nicht dazu geeignet sind, Verwaltung und Rechtsprechung wirkungsvoll zu steuern, erhalten zwar den legitimatorischen Schein der Gesetzesbindung aufrecht (vgl. Maus, Verrechtlichung, Entrechtlichung und der Funktionswandel von Institutionen, in: dies.: Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, München 1986, S. 278), überlassen die Interpretation dessen, was die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen "gesellschaftlichen Anschauungen" sein mögen, jedoch demokratisch allenfalls mittelbar legitimierten Funktionsträgern. Durch die Einräumung von Ermessen in wesentlichen Fragen der Grundrechtsverwirklichung wird die Gesetzesbindung – immerhin auf transparente Weise – weiter reduziert.

331

Aus diesen Anforderungen aus Demokratieprinzip und Bestimmtheitsgebot folgt zum einen, dass die Verwendung (besonders) unbestimmter Rechtsbegriffe im Existenzsicherungsrecht verfassungswidrig sein kann (vgl. SG Mainz, Vorlagebeschlüsse vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 und S 3 AS 370/14; vgl. auch Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 3 AsylbLG i.d.F. v. 23.12.2014, Rn. 57, Stand 01.04.2016), zum anderen, dass die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums dem Grunde und der Höhe nach nicht von einer Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde abhängig gemacht werden darf. Die Einräumung von Ermessen widerspräche der Anforderung, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch ein Parlamentsgesetz erfolgen muss, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 96: „Eine Regelung zur Existenzsicherung hat vor der Verfassung nur Bestand, wenn Bedarfe durch Anspruchsnormen gesichert werden“).

332

Auch die Annahme einer so genannten „Ermessensreduzierung auf Null“ durch die fachgerichtliche Rechtsprechung und deren faktische Durchsetzung würde einen derartigen Mangel nicht heilen, da die Voraussetzungen, die an eine solche Ermessensreduzierung gestellt werden, von der Rechtsprechung entwickelt werden müssten und gerade nicht auf gesetzgeberische Entscheidungen zurückzuführen wären. Die Argumentationsfigur der „Ermessensreduzierung auf Null“ stellt auch nur ein im Einzelfall legitimes Mittel zur Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte behördlicher Entscheidungen dar. Würde sie hingegen als Umdeutung einer Ermessensvorschrift in eine die Verwaltung bindende Anspruchsnorm verstanden, läge hierin ein Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot, weil der gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum nicht nur im Einzelfall reduziert, sondern generell ausgeschaltet würde.

333

Zugleich muss das Leistungsrecht allerdings hinreichend flexibel ausgestaltet sein, um individuell abweichenden Bedarfslagen gerecht werden zu können. Dies resultiert aus dem Umstand, dass gleiche Rechte der Menschen auf ungleiche Lebenswirklichkeiten stoßen, wodurch abschließenden Pauschalierungen existenzsichernder Leistungen Grenzen gesetzt sind (vgl. Hebeler, SGb 2008, S. 10 ff.). Bei der Berücksichtigung individueller Bedarfslagen lässt sich die Verwendung in relativ hohem Maße unbestimmter Rechtsbegriffe daher nicht vermeiden.

334

9.4 Die konkreten (9.2) und hinreichend bestimmten (9.3) Leistungsansprüche müssen am Maßstab der gesetzlichen Inhaltsbestimmung des Existenznotwendigen (9.1) im Ergebnis zu rechtfertigen sein.

335

Die konkreten Leistungsansprüche müssen mindestens dazu geeignet sein, die Lebensbedingungen zu gewährleisten, die der Gesetzgeber im Wege einer (verfassungskonformen) Inhaltsbestimmung als für eine menschenwürdige Existenz unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen für unerlässlich erklärt hat. Reicht der konkrete Leistungsanspruch der Höhe nach nicht zur Deckung der vom Gesetzgeber als existenznotwendig bestimmten Bedarfe aus, ist er insoweit verfassungswidrig. Ob dies der Fall ist, ist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln objektiv zu prüfen. In diesem Sinne kann hier der (vom BVerfG zuletzt herangezogene) objektive Prüfungsmaßstab der "tragfähigen Begründbarkeit" hinsichtlich des folgerichtigen Zusammenhangs zwischen der gesetzlich zu regelnden inhaltlichen Bestimmung des Existenzminimums einerseits und dem gesetzlichen Leistungsanspruch andererseits herangezogen werden. Dass die Höhe des Anspruchs nicht evident unzureichend zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz sein darf, stellt demgegenüber keinen eigenständigen Prüfungsmaßstab dar. Hiermit wird bloß zum Ausdruck gebracht, dass die fehlende Folgerichtigkeit unter Umständen einfach festzustellen sein kann.

336

Dementsprechend sind auch Leistungseinschränkungen gegenüber einem dem Grunde nach gewährten Leistungsanspruch verfassungswidrig, wenn sie dazu führen, dass die Höhe der verbliebenen Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unzureichend ist. Prüfungsmaßstab ist hierbei die gesetzliche Inhaltsbestimmung des Existenznotwendigen. An diesem verfassungsrechtlichen Maßstab sind die im SGB II vorgesehenen Leistungseinschränkungen zu prüfen (z.B. § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II, § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II, § 22 Abs. 5 Satz 4 SGB II, § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Dies betrifft beispielsweise Leistungskürzungen durch Sanktionen (§ 31a SGB II, § 32 SGB II), die nur dann nicht verfassungswidrig wären, wenn trotz der Leistungskürzung noch das gesamte Existenzminimum einschließlich eines zumindest geringfügigen Maßes an sozialer Teilhabe gedeckt wäre (Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 297 f.). Da es dem Gesetzgeber freisteht, den Leistungsanspruch über das durch ihn verfassungsgemäß bestimmte Existenznotwendige hinaus zu erweitern, verstoßen Abstufungen in der Leistungshöhe, die verhaltenssteuernde Wirkung entfalten sollen, jedoch nicht automatisch gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 9).

337

10. Sofern einer bestimmten Gruppe von Grundrechtsträgern durch den Gesetzgeber kein die soeben geschilderten Mindestanforderungen erfüllender Anspruch auf existenzsichernde Leistungen eingeräumt wird, besteht ein verfassungswidriger Zustand. Konkret verfassungswidrig sind dann alle Rechtsnormen, die für die betroffenen Grundrechtsträger zum Ausschluss aus dem jeweiligen Leistungssystem führen. Dies kann sowohl echte Ausschlussnormen betreffen, wie die den Gegenstand der Vorlagefragen bildenden § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 7 Abs. 5 SGB II, als auch Normen, die positive Voraussetzungen für den Leistungsanspruch regeln, die die betroffenen Grundrechtsträger jedoch nicht erfüllen (z.B. der hypothetische Fall, dass bei Nichtdeutschen das Bestehen eines materiellen Aufenthaltsrechts zur gesetzlichen Anspruchsvoraussetzung gemacht werden würde). Beide Kategorien von Rechtsnormen haben im Hinblick auf die Grundrechtsverletzung den gleichen Effekt; sie bestimmen gleichermaßen den Umfang der defizitären Gestaltung des einfachen Rechts (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137).

338

Wenn verschiedene Leistungssysteme für die Existenzsicherung Hilfebedürftiger bestehen (z.B. SGB II, SGB XII, AsylbLG, BAföG) und der betroffene Personenkreis in allen Systemen ausgeschlossen ist (z. B. § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII), sind die jeweiligen Ausschlussregelungen in den einzelnen Leistungssystemen allesamt verfassungswidrig. Der Leistungsausschluss in einem System kann verfassungsrechtlich nicht dadurch aufgefangen werden, dass der betroffene Personenkreis auf ein anderes Leistungssystem verwiesen wird, dass seinerseits einen (verfassungswidrigen) Leistungsausschluss für den gleichen Personenkreis vorsieht, mit dem Argument, dass dann Letzteres für nichtig erklärt werden muss und hierdurch ein verfassungsgemäßer Zustand herzustellen wäre. Dies wäre nur dann der Fall, wenn zwischen den Leistungssystemen bezogen auf den betroffenen Personenkreis unabhängig von den für verfassungswidrig gehaltenen Vorschriften ein Nachrangverhältnis bestünde, der Betroffene also unabhängig von dem Leistungsausschluss im vorrangigen System hilfsweise auf das nachrangige System zurückgreifen könnte, wo er dann mit dem gleichartigen Leistungsausschluss konfrontiert wäre. Nur in diesem Fall bestünde ein logischer Vorrang der Verfassungswidrigkeit des nachrangigen Gesetzes.

339

Die Identifizierung der potenziell verfassungswidrigen Ausschlussnormen beschränkt nicht die gesetzgeberischen Möglichkeiten, den verfassungswidrigen Zustand zu beheben. Der Gesetzgeber kann einen Leistungsausschluss in einem Gesetz dadurch kompensieren, dass er die Ausschlussvorschrift aufhebt oder die Tatbestandsvoraussetzungen reduziert, was der Möglichkeit der Nichtigerklärung einzelner Ausschlussnormen durch das BVerfG entspricht. Er kann aber auch ein weiteres Leistungssystem für den ausgeschlossenen Personenkreis schaffen oder diesbezügliche Anspruchshürden ausschließlich in einem anderen schon bestehenden Leistungssystem beseitigen. Hieraus folgt allerdings nicht, dass eine verfassungswidrige Ausschlussnorm wegen des gesetzlichen Gestaltungsspielraums durch das BVerfG nicht für nichtig (§ 78 Satz 1 BVerfGG), sondern lediglich für mit der Verfassung unvereinbar erklärt werden könnte. Denn der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum besteht hier nur hinsichtlich denkbarerer regelungstechnischer Korrekturen des Verfassungsverstoßes, nicht jedoch hinsichtlich des materiellen Ergebnisses. Eine verfassungsgemäße Alternative zum Wegfall des Ausschlusstatbestands besteht – anders als regelmäßig bei der Verletzung von Gleichheitsgrundrechten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 58 m.w.N.) – nicht.

340

Ein durchsetzbarer Anspruch auf Schaffung eines existenzsichernden Leistungssystems, der nur im Wege einer Normerlassklage verfolgt werden könnte, wäre hingegen allenfalls denkbar, wenn überhaupt kein gesetzliches Leistungssystem bestünde, welches dem Grunde nach Ansprüche auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums einräumt und dessen Ausschluss- oder Voraussetzungsnormen einer effektiven (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle unterliegen könnte. Dies ist auf Grund der bestehenden Leistungssysteme der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), der Sozialhilfe (SGB XII), des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) und der Ausbildungsförderung (BAföG und §§ 56 ff. SGB III) jedoch nicht der Fall.

II.

341

Das Vorstehende zu Grunde gelegt, verstößt § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (so bereits SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER; SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 7 ff.; SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER; vgl. auch Kingreen, SGb 2013, S. 139; Frerichs, ZESAR 2014, S. 285 f.; Löbich, ZESAR 2015, S. 426 f.; Wilksch, JuWissBlog, https://www.juwiss.de/90-2015/).

342

Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (1) effektiv betroffene Personenkreis (2) erfüllt grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (3). Für diesen Personenkreis fehlt es an einem hinreichend bestimmten, formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (4). Die sich hieraus ergebende unterlassene Grundrechtsgewährleistung kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden (5).

343

1. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II lautet:

344

„Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

345

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,

346

2. erwerbsfähig sind,

347

3. hilfebedürftig sind und

348

4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).“

349

§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II lautet:

350

„Ausgenommen sind

351

1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

352

2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,

353

3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.“

354

2. In § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird der Kreis der Leistungsberechtigten nach dem SGB II geregelt. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II werden bestimmte Personengruppen, die die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen, von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

355

Der von der Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasste und somit im Hinblick auf die Wahrung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in die verfassungsrechtliche Prüfung einzubeziehende Personenkreis ist allerdings deutlich kleiner, als von den zuständigen Senaten des BSG und in der Mehrzahl der publizierten Entscheidungen der Sozialgerichte gemeinhin angenommen wird.

356

Der Ausschlusstatbestand knüpft hierbei nicht an die persönliche Motivation des Aufenthaltsberechtigten an, sondern auf den objektiven Zweck des Aufenthaltsrechts (Schreiber, SRa 2015, S. 41), so dass sich der betroffene Personenkreis abstrakt anhand der aufenthaltsrechtlichen Vorschriften bestimmen lässt. Der von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasste Personenkreis der „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“ besteht daher nach Maßgabe des Bundesrechts aus den folgenden Fallgruppen:

357

-Unionsbürger und Staatsangehörige der EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen (2.1)

358

-Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG verfügen (2.2)

359

-Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18c Abs. 1 Satz 1 AufenthG verfügen (2.3) und

360

-deren jeweiligen Familienangehörigen mit abgeleitetem Aufenthaltsrecht (2.4).

361

Nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind hingegen Unionsbürger (und Staatsangehörige der anderen EWR-Staaten), die über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügen, aber in Folge einer unterbliebenen Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind (2.5). Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kommt des Weiteren bei Unionsbürgern, die über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen und dem persönlichen Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 unterfallen, nicht zur Anwendung (2.6). Entsprechendes gilt für Drittstaatsangehörige, wenn sie die Voraussetzungen von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 erfüllen, sowie für Staatsangehörige der übrigen EWR-Staaten und – sofern Aufenthaltstitel nach § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG vorliegen – der Schweiz (2.7).

362

2.1 Von der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind tatbestandlich zunächst Unionsbürger mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfasst. Nach dieser Vorschrift sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, für bis zu sechs Monate freizügigkeitsberechtigt, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Der Ausschluss greift nur, wenn die betroffene Person nicht zusätzlich über ein anderes Aufenthaltsrecht verfügt. Über § 12 FreizügG/EU werden hiervon auch Staatsangehörige der EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen erfasst.

363

2.2 Die Ausschlussregelung erfasst darüber hinaus auch Ausländer, die – wie der Kläger zu 1 – über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG verfügen (so auchWolff-Dellen in: Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 11, 3. Auflage 2011; Thie in: LPK-SGB II, § 7 Rn. 27, 5. Auflage 2013¸ Hänlein in: Gagel, SGB II/SGB III, § 7 SGB II Rn. 71, beck-online; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 93, Stand 14.03.2016; SG Mainz, Beschluss vom 27.01.2016 – S 11 AS 7/16 ER – nicht veröffentlicht; in diesem Sinne auch die Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales: BT-Drucks. 16/688, S. 13; s.o. unter A.IV.3.1.1 a).

364

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom 29.08.2013 kann einem Ausländer zum Zweck des Studiums an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule oder vergleichbaren Ausbildungseinrichtung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AufenthG umfasst der Aufenthaltszweck des Studiums auch studienvorbereitende Maßnahmen. Nach § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Abschluss des Studiums für bis zu 18 Monate zur Suche eines diesem Abschluss angemessenen Arbeitsplatzes, sofern er nach den Bestimmungen der §§ 18, 19, 19a und 21 AufenthG von Ausländern besetzt werden darf, verlängert werden. Gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 AufenthG berechtigt die Aufenthaltserlaubnis während dieses Zeitraums zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Aus dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geht mithin hervor, dass der nach dieser Vorschrift verliehene Aufenthaltstitel zum Zwecke der Suche eines Arbeitsplatzes erteilt wird. Dass das vorherige Vorliegen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG ist, führt nicht dazu, dass Letztere weiterhin zum Zwecke des Studiums erteilt wird. Die Verlängerung des Aufenthaltsrechts nach erfolgreichem Studium gemäß § 16 Abs. 4 AufenthG dient gerade nicht mehr der Ausbildung, sondern der Arbeitsplatzsuche. Für andere bzw. weitere Zwecksetzungen gibt der Wortlaut des § 16 Abs. 4 AufenthG keine Anhaltspunkte. Auch wenn hierbei eine (nicht notwendig der Ausbildung entsprechende) Erwerbstätigkeit gestattet und ausgeübt wird, führt dies nicht dazu, dass die Ausübung einer Erwerbstätigkeit selbst zum Zweck dieses Aufenthaltsrechts wird. Der Aufenthaltszweck der Durchführung eines Studiums nach § 16 Abs. 1 AufenthG wirkt auch nicht im Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG fort. Dieser Zweck wurde in diesen Fällen bereits erreicht und hat sich erledigt, weshalb zur anschließenden Arbeitsplatzsuche ein anderer Aufenthaltstitel erforderlich wird. Mit der Möglichkeit, die Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche um bis zu 18 Monate zu verlängern ist mithin ein Wechsel des Aufenthaltszwecks verbunden (Christ in: Kluth/Heusch, BeckOK-AuslR, § 16 AufenthG Rn. 51, beck-online, Stand 01.11.2015).

365

Auch der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Ausschluss nicht greifen soll, wenn zu einem früheren Zeitpunkt oder auch unmittelbar vor Erlangung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht zu anderen Zwecken bestand. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem betroffenen Personenkreis weder um EU-Bürger handelt, auf die die Ausschlussmöglichkeit der RL 2004/38/EG in erster Linie abzielt, noch eine Einreise zum Zwecke der Arbeitssuche vorgelegen haben muss (vgl. Brandmayer in: BeckOK-SGB II, § 7 Rn. 9, beck-online, Stand: 01.12.2015).

366

2.3 Ebenfalls vom Leistungsausschluss betroffen sind Ausländer, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 18c AufenthG verfügen. Nach § 18c Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der über einen deutschen oder anerkannten oder einem deutschen Hochschulabschluss vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss verfügt und dessen Lebensunterhalt gesichert ist, eine Aufenthaltserlaubnis zur Suche nach einem der Qualifikation angemessenen Arbeitsplatz für bis zu sechs Monate erteilt werden. Auch in dieser Vorschrift ist der mit der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verknüpfende aufenthaltsrechtliche Zweck der Arbeitsuche deutlich zum Ausdruck gebracht worden.

367

2.4 Weiterhin werden vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II die Familienangehörigen der Person erfasst, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt. Familienangehörige im diesem Sinne sind Personen, die zu der Person, die über ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche verfügt, in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen und über ein Aufenthaltsrecht allein auf Grund des Verwandtschaftsverhältnisses zu der Person mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche verfügen. Sofern die erste Person ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügt, ergibt sich der vom Leistungsausschluss mitbetroffene Kreis der Familienangehörigen aus einzelnen Tatbeständen des § 3 FreizügG/EU (vgl. BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 50). Sofern die erste Person über eine Aufenthaltserlaubnis aus § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG verfügt, ergibt sich der Kreis der mitbetroffenen Familienangehörigen aus den Regelungen zum Familiennachzug gemäß §§ 27, 30, 32, 33 AufenthG. Ausgenommen sind wiederum diejenigen Familienangehörigen, die über ein eigenständiges, d.h. nicht dem Aufenthaltsrecht der ersten Person gemäß § 27 Abs. 4 Satz 1 AufenthG akzessorisches Aufenthaltsrecht beispielsweise aus den §§ 31, 34 Abs. 2 oder 35 AufenthG verfügen.

368

2.5 Nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind hingegen Unionsbürger und Angehörige der drei übrigen EWR-Staaten, die über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügen, aber in Folge einer unterbliebenen Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind (so auch Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 - L 6 AS 378/12 – Rn. 54 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.11.2013 – L 19 AS 129/13; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 - L 31 AS 1348/13; Thüringer LSG, Beschluss vom 25.04.2014 – L 4 AS 306/14 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.05.2014 – L 19 AS 430/13 – Rn. 42 ff.; SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 31 ff.; Kingreen, SGb 2013, S. 134; Schreiber, SRa 2015, S. 43 f.).

369

a) Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, für bis zu sechs Monate freizügigkeitsberechtigt, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Sofern ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU nicht (mehr) besteht, ergibt sich für den Betroffenen nur noch ein (formelles) Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsvermutung. Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erst dann ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht (Hessisches LSG, Beschluss vom 07.04.2015 – L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 48 m.w.N.; Lehmann, SRa 2015, S. 35).

370

Das Nichtbestehen oder der Wegfall des Aufenthaltsrechts aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU hat zur Folge, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht zum Zuge kommt. Dies ergibt sich aus dem insoweit klaren Wortlaut der Regelung, in der von Personen die Rede ist „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“ (vgl. LSG Hessen, Beschluss vom 07.04.2015 – L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 49 bis 54 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.03.2015 – L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 27 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.09.2015 – L 7 SF 535/15 ER – Rn. 8). Die Wendung „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht (…)“ lässt semantisch keinen anderen Schluss zu, als dass nur Ausländer betroffen sind, die über das im Folgenden näher spezifizierte Aufenthaltsrecht verfügen.

371

Dieses Textverständnis wird in der Rechtsprechung auch nicht ernsthaft bestritten. Soweit vereinzelt behauptet wird, dass die Auffassung, Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht würden nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst, mit dem Wortlaut der Regelung nicht vereinbar sei (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 19), erfolgt dies lediglich im Rahmen eines schematisch wiedergegebenen Begründungsmusters, ohne dass der offene Widerspruch zum Gesetzestext thematisiert wird.

372

b) Die gegenteilige Auffassung, nach der der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch bei ausländischen Staatsangehörigen (und ihren Familienangehörigen) greifen soll, die über kein (materielles) Aufenthaltsrecht verfügen, ist rechtswissenschaftlich nicht vertretbar (vgl. bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 – L 31 AS 1348/13 – Rn. 26), unabhängig davon, ob dies mit der Konstruktion einer „ungeschriebene(n) Anspruchsvoraussetzung des Bestehens eines Aufenthaltsrechts“ (so Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 55) oder mit Erörterungen von vermeintlichen Wertungswidersprüchen sowie Sinn- und Zweckerwägungen (so LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 34 oder LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.09.2015 – L 34 AS 1868/15 B ER – Rn. 16 ff.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 16 ff.) oder mit einem „Erst-recht-Schluss“ (so BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 19 ff.; dem folgend: BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 24) begründet wird.

373

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 300 ff., zum Ganzen S. 294 ff. und S. 538 ff.). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt daher sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Es ist den Gerichten daher verfassungsrechtlich strikt verboten, „ungeschriebene Anspruchsvoraussetzungen“ oder Ausschlussgründe für Leistungsansprüche zu erschaffen oder sich anderweitig über die Grenzen des Gesetzeswortlautes hinwegzusetzen, beispielsweise mit der Behauptung, aus einer „allein am Wortlaut“ orientierten Auslegung ergäben sich Wertungswidersprüche.

374

Zur Normsetzung im Sinne einer Rechtsfortbildung durch Analogieschluss sind Gerichte auf Grund des Gewaltenteilungsprinzips allenfalls ausnahmsweise bei echten Regelungslücken befugt. Dies trägt dem Dilemma Rechnung, das aus dem Umstand entsteht, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind. Denn Gerichte müssen auch dann, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen, weil es im Rechtsstaat auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben muss (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). In Folge des Grundsatzes der Gesetzesbindung darf allerdings von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die (analoge) Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 – Rn. 29). Dies gilt in besonderem Maße für weitgehend kodifizierte Rechtsgebiete, wie dem in den Sozialgesetzbüchern geregelten Sozialrecht. Für das Sozialgesetzbuch gilt in Folge Vorschriften des § 2 Abs. 2 SGB I (Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte) und § 31 SGB I (Vorbehalt des Gesetzes) zudem auch einfachrechtlich praktisch ein umfassendes Analogieverbot sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der potenziell Sozialleistungsberechtigten (zu geringe Anforderungen an den Analogieschluss stellt daherBecker, SGb 2009, S. 341 f.).

375

Von diesem Maßstab ausgehend, liegt eine Regelungslücke hier nicht vor. Selbst wenn die Behauptung zuträfe, dass der Gesetzgeber bzw. der Gesetzesautor das Bestehen eines Aufenthaltsrechts als Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II stillschweigend vorausgesetzt hat, würde dies eine ausdrückliche gesetzliche Regelung einer solchen Voraussetzung schon auf Grund des rechtsstaatlichen Gebotes der Normenklarheit nicht entbehrlich machen. Eine solche Regelung ist bislang nicht Gesetz geworden, auch wenn sie beabsichtigt gewesen oder vorausgesetzt worden sein mag. Personen ohne Aufenthaltsrecht werden von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht erfasst. Häufig, aber eben nicht in allen Fällen sind sie über die Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen.

376

Selbst wenn außerdem die These zuträfe, dass die unterschiedliche Behandlung von Personen mit Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche einerseits und Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht andererseits zu „unauflösbaren Wertungswidersprüchen“ führte (so LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 23; vgl. auch Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 56), würde dies keine Ausweitung des Leistungsausschlusses auf die letztere Personengruppe rechtfertigen, sondern das zuständige Gericht allenfalls zur Vorlage zum BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Prüfung eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zu Lasten der ersten Personengruppe berechtigen und verpflichten. Die vom BVerfG in Fällen von Gleichheitsverstößen zur Wahrung des Gewaltenteilungsprinzips in Anspruch genommene Möglichkeit, eine gleichheitsverstoßende Norm für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären und dem Gesetzgeber hiermit die Gelegenheit zu geben, den Gleichheitsverstoß in der einen oder anderen Richtung zu beseitigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07 – Rn. 58 m.w.N,) wird mit der Selbstermächtigung zur Analogiebildung durch die fachgerichtliche Rechtsprechung unterlaufen.

377

Hiervon abgesehen sind die behaupteten Wertungswidersprüche keineswegs so eindeutig, dass ein Gleichheitsverstoß auf der Hand läge. Dass der Ausschluss von Unionsbürgern mit Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche bei gleichzeitigem Einschluss von Unionsbürgern mit nur formellem Aufenthaltsrecht vor europarechtlichem Hintergrund durchaus als kohärent und wertungskonsistent betrachtet werden kann, wurde in mehreren Publikationen und Gerichtsentscheidungen ausführlich dargelegt (vgl. Kingreen, SGb 2013, S. 134; Schreiber, SRa 2015, S. 44; vgl. auch Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 – L 6 AS 378/12 – Rn. 54 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.11.2013 – L 19 AS 129/13; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 – L 31 AS 1348/13; Thüringer LSG, Beschluss vom 25.04.2014 – L 4 AS 306/14 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.05.2014 – L 19 AS 430/13 – Rn. 42 ff). Wesentliches Argument für eine Rechtfertigung der beschriebenen Ungleichbehandlung ist die Möglichkeit der Verlustfeststellung und die hiermit verbundene Möglichkeit, den Leistungsbezug bei der zweiten Personengruppe aufenthaltsrechtlich zu steuern, die bei der ersten Personengruppe nicht gegeben ist (Schreiber, SRa 2015, S. 44).

378

Der vom 4. Senat des BSG behauptete Zirkelschluss, dass Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht, die einen Anspruch auf Eingliederungsleistungen nach den §§ 16 ff. SGB II hätten, wiederum nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sein würden (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 23), beruht auf einer fehlgehenden Gleichsetzung zwischen der Zielsetzung der §§ 16 ff. SGB II, eine erfolgreiche Arbeitsuche zu ermöglichen, und dem für das Fortbestehen des Aufenthaltsrechts zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erforderlichen Nachweis der weiteren Arbeitsuche sowie der begründeten Einstellungsaussicht.

379

Nicht bedarfsbezogene Ausschlusstatbestände unter Missachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts im Wege einer "teleologischen Gesetzeskorrektur" (so Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 57), mit Analogiebildungen zu Lasten der Hilfebedürftigen oder mit „Erst-recht-Schlüssen“ (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 19 ff.) noch auszuweiten verstößt im Übrigen nicht nur gegen das Gebot der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG) und gegen den Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I), sondern – in Fällen, in denen kein anderes Existenzsicherungssystem greift – auch gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

380

2.6 Der Leistungsausschluss kommt bei Unionsbürgern, die über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen und gemäß Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung unterfallen und bei deren Familienangehörigen nicht zur Anwendung. Vom persönlichen Geltungsbereich erfasst sind Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, die ihren Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat haben, für den die Rechtsvorschriften dieses aufnehmenden Staates gelten und die in ein Sozialversicherungs- und/oder Familienleistungssystem im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Verordnung (EG) 883/2004 eingebunden sind (vgl. zur weiteren Differenzierung Schreiber, NZS 2012, S. 649).

381

a) § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004) (so bereits SG Berlin, Urteil vom 15.08.2012 – S 55 AS 13349/12 – Rn. 28 ff.). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen System der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) gerechtfertigt werden (a.A. EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63).

382

b) Die VO (EG) 883/2004 ist gemäß Art. 288 AEUV allgemein verbindlich und gilt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar, ohne dass es eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes bedürfte. Nach Art. 288 Abs. 2 AEUV können die Regelungen in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden.

383

c) Das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II unterfällt gemäß Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 dem Anwendungsbereich der Verordnung. Nach dieser Regelung gilt die Verordnung auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Art. 70 VO (EG) 883/2004. Das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II gehört zu den "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" nach Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 (so auch EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 43). Diese Zuordnung setzt voraus, dass die Leistung einem besonderen Schutzzweck im Sinne eines zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutzes zu einem System der sozialen Sicherheit oder im Sinne eines besonderen Schutzes behinderter Menschen dient, beitragsunabhängig finanziert wird und dass sie im Anhang X der VO (EG) 883/2004 aufgeführt ist. Diese Voraussetzungen sind beim Arbeitslosengeld II erfüllt. Dessen besonderer Schutzzweck liegt darin, dass es sich um eine ergänzende Leistung im Rahmen des Leistungssystems zur Überwindung von Arbeitslosigkeit handelt. Diese besondere ergänzende Leistung ist nicht beitrags-, sondern steuerfinanziert und in Anhang X zur Verordnung (EG) 883/2004 aufgeführt. Dementsprechend sind Leistungen nach dem SGB II auch nicht als Fürsorgeleistungen gemäß Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeschlossen, unabhängig davon, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zugleich als Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG qualifiziert werden können.

384

d) Art. 70 VO (EG) 883/2004 nimmt besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch nicht aus. Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 enthält nur die Aufhebung des so genannten Exportgebots, indem die Geltung des Art. 7 VO (EG) 883/2004 für die in Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 genannten Leistungen ausgeschlossen wird. Darüber hinaus wird die Geltung der weiteren Vorschriften „dieses“, das heißt des dritten Titels (Art. 17 bis Art. 69) der Verordnung ausgeschlossen. Daneben regelt Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 quasi als Gegenstück zum Ausschluss des Art. 7 VO (EG) 883/2004, dass die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, nach dessen Rechtsvorschriften vom Träger des Wohnorts zu dessen Lasten gewährt werden.

385

e) Unter Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004 sind auch Rechtsvorschriften zu verstehen, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004) beziehen. Zwar wird der Begriff der Rechtsvorschriften – soweit hier von Interesse – in Art. 1 Abs. 1 VO (EG) 883/2014 wie folgt definiert:

386

„(Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck) "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit.“

387

Leistungen nach dem SGB II unterfallen als besondere beitragsunabhängige Leistungen jedoch nicht unmittelbar dem Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004, sondern werden über Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 in den Geltungsbereich der Verordnung einbezogen. Hieraus könnte der Schluss gezogen werden, dass sich das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 nur auf Rechtsvorschriften der in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten sozialen Sicherungssysteme bezieht (so etwa mit ausführlicher Begründung: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012 – L 3 AS 250/12 B ER – Rn. 23 ff.). Hiergegen spricht aber, dass der Begriff „Rechtsvorschriften“ in der Verordnung offensichtlich nicht immer im Sinne der vorangestellten Legaldefinition verwendet wird (vgl. Groth, jurisPR-SozR 2/2015 Anm. 1, der ein Redaktionsversehen vermutet). Denn beispielsweise in Art. 70 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 und Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 ist ausdrücklich von „Rechtsvorschriften“ die Rede, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen beziehen. Deshalb liegt es näher, die in Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 bestimmte Geltung der Verordnung auch für besondere beitragsunabhängige Leistungen so zu verstehen, dass hiermit die Definition des Begriffs der „Rechtsvorschriften“ auf solche Rechtsvorschriften erweitert wird, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen beziehen. Wenn das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 für die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen hingegen hätte ausgeschlossen werden sollen, wäre dies dem Ausschluss der Geltung des Art. 7 VO (EG) 883/2004 in Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 entsprechend geschehen. Eine derart gravierende Einschränkung der Geltung der Verordnung für besondere beitragsunabhängige Leistungen hätte im Verordnungstext entsprechend deutlich zum Ausdruck kommen können und müssen. Auch der EuGH geht ausdrücklich von einer Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auf besondere beitragsunabhängige Leistungen aus (EuGH, Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13 – Rn. 55).

388

f) Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung (Farahat, NZS 2014, S. 491; Schreiber, info also 2015, S. 5; zum Begriff vgl. Bokeloh, ZESAR 2013, S. 402), denn das maßgebliche Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit. Von der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II können ausschließlich Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit betroffen sein. In der VO (EG) 883/2004 selbst findet sich keine Bestimmung im Sinne des Art. 4 EG (VO) 883/2004, die eine solche unterschiedliche Behandlung allgemein oder bei besonderen beitragsunabhängigen Leistungen unter bestimmten Umständen zuließe.

389

g) Eine den Leistungsausschluss rechtfertigende Einschränkung des Diskriminierungsverbots ergibt sich auch nicht aus Art. 24 Abs. 2 2. Alt. in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 b) der RL 2004/38/EG (so auch SG Berlin, Urteil vom 19.12.2012 – S 55 AS 18011/12 – Rn. 26 ff.; Schreiber, NZS 2012, S. 651; Hofmann/Kummer, ZESAR 2013, S. 206; Kingreen, SGb 2013, S. 136 f.).

390

Die hierin enthaltene Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Unionsbürger unter bestimmten Voraussetzungen von Sozialhilfeleistungen auszuschließen, ist bereits deshalb nicht zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung geeignet, weil sich Beschränkungen nach dem Wortlaut des Art. 4 VO (EG) 882/2004 ausschließlich aus dieser Verordnung selbst ergeben dürfen (vgl. auch Schreiber, NZS 2012, S. 650). Die Verordnung enthält keine Vorschrift, nach der Normen aus anderen sekundären Rechtsakten der EU das Diskriminierungsverbot einschränken dürften. Dafür, dass Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot dennoch nach allgemeinen Grundsätzen rechtfertigungsfähig sein könnten, wenn sie „auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen“ beruhen (so Thym, NZS 2014, S. 84, mit Hinweis u.a. auf den EuGH, Urteil 09.11.2006 – C-346/05), fehlt – abgesehen davon, dass es gerade um Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit geht – ein rechtliches Argument.

391

Hieran vermag auch die Qualifikation der streitigen Leistungen nach dem SGB II als Sozialhilfeleistungen im Sinne der RL 2004/38/EG nichts zu ändern. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind Sozialhilfeleistungen sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichtete Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann (EuGH, Urteil vom 19.09.2013 – C-140/12 – Rn. 61). Aus dem sich hieraus ergebenden Umstand, dass die RL 2004/38/EG neben der VO (EG) 883/2004 grundsätzlich anwendbar ist, folgt jedoch nicht, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 durch Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG eingeschränkt ist.

392

Art. 24 Abs. 2 2. Alt. i.V.m. Art. 14 Abs. 4 b) der RL 2004/38/EG stellt zwar eine inhaltliche Einschränkung des Diskriminierungsverbots aus Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG dar. Nach letzterer Vorschrift genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund der Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Abweichend hiervon ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) RL 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Dem (Aufnahme-)Mitgliedstaat ist es danach grundsätzlich erlaubt, Unionsbürgern, die die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

393

Aus dem systematischen Zusammenhang ergibt sich demnach, dass Mitgliedstaaten den Zugang zu Sozialhilfeleistungen nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG einschränken dürfen, die Teilmenge der Sozialhilfeleistungen, die zugleich als besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne von Art. 70 VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren sind, von einer solchen Vorgehensweise nach Art. 4 VO (EG) 883/2004 jedoch ausgenommen sind. Die gegenteilige Auffassung erscheint rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

394

Zunächst stehen Verordnung und Richtlinie auf einer Ebene der Normenhierarchie, das heißt keines der beiden Regelwerke vermag das jeweils andere auf Grund eines Rangverhältnisses zu verdrängen. Die Regelwerke stehen im hier interessierenden Zusammenhang auch nicht in einem auf irgendeine Weise aufzulösenden Widerspruch zueinander. Die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG wird durch die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots auf besondere beitragsunabhängige Leistungen nicht funktionslos, da es weiterhin Leistungen der Sozialhilfe in den Mitgliedstaaten gibt bzw. geben kann, die nicht von Art. 70 VO (EG) 883/2004 erfasst sind. Als nur ermächtigende, nicht verpflichtende Norm ist zudem die Möglichkeit, dass von ihr nicht Gebrauch gemacht wird, von vornherein gegeben (tatsächlich haben wohl lediglich Deutschland und Frankreich, mit Modifikationen Schweden, Tschechien und das Vereinigte Königreich diese Option genutzt, vgl. Janda, SRa 2015, S. 25). Sozialhilfeleistungen im engeren Sinne sind als Leistungen der sozialen und medizinischen Fürsorge nach Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich der Verordnung sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Hierunter fallen für Deutschland beispielsweise die Leistungen nach dem SGB XII mit Ausnahme des 4. Kapitels. Die Aufnahme so genannter Hybridleistungen, die Elemente der sonstigen sozialen Sicherungssysteme und der Sozialhilfe miteinander vereinen, in die Koordinierungsverordnung führt somit zu der Konsequenz, dass diese nicht wie (sonstige) Sozialhilfeleistungen eingeschränkt werden dürfen, sondern einem strikten Diskriminierungsverbot unterliegen. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG ist gegenüber Art. 4 VO (EG) 883/2004 daher auch nicht die speziellere Norm. Die Anwendungsbereiche überschneiden sich vielmehr (vgl. zum Ganzen auch SG Berlin, Urteil vom 19.12.2012 – S 55 AS 18011/12 – Rn. 43 ff.). Dem Bundesgesetzgeber stünde es aus europarechtlicher Perspektive demgegenüber ohne weiteres frei, die Verknüpfung arbeitsförderungsrechtlicher und sozialhilferechtlicher Aspekte im SGB II wieder zu lösen und auch für Erwerbsfähige und deren Angehörige ein nur sozialhilferechtlich ausgestaltetes Existenzsicherungssystem vorzusehen, welches nicht dem Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 unterläge.

395

Im Übrigen können aus rechtssystematischen Gründen weder eine Richtlinie im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV noch eine auf Grund der Richtlinie erlassene nationale Rechtsvorschrift gegenüber einer Verordnung im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUVleges speciales sein (a.A. Kötter, info also 2013, S. 251). Dies ergibt sich aus dem Vorrang des Unionsrechts, wie er in Art. 288 Abs. 2 AEUV zum Ausdruck kommt. Richtlinien im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV geben den Mitgliedstaaten auf, Rechtsvorschriften mit bestimmten Mindestanforderungen zu erlassen. Diese Rechtsvorschriften sind aber kein Unionsrecht, sondern nationales Recht. Sie stehen deshalb normhierarchisch unterhalb des sekundären Unionsrechts und werden daher bei Verstoß gegen Verordnungsrecht nach Art. 288 Abs. 2 AEUV von diesem verdrängt. Ob das nationale Recht in irgendeinem Sinne „spezieller“ als das entgegenstehende Verordnungsrecht ist, spielt hierfür keine Rolle. Die Richtlinie selbst steht zwar als Sekundärrecht der Europäischen Union auf einer Ebene der Normhierarchie mit der Verordnung, enthält aber kein unmittelbar geltendes Recht. Den Mitgliedstaaten wird beispielsweise in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG lediglich ermöglicht, unter bestimmten Umständen Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen auszuschließen. Ob hiervon Gebrauch gemacht wird, bleibt den Mitgliedsstaaten überlassen. Nicht unmittelbar geltendes Recht kann aber in Ermangelung eines selbstständigen Anwendungsbefehls unmittelbar geltendes Recht nicht verdrängen.

396

h) Die entgegenstehende Rechtsprechung des EuGH aus dem Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) kann demgegenüber nicht überzeugen (kritisch auch Kingreen, NVwZ 2015, S. 1505; Schreiber, info also 2015, S. 3 ff.; Farahat, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de; Devetzi/Schreiber, ZESAR 2016, S. 20; im Hinblick auf die fehlende Begründung: Kador in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 70 VO (EG) 883/2004, Rn. 5.4, Stand 11.04.2016). Der EuGH geht hierbei davon aus, „dass Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit ihrem Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen (sind), dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten“ (EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63). Der EuGH thematisiert in seiner Entscheidung nicht, aus welchem rechtssystematischen Grund die Ausnahmevorschrift des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 relativieren können sollte. Vielmehr hat er dieser Regelung ohne Begründung offenbar keinerlei eigene Bedeutung beigemessen (vgl. Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Anhang zu § 23, Rn. 68.3, Stand 23.12.2015). Auch das Urteil des EuGH vom 25.02.2016 (C-299/14) zur Frage der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II enthält keine eigentliche Begründung, sondern nur den im Hinblick auf Art. 4 VO (EG) 883/2004, der die Geltung der gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der jeweiligen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates vorschreibt, zirkulären Verweis darauf, dass „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 nach Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats gewährt werden (EuGH, Urteil vom 25.02.2016 – C-299/14 – Rn. 52).

397

Es fehlt letztlich an einem rechtlichen Argument, mit dem die in Art. 4 VO (EG) 883/2004 ausdrücklich geregelte Beschränkung der Abweichungsmöglichkeiten vom Gleichbehandlungsgebot auf in der Verordnung selbst enthaltene Ausnahmen überwunden werden könnte. Eichenhofer bringt – vielleicht unbeabsichtigt – den mit der Außerachtlassung des Wortlauts des Art. 4 VO (EG) 883/2004 vollzogenen Verstoß gegen das auch für das Gemeinschaftsrecht konstitutive Gewaltenteilungsprinzip (vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 233) durch den EuGH auf den Punkt, indem er anregt, den mit der Durchbrechung des Art. 4 VO (EG) 883/2004 „geschaffenen Rechtszustand“ in der Verordnung zu positivieren (Eichenhofer, ZESAR 2016, S. 39).

398

i) Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist auch nicht bereits deshalb als mit Art. 4 VO (EG) 883/2004 vereinbar anzusehen, weil der EuGH dies im Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) ausgesprochen hat.

399

Urteile des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV entfalten Bindungswirkung nur gegenüber den Gerichten im jeweiligen der Entscheidung des EuGH zu Grunde liegenden Ausgangsverfahrens (EuGH, Urteil vom 24.06.1969 – 29/68; BVerfG, Beschluss vom 08.06.1977 – 2 BvR 499/74, 2 BvR 12 BvR 1042/75 – Rn. 54; BVerfG, Beschluss vom 25.07.1979 – 2 BvL 6/77 – Rn. 37 ff.; BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 78; BVerfG, Beschluss vom 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 – Rn. 58 f. jeweils zum in dieser Hinsicht wortgleichen Art. 177 EWGV; unzutreffend deshalb SG Dortmund, Beschluss vom 18.04.2016 – S 32 AS 380/16 ER – Rn. 71 und LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.11.2015 – L 2 AS 1714/15 B ER – Rn. 4). Präjudizien des EuGH fungieren nicht als legitimierender Zurechnungspunkt neuer Entscheidungen, sondern sind lediglich Argumente, sofern sie methodisch haltbar sind (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 319 ff.). Wenn ein Gericht Unionsrecht anders auslegen will als der EuGH, folgt – wie sich aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ergibt – hieraus auch keine Vorlagepflicht, solange innerstaatliche Rechtsmittel gegen die Entscheidung bestehen. Es steht vielmehr im Ermessen des Gerichts, die Rechtssache gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH vorzulegen, um gegebenenfalls eine Korrektur der Rechtsprechung zu ermöglichen (EuGH, Urteil vom 27.03.1963 – C-28/62; vgl. Wißmann in: Erfurter Kommentar, AEUV, Art. 267, Rn. 22, 16. Auflage 2016).

400

Daher gibt es für mitgliedstaatliche Fachgerichte weder einen rechtswissenschaftlichen noch einen rechtlichen Grund, nach dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) ohne eigene Auseinandersetzung und ohne rechtswissenschaftliche Begründung von der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auszugehen (so aber nahezu die gesamte sozialgerichtliche Praxis, z. B.: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.09.2015 – L 2 AS 1582/15 B ER – Rn. 5; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 8; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.10.2015 – L 29 AS 2344/15 B ER – Rn. 81; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 32).

401

j) Der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 führt wegen des Anwendungsvorrangs (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 09.06.1971 – 2 BvR 225/69 – Rn. 92 ff.) zur Nichtanwendbarkeit des diskriminierenden Merkmals des nationalen Rechts bei Anwendung der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Leistungsanspruchs.

402

2.7 Die VO (EG) 883/2004 gilt nach Maßgabe von Art. 1 VO (EG) 1231/2010 auch für Drittstaatsangehörige, die ausschließlich auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die VO (EG) 883/2004 fallen, sowie für ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft. Auch dieser Personenkreis wird daher durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts begünstigt.

403

Entsprechendes gilt für Staatsangehörige der nicht der EU angehörigen EWR-Staaten (Island, Liechtenstein und Norwegen seit dem 01.06.2012) und der Schweiz (seit dem 01.04.2012) auf Grund der jeweiligen Abkommen über die Geltung der VO (EG) 883/2004 im Verhältnis zu diesen Staaten (Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 27.1, Stand 26.01.2015).

404

Während für die Staatsangehörigen der EWR-Staaten und ihre Familienangehörigen gemäß § 12 FreizügG/EU ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1a FreizügG/EU den Anknüpfungspunkt für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bildet, kommt bei sonstigen Drittstaatsangehörigen und Staatsangehörigen der Schweiz ein Leistungsausschluss nur in Folge der Aufenthaltstitel aus § 16 Abs. 4 AufenthG und § 18c AufenthG in Betracht.

405

2.8 Dass die Kollision von unmittelbar geltendem Unionsrecht mit nationalem Recht lediglich zu einem Anwendungsvorrang führt, nicht zu einem Geltungsvorrang, hat zur Folge, dass die europarechtswidrige Rechtsnorm nicht nichtig ist bzw. nicht auf Grund ihrer Europarechtswidrigkeit für nichtig erklärt werden kann, sondern in Kraft bleibt und somit für nicht durch die vorrangige unionsrechtliche Norm determinierten Sachverhalte weiterhin gilt (vgl. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 4). Daher profitieren nur diejenigen Personen vom Anwendungsvorrang des Diskriminierungsverbots des Art. 4 VO (EG) 883/2004, die dessen Voraussetzungen in eigener Person erfüllen. Unmittelbar findet die Verordnung auf (aus unionsrechtlicher Perspektive) rein nationale Sachverhalte mangels Regelungskompetenz ohnehin keine Anwendung (Hauschild in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, Art. 2 VO (EG) 883/2004, Rn. 25, Stand 26.01.2015). Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bleibt demnach für alle anderen tatbestandlich vom Leistungsausschluss erfassten Personen klärungsbedürftig.

406

2.9 Offen bleiben kann aus dem entsprechenden Gründen, ob die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bei Angehörigen der Signatarstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 (EFA – neben Deutschland sind dies Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und das Vereinigte Königreich) auf Grund des Gleichbehandlungsgebots des Art. 1 EFA trotz der zwischenzeitlichen Vorbehaltserklärung der Bundesregierung nicht zur Anwendung kommt (so überzeugend mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer bundesgesetzlichen Regelung eines Vorbehalts: SG Berlin, Vorlagebeschluss vom 25.04.2012 – S 55 AS 9238/12 – Rn. 52 ff.).Diese Rechtsfolge würde die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Hinblick auf alle anderen von dieser Regelung betroffenen Personenkreise nicht verhindern.

407

3. Die demnach vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personen sind Grundrechtsträger und können hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne sein.

408

Es handelt sich um Menschen (s.o. unter I.7.1), die sich, um von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überhaupt betroffen sein zu können, in Deutschland tatsächlich aufhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und im einfachrechtlichen Sinne hilfebedürftig sein (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) müssen. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ schließt den zumindest zeitweilig tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland (s.o. unter I.7.2) logisch mit ein.

409

Die Grundrechtsrelevanz der Regelung wird nicht dadurch beseitigt, dass in Folge von Freibetrags- und Ausnahmeregelungen bei der Berücksichtigung von Einkommen und Schonvermögensregelungen auch Personen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen und vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen sein können, deren Existenzsicherung nicht akut gefährdet ist, bei denen der Leistungsausschluss also nicht mit einer individuellen Grundrechtsverletzung einhergehen muss. Denn der Leistungsausschluss betrifft regelungstechnisch und tatsächlich auch Personen, die ihr materielles Existenzminimum nicht aus eigener Kraft sichern können und deshalb im grundrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind (s.o. unter I.7.3). Dies beruht erstens darauf, dass dem Leistungsausschluss zwar die Annahme zu Grunde liegen könnte, dass hiervon betroffene Personen ihre Hilfebedürftigkeit durch Rückkehr in ihren Herkunftsstaat beseitigen können, die Regelung selbst einen solchen Umstand aber in keiner Weise zur Voraussetzung für ihr Eingreifen macht. Zweitens würde auch im Falle der Bestätigung dieser Annahme nicht die aktuelle Hilfebedürftigkeit beseitigt, sondern allenfalls zukünftig Hilfebedürftigkeit vermieden, und auch dies nur im Falle der tatsächlichen Ausreise des Betroffenen.

410

4. Für den vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreis fehlt es bereits an einem formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.2).

411

4.1 Nach der die erste Vorlagefrage betreffenden Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II besteht kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Für diese Ausschlussregelung ist im SGB II keine Ausnahme vorgesehen.

412

4.1.1 Auch wenn der Auffassung gefolgt würde, dass nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossene Personen vermittelt über § 7 Abs. 2 SGB II einen Anspruch auf Sozialgeld gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II haben können (vgl. SG Berlin, Urteil vom 15.08.2012 – S 55 AS 7242/11 – Rn. 29 ff.), würde dies nur denjenigen Betroffenen einen Anspruch einräumen, die mit einer nicht vom Leistungsausschluss betroffenen erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II zusammenleben. Zudem setzt § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II selbst fehlende Erwerbfähigkeit voraus, so dass allenfalls vom Leistungsausschluss mitbetroffene nicht erwerbsfähige Familienangehörige einen von einer dritten Person abgeleiteten Sozialgeldanspruch haben könnten.

413

4.1.2 Soweit vom 3. Senat des LSG Rheinland-Pfalz im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens der Kläger erwogen wird, über eine Auslegung des § 42a SGB II zu einem Leistungsanspruch zu kommen, ist nicht erkennbar, worauf dies gestützt werden könnte. § 42a SGB II regelt nur den erweiterten Vermögenseinsatz bei der Gewährung von Darlehensleistungen (§ 42a Abs. 1 Satz 1 SGB II) und weitere Modalitäten der Darlehensgewährung und -rückzahlung, nicht jedoch die Voraussetzungen unter denen ein Darlehen zu gewähren ist. Die Voraussetzungen für die darlehensweise Erbringung von Leistungen sind in den §§ 16c Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, 16g Abs. 1, 22 Abs. 2 Satz 2, Abs. 6 und Abs. 8 Sätze 3 und 4, 24 Abs. 1, Abs. 4 und 5 SGB II geregelt und für die Fälle des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sämtlich nicht einschlägig.

414

Gemäß § 31 SGB I dürfen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuchs nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Demnach kann auch ein Anspruch auf Sozialleistungen nicht ohne gesetzliche Grundlage geschaffen werden.

415

4.2 Der betroffene Personenkreis hat auch keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personen sind nicht generell von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen (4.2.1), die Gewährung der Leistungen steht jedoch im Ermessen der Behörde (4.2.2), was den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht genügt (4.2.3).

416

4.2.1 Die Anwendung des SGB XII ist für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis nicht bereits nach § 21 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen, da die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu einem Leistungsausschluss dem Grunde nach führt (so auch BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 40 ff.; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R – Rn. 35; SG Berlin, Beschluss vom 04.01.2016 – S 128 AS 25271/15 ER – Rn. 25 ff.; vgl. auch Eicher in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 21 Rn. 35, Stand 08.04.2016; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 56.1, Stand 08.04.2016). Die auch nach der diesbezüglichen Positionierung beider für Rechtsstreitigkeiten nach dem SGB II zuständigen Senate des BSG weiterhin mit Nachdruck vertretene Behauptung, die Abgrenzung der Systeme der Grundsicherung nach dem SGB II und dem SGB XII geschehe allein durch den Begriff der Erwerbsfähigkeit (SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 23 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 – L 9 AS 1335/15 B ER – Rn. 57 ff.; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016, S 4 AS 114/14 – Rn. 30 ff.; so bereits LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 20 m.w.N.), ist rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

417

a) Gemäß § 21 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Nicht ausgeschlossen werden hiermit zunächst Personen, die nicht erwerbsfähig sind, aber auch Personen, die trotz Erwerbsfähigkeit dem Grunde nach von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Es spielt hierbei keine Rolle, das Fehlen welcher Voraussetzung bzw. das Vorliegen welches Ausschlusstatbestands den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausschließt (vgl. hierzu ausführlich LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – Rn. 13 ff.).

418

b) Die Apposition „als Erwerbsfähige oder als Angehörige“ fügt dem sachlich nichts hinzu. Hiermit wird lediglich der Personenkreis, der dem Grunde nach Leistungen nach dem SGB II beanspruchen kann, näher umschrieben. Diese Beifügung erweist sich deshalb als tautologisch, weil nur Erwerbsfähige und deren Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sein können, die bei isolierter Betrachtung des § 21 Satz 1 SGB XII erfolgte sprachliche Einschränkung daher funktionslos ist.

419

Soweit die fehlende Bedeutsamkeit dieser Beifügung als Argument für die Maßgeblichkeit der Erwerbsfähigkeit als Ausschlussmerkmal herangezogen wird, weil „die Nennung der Voraussetzung der Erwerbsfähigkeit (…) überflüssig (wäre), wenn diese nicht zum Leistungsausschluss nach dem SGB XII führen sollte“ (SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 48 m.w.N; ähnlich SG Dortmund, Beschluss vom 11.02.2016 – S 35 AS 5396/15 ER – Rn. 23; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 19), überschätzt dies die Leistungsfähigkeit von Texten im Allgemeinen und Gesetzestexten im Besonderen. Es werden sich im wirklichen Leben keine Gesetzestexte finden lassen, in denen jedes verwendete Wort und jede Formulierung über eigenständige Bedeutsamkeit verfügt. Sprachterme haben auch in Gesetzestexten nicht immer nur anordnende, sondern auch verdeutlichende, symbolische, erklärende oder rhetorische Funktionen, oder sie bleiben bei der Ausarbeitung und Überarbeitung von Gesetzen schlicht übrig, weil sie auf Grund ihrer Redundanz die Funktionsweise des Normprogramms nicht beeinträchtigen. Eine Gesetzessprache zu entwickeln, die keinerlei Redundanzen hat, ist weder realistisch noch zum Verständnis oder zur Konkretisierung von Rechtsnormen erforderlich. Unter Umständen ist es aber von Bedeutung, die Redundanzen zu erkennen und zu begründen, warum eine solche im Einzelfall vorliegt.

420

Für die Beifügung „als Erwerbsfähige oder als Angehörige“ in § 21 Satz 1 SGB XII ergibt sich diese Redundanz aus dessen satzsemantischer Beziehung zum Term „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ und aus dem sachlichen Zusammenhang mit den im SGB II geregelten Leistungsvoraussetzungen der Erwerbsfähigkeit (§§ 7 Abs.1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II) und der durch § 7 Abs. 3 SGB II näher spezifizierten Angehörigeneigenschaft. Dass der Terminus „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ die notwendige Bedingung für den Leistungsausschluss enthält, ergibt sich wiederum aus dessen satzsemantischer Beziehung als – wesentliche – einschränkende Beifügung zu dem Begriff „Personen“ auf der Tatbestandsseite der Vorschrift. Der Gesetzestext lautet eben nicht „Personen, die erwerbsfähig sind und deren Angehörige, erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“, sondern „Personen, die als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“.

421

Mit den Mitteln semantischer Auslegung auf Grundlage der Grammatik und Syntax der deutschen Sprache lässt sich allein aus § 21 Satz 1 SGB XII daher kein Rechtssatz ableiten, der das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit (im Sinne des § 8 SGB II) als hinreichende Bedingung für den Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII genügen lassen könnte. Es muss zusätzlich zur ohnehin vorausgesetzten Erwerbsfähigkeit oder Angehörigeneigenschaft demnach eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II dem Grunde nach bestehen, um die Rechtsfolge des § 21 Satz 1 SGB XII („erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt“) auszulösen. Die gegenteilige Auffassung, die sich teilweise auch auf den Gesetzeswortlaut stützt, lässt es faktisch genügen, dass der Begriff „erwerbsfähig“ irgendwo im § 21 Satz 1 SGB XII vorkommt und unterlässt es, diesen Terminus zu den anderen Satzteilen so in Beziehung zu setzen, wie es auch einem intuitiven Sprachverständnis entspricht.

422

c) Um die Auffassung zu stützen, dass bereits für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis die Erwerbsfähigeneigenschaft im Sinne des § 8 SGB II zur Leistungsbeschränkung nach § 21 Satz 1 SGB XII führt, müsste vielmehr begründet werden können, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II die Leistungsberechtigung dem Grunde nach unberührt lässt.

423

Unabhängig davon, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II die von den Leistungsausschlüssen betroffenen Personen aus der in § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II enthaltenen Legaldefinition „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ herausdefiniert oder bei Einschluss in die definierte Personengruppe lediglich die Rechtsfolge („Leistungen (…) erhalten“) ausschließt, ergibt für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personenkreis die Aussage, sie seien „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ jedoch keinen Sinn. Denn § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nimmt die betroffenen Personen vollständig von allen Leistungen nach dem SGB II aus. In Folge dessen fehlt ein Bezugspunkt dafür, welchen Inhalt eine Leistungsberechtigung „dem Grunde nach“ (im Sinne von grundsätzlich bestehend, aber aktuell möglicherweise nicht bzw. nicht in vollem Umfang zu realisieren) haben könnte. Hier hilft – abgesehen von Fragen der objektiven Beweislast – der Ansatz nicht weiter, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht als „negative Tatbestandsvoraussetzung“, sondern als „anspruchsvernichtende Einwendung“ zu interpretieren, „die die Leistungsberechtigung für den Erwerbsfähigen dem Grunde nach unberührt“ lasse (so der 12. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 19 m.w.N.), weil für diese Fallgruppe in Folge der „Anspruchsvernichtung“ nichts „Unberührtes“ übrigbleibt, nicht einmal eine Art Stammrecht. Die einzige rechtliche Konsequenz einer solchen „Leistungsberechtigung dem Grunde nach“ wäre paradoxerweise der Leistungsausschluss nach § 21 Satz 1 SGB XII. Eine „Leistungsberechtigung“ die zu nichts berechtigt, sondern nur von etwas ausschließt, ist ein Widerspruch in sich.

424

Dies unterscheidet den von den Leistungsausschlüssen des § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II betroffenen Personenkreis von Personen, die beispielsweise auf Grund von Einkommensanrechnungen, Sanktionen, ungenehmigter Ortsabwesenheit oder wegen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II nur der Höhe nach, nur vorübergehend oder nur für bestimmte Leistungs- oder Bedarfsarten von den Ansprüchen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, oder deren Anspruch sich auf bestimmte Leistungsformen (z.B. Darlehen oder Sachleistung) beschränkt.

425

Die in der Instanzrechtsprechung gelegentlich vorgetragene Behauptung, die Rechtsauffassung des BSG, § 21 Satz 1 SGB II gelte nicht bei einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, widerspreche dem (eindeutigen) Wortlaut des Gesetzes (SG Berlin, Beschluss vom 02.03.2016 – S 205 AS 1365/16 ER – Rn. 27; SG Freiburg, Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER – Rn. 33) ist daher schlicht falsch. Allein die Gegenauffassung kann nur unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder mit einer paradoxen systematischen Auslegung begründet werden.

426

d) An diesem Ergebnis vermögen auch weitergehende systematische Erwägungen (z.B. SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 89 ff.) nichts zu ändern.

427

Die Frage der Erwerbsfähigkeit stellt in der Mehrzahl der Fälle natürlich weiterhin das entscheidende Abgrenzungskriterium dar, weshalb allein die Tatsache, dass für die Klärung dieses Umstands ein besonderes Verfahren (§ 21 Satz 3 SGB XII und 44a SGB II) vorgesehen ist, mit der semantischen Auslegung des § 21 Satz 1 SGB XII nicht in Widerspruch steht. Der Verweis auf dieses Verfahren in Form eines systematischen Arguments (vgl. SG Berlin, Urteil vom 18.04.2016 – S 135 AS 22330/13 – Rn. 50 m.w.N.) kann die Überschreitung der Wortlautgrenze des § 21 Satz 1 SGB II schon aus diesem Grund nicht rechtfertigen und gibt auch für eine Änderung der Interpretation der Wendung „dem Grunde nach leistungsberechtigt“ nichts her. Auch in anderen Fällen, namentlich bei nicht erwerbsfähigen Personen, deren Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II fraglich ist, kann sich ein Zuständigkeitskonflikt zwischen den Leistungsträgern anhand anderer Fragen als der Erwerbsfähigkeit entzünden, sodass das Verfahren nach § 21 Satz 3 SGB XII nicht immer zielführend ist.

428

Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II, nach dem derAnspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII ausschließt und nicht etwa nur die Erfüllung bestimmter Anspruchsvoraussetzungen.

429

e) Der in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung insbesondere gegen die Rechtsauffassung des BSG häufig erhobene Einwand, die Einbeziehung von nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen in das Sozialhilferecht entspreche nicht dem „Willen des Gesetzgebers“ oder dem Normzweck (so z.B. SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 33; SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 34 f.), müsste, selbst wenn er zuträfe, hinter den vorstehenden semantischen und systematischen Argumenten zurücktreten.

430

Das Gesetzesbindungsgebot verpflichtet die Gerichte zur Realisierung von Gesetzesbindung nach Maßgabe des publizierten Gesetzestextes. Anknüpfungspunkt für eine semantische Auslegung und entscheidendes Kriterium für die Begrenzungsfunktion ist daher der Wortlaut der Vorschrift selbst, nicht der hierzu eventuell abgefasste Begründungstext. Die Vorstellung, den „Willen des Gesetzgebers“ anhand von Begründungstexten ermitteln und an Stelle des Normtextes für „eigentlich“ maßgeblich zu halten, ist verfassungsrechtlich unhaltbar und in tatsächlicher Hinsicht illusionär.

431

Die Vorstellung eines für die Auslegung des Gesetzes maßgeblichen „Willens des Gesetzgebers“ („Subjektive Theorie“) oder auch eines „Willens des Gesetzes“ („Objektive Theorie“) wird dem komplexen Vorgang von Rechtserzeugung im demokratischen Rechtsstaat nicht gerecht. Konkretisierung ist nicht Nachvollzug eines vorformulierten Willens (vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Auflage 2009, S. 267 ff.; S. 490 ff. und dies.: Juristische Methodik, Band 2: Europarecht, 3. Auflage 2012, S. 521 ff.). Dies beruht zunächst darauf, dass es in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes einen „Gesetzgeber“ nicht gibt, dessen monolithischer Wille unmittelbare Geltung beanspruchen könnte. Von einem „gesetzgeberischen Willen“ lässt sich nur metaphorisch sprechen und auch das nur bezogen auf das Ergebnis eines konkreten Gesetzgebungsvorgangs (SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 65). Aufgabe der Rechtsprechung ist es daher nicht, politischen Willen zu exekutieren, sondern gesetztes Recht in die Praxis umzusetzen, d.h. als verbindliche Eingangsdaten für die Konkretisierung von Rechtsnormen heranzuziehen und somit Gesetzesbindung herzustellen. Hier verläuft auch die Grenze zwischen Normbegründungs- und Normanwendungsdiskursen.

432

Die in den Gesetzgebungsmaterialien auffindbaren Aussagen können hierbei wichtige und ausschlaggebende Argumente für die Auslegung des Gesetzestextes liefern, sie sind aber nicht verbindlich; sie gelten nicht. Vor allem geben die darin enthaltenen Aussagen den Gerichten keine Legitimation für eine Entscheidungsbegründung gegen den Gesetzestext, über den Gesetzestext hinaus oder unter Außerachtlassung des Gesetzestextes. Es ist nicht der Verfasser der Gesetzesbegründung, der dem Gesetz seinen Geltungsanspruch verschafft, sondern der parlamentarische Beschluss, der nur den amtlichen Gesetzeswortlaut, nicht jedoch die Gesetzesbegründung legitimiert.

433

Die Bedeutung der Wortlautgrenze als verfassungsrechtlichen Bezugspunkt für das Gesetzesbindungsgebot im Hinblick auf die Auslegungsbedürftigkeit von Texten jeglicher Art für obsolet zu erklären und stattdessen den „normativen Willen der Gesetzgebung“ zur Richtschnur der Auslegung zu machen (so Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Auflage 2011, S. 431 ff.), unterschätzt die Möglichkeiten semantischer Argumentation und überschätzt die Möglichkeiten der Ermittlung eines „gesetzgeberischen Willens“.

434

Auch eine Wortlautgrenze muss argumentativ erarbeitet und kann kontrovers diskutiert werden. Diese Tatsache macht die Annahme einer Wortlautgrenze aber nicht überflüssig, widerlegt nicht die Idee der Wortlautbindung (Hochhuth, Rechtstheorie 2011, S. 229). Im Gegenteil: sie fordert Gerichte dazu auf, ihre Entscheidungen anhand des Gesetzestextes zu rechtfertigen, Grenzziehungen zwischen Gesetzesbindung und Rechtsfortbildung sichtbar zu machen und die entsprechenden Konsequenzen für die Entscheidungsmöglichkeiten zu ziehen. Im Normalfall ist die Wortlautgrenze mit den Mitteln sprachlicher Kommunikation bei hinreichend präziser Arbeitsweise auch nicht allzu schwierig zu ziehen (vgl. wiederum Hochhuth, Rechtstheorie 2011, S. 227 ff.). Verstöße gegen das Gesetzesbindungsgebot resultieren dementsprechend zumeist auch nicht aus Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Wortlautgrenze, sondern werden regelmäßig offensiv damit begründet, dass sich das Gericht zur Überschreitung des Gesetzeswortlauts berechtigt sieht, sei es durch „erweiternde Auslegung“, „analoge Anwendung“, „Erst-Recht-Schluss“ oder mittels einer falsch verstandenen „verfassungskonformen Auslegung“ (s.o. unter 2.5 b).

435

Tatsächlich werden keine Gerichtsentscheidungen zu finden sein, die sich auf den „Willen des Gesetzgebers“ berufen und für dessen Inhalt wesentlich mehr Evidenz aufbieten können als ihre eigene Interpretation der jeweiligen Begründungstexte, die die Unsicherheiten jeder Form von sprachlicher Kommunikation ebenso in sich tragen, wie die Gesetzestexte selbst; wobei die Unsicherheit bezüglich konkreter Urheberschaft und Manipulationsanfälligkeit von Begründungstexten noch hinzutritt. Es gibt kein methodisches oder verfassungsrechtliches Argument, welches das Ergebnis der Auslegung eines Begründungstextes als vorrangig gegenüber der semantischen Auslegung eines Gesetzestextes behaupten könnte.

436

Durch das von einer subjektiv-teleologischen Theorie postulierte Primat der gesetzgeberischen Zwecksetzung wird letztendlich nicht das Ergebnis des Normbegründungsdiskurses in Form des Gesetzeswortlauts als Fixpunkt für die Interpretation genommen, sondern durch unmittelbaren Rückgriff auf Argumente aus dem Normbegründungsdiskurs der Gesetzeswortlaut als verbindliches Eingangsdatum des Konkretisierungsprozesses der Manipulation ausgesetzt. Ausgangspunkt der Entscheidung des Einzelfalls ist dann nicht mehr die tatsächliche, prozedural legitimierte Regelung, sondern eine hypothetische Regelung, wie sie „der Gesetzgeber“ zur möglichst reibungslosen Umsetzung seiner (vermeintlichen) Ziele nach der Vorstellung des Interpreten hätte treffen müssen. Jedenfalls im Bereich des öffentlichen Rechts, insbesondere, wenn derartige Manipulationen zu Lasten der Bürger ausfallen, ist eine solche Vorgehensweise aus rechtsstaatlicher Perspektive fatal. Denn der Rechtsuchende bleibt hierdurch gegenüber der Staatsmacht sogar dann machtlos, wenn er sich auf gesetztes Recht berufen kann (exemplarisch neben dem bereits behandelten Leistungsausschluss von Unionsbürgern durch „Erst-recht-Schluss“ – s.o. unter 2.5 – z. B. BSG, Urteil vom 26.06.2013 – B 7 AY 6/12 R – Rn. 10 ff.). Das von Verfechtern des subjektiv-teleologischen Ansatzes verfolgte richtige Ziel, die Rechtsprechung demokratisch zu disziplinieren (vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Auflage 2011, S. 418 f.), wird hiermit nicht erreicht.

437

Die Vorstellung, einen „eindeutigen Willen des Gesetzgebers“ anhand des Begründungstextes eines Gesetzentwurfs ermitteln zu können, diesen dann für im Verhältnis zum Gesetzestext eigentlich maßgeblich zu erklären und eine von diesem „eindeutigen Willen“ abweichende Auslegung als Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip und/oder als unzulässige richterliche Rechtsfortbildung zu klassifizieren (statt vieler: SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – Rn. 28; vgl. auch Bernsdorff, NVwZ 2016, S. 634, m.w.N. unter Fn. 15), ist daher methodisch und verfassungsrechtlich verfehlt.

438

Im Konfliktfall gegenüber dem auf die Gesetzgebungsmaterialien gestützten genetischen Argument vorrangige Auslegungsargumente sind neben der semantischen beispielsweise die verfassungskonforme Auslegung, die europarechtskonforme Auslegung und der Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I) sowie der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, weil diese sich auf Normtexte verschiedener Hierarchieebenen zurückführen lassen, die im Unterschied zu Nicht-Normtexten (wie Gesetzesmaterialien oder rechtswissenschaftliche Literatur) einen durch legitime Rechtsetzung legitimierten Geltungsanspruch haben.

439

f) Das Argument der verfassungskonformen Auslegung würde die hier vertretene Auffassung im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums daneben (nur) dann stützen, wenn hierdurch ein verfassungsgemäßes Ergebnis erzielt werden könnte; das Argument setzt sich nur bei vollständigem Erfolg durch. Der Grundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte (§ 2 Abs. 2 SGB I) würde als Optimierungsgebot hingegen unabhängig von der Erreichbarkeit eines bestimmten Ziels das Ergebnis der semantischen und systematischen Auslegung stützen.

440

Selbst wenn der Gegenauffassung, die den von § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personen auch den Leistungsausschluss nach § 21 Satz 1 SGB XII entgegenhält, zugestanden würde, sich noch innerhalb der Wortlautgrenze der Vorschrift des § 21 Satz 1 SGB XII zu bewegen (was hiermit ausdrücklichnicht getan wird), würden die Argumente der verfassungskonformen Auslegung (in diesem Sinne Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 27.11.2015 – L 6 AS 205/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 205/15 B ER - PKH – Rn. 18; im Ergebnis ebenso: Greiser, jM 2016, S. 159) – sofern zielführend – und des Grundsatzes der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte die aus den Gesetzesmaterialien gewonnenen Argumente überwiegen. Die Gegenauffassung ist daher aus verschiedenen Gründen rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

441

4.2.2 Auf der Grundlage der Anwendbarkeit des SGB XII auch im Hinblick auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personenkreis folgen die näheren ausländerspezifischen Anspruchsvoraussetzungen aus § 23 SGB XII.

442

Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII zu leisten. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen jedoch keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII soll Hilfe bei Krankheit nur zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung geleistet werden, wenn sie (die von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Ausländer) zum Zwecke einer Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist sind.

443

In § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist demnach ein dem § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf dem ersten Blick entsprechender bzw. im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis noch weitergehender Leistungsausschluss normiert.

444

a) Der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII verstößt – anders als § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nicht generell gegen Art. 4 VO (EG) 883/2004, weil von den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII lediglich die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII als besondere beitragsunabhängige Leistung im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren ist, deren Anwendung nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII jedoch ohnehin unberührt bleibt, wobei anhand der systematischen Stellung diskussionswürdig ist, ob § 23 Abs. 3 SGB XII für diesen Personenkreis tatbestandlich trotzdem greift.

445

b) Vorliegend kann offenbleiben, ob die Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII bei erwerbsfähigen Angehörigen der EFA-Signatarstaaten auf Grund des Gleichbehandlungsgebots des Art. 1 EFA nicht zur Anwendung kommt (bejahend: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – Rn. 22 ff.). Dies würde zwar dazu führen, dass ein Teil der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII hätten und hierdurch ihr Existenzminimum gesichert sein könnte. Diese Rechtsfolge würde die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II jedoch nicht verhindern, da dieser Ausschlusstatbestand einen erheblich größeren Personenkreis erfasst(SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 79).

446

c) Ein gebundener Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII ist für einen Teil des vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis daher ausgeschlossen (so ausdrücklich auch BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51).

447

d) Den vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII betroffenen Personen können jedoch Leistungen u.a. zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII im Ermessenswege erbracht werden (so über den Umweg des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII im Ergebnis auch BSG, Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.; Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R; Urteile vom 20.01.2016 – B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R).

448

Entgegen der früheren Auffassung der Kammer (SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER – Rn. 51 ff.; so auch: SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER – Rn. 76 bezogen auf einen Rückgriff auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII) ist die Erbringung von Ermessensleistungen durch § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nicht ausgeschlossen. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII stellt vielmehr eine Spezialregelung zu § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII dar, die den dort geregelten gebundenen Anspruch bezüglich bestimmter Leistungsarten des SGB XII für den in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII umschriebenen Personenkreis auf einen Anspruch auf eine Ermessensentscheidung des Sozialhilfeträgers herabstuft. Dies ergibt sich aus der näheren Gesetzessystematik.

449

aa) Die in Gesetzgebungstechnik und Rechtspraxis etablierten Standards der Gesetzessystematik stellen lediglich Abkürzungen für bestimmte sprachliche Operationen dar, die die Lesbarkeit von Gesetzestexten erhöhen und deren Umfang reduzieren sollen. Die Verwendung solcher Gesetzgebungstechniken bindet die Gerichte in gleichem Maße wie der Wortlaut des Gesetzestextes in seiner Begrenzungsfunktion. Durch die Verwendung bestimmter Regelungstechniken entsteht eine Textsemantik, die sich nicht isoliert auf bestimmte Wörter oder Formulierungen, sondern auf die Gesetzesstruktur bezieht, beispielsweise durch eine bestimmte Reihenfolge der Einzelvorschriften im Gesetzestext. Dies gilt auch für den Grundsatz, dass die speziellere Regelung die allgemeinere verdrängt, denn auch etablierte Regelungstechniken, deren Rezeption im Rechtsanwendungsdiskurs erwartet werden kann, gehören zum verbindlichen Normprogramm einer gesetzlichen Regelung. Diskutierbar ist dann zwar die Frage, ob eine solche Reglungstechnik im Einzelfall tatsächlich vorliegt, nicht jedoch die Frage, ob sie im Falle ihres Vorliegens zur Geltung kommen muss.

450

bb) § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist in diesem Sinne eine Spezialregelung gegenüber § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, da für die Anwendbarkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII („Ausländer“) vorliegen und weitere Voraussetzungen (Einreise zur Erlangung von Sozialhilfe oder Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche) hinzutreten müssen. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII schließt als Rechtsfolge somit jedenfalls einen gebundenen Anspruch auf Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aus. Die ergänzende Regelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII bezieht sich wiederum ausschließlich auf § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, der selbst nur einen Anspruch für bestimmte Leistungsarten des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft, Hilfe zur Pflege) konstituiert. § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ermöglicht daneben beispielsweise die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen und Hilfe in besonderen Lebenslagen für den in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Personenkreis. Wenn der Ausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII jegliche Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ausschließen würde, unterlägen auch die im Ermessen des Sozialhilfeträgers stehenden Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII der nachfolgenden Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII.

451

cc) Die unter isolierter Betrachtung des Wortlauts des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII streitbare Frage, ob die Formulierung „haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe“ bedeutet, dass jegliche Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen sind oder lediglich, dass der Sozialhilfeträger zur Erbringung von Sozialhilfeleistungen nicht verpflichtet ist, sondern sie nur auf Grund einer Ermessensentscheidung erbringen kann (so das BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51), lässt sich anhand der näheren Gesetzessystematik zu Gunsten der letzteren Auffassung klar beantworten, die letztlich auf einer Gegenüberstellung des Anspruchsbegriffs des § 38 SGB I zur Ermessensleistung (§ 39 SGB I) beruht. Denn die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB II setzt implizit zwingend voraus, dass den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Personen Leistungen der Sozialhilfe erbracht werden können, obwohl sie nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausdrücklich keinenAnspruch auf diese Leistungen haben. Ein Normverständnis dahingehend, dass § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII nur regeln würde, dass allein Ansprüche auf Hilfen zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgenommen sein sollen (so Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 39), lässt sich mit dem Wortlaut und mit dem engeren systematischen Zusammenhang der Vorschrift nicht vereinbaren.

452

§ 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII stellt zunächst hinsichtlich des Personenkreises eine Spezialregelung gegenüber § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dar, weil zur Auslösung der entsprechenden Rechtsfolgen die betroffenen Personen nicht nur Ausländer sein müssen (§ 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII), die entweder zu Erlangung von Sozialhilfe eingereist sind oder über ein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche verfügen (einschließlich Familienangehörige), sondern sie zusätzlich zum Zweck der Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist sein müssen. Die Rechtsfolge des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII besteht in einer durch eine Soll-Regelung gesteuerten Einschränkung einer in dieser Spezialregelung vorausgesetzten Möglichkeit der Erbringung weitergehender Leistungen. Dies ergibt sich aus der Verwendung des eine Einschränkung anzeigenden Wortes „nur“ im Zusammenhang mit dem voranstehenden „insoweit“, das auf den gegenüber der Regelung in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII weiter eingeschränkten Personenkreis nach dem ersten Halbsatz des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII verweist. Die nach der Logik des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII als (mindestens) möglich vorausgesetzte Erbringung von Leistungen der Hilfe bei Krankheit (§ 48 SGB XII) wird im zweiten Halbsatz des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII für den Regelfall („intendiertes Ermessen“) auf die Behebung akut lebensbedrohlicher Zustände und auf unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlungen schwerer oder ansteckender Erkrankungen beschränkt.

453

Hieraus folgt zwingend, dass die Erbringung von Hilfen bei Krankheit nach § 48 SGB XII in nicht von § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII erfassten Fällen erlaubt ist. Dies ist die logische Voraussetzung für die speziellen Rechtsfolgen des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII. Da der Anspruch auf Sozialhilfe in den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Fällen ausgeschlossen ist, verbleibt nur die im Rahmen der Grenzen des Wortlauts mögliche Auslegungsalternative, dass die Gewährung von Leistungen auf Grund einer Ermessensentscheidung hiervon nicht erfasst ist. Als positive Rechtsgrundlage für die Erbringung von Hilfe bei Krankheit kommt wiederum nur § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Betracht, da § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII in Folge seiner systematischen Beziehung zu § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Leistungen betrifft, die – anders als die Hilfe bei Krankheit – nicht von § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erfasst sind. § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII wird in den Fällen des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII daher lediglich auf eine Ermessensleistung herabgestuft, aus dem „ist (…) zu leisten“ wird ein „kann geleistet werden“.

454

Im derart erschlossenen Zusammenspiel zwischen § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII zeigt sich zugleich, dass nicht nur Hilfe bei Krankheit, sondern auch die übrigen in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Leistungsarten einschließlich der Hilfe zum Lebensunterhalt für den von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfassten Personenkreis erbracht werden können. Denn § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nimmt ohne Differenzierung von Leistungsarten auf die gesamte Sozialhilfe Bezug. Auf Grund dieses hinsichtlich der Leistungsarten allgemeinen (die gesamte „Sozialhilfe“), aber auf die Veränderung des Entscheidungsmodus (Ermessen statt gebundene Entscheidung) beschränkten Ausschlusstatbestand des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist die Möglichkeit der Gewährung von Leistungen im Ermessenswege nicht auf diejenigen Leistungsarten beschränkt, die generell (z.B. § 73 SGB XII) oder nur bei Ausländern auf Grund von § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII als Ermessensleistungen ausgestaltet sind.

455

dd) Ein weiterer Hinweis auf die Schlüssigkeit dieser Auslegung ergibt sich aus § 23 Abs. 2 SGB XII, der vorschreibt, dass Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG keine Leistungen der Sozialhilfe erhalten. Diese Regelung schließt durch die Bezugnahme auf den Erhalt von Sozialhilfeleistungen erkennbar auch Ermessensleistungen aus, nicht nur das subjektive Recht auf Leistungen der Sozialhilfe und liefert somit ein Indiz dafür, dass der abweichenden Formulierung im unmittelbar benachbarten § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII eine weniger weitgehende Funktion zukommt.

456

ee) Der vor dem Hintergrund des Gesetzesbindungsgebots im Allgemeinen und des § 31 SGB I im Speziellen fragwürdige Rückgriff auf einen (ungeschriebenen) „der Sozialhilfe systemimmanenten grundsätzlichen Anspruch auf Hilfe bei bedrohter Existenzsicherung“ (BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – Rn. 51) ist daher nicht erforderlich, um Ermessensleistungen nach dem SGB XII zu ermöglichen. Ein Rückgriff auf die Ermessensregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ist entgegen der Auffassung des 4. und des 14. Senats des BSG (Urteile vom 03.12.2015 – B 4 AS 59/13 R – Rn. 51 ff. – und B 4 AS 44/15 R – Rn. 36 ff.; Urteile vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R; Urteile vom 20.01.2016 – B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R) ebenfalls nicht notwendig und im Hinblick auf das Verhältnis dieser Regelung zum § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und der dort genannten Leistungsarten auch wenig plausibel.

457

ff) Die vielfach geäußerte heftige Kritik an den genannten Entscheidungen des BSG ist nicht nur deshalb ungerechtfertigt, weil dessen Rechtsauffassung – bis auf die mit der Frage der Ermessensreduzierung verbundene Annahme der Verfassungskonformität – im Ergebnis zutrifft, sondern auch auf Grund der Tatsache, dass nur auf diese Weise überhaupt eine Rechtsgrundlage gefunden werden kann, die die auch von fast allen Gegnern dieser Rechtsprechung zumindest rhetorisch für notwendig gehaltenen Leistungen bis zur Ausreise immerhin ermöglicht.

458

4.2.3 Durch die somit eröffnete Möglichkeit der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII und weiterer Leistungsarten der Sozialhilfe für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfassten Personenkreis kann ein verfassungsgemäßes Ergebnis jedoch nicht erreicht werden. Eine Ermessensvorschrift ist im Rahmen der gesetzgeberischen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht dazu geeignet, das Erfordernis einer gesetzlichen „Anspruchsnorm“ (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 96) zu erfüllen (so bereits SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 30).

459

a) Die Möglichkeit gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf Grund einer Ermessensentscheidung zu erbringen, genügt bereits nicht den Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen formell-gesetzlichen Anspruch, denn die Einräumung von Ermessen gegenüber der zuständigen staatlichen Stelle hinsichtlich der Frage,ob bei Hilfebedürftigkeit Leistungen erbracht werden, ist verfassungswidrig (s.o. unter I.9.2 und unter I.9.3). Mit der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt und anderer elementarer Bedarfe nur auf Grund einer Ermessensentscheidung der Verwaltung hat der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über die Gewährung existenzsichernder Leistungen nicht selbst getroffen, sondern die Entscheidungsmacht in erster Linie der Verwaltung und in zweiter Linie der Gerichte überlassen, Letzteres mit reduzierter Kontrolldichte. Aus dem Gesetz lassen sich auch keine weiteren Bestimmungen darüber entnehmen, ob der Sozialhilfeträger in bestimmten Fällen des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII der Sozialhilfeträger tatsächlich existenzsichernde Leistungen erbringen muss oder welche Gesichtspunkte er bei seiner Ermessensentscheidung zu berücksichtigen hat, sodass nicht einmal mittelbar eine Bindung der Verwaltung hergestellt wird. Die verfassungsrechtliche Anforderung der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mittels eines konkreten gesetzlichen Leistungsanspruchs ist daher nicht erfüllt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136).

460

b) Hierüber kann auch eine „verfassungskonforme Auslegung“ nicht hinweghelfen. Eine verfassungskonforme Auslegung ist nur unter Beachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts und unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik zulässig. Andernfalls würde die Verfassungskonformität der "ausgelegten" Vorschrift durch einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG und zugleich gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz erkauft. Das Argument der verfassungskonformen Auslegung kann nur entweder vollständig zum Erfolg führen oder gar nicht. Die verfassungskonforme Auslegung verlangt als Ergebnis eine vollständige Übereinstimmung mit dem Verfassungsrecht, nicht (nur) eine möglichst weitgehende Annäherung.

461

Vor diesem Hintergrund muss berücksichtigt werden, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums die Gewährleistung mittels konkreter, gebundener Leistungsansprüche verlangt, die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII demgegenüber gebundene Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen gerade ausschließt.

462

Die Argumentationsfigur der „Ermessensreduzierung auf Null“ stellt nur ein im Einzelfall legitimes Mittel zur Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte behördlicher Entscheidungen dar. Wird sie hingegen – wie es das BSG für die von ihm umschriebene Fallgruppe letztlich vorsieht – als Umdeutung einer Ermessensvorschrift in eine die Verwaltung bindende Anspruchsnorm verstanden, liegt hierin ein Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot, weil der gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum nicht nur im Einzelfall reduziert, sondern generell ausgeschaltet wird. Der zentrale Regelungsgehalt des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII, einenAnspruch auf Sozialhilfe für den betroffenen Personenkreis auszuschließen, wird hierdurch in sein Gegenteil verkehrt; er muss sogar in sein Gegenteil verkehrt werden, um im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu einem verfassungskonformen Ergebnis zu kommen.

463

Selbst unter der Voraussetzung, dass es auch Fälle geben kann, bei denen eine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (noch) nicht vorliegt und die Leistungsvoraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII gleichwohl (bereits) vorliegen (beispielsweise bei noch vorhandenem Schonvermögen) und hiermit verfassungsrechtlich ein Spielraum für Ermessensentscheidungen verbleiben könnte, würde hierdurch der Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot nicht verhindert, weil dennoch der Modus der Entscheidungsfindung entgegen der gesetzlichen Regelungsentscheidung von einer Ermessensentscheidung hin zu einem für bestimmte Fallkonstellationen gebundenen Anspruch grundlegend verändert würde.

464

Die Interpretation einer Rechtsvorschrift (hier: der Ausschluss des Anspruchs auf Sozialhilfe) in einer Weise, dass sie keine Auswirkungen hat, kommt im Ergebnis der Nichtanwendung dieser Norm gleich. Der Rechtsprechung steht es auf Grund der Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG) nicht zu, eine gesetzgeberische Regelungsentscheidung im Wege der Auslegung vollständig zu neutralisieren (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 433). Diese Situation ist wiederum von der Frage zu unterscheiden, ob eine sprachliche Wendung im Gesetzestext überhaupt eine anordnende Funktion im Sinne einer Regelungsentscheidung hat (s.o. unter 4.2.1 b).

465

c) Gerade auch mit der vom BSG vertretenen Linie eines Anspruchs auf Ermessensentscheidung für einen Aufenthalt von bis zu sechs Monaten Länge und einer „Ermessensreduzierung auf Null“ bei einem „verfestigten“ Aufenthalt von mehr als sechs Monaten, wird ein verfassungskonformes Ergebnis für die ersten sechs Monate offensichtlich noch nicht erreicht. Hierfür müsste schon von Beginn an eine Ermessensreduzierung auf Null in den Fällen angenommen werden, in denen Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne besteht. Denn die „einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss (…) ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden“ (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 94).

466

d) Die durch das BSG angenommene „Ermessensreduzierung auf Null“ für den Fall einer Verfestigung des Aufenthalts der betroffenen Personen vermag die defizitäre Gestaltung durch Ermessenseinräumung auch deshalb nicht zu beseitigen, weil die Voraussetzungen, die für diese Ermessensreduzierung gestellt werden, von den zuständigen Senaten des BSG entwickelt wurden und gerade nicht auf gesetzgeberische Entscheidungen zurückzuführen sind. Sie eignet sich daher von vornherein nicht dafür, die sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebende Pflicht, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136), zu erfüllen (s.o. unter I.9.3).

467

Die vielfältigen Auffassungen, die selbst auf dem Boden der Rechtsprechung des BSG im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen im Ermessenswege an den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis vertreten werden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 15 AS 185/15 B ER – Rn. 16 f.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 23 SO 46/16 B ER, L 23 SOL 23 SO 47/16 B ER PKH – Rn. 21 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 – L 15 SO 53/16 B ER – Rn. 23 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 14.04.2016 – L 4 AS 76/16 B ER – Rn. 8 ff, SG Halle (Saale), Beschluss vom 14.04.2016 – S 32 AS 1109/16 ER – Rn. 37 ff.; Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 23 Rn. 63.6, Stand 08.04.2016) bieten ein anschauliches praktisches Beispiel für die mangelnde Eignung von Ermessensvorschriften zur Herstellung von Gesetzesbindung und zur praktischen Gewährleistung von Rechten. Auch höchstrichterliche Rechtsprechung kann Bindungen letztlich nur im Einzelfall herstellen und sichern. Zur Durchsetzung darüberhinausgehender Geltungsansprüche ist sie weder befugt noch tatsächlich in der Lage (vgl. im Hinblick auf die Gewährung von Vertrauensschutz in höchstrichterliche Rechtsprechung: SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 74 ff.).

468

Aus diesem Grund ist die Kopplung der Gewährung von existenzsichernden Leistungen dem Grunde nach an die Ermessensausübung einer Behörde nicht nur in legitimatorischer, sondern auch in funktioneller Hinsicht nicht dazu geeignet, die Bestimmtheitsanforderungen an die gesetzgeberische Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu erfüllen.

469

4.3 Auch andere Möglichkeiten, Leistungen nach dem SGB XII zu erhalten, können den Verfassungsverstoß nicht vermeiden. Insbesondere lässt sich ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht auf § 73 SGB XII stützen (so aber LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER – Rn. 66 f; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 – L 15 AS 202/14 B ER – Rn. 21 ff.; Hessisches LSG, Beschluss vom 18.09.2015 – L 7 AS 431/15 B ER – Rn. 21; wie hier: Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

470

Nach § 73 Satz 1 SGB XII können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Für den sowohl vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als auch vom Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII betroffenen Personenkreis kommt die Gewährung von Hilfe in besonderen Lebenslagen gemäß § 73 SGB XII zwar durchaus in Betracht, weil § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII nur gebundene Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen ausschließt (s.o. unter 4.2.2). Bei den Leistungen nach § 73 SGB XII handelt es sich um Ermessensleistungen.

471

Die vorherrschende, aus der Systematik der verschiedenen Leistungsarten des Sozialhilferechts und aus dem Begriff der „sonstigen Lebenslagen“ abgeleitete Interpretation des § 73 SGB XII, die eine Auffangfunktion für Bedarfslagen zu deren Befriedigung Leistungen des 3. bis 8. Kapitels des SGB XII vorgesehen sind, ausschließt (vgl. nur Böttiger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 73 Rn. 21 ff. m.w.N., Stand 29.07.2015) ließe sich unter Verweis auf den unbestimmten Rechtsbegriff der „sonstigen Lebenslagen“ mit Hilfe einer verfassungskonformen Auslegung notfalls überwinden. Die weitgehende Unbestimmtheit der Regelung führt aber zugleich dazu, dass sie den Bestimmtheitsanforderungen der gesetzlichen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.3) nicht genügen würde. Hiervon abgesehen sind Ermessensvorschriften zur Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch Einräumung eines konkreten gesetzlichen Leistungsanspruchs nicht geeignet (s.o. unter I.9.3 und unter 4.2.3).

472

4.4 Die betroffenen Personen haben auch keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG. Ansprüche auf Leistungen nach dem AsylbLG könnten bei Unionsbürgern (und Staatsangehörigen der anderen EWR-Staaten) und deren Familienangehörigen allenfalls gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG bei vollziehbarer Ausreisepflicht bestehen, die erst in Folge einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU eintreten kann (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 05.02.2015 – L 6 AS 883/14 B ER – Rn. 12). Auch für Nicht-Unionsbürger, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 16 Abs. 4, 18c, 30, 32 oder 33 AufenthG verfügen, käme ein solcher Anspruch aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG erst in Folge des Verlustes ihres Aufenthaltstitels in Betracht.

473

4.5 Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von Anspruchsgrundlagen aus dem SGB II, dem SGB XII oder dem AsylbLG liegen nicht vor (zum AsylbLG so auch Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 1a AsylbLG i.d.F. v. 20.10.2015, Rn. 22, Stand 08.04.2016; a.A. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.05.2011 – L 19 AS 431/11 B ER – Rn. 14).

474

a) Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gesetzesbindungsgebots aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG ist eine analoge Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte allenfalls dann zulässig, wenn eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht. Hiermit wird einem Dilemma Rechnung getragen, das aus dem Umstand entsteht, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind, d.h. sie müssen auch dann, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen. In Folge des Grundsatzes der Gesetzesbindung darf von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die analoge Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 – Rn. 29; SG Mainz, Urteil vom 11.01.2016 – S 3 KR 349/15 – Rn. 37; s.o. unter 2.5 b).

475

b) Eine analoge Anwendung von Leistungsansprüchen aus dem SGB II, dem SGB XII oder dem AsylbLG scheitert demnach bereits daran, dass eine Regelungslücke in diesem Sinne nicht besteht. Anhand des einfachen Rechts lässt sich die Frage nach der Anspruchsberechtigung auf Leistungen zur Gewährleistung des Existenzminimums von Personen, die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen sind, klar verneinen. Es verbleibt lediglich die Möglichkeit, im Ermessenswege Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII zu erbringen. Daher liegen bereits die formalen, aus dem Gesetzesbindungsgebot und dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes abgeleiteten Voraussetzungen für eine analoge Anwendung anderer Regelungen nicht vor.

476

c) Hiervon abgesehen, ist auch materiell-verfassungsrechtlich in Folge der sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebenden Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.- Rn. 136), eine analoge Anwendung nicht einschlägiger Rechtsvorschriften betreffend die Gewährleistung existenzsichernder Leistungen ausgeschlossen.

477

d) Zuletzt steht die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, wozu die Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII und nach dem BAföG (nicht jedoch nach dem AsylbLG) gehören, unter dem Gesetzesvorbehalt des § 31 SGB I, was einem einfachrechtlichen Analogieverbot gleichkommt.

478

e) Demzufolge muss auch der Auffassung des 4. Senats des LSG Hamburg (Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9), den verfassungsrechtlichen Vorgaben könne dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen eingeräumt werde, widersprochen werden. Das LSG Hamburg führt hierzu aus:

479

„Welche Leistungen unabweisbar sind, hängt dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland kommt in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht (Überbrückungsleistungen). Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (…) oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (…) herzuleiten ist oder ob in entsprechenden Fällen von einer atypischen Bedarfslage auszugehen ist, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) rechtfertigt.“

480

Das Fehlen bzw. der Ausschluss eines verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen Anspruchs auf eine Leistung kann nicht zur Vermeidung des verfassungswidrigen Zustands dadurch ausgeglichen werden, dass nicht einschlägige Anspruchsgrundlagen „entsprechend“ herangezogen oder Ansprüche direkt aus der Verfassung abgeleitet werden (vgl. hierzu auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285). Konkret ist die Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Form einer gebundenen Entscheidung durch § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen. Diese Regelung oder andere dennoch „entsprechend“ anzuwenden, würde gegen das Gesetzesbindungsgebot verstoßen. Die weiter geäußerte Behauptung, der durch das Gericht beschriebene Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form unabweisbar gebotener Leistungen sei ein (nach dem BVerfG verfassungsrechtlich gebotener) „gesetzlicher Anspruch“, selbst wenn seine „konkrete Ausgestaltung im Einzelfall“ nicht direkt aus dem Gesetz ablesbar sei (LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 10), ist in sich widersprüchlich.

481

f) Soweit der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen die Anwendung von Vorschriften des SGB XII oder des AsylbLG im Rahmen einer „Rechtsfolgenanwendung“ vorschlägt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.09.2012 – L 7 AS 758/12 B ER – Rn. 14), ohne allerdings nähere Ausführungen zur methodischen Grundlage zu machen, handelt es sich der Sache nach ebenfalls um eine Variante des hier unzulässigen Analogieschlusses.

482

4.6 Andere Ansprüche auf Sozialleistungen, die das Existenzminimum bei Vorliegen des Ausschlusstatbestands des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für alle hiervon Betroffenen vollständig sichern könnten, bestehen nicht. Sozialleistungen wie Kindergeld. Kinderzuschlag, Elterngeld und Wohngeld werden nur in bestimmten Lebenssituationen erbracht und sind unabhängig von ihren aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen zur vollständigen Bedarfsdeckung weder konzipiert noch geeignet.

483

4.7 Ein konkreter Anspruch auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums lässt sich auch nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten (so aber Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de; offenlassend: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht). Die Schaffung konkreter Leistungsansprüche im Rahmen einer Übergangsregelung durch das BVerfG (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 100 ff.) stellt nicht die unmittelbare Ableitung eines konkreten Anspruchs aus der Verfassung dar – in einem solchen Fall, wäre die dem Normenkontrollverfahren zu Grunde liegende Regelung nicht für verfassungswidrig erklärt worden, weil sie die Grundrechtsverwirklichung nicht verhindert hätte – sondern ein verfassungsprozessrechtliches Hilfsinstrument, um bis zur Behebung des verfassungswidrigen Zustands durch den Gesetzgeber die Grundrechte vorläufig zu wahren. Die vorläufige Regelung entbindet den Gesetzgeber nicht aus der sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergebenden Pflicht, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 136). Das Fehlen eines gesetzlichen Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums kann daher nicht richterrechtlich kompensiert werden (vgl. Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Auflage 2011, S. 287).

484

Soweit im Übrigen in den Entscheidungen des BVerfG von einem unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch die Rede ist, soll hiermit wohl lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass (nur) die Gewährung derjenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind, nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 135).

485

4.8 Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist demnach verfassungswidrig, weil sie ohne Kompensationsmöglichkeit in einem anderen Leistungssystem durch einen konkreten gesetzlichen Leistungsanspruch bestimmte Gruppen von im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftigen Grundrechtsträgern mit tatsächlichem Aufenthalt im Inland von Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließt (s.o. unter I.9.2).

486

5. Die durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterbliebene Grundrechtsverwirklichung und die somit verfassungsrechtlich defizitäre Gestaltung einfachen Rechts, kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

487

5.1 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht eingeschränkt werden, denn es gewährleistet gerade das Mindestmaß dessen, was jeder Mensch beanspruchen kann. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Unverfügbarkeit resultiert aus der Fundierung des Grundrechts in der Menschenwürdegarantie (zum Ganzen s.o. unter I.6). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen oder Unterlassungen, sodass jeder mögliche sachliche Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Einschränkung hieraus resultierender Ansprüche entfällt.

488

Gesetzliche Leistungsausschlüsse dem Grunde nach – wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelt – bei Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht erfüllen, sind deshalb per se verfassungswidrig und einer Rechtfertigung von vornherein nicht zugänglich. Dementsprechend kann eine derartige Einschränkung auch nicht auf Zumutbarkeitserwägungen oder Verhältnismäßigkeitsprüfungen gleich welcher Art gestützt werden. Für dieses Ergebnis bedarf es nicht erst des Rückgriffes auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (in diese Richtung: Bayerisches LSG, Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 59), da eine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG bereits nicht besteht.

489

a) Hieran vermag auch der wohl zuerst von verschiedenen Senaten des Bayerischen Landessozialgerichts (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 32; Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 37; so auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 26) herangezogene Hinweis auf die Nichtannahmebeschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und 08.10.2014 (1 BvR 886/11), mit denen die 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG den grundsätzlichen Leistungsausschluss für Auszubildende und Studierende nach § 7 Abs. 5 SGB II unbeanstandet gelassen hat, nichts zu ändern. Die dort geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 13), obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsehen, stellt einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der im Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik dar und dürfte deshalb nicht aufrechtzuerhalten sein (so bereits SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 220). Keinesfalls rechtfertigen die Ausführungen in diesen Beschlüssen die Annahme, das BVerfG sei generell der Auffassung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums könne eingeschränkt werden (so aber wohl Bayerisches LSG, Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 32: „Dem entnimmt das Beschwerdegericht, dass ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen in bestimmten Lebenssituationen grundsätzlich möglich ist.“).

490

Hiervon abgesehen ist die Situation von Auszubildenden oder Studierenden mit derjenigen der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen in zentralen Punkten nicht vergleichbar (so auch Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 27.11.2015 – L 6 AS 205/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 205/15 B ER - PKH – Rn. 20). Während Auszubildenden und Studierenden im Allgemeinen rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit offensteht, Studium oder Ausbildung abzubrechen und hierdurch die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II zu beseitigen, kann die Ausreise eines vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen in den Herkunftsstaat durch tatsächliche (z.B. wirtschaftliche) Hindernisse erschwert oder unmöglich sein. Darüber hinaus führt eine Ausreise zwar zum Wegfall des Ausschlussgrundes, zugleich aber wegen der hiermit notwendig verbundenen Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland zum Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und damit des Leistungsanspruchs. Anders als im Falle des Auszubildenden oder Studierenden durch Studien- bzw. Ausbildungsabbruch kann der vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffene durch Ausreise den Anspruch auf Leistungen durch vermeintlich zumutbare Handlungen gerade nicht herbeiführen.

491

b) Aus der Uneinschränkbarkeit des Grundrechts folgt, dass das einfache Recht Leistungsausschlüsse nur in Fällen vorsehen darf, in denen eine der (neben dem Menschsein) zwei Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht nicht vorliegt, also entweder kein Aufenthalt im Inland gegeben ist (s.o. unter I.7.2) oder keine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne vorliegt (s.o. unter I.7.3). Leistungseinschränkungen sind bei Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen nur zulässig, soweit auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung (der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs) im Vergleich zu den gesetzlich ausformulierten Mindestanforderungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Inhaltsbestimmung) ein quantitativer oder qualitativer Spielraum besteht, der eine tragfähig begründbare Differenzierung erlaubt (s.o. unter I.9.1 und I.9.4).

492

Auf der ersten Ebene der Grundrechtskonkretisierung kommt eine Differenzierung nur auf Grund abweichender Bedarfslagen in Betracht (s.o. unter I.9.4). Das hiernach bestimmte Existenzminimum muss jedoch auch dann durch staatliche Sozialleistungen gewährleistet werden, wenn bestehende Selbsthilfemöglichkeiten (z.B. Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) tatsächlich nicht genutzt werden, gleich aus welchem Grund. Dies gilt entgegen einer weit verbreiteten Auffassung in der Rechtsprechung (vgl. nur LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30; LSG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 und vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2238/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22 f.; Bayerisches LSG, Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 33; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 B ER – Rn. 36 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9 f.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht; s.o. unter A.V.1.3) auch dann, wenn eine Selbsthilfemöglichkeit darin bestehen könnte, in den Herkunftsstaat auszureisen und dort Fürsorgeleistungen in Anspruch zu nehmen (so auch BSG, Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 42 mit Erörterungen zur Reichweite des Nachranggrundsatzes).

493

Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis können alle Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht gegeben sein. Die Betroffenen halten sich – definitionsgemäß, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II – im Inland auf und sind im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, was Fälle der Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3) einschließt. Die Regelung ist daher – unabhängig davon, dass in Einzelfällen eine individuelle Grundrechtsverletzung auch fehlen kann – verfassungswidrig. Vor diesem Hintergrund ist es für die verfassungsrechtliche Prüfung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unerheblich, ob im von der Behörde oder dem Gericht zu prüfenden Einzelfall eine Rückkehrmöglichkeit in einen Staat mit existenzsicherndem Sozialhilfesystem besteht, selbst wenn – entgegen der hier vertretenen Auffassung – davon ausgegangen würde, dass bereits eine solcheMöglichkeit die Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne entfallen lassen würde. Denn es lässt sich angesichts der prinzipiellen Reichweite des Ausschlusstatbestands (s.o. unter 2), der Personen jedweder Staatsangehörigkeit (außer der deutschen) treffen kann, nicht ernsthaft behaupten, diese Möglichkeit stünde allen potenziell betroffenen Personen zur Verfügung.

494

5.2 Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kann verfassungsrechtlich auch nicht durch Rückgriff auf Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG gerechtfertigt werden.

495

a) Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG stellt keine Regelung dar, die angesichts dessen, dass auch sekundäres Unionsrecht gegenüber mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht vorrangig sein soll, von der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des deutschen Staates auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dispensieren könnte. Durch die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG wird den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit gelassen, in bestimmten Konstellationen Unionsbürger von den nationalen Sozialhilferegelungen auszunehmen. Dass die Mitgliedstaaten hierbei die Grenzen ihres jeweiligen Verfassungsrechts einhalten müssen, wird hierdurch nicht in Frage gestellt (so auch Kingreen, SGb 2013, S. 137; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 – L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 16). Solange es diesbezüglich bei der bloßen Ermächtigung bleibt und der Ausschluss von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern in bestimmten Fällen nicht zur mitgliedstaatlichen Pflicht erhoben oder unmittelbar durch Unionsrecht festgelegt wird, besteht auch kein Konflikt zwischen den verschiedenen Regelungsebenen. Käme es hingegen tatsächlich zu einer unionsrechtlichen Regelung, die dem deutschen Staat die Gewährung existenzsichernder Leistungen an bestimmte Personengruppen verböte, würde dies eine Überprüfung der auf Eingriffe in Freiheitsrechte gemünzten Rechtsprechung des BVerfG zur zurückgenommenen verfassungsrechtlichen Kontrolldichte bei Rechtsakten der EU (BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Rn. 117 – „Solange II“ –; BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 22 BvR 2159/92 – Rn. 70 – „Maastricht“ –; BVerfG, Beschluss vom 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 – Rn. 55 ff. – „Bananenmarktverordnung“ –) erzwingen, weil die Verankerung eines durchsetzbaren Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf europarechtlicher Ebene nicht ersichtlich ist und mit den Konstruktionsprinzipien der EU wohl auch nicht ohne Weiteres vereinbar wäre, solange die EU sich nicht selbst als unmittelbar leistungsverpflichtet konstituiert.

496

b) Hiervon abgesehen wird durch Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eingeräumt, bestimmte freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger von der Gewährung von Sozialhilfeleistungen auszunehmen. Eine Rechtfertigung zum Leistungsausschluss für Angehörige anderer Staaten oder Staatenloser, die über § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst sind, kann daher von vornherein nicht auf diese Regelung gestützt werden.

497

5.3 Sowohl aus der Uneinschränkbarkeit des Grundrechts als auch auf Grund des (über Unionsbürger hinausgehenden) vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreis ergibt sich, dass auch eine Rechtfertigung für den Leistungsausschluss aus „dem europäischen Konzept einer Freizügigkeit“ ohne Herstellung einer Sozialunion von vornherein nicht in Betracht kommt (so aber LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 10;ähnlich SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 40). Die Freizügigkeit ist lediglich eine tatsächliche Ursache dafür, dass es vielen Menschen möglich ist, sich in Deutschland legal aufzuhalten. Menschen, die von dieser Freizügigkeit Gebrauch machen, begeben sich weder durch den Übertritt über die Staatsgrenze ihrer Menschenrechte, noch können sie ihnen mit dem Argument vorenthalten werden, sie könnten sich auch wieder außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes begeben (anschaulich Kanalan, Verfassungsblog 2016/3/01, www.verfassungsblog.de, am Beispiel des Folterverbots).

498

Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums steht mangels Einschränkungsbefugnis in keinem Fall zur Disposition des Gesetzgebers. Demnach kann auch die einfachrechtliche Zuerkennung oder Aberkennung von Aufenthaltsrechten, wie im FreizügG/EU und im AufenthG geregelt, keinen Ausschluss und keine Einschränkung des Grundrechts rechtfertigen, unabhängig davon, ob das einfache Recht europarechtlich geprägt oder determiniert ist.

499

6. Die von zahlreichen Spruchkörpern der Sozialgerichtsbarkeit vertretene Auffassung, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße unabhängig von einer Kompensationsmöglichkeit durch ein anderes innerstaatliches Existenzsicherungsleistungssystem nicht gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter A.V.1.3), ist somit nicht haltbar.

500

6.1 In fast allen diesbezüglich ergangenen Gerichtsentscheidungen wird bereits der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG verkannt, indem eine mögliche Verfassungswidrigkeit nur anhand des zu entscheidenden Einzelfalls(so offenbar auch der 14. Senat des BSG in den Urteilen vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R – Rn. 36, B 14 AS 18/14 R – Rn. 34, B 14 AS 33/14 R – Rn. 33 und vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R – Rn. 32), allenfalls allein mit Blick auf die vom Leistungsausschluss betroffenen Unionsbürger geprüft wird (vgl. bereits LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30). Tatsächlich haben die Gerichte bei der Anwendung von Gesetzen deren Verfassungsmäßigkeit abstrakt zu prüfen, wenn sie die entsprechende Vorschrift für entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG halten. Dass es durch die Anwendung der für verfassungswidrig gehaltenen Vorschrift zu einer individuellen Grundrechtsverletzung des Verfahrensbeteiligten kommt, ist hierfür – anders für die Frage der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die Beschwerdebefugnis – nicht maßgeblich. Die Einbeziehung von Personen mit Aufenthaltstiteln nach § 16 Abs. 4 AufenthG und § 18c AufenthG wurde (außerhalb von Mainz) soweit ersichtlich in keiner veröffentlichten Entscheidung angesprochen, obwohl dieser Umstand bereits in der Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales benannt wurde (BT-Drucks. 16/688, S. 13). Vereinzelt wird sogar ausdrücklich behauptet, der Leistungsausschluss betreffe nur Unionsbürger (so SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 41). Auch inhaltlich wird dieser Umstand regelmäßig vollkommen ausgeblendet, was sich vor allem darin zeigt, dass alle Rechtfertigungsvarianten für den Leistungsausschluss ihre Argumente letztendlich aus dem europäischen Freizügigkeitsrecht und aus behaupteten europäischen Menschenrechtsstandards beziehen (vgl. nur LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 – und Bayerisches LSG – Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 31 ff.).

501

6.2 Weiter wird zumeist in eine Art Abwägungsprozess oder Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. SG Reutlingen, Urteil vom 23.03.2016 – S 4 AS 114/14 – Rn. 40 f.) eingestiegen, ohne die Frage zu thematisieren, ob das Grundrecht überhaupt in dem Sinne einschränkbar ist, dass bestimmte Personengruppen – gleich aus welchen Gründen – von allen existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen werden dürften. Gelegentlich wird die Befugnis zum Leistungsausschluss auch schlicht mit dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers begründet (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15 AS 30/10 B ER – Rn. 30). Wenn tatsächlich eine Einschränkungsbefugnis angenommen wird, erfolgt dies zumeist apodiktisch mit der Behauptung, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gelte nicht schrankenlos (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B – Rn. 39). Herangezogen wird auch die aus dem Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 (1 BvR 2556/09 – Rn. 13) entlehnte Formulierung, das Grundgesetz gebiete nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 24, Rn. 27), wobei keine Erwähnung findet, dass es bei der Entscheidung des BVerfG, bei der es um die Frage der Anrechnung bestimmter Einkommensarten ging, gerade auf die Bedarfsabhängigkeit ankam. Die Passage im Beschluss des BVerfG lautet vollständig folgendermaßen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 07.07.2010 – 1 BvR 2556/09 – Rn. 13):

502

„Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung von bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der Gesetzgeber hat vielmehr einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, sonstiges Einkommen des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet wird (…).“

503

Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis geht es weder um bedarfsunabhängige noch um anderweitig voraussetzungslose Gewährung von Sozialleistungen, so dass der Verweis auf diesen Beschluss des BVerfG offensichtlich fehlgeht.

504

Die vorgetragenen Argumente zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses stehen daher regelmäßig ohne Einbindung in eine strukturierte verfassungsrechtliche Prüfung unvermittelt im Raum (vgl. die These des SG Freiburg, „dass es nicht Aufgabe des Sozialleistungssystems sein kann, aufenthaltsrechtliche Vollzugsdefizite durch die Gewährung so im Gesetz nicht vorgesehener existenzsichernder Leistungen zeitlich unbegrenzt „aufzufangen““, SG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 14.04.2016 – S 7 SO 773/16 ER – Rn. 55).

505

Der Frage nach der Einschränkbarkeit könnte jedenfalls auf dem Boden der Rechtsprechung des BVerfG nur mit der Behauptung ausgewichen werden, die betroffenen Personen erfüllten bereits die Voraussetzungen für den verfassungsrechtlichen Gewährleistungsanspruch nicht, d.h. sie seien keine Menschen (s.o. unter I.7.1), sie hielten sich tatsächlich nicht in Deutschland auf (s.o. unter I.7.2) oder sie seien nicht hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3). Da die ersten beiden Behauptungen im Falle des vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreises offensichtlich nicht zutreffen, könnte ein Gewährleistungsanspruch grundsätzlich nur an der fehlenden Bedürftigkeit scheitern (in diese Richtung z. B. SG Berlin, Urteil vom 14.01.2016 – S 26 AS 12515/13 – Rn. 113 – mit der These, dass laufende existenzsichernde Leistungen der Bundesrepublik Deutschland im Falle von Unionsbürgern bereits nicht „unbedingt erforderlich“ im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG im Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62 ff. – seien).

506

Hieran knüpft der in der Rechtsprechung weit verbreitete Versuch an, die Vorenthaltung der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat und der dortigen Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen zu rechtfertigen (s.o. unter 5.1 und unter A.V.1.3). Selbst wenn man aber den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für verfassungsmäßig halten würde, wenn die Betroffenen im Herkunftsland existenzsichernde Leistungen erhalten könnten, müsste diese Voraussetzung zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift nicht nur in sämtlichen 31 Staaten des EWR erfüllt sein, sondern auch in allen anderen Staaten der Welt, weil der Leistungsausschluss sich zugleich auch auf das Aufenthaltsrecht aus § 16 Abs. 4 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und auf das Aufenthaltsrecht aus §18c AufenthG bezieht. Diese Aufenthaltstitel sind nicht auf Angehörige bestimmter Staaten, insbesondere nicht auf Unionsbürger beschränkt.

507

Aber schon die Annahme, dass ein vergleichbares Existenzminimum in den anderen EU-Mitgliedstaaten gesichert sei, etwa weil diese sämtlich die Europäische Sozialcharta unterzeichnet hätten (so etwa SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 – S 30 AS 3827/15 ER – Rn. 38; vgl. auch SG Halle (Saale), Beschluss vom 22.01.2016 – S 5 AS 4299/15 ER – Rn. 22 und LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40), ist aus der Luft gegriffen. Aus der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Gewährung von Menschenrechten umstandslos auf deren vollständige Umsetzung in den jeweiligen Signatarstaaten zu schließen, ist, zurückhaltend formuliert, unrealistisch.

508

Dies zeigt aber letztlich nur, dass ein Verweis auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Sozialleistungen in anderen Staaten kein sinnvolles Kriterium zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines Leistungsausschlusses von existenzsichernden Leistungen bei transnationalen Sachverhalten ist. Die Gewährleistungspflicht des deutschen Staates für ein Existenzminimum gilt innerhalb der Staatsgrenzen für deutsche Staatsangehörige, ausländische Staatsangehörige und Staatenlose gleichermaßen und uneingeschränkt und unabhängig davon, ob vergleichbare Ansprüche in einem anderen Staat geltend gemacht werden könnten. Sie endet aber auch an den Staatsgrenzen, sodass ein Verstoß gegen das Existenzsicherungsrundrecht wohl nicht schon dann angenommen werden kann, wenn eine Person rechtmäßig in einen Staat abgeschoben wird, der über kein vergleichbares Existenzsicherungssystem verfügt (vgl. Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 1210.2015, S. 18).

509

Vor diesem Hintergrund ist es auch verfassungsrechtlich unerheblich, ob im von der Behörde oder dem Gericht zu prüfenden Einzelfall eine Rückkehrmöglichkeit in einen Staat mit existenzsicherndem Sozialhilfesystem besteht. Sofern § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für nichtig erklärt wird, fällt der Ausschlusstatbestand für alle hiervon betroffenen Personen weg, unabhängig davon, ob sie selbst zu der Fallgruppe gehören, die die Verfassungswidrigkeit der Norm begründet. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung ist daher in jedem Fall entscheidungserheblich, in dem der Ausschlusstatbestand greift. Deshalb sind die von verschiedenen Gerichten zumeist in Eilverfahren oberflächlich vorgenommenen Prüfungen der in den jeweiligen Herkunftsländern der Betroffenen bestehenden Sozialhilfesysteme (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40: Tschechien; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31: Rumänien; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS 2358/15 B: Slowakei; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27: Italien; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 38: Portugal) rechtlich ebenso bedeutungslos wie die Frage, ob bei dem Betroffenen im konkreten Einzelfall ein Hinderungsgrund für die Rückkehr in den Herkunftsstaat vorliegt.

510

6.3 Auch die zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses herangezogene These, der Gesetzgeber habe mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiteten, den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 26; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 34; SG Dortmund, Beschluss vom 23.11.2015 - S 30 AS 3827/15 ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1188/15 B ER), ist falsch. Der Nachrang gegenüber anderen Sozialleistungen wird im SGB II über die Einkommensanrechnungsvorschriften oder speziell im Verhältnis zu anderen deutschen Sozialleistungssystemen (§ 5 Abs. 2 SGB II), im SGB XII allgemeiner in § 2 Abs. 1 SGB XII sowie in den dortigen Einkommensanrechnungsvorschriften geregelt. Nachrangigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang lediglich, dass Leistungen nach dem SGB II und SGB XII nur erbracht werden, soweit die Leistungsberechtigten ihren Bedarf nicht durch andere Einkünfte, beispielsweise aus vorrangigen Sozialleistungen decken können. Die Leistungsausschlüsse des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII knüpfen aber tatsächlich nicht an den Umstand an, dass die betroffenen Personen über vorrangige Leistungsansprüche verfügen, sondern ordnen den Leistungsausschluss völlig unabhängig von der Frage an, ob derartige Ansprüche bestehen. Für den Fall, dass tatsächlich Sozialleistungen von ausländischen Trägern bezogen werden, würde der Nachrang ohnehin über die Einkommensanrechnung nach § 11 SGB II oder § 82 SGB XII hergestellt.

511

6.4 Das gelegentlich herangezogene Argument, dass das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) keine Aussage darüber enthalte, inwiefern es dem Gesetzgeber möglich sei, Personen ohne Aufenthaltsrecht Sozialleistungen zu verwehren oder Personen mit einem bestimmten, näher definierten Aufenthaltsrecht (beispielsweise dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche) vom Bezug von Sozialleistungen auszuschließen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER – Rn. 28; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 34), führt nicht weiter. Dass sich die Entscheidung des BVerfG nur über die Vereinbarkeit von Vorschriften des AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bezog, war dem dortigen Streitgegenstand geschuldet und ist für sich genommen selbstverständlich kein Argument für die Verfassungsmäßigkeit irgendeiner anderen Regelung.

512

Aus dem genannten Urteil den Schluss zu ziehen, das BVerfG würde die verfassungsrechtliche Situation im Hinblick auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II anders bewerten, würde eine vertiefte Auseinandersetzung mit den der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) zu Grunde liegenden Prämissen des BVerfG erfordern. Dass einzige erkennbare Argument, was speziell in Bezug auf das genannte Urteil hierfür regelmäßig vorgebracht wird, ist die mangelnde Vergleichbarkeit der Situationen von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG einerseits und Unionsbürgern andererseits, die darauf beruhen soll, dass Asylbewerber, die sich auf politische Verfolgung in ihren Heimatländern berufen, regelmäßig nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren könnten, dies bei der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personengruppe in der Regel aber ohne weiteres möglich sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 – L 12 SO 79/16 B ER – Rn. 35; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 31.08.2015 – L 3 AS 430/15 B – nicht veröffentlicht).

513

Bei Lektüre des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 2/11) fällt jedoch auf, dass der Aspekt einer unmöglichen oder unzumutbaren oder auch nur erschwerten Rückkehr in den Herkunftsstaat bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der gerügten Vorschriften des AsylbLG keine Rolle gespielt hat.Ausführlich behandelt wurde hingegen vor allem die Frage, inwiefern ein kurzfristiger Aufenthalt Abweichungen bei der Bedarfsbemessung zulässt (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 74). Es ist auch nicht erkennbar, dass das BVerfG in seinen Leitentscheidungen zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Ansätze für ein Differenzierungskriterium hinsichtlich der Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat formuliert hätte. Gerade das Urteil vom 18.07.2012 spricht eine deutlich andere Sprache (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 94):

514

„Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (…). Art. 1 Abs. 1 GG garantiert ein menschenwürdiges Existenzminimum, das durch im Sozialstaat des Art. 20 Abs. 1 GG auszugestaltende Leistungen zu sichern ist, als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht. Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten (…). Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.“

515

Unabhängig davon, dass sich den Entscheidungen des BVerfG selbst bislang kein Argument für die Auffassung entnehmen lässt, dass die dem Urteil vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) zu Grunde liegenden Prämissen für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreis nicht gelten könnten, hält die vorgenommene Unterscheidung anhand des Kriteriums der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer näheren Überprüfung nicht stand. Weder setzt ein Anspruch nach § 1 AsylbLG stets voraus, dass die berechtigte Person nicht in den Herkunftsstaat zurückreisen kann oder ihr dies nicht zuzumuten ist, noch kann bei dem von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfassten Personenkreis eine solche Situation ausgeschlossen werden. Leistungen nach dem AsylbLG erhalten insbesondere auch vollziehbar ausreisepflichtige Personen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG). Hiervon können insbesondere Ausländer erfasst sein, die keinen Asylantrag gestellt, ihren Asylantrag zurückgenommen haben oder die nach Ablehnung ihres Asylantrags noch nicht ausgereist oder abgeschoben worden sind (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 1 AsylbLG, Rn. 13, Stand 01.04.2016). Dies kann aber auch grundsätzlich freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger nach einer Verlustfeststellung betreffen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 – L 6 AS 1480/15 B ER, L 6 AS L 6 AS 1481/15 B – Rn. 17). Sowohl von der Leistungsberechtigung nach § 1 AsylbLG (insbesondere nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) als auch vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II können Personen jeder Staatsangehörigkeit außer der deutschen erfasst sein. Das Differenzierungskriterium der sozialen oder politischen Lage in den jeweiligen Herkunftsstaaten ist für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zwischen nach § 1 AsylbLG leistungsberechtigten und nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossenen Personen daher von vornherein nicht geeignet.

516

6.5 Unzutreffend ist auch die Auffassung, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht ausschließe, Leistungen nur insoweit vorzuhalten, wie es erforderlich sei, um einen Betroffenen in die Lage zu versetzen, dass er existenzsichernde Leistungen seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen könne und der Staat hierbei allenfalls gehalten sei, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung vorzuhalten (so aber LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22).

517

Hiergegen ist – abgesehen vom grundsätzlichen Einwand, dass der Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums weder von der Staatsangehörigkeit, noch vom rechtmäßigen Aufenthalt, noch von bestimmten Verhaltensweisen abhängen kann – einzuwenden, dass auf Grund der einander ergänzenden Ausschlussregelungen im SGB II und im SGB XII selbst der als notwendig angesehene Anspruch auf Reise- und Verpflegungskosten nicht besteht; allenfalls könnte auf Ermessensleistungen nach dem SGB XII zurückgegriffen werden. Selbst wenn man einen derartigen Anspruch für ausreichend zur Gewährleistung des Existenzminimums halten würde, wäre die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II somit nicht behoben. Darüber hinaus löst dieser Ansatz das Problem der Existenzsicherung für den Fall nicht, dass betroffene Personen tatsächlich nicht ausreisen, wozu sie auf Grund ihres Aufenthaltsrechts, welches eine Voraussetzung für den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II darstellt, schließlich nicht unmittelbar gezwungen werden können. Der elementare Lebensbedarf eines Menschen muss aber in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 72), so dass es mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums fundamental unvereinbar wäre, Menschen durch Vorenthaltung von existenzsichernden Leistungen faktisch zur Ausreise zu zwingen. Eine Pflicht zur Ausreise kann nur aufenthaltsrechtlich erzeugt und durchgesetzt werden.

518

6.6 Auch der Verweis auf den Nichtannahmebeschluss der 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 09.02.2001 (1 BvR 781/98) zu § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG in der Fassung vom 23.03.1994 (so z.B. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22) verfängt nicht (so bereits SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 20 f.). Zunächst handelte es sich bei dieser Entscheidung lediglich um einen Kammerbeschluss, der keine Bindungswirkung über den Einzelfall hinaus nach sich zieht. Im Unterschied zu § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sah die zur Überprüfung stehende Regelung auch keinen vollständigen Leistungsausschluss vor, sondern lediglich eine Beschränkung auf die “nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe”. Zudem stand den dort betroffenen Ausländern jedenfalls andernorts im Inland ein Leistungsanspruch zu, so dass sich der Staat seiner Gewährleistungspflicht auch hinsichtlich regulärer Leistungen nicht vollständig entzogen hatte. Aus heutiger Sicht wäre eine solche Regelung dennoch wohl unter dem Aspekt der mangelnden Bestimmtheit (s.o. unter I.9.3) als verfassungswidrig anzusehen. Es gibt letztlich keinen Grund für die Annahme, dass die genannte Entscheidung nach den Urteilen des BVerfG vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) und vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) noch den Stand der verfassungsrechtlichen Dogmatik wiedergibt (SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 21).

519

6.7 Die Auffassung, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoße, erweist sich nach alldem als unzutreffend. Praktisch wird von den diese Auffassung vertretenden Senaten der Landessozialgerichte sowie den Kammern der Sozialgerichte für ausreichend gehalten, dass die betroffenen Personen aus einem EU-Staat stammen, in den sie zurückkehren können (vgl. nur LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 und Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS 2358/15 B; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 38), wobei dies durch die den Leistungsausschluss konstituierende Regelung weder im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis noch im Hinblick auf die Rückkehrmöglichkeit vorausgesetzt wird.

520

Die Möglichkeit der dortigen Inanspruchnahme von Sozialleistungen und deren Niveau wird, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich geprüft und dann stets bejaht. Würde dieses Kriterium ernst genommen, wäre die Rechtslage im jeweiligen Herkunftsstaat deutlich genauer zu prüfen. Bei verbleibenden Zweifeln müssten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen zugesprochen werden.

521

Die genannte Auffassung läuft daher praktisch darauf hinaus, dass es dem Gesetzgeber jedenfalls nach deutschem Verfassungsrecht freistünde, alle ausländischen Staatsangehörigen von existenzsichernden Leistungen auszuschließen, die zumutbar in ihren Herkunftsstaat zurückreisen könnten. Es gäbe schließlich keinen Grund, weshalb der Gesetzgeber Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht auch oder sogar erst recht bei anderen Aufenthaltszwecken als dem der Arbeitsuche ausschließen dürfte. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums würde auf diese Weise auf ein Grundrecht für Deutsche, unter Umständen auch für Flüchtlinge und Asylberechtigte, reduziert.

522

Dem sind die klaren Ausführungen Kirchhofs führt zum (selbst mitverantworteten) Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) entgegenzuhalten (NZS 2015, S. 4):

523

„In der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz wurde nochmals klargestellt, dass die Menschenwürde nicht etwa nur Deutschen zukommt, sondern jeder Person, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhält. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt also nicht nur für „Hartz-IV-Bezieher“; es bleibt nicht bloßes Deutschen- oder Bürgerrecht. Ob Deutscher, Angehöriger eines Mitgliedstaates der EU oder Staatsangehöriger eines Drittstaates — Mensch ist man immer.

524

Es mag sein, dass soziale Leistungen dieser Art auf Personen aus ärmeren Ländern anziehende Wirkungen entfalten. Solange der deutsche Staat sie indessen auf seinem Territorium aufnimmt, beherbergt oder auch nur duldet, sind sie in diesem bescheidenen Umfang auch leistungsberechtigt. Vorwürfe, mit dieser Rechtsprechung würde der Zuzug nach Deutschland angeregt, übersehen, dass das Grundrecht auf eine Gewährleistung menschenwürdiger Existenz eine Folge zwingenden Verfassungsrechts ist, die einen Aufenthalt in Deutschland voraussetzt. Wer hier Anreizeffekte vermeiden will, müsste das eigentlich ursächliche Aufenthaltsrecht ändern. Dessen Konsequenz einer finanziellen Versorgung von Menschen, die nicht selbst ihren Lebensunterhalt bestreiten können, hängt völlig vom Aufenthalt in Deutschland ab; erst dann entfaltet das Menschenrecht seine Wirkung.“

525

Die oben zitierten Entscheidungen vieler Sozialgerichte und Landessozialgerichte stehen mithin in einem leicht zu erkennenden Widerspruch zum aktuellen Stand der durch das BVerfG entwickelten Grundrechtsdogmatik. Dieser Widerspruch wird jedoch nicht reflektiert und sodann offensiv unter Begründungsaufwand vertreten – was im Sinne einer diskursiven Zukunftsoffenheit der Verfassungsrechtsdogmatik legitim wäre –, sondern mit Hilfe einer selektiven und bisweilen sinnentstellenden Heranziehung von Versatzstücken der Judikatur des BVerfG und unter Behauptung einer Übereinstimmung mit dieser negiert. Dass auf diese Weise in großem Umfang und entgegen der Rechtsprechung des zuständigen Revisionsgerichts sogar im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die vorläufige Verpflichtung zur Erbringung existenzsichernder Leistungen abgelehnt wird, ist nicht zu rechtfertigen.

526

7. Die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wird nicht dadurch kompensiert, dass hiervon Betroffene wegen der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII einen Anspruch auf Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII haben könnten (s.o. unter I.10). Zwischen beiden Leistungssystemen besteht kein Zusammenhang in dem Sinne, dass unabhängig von den für verfassungswidrig gehaltenen Vorschriften des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB II ein Nachrangverhältnis bestünde, Betroffene also unabhängig von dem Leistungsausschluss im vorrangigen System hilfsweise auf das nachrangige System zurückgreifen könnten. Denn allein der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II führt wegen § 21 Satz 1 SGB XII zu einer Öffnung des Leistungssystems des SGB XII für den betroffenen Personenkreis. Es besteht daher kein logischer Vorrang der Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII gegenüber derjenigen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

527

Würde dies anders gesehen, müsste allerdings geprüft werden, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch auf Grund eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung verfassungswidrig ist, soweit der betroffene Personenkreis bei Nichtigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dem SGB XII und nicht dem SGB II zugeordnet würde. Anhaltspunkte hierfür ergeben sich anhand der Heterogenität des vom Leistungsausschluss betroffenen Personenkreises einerseits und des nicht erfassten Personenkreises anderseits reichlich (s.o. unter 2.).

III.

528

Auch § 7 Abs. 5 SGB II verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG.

529

Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II (1) effektiv betroffene Personenkreis (2) erfüllt grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (3). Für diesen Personenkreis fehlt es an einem formell-gesetzlichen, hinreichend bestimmten Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (4). Die sich hieraus ergebende unterlassene Grundrechtsgewährleistung kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden (5).

530

1. § 7 Abs. 5 SGB II lautet:

531

„Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes oder der §§ 51, 57 und 58 des Dritten Buches dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.“

532

§ 7 Abs. 6 SGB II lautet:

533

„Absatz 5 findet keine Anwendung auf Auszubildende,

534

1. die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung oder aufgrund von § 60 des Dritten Buches keinen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe haben,

535

2. deren Bedarf sich nach § 12 Absatz 1 Nummer 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, nach § 62 Absatz 1 oder § 124 Absatz 1 Nummer 1 des Dritten Buches bemisst oder

536

3. die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund von § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.“

537

2. Vom Leistungsausschluss erfasst sind demnach Auszubildende, die eine nach dem BAföG oder nach den §§ 51, 57 und 58 SGB III dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolvieren und keinen der in § 7 Abs. 6 SGB II geregelten Ausnahmetatbeständen erfüllen. § 7 Abs. 6 SGB II greift bestimmte Fallkonstellationen auf, in denen Auszubildende dem Grunde nach keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung bzw. Berufsausbildungsförderung haben (Nr. 1), nur eine geringe Ausbildungsförderung erhalten (Nr. 2) oder wegen Erreichen der Altersgrenze keine Ausbildungsförderung gewährt bekommen (Nr. 3) (vgl. Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 308, Stand 14.03.2016), wobei jeweils weitere Voraussetzungen hinzukommen müssen. Umstritten, aber vorliegend nicht klärungsbedürftig ist die Frage, ob auch Personen vom Ausschluss erfasst sind, die gemäß § 122 SGB III Ausbildungsgeld unter entsprechender Anwendung der Vorschriften über die Berufsausbildungsbeihilfe erhalten (verneinendKador in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, § 122 Rn. 15, 5. Auflage 2013; bejahend BSG, Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 37/14 R – Rn. 18 m.w.N.; Treichel, NZS 2013, S. 805 ff.).

538

2.1 Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II greift bereits ein, wenn die betroffene Person eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolviert, unabhängig davon, ob sie Leistungen nach §§ 51, 57 oder 58 SGB III oder nach dem BAföG tatsächlich bezieht oder die persönlichen Voraussetzungen für eine Förderung erfüllt. Dies legt bereits der Wortlaut des § 7 Abs. 5 SGB II nahe, da das Bezugswort zum Terminus „dem Grunde nach förderungsfähig“ in § 7 Abs. 5 SGB II „Ausbildung“ und nicht etwa „Auszubildende“ ist. Zwar ließe sich auch mit dieser Formulierung isoliert betrachtet noch vereinbaren, wegen der Verwendung des Relativpronomens „deren“ zwischen „Auszubildende“ und „Ausbildung“ auf die Förderungsfähigkeit der konkreten Ausbildung abzustellen, allerdings ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang mit den Rückausnahmeregelungen in § 7 Abs. 6 Nr. 1 und Nr. 3 SGB II, dass der Leistungsausschluss abgesehen von den dort genannten Ausnahmefällen auch dann greift, wenn kein Anspruch auf Leistungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III besteht (so im Ergebnis auch BSG, Urteil vom 22.08.2012 – B 14 AS 197/11 R – Rn. 14; BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R – Rn. 17 m.w.N.; ausführlich mit Erläuterungen zur Systematik, Gesetzgebungsgeschichte und Sinn und Zweck: BSG, Urteil vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R – Rn. 20 ff.). Das Fehlen individueller Voraussetzungen für eine Förderung ist mithin unerheblich (vgl. auch Thie in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 7 Rn. 113; Wolff-Dellen in: Löns/Herold-Tews, SGB II, § 7 Rn. 52, 3. Auflage 2011).

539

Es ändert sich somit nichts an der Förderungsfähigkeit der Ausbildung dem Grunde nach im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II, wenn Auszubildende (einschließlich Studierende) tatsächlich keinen Anspruch auf Leistungen nach dem BAföG haben, z.B. wegen mangelnder Eignung (§ 9 BAföG), wegen Überschreitens der Altersgrenze (§ 10 BAföG), bei Überschreiten der Förderungshöchstdauer (§ 15a BAföG) oder wegen des Fehlens der Voraussetzungen für die Förderung einer weiteren Ausbildung bei einem nach Maßgabe des Gesetzes unbegründeten Ausbildungs- und Fachrichtungswechsel (§ 7 Abs. 2, 3 BAföG). Die Ausbildung ausländischer Studierender ist im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II dem Grunde nach förderungsfähig, auch wenn sie tatsächlich keine Ausbildungsförderung erhalten, weil sie die in § 8 BAföG aufgeführten aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn. 297, Stand 14.03.2016). Entsprechendes gilt für Auszubildende, die eine nach §§ 51, 57 oder 58 SGB III förderungsfähige Ausbildung absolvieren und als Ausländer auf Grund der in § 59 Abs. 1 SGB III angeordneten entsprechenden Anwendung der Absätze 1, 2, 4 und 5 des § 8 BAföG (ausgenommen wiederum Fälle des § 59 Abs. 2, Abs. 3 SGB III), wegen bereits abgeschlossener Erstausbildung nach § 57 Abs. 2 Satz 2 SGB III oder wegen der vorzeitigen Lösung eines vorangegangenen Ausbildungsverhältnisses nach § 57 Abs. 3 SGB III keinen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe haben.

540

Der Leistungsausschluss betrifft demnach auch Personen, die keine Ausbildungsförderungsleistungen nach dem SGB III oder nach dem BAföG erhalten, unabhängig davon, ob und in welcher Höhe sie über Einkommen oder Vermögen verfügen.

541

2.2. Vom Leistungsausschluss ausgenommen sind gemäß § 27 Abs. 2 SGB II Mehrbedarfe bei Schwangerschaft (§ 21 Abs. 2 SGB II), für Alleinerziehende (§ 21 Abs. 3 SGB II), bei kostenaufwändiger Ernährung aus medizinischen Gründen (§ 21 Abs. 5 SGB II), bei unabweisbaren, laufenden, besonderen Bedarfen (§ 21 Abs. 6 SGB II) und der Sonderbedarf für Erstausstattungen für Bekleidung und bei Schwangerschaft und Geburt (§ 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II), soweit diese nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen gedeckt sind.

542

2.3 Nach näherer Maßgabe des § 27 Abs. 3 SGB II erhalten vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffene Auszubildende einen Zuschuss zu ihren ungedeckten, angemessenen Unterkunfts- und Heizungskosten, wenn sie Berufsausbildungsbeihilfe oder Ausbildungsgeld nach dem SGB III oder Leistungen nach dem BAföG beziehen oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht beziehen. Personen, die einem individuellen Leistungsausschlussgrund nach dem SGB III oder nach dem BAföG unterliegen, haben diesen Anspruch nicht.

543

2.4 Nach § 27 Abs. 4 SGB II können Personen, die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffen sind, bei Vorliegen einer besonderen Härte Leistungen als Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erbracht werden. Die Gewährung der Leistungen steht im Ermessen der Behörde. Zu der Frage, unter welchen Umständen eine „besondere Härte“ vorliegt, hat das BSG bislang drei Fallgruppen entwickelt (BSG, Beschluss vom 23.08.2012 – B 4 AS 32/12 B – Rn. 20):

544

- Es ist wegen einer Ausbildungssituation Hilfebedarf entstanden, der nicht durch BAföG oder Berufsausbildungsbeihilfe gedeckt werden kann und es besteht deswegen begründeter Anlass für die Annahme, dass die vor dem Abschluss stehende Ausbildung nicht beendet werden kann und das Risiko zukünftiger Erwerbslosigkeit droht.

545

- Die bereits weit fortgeschrittene und bisher kontinuierlich betriebene Ausbildung ist aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls wegen einer Behinderung oder Krankheit gefährdet.

546

- Eine nach den Vorschriften des BAföG förderungsfähige Ausbildung stellt objektiv belegbar die einzige Zugangsmöglichkeit zum Arbeitsmarkt dar.

547

2.5 Gemäß § 27 Abs. 5 SGB II können unter den Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 SGB II (Sicherung der Unterkunft oder Behebung einer vergleichbaren Notlage) nach Ermessen der Behörde Schulden übernommen werden.

548

3. Die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personen sind Grundrechtsträger und können hilfebedürftig im verfassungsrechtlichen Sinne sein.

549

Es handelt sich um Menschen (s.o. unter I.7.1), die sich, um von § 7 Abs. 5 SGB II überhaupt betroffen sein zu können, in Deutschland tatsächlich aufhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) und im einfachrechtlichen Sinne hilfebedürftig sein (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) müssen. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ schließt den regelmäßigen tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland (s.o. unter I.7.2) logisch mit ein.

550

Die Grundrechtsrelevanz der Regelung wird nicht dadurch beseitigt, dass in Folge von Freibetrags- und Ausnahmeregelungen bei der Berücksichtigung von Einkommen und Schonvermögensregelungen auch Personen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen und vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II betroffen sein können, deren Existenzsicherung nicht akut gefährdet ist, bei denen der Leistungsausschluss also nicht mit einer individuellen Grundrechtsverletzung einhergeht. Denn der Leistungsausschluss betrifft jedenfalls auch Personen, die ihr materielles Existenzminimum nicht aus eigener Kraft sichern können und deshalb im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind (s.o. unter II.3).

551

Irrelevant ist auch der Umstand, dass vom Leistungsausschluss durch Einbeziehung von nach § 58 SGB III förderungsfähigen Ausbildungen auch Personen erfasst sind, die sich zumindest zeitweise im Ausland aufhalten und in dieser Zeit die (verfassungsrechtliche) Anspruchsvoraussetzung des tatsächlichen Aufenthalts im Inland nicht erfüllen (s.o. unter I.7.2). In vielen Fällen dürften die betroffenen Personen bereits mangels gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben.

552

4. Für den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personenkreis fehlt es bereits an einem formell-gesetzlichen Anspruch auf Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o. unter I.9.2). In Folge dessen ist § 7 Abs. 5 SGB II verfassungswidrig.

553

4.1 Nach der die zweite Vorlagefrage betreffenden Regelung des § 7 Abs. 5 SGB II besteht kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die hierfür vorgesehenen Ausnahmeregelungen sind für einen erheblichen Teil des betroffenen Personenkreises nicht einschlägig.

554

4.1.1 Die obligatorischen Ausnahmereglungen des § 7 Abs. 6 SGB II gelten nur für die dort aufgeführten Lebenssituationen.

555

4.1.2 Die Leistungen nach § 27 Abs. 2 SGB II decken nur Mehrbedarfe, nicht jedoch den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Sie sind daher evident nicht dazu geeignet, das Existenzminimum zu gewährleisten. Leistungen nach § 27 Abs. 3 SGB II sind lediglich ergänzend zu Leistungen nach dem BAföG oder nach dem SGB III zu erbringen. Die Personen, die von den Leistungsausschlusstatbeständen des BAföG oder des SGB III betroffen sind, profitieren hiervon nicht.

556

4.1.3 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist auch nicht deshalb gewahrt, weil das Gesetz in § 27 Abs. 4 SGB II die Möglichkeit vorsieht, dass bei Vorliegen einer besonderen Härte Leistungen als Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erbracht werden können.

557

Die nach 27 Abs. 4 SGB II bestehende Möglichkeit, in besonderen Härtefällen Darlehen für Regelbedarfe, Bedarfe für Unterkunft und Heizung und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu erhalten, stattet den betroffenen Personenkreis nicht mit dem verfassungsrechtlich geforderten formell-gesetzlichen Anspruch aus, weil der zuständigen Behörde ein Ermessen nicht nur über Art und Höhe, sondern auch über das „Ob“ der Leistung eingeräumt wird (s.o. unter I.9.2 und unter I.9.3).

558

Auf Grund der Verwendung des (besonders) unbestimmten Rechtsbegriffs der „besondere(n) Härte“ (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 28/07 R – Rn. 20 ff.; BSG, Urteil vom 01.07.2009 – B 4 AS 67/08 R – Rn. 17 ff.; BSG, Beschluss vom 23.08.2012 – B 4 AS 32/12 B – Rn. 20) als Leistungsvoraussetzung und der Einräumung von Ermessen ist diese Vorschrift zudem wegen ihrer nicht ausreichenden Bestimmtheit zur verfassungskonformen Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ungeeignet (s.o. unter I.9.3). Auf Grund der Verwendung des Begriffspaares „besondere Härte“ lässt sich keine hinreichend sichere Verbindung zwischen einer gesetzgeberischen Entscheidung zur Einräumung eines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zur Umsetzung in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis ziehen. Es zeigt sich gerade in der Verwendung dieser Begriffe, dass eine flächendeckende Gewährleistung des Existenzminimums für den betroffenen Personenkreis nicht Ziel der Regelung ist.

559

4.2 Kompensationsmöglichkeiten in anderen Leistungssystemen bestehen nicht.

560

a) Auf Leistungen nach dem SGB XII kann bereits deshalb nicht zurückgegriffen werden, weil der betroffene Personenkreis – anders als im Falle des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nicht im Sinne des § 21 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II betrifft nur die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne der §§ 19 ff. SGB II (exklusive Mehrbedarfe und ggf. Beiträge). Für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem 1. Abschnitt des 3. Kapitels gilt der Leistungsausschluss nicht (so auch Wolff-Dellen in Löns/Herold-Tews, § 7 Rn. 54, 3. Auflage 2011). Die vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personen sind demnach dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II und in Folge dessen gemäß § 21 Satz 1 SGB XII von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII ausgeschlossen.

561

Im Übrigen ist für die Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ein gleichgerichteter Ausschlusstatbestand enthalten. Ein wesentlicher Unterschied zum SGB II besteht hier nur insofern, als gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII in besonderen Härtefällen Leistungen auch als Beihilfe und nicht nur als Darlehen erbracht werden können.

562

b) Leistungen der Ausbildungsförderung nach dem BAföG und Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe dem SGB III erhalten nur diejenigen Personen, die eine förderungsfähige Ausbildung absolvieren und keinen individuellen Ausschlusstatbestand erfüllen (s.o. unter 2.1). In Fällen des Anspruchsausschlusses wegen bereits abgeschlossener Erstausbildung (§ 57 Abs. 2 SGB III) oder der vorzeitigen Lösung eines vorangegangenen Ausbildungsverhältnisses (§ 57 Abs. 3 SGB III) besteht nur unter weiteren Voraussetzungen die Möglichkeit, Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe im Ermessenswege zu erbringen.

563

5. Die durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II unterbliebene Grundrechtsverwirklichung und die somit verfassungsrechtlich defizitäre Gestaltung einfachen Rechts, kann nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

564

5.1 Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht eingeschränkt werden, denn es gewährleistet gerade das Mindestmaß dessen, was jeder Mensch beanspruchen kann. Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133). Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Unverfügbarkeit resultiert aus der Fundierung des Grundrechts in der Menschenwürdegarantie (zum Ganzen s.o. unter I.6). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen oder Unterlassungen, so dass jeder mögliche sachliche Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Einschränkung hieraus resultierender Ansprüche entfällt.

565

a) Gesetzliche Leistungsausschlüsse dem Grunde nach – wie in § 7 Abs. 5 SGB II geregelt – bei Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht erfüllen, sind deshalb per se verfassungswidrig und einer Rechtfertigung von vornherein nicht zugänglich. Dementsprechend kann eine derartige Einschränkung auch nicht auf Zumutbarkeitserwägungen oder Verhältnismäßigkeitsprüfungen gleich welcher Art gestützt werden. Eine Einschränkungsbefugnis im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG besteht nicht.

566

Hieraus folgt, dass das einfache Recht Leistungsausschlüsse nur in Fällen vorsehen darf, in denen mindestens eine der (neben dem Menschsein) zwei Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht nicht vorliegt, also kein Aufenthalt im Inland gegeben ist (s.o. unter I.7.2) und/oder keine Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne vorliegt (s.o. unter I.7.3). Leistungseinschränkungen sind bei Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen nur zulässig, soweit auf der zweiten Ebene der Grundrechtskonkretisierung, der gesetzlichen Fixierung des konkreten Leistungsanspruchs, im Vergleich zu den gesetzlich ausformulierten Mindestanforderungen ein quantitativer oder qualitativer Spielraum besteht, der eine tragfähig begründbare Differenzierung erlaubt.

567

Auf der ersten Ebene der Grundrechtskonkretisierung kommt eine Differenzierung nur auf Grund abweichender Bedarfslagen in Betracht (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73; s.o. unter I.9.4). Das hiernach bestimmte Existenzminimum muss jedoch auch dann durch staatliche Sozialleistungen gewährleistet werden, wenn bestehende Selbsthilfemöglichkeiten (z.B. Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) tatsächlich nicht genutzt werden, gleich aus welchem Grund.

568

b) Bei dem vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II betroffenen Personenkreis können alle Anspruchsvoraussetzungen für das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gegeben sein. Sie halten sich – definitionsgemäß, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II – im Inland auf und sind im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, was Fälle der Hilfebedürftigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (s.o. unter I.7.3) notwendig einschließt. Die Regelung ist daher – unabhängig davon, dass in Einzelfällen eine individuelle Grundrechtsverletzung auch fehlen kann – verfassungswidrig.

569

5.2 Der zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II regelmäßig angeführte Zweck, eine (verdeckte) Ausbildungsförderung durch Leistungen nach dem SGB II zu verhindern, insbesondere unter Umgehung der dortigen Anspruchsvoraussetzungen und der unter Umständen niedrigeren Leistungshöhe (BSG, Urteil vom 19.08.2010 – B 14 AS 24/09 R – Rn. 15; BSG, Urteil vom 22.08.2012 – B 14 AS 197/11 R – Rn. 13; BSG, Urteil vom 17.02.2015 – B 14 AS 25/14 R – Rn. 21; BSG, Urteil vom 17.02.2016 – B 4 AS 2/15 R – Rn. 23; vgl. auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 12.02.2010 – L 1 SO 84/09 – Rn- 38; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.06.2013 – L 2 AS 1518/12 – Rn. 26) ist nicht geeignet, den Leistungsausschluss zu legitimieren. Die hierin zum Ausdruck kommenden bildungspolitischen Zielsetzungen mögen als solche legitim sein und zu hochschul- oder berufsbildungsrechtlichen Maßnahmen berechtigen, sie stehen aber nicht in einem inhaltlich-argumentativen Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Die Ausbildungsförderungssysteme des SGB III und des BAföG sind nicht so ausgestaltet, dass sie allen hilfebedürftigen Auszubildenden einen Leistungsanspruch zur Verfügung stellten, der zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs geeignet wäre.

570

Es ist kein verfassungsrechtliches Argument ersichtlich, weshalb bestimmten Personen allein auf Grund dessen, dass sie eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, kein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zustehen sollte, gilt dies doch im Übrigen für alle hilfebedürftigen Menschen, die sich tatsächlich im Inland aufhalten (s.o. unter I.7). Das immer weder vorgebrachte Argument, keine zweite Ebene der Ausbildungsförderung durch Fürsorgeleistungen schaffen zu wollen, lenkt den Blick auf die von den betroffenen Personen ausgeübten Aktivitäten und vernachlässigt deren sonstige Lebensumstände. Hierzu trägt die missverständliche Rede vom „ausbildungsgeprägten Bedarf“ (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.07.1994 – 5 B 25/94 – Rn. 5 f. m.w.N.) bei, der auch den allgemeinen Lebensunterhalt umfassen soll, obwohl dieser tatsächlich im Wesentlichen nicht wegen der Ausbildung, sondern auf Grund fundamentaler menschlicher Bedürfnisse gedeckt werden muss. Die durch das Existenzsicherungsgrundrecht zu sichernden grundlegenden Bedürfnisse des Menschen bestehen unabhängig davon, welchen Aktivitäten die betroffene Person konkret nachgeht.

571

Hinter den Rechtfertigungsversuchen mag die Befürchtung stehen, dass ein Leben am materiellen Existenzminimum, aber mit vergleichsweise breitem Zugang zu Bildung und sozialer Teilhabe, wie es dem Hochschulstudium zugeschrieben wird, für so viele Menschen attraktiv sein könnte, dass sich hieraus entweder ein Ressourcenverteilungsproblem insbesondere an Hochschulen ergeben oder Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an Stelle des Studiums oder an Stelle einer nicht bedarfsdeckenden Ausbildung zu gering werden könnten. Unabhängig von der Plausibilität solcher Erwägungen wären hierin zum Ausdruck kommende staatliche oder kollektive Interessen aber von vornherein nicht dazu geeignet, Einschränkungen des unverfügbaren individuellen Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu rechtfertigen.

572

5.3 Das Argument, dass es den vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II Betroffenen regelmäßig zumutbar sei, ihre Ausbildung oder ihr Studium abzubrechen, um den Leistungsausschlussgrund zu beseitigen, taugt zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bereits deshalb nicht, weil das Grundrecht nicht unter einer Einschränkungsbefugnis steht.

573

Der Ausbildungsabbruch stellt keine Selbsthilfemöglichkeit dar, so dass es auf dessen Zumutbarkeit nicht ankommt. Durch den Abbruch der Ausbildung oder des Studiums wird die Hilfebedürftigkeit weder beseitigt noch verringert. Gerade die in Folge des Abbruchs bei Wegfall des Ausschlusstatbestands zu erbringende existenzsichernde Sozialleistung belegt nicht den Wegfall der Hilfebedürftigkeit, sondern ist die leistungsrechtliche Konsequenz ihres Fortbestehens.

574

Der Ausbildungsabbruch kann im Einzelfall sogar zu einer Vergrößerung der Hilfebedürftigkeit führen, wenn beispielsweise eine nicht bedarfsdeckende, aber bedarfsmindernde Ausbildungsvergütung gezahlt wird oder eine nicht bedarfsdeckend vergütete Nebentätigkeit rechtlich oder tatsächlich mit dem Studierendenstatus verknüpft ist.

575

Durch den Ausbildungsabbruch selbst erschließen sich den betroffenen Personen auch nicht notwendigerweise andere Selbsthilfeoptionen, beispielsweise durch Arbeitsangebote. Derartige Selbsthilfeoptionen sind zudem nicht zwangsläufig mit einem Abbruch der Ausbildung oder des Studiums verbunden (z.B. Nebentätigkeiten). Ob die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung oder an Stelle der Ausbildung möglich und zumutbar ist, um die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen oder zu verringern, ist eine hiervon zu unterscheidende Frage, die nach der aktuellen Gesetzeslage im Zusammenhang mit der Verhängung von Sanktionen relevant werden könnte (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II). Allein die für sich genommen plausible Annahme, dass die Durchführung einer Ausbildung oder eines Studiums im Einzelfall ein psychologisches Hindernis für die Aufnahme einer bedürftigkeitsverringernden Erwerbstätigkeit sein kann, ist nicht dazu geeignet, eine Rechtfertigung dafür zu bieten, allen abstrakt sich in einer solchen Situation befindlichen Personen keine existenzsichernden Leistungen zu gewähren.

576

Demzufolge ist auch der Hinweis des BVerfG auf die in § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II geregelte Obliegenheit für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 13), nicht zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses geeignet.

577

5.4 Die in den Nichtannahmebeschlüssen des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) weiter geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise nach dem SGB III gedeckt würden (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 - 1 BvR 886/11 - Rn. 13), obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsehen, stellt daher einen nicht ohne Weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der zuerst im Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) entwickelten Dogmatik dar. Es lässt sich den Entscheidungsbegründungen nicht entnehmen, inwiefern die zur Voraussetzung der Gewährung existenzsichernder Leistungen gemachte Verhaltenserwartung des Abbruchs der Ausbildung oder des Studiums mit der behaupteten Unverfügbarkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sein könnte. Es ist auch auf Grund dieser Beschlüsse des BVerfG nicht ersichtlich, weshalb allein der Umstand, dass eine Person eine abstrakt förderungsfähige, aber konkret nicht geförderte Ausbildung durchführt, die Vorenthaltung von Leistungen zur Gewährung des Existenzminimums rechtfertigen können sollte.

578

Soweit das BVerfG darauf abstellt, § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. konkretisiere den Nachrang gegenüber vorrangigen besonderen Sozialleistungssystemen zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Gesetzgeber gehe im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, dass das menschenwürdige Existenzminimum, soweit eine durch die Ausbildung bedingte Bedarfslage entstanden sei, vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise dem SGB III zu decken sei (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 22), vermag dies nicht zu überzeugen. Unter einer nachrangigen Leistung ist eine Leistung zu verstehen, die nur dann zum Zuge kommt, wenn eine vorrangige Leistung nicht greift (vgl. § 104 SGB X und § 2 Abs. 1 SGB XII; zum Begriff und zur Wiederherstellung des Nachrangs in SGB XII und SGB II vgl. Kunkel in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, 3. Auflage 2012, S. 91 ff., und Pattar in Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht, 3. Auflage 2012, S. 263 ff.). In § 7 Abs. 5 SGB II ist hingegen geregelt, dass eine Leistung unabhängig davon nicht erbracht wird, ob eine anderweitige Leistungspflicht tatsächlich besteht. Deshalb geht auch das Argument des 4. Senats des BSG fehl, es sollten nicht mehrere Träger zur Deckung ein und desselben Bedarfes zuständig sein (BSG, Urteil vom 02.04.2014 – B 4 AS 26/13 – Rn. 18).

579

In diesem Sinne nachrangig sind die Leistungen nach dem SGB II hingegen beispielsweise im Verhältnis zu Leistungen nach dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG), nicht jedoch im Verhältnis zu Leistungen nach dem BAföG (vgl. Thie in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 7 Rn. 112).

580

Warum es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, dass der Gesetzgeber von der – für bestimmte Fallgruppen offensichtlich unzutreffenden – Annahme ausgehe, dass das menschenwürdige Existenzminimum vorrangig durch Leistungen nach dem BAföG bzw. nach dem SGB III zu decken sei, erörtert das BVerfG nicht näher.

581

Mit dem Verweis auf eine denkbare Verletzung der teilhaberechtlichen Dimension des Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 03.09.2014 – 1 BvR 1768/11 – Rn. 23 f.BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 14) lässt sich weder die fehlende Existenzsicherung rechtfertigen, noch eine Beschränkung der verfassungsrechtlichen Prüfung auf die jeweiligen Ausschlussvorschriften im BAföG bzw. im SGB III begründen. Es ist kein rechtssystematischer Grund dafür ersichtlich, warum eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bei Auszubildenden und Studierenden allein in Folge der Wirkung von Ausschlussvorschriften im BAföG oder im SGB III eintreten können sollte und nicht gleichfalls durch Ausschlussvorschriften im SGB II oder im SGB XII. Der Ausschluss von Leistungen wegen der Durchführung einer abstrakt förderungsfähigen Ausbildung im SGB II (oder im SGB XII) steht normhierarchisch auf einer Ebene mit dem Ausschluss von Leistungen beispielsweise wegen der Überschreitung der Altersgrenze im BAföG. Beide führen gleichermaßen dazu, dass zur Existenzsicherung grundsätzlich geeignete Leistungen nicht gewährt werden. Ein logisches Rangverhältnis zwischen beiden die Verfassung (möglicherweise) verletzenden Vorschriften besteht nicht, so dass kein Grund dafür erkennbar ist, nur eine von beiden Ausschlussvorschriften unter dem Blickwinkel des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einer verfassungsrechtlichen Prüfung zu unterziehen. Dies gilt unabhängig davon, dass der Verfassungsverstoß durch verschiedene Maßnahmen beseitigt werden könnte (s.o. unter I.10).

582

5.5 Auch das Argument, dass, wenn jemand eine Ausbildung betreibt, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen des zur Förderung einer Ausbildung vorgesehenen Sozialleistungssystems nicht erfüllt, es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung handele, die nicht die Konsequenz haben könne, den Gesetzgeber zu verpflichten, auch während dieser Ausbildung Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach einem System (SGB II) zu gewähren (BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 28/06 R – Rn. 29), ist zur Rechtfertigung des Leistungsausschlusses nicht geeignet.

583

In diesem Argument kommt der Sache nach nichts Anderes zum Ausdruck, als die unzutreffende Vorstellung, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einschränkbar sei. Denn erst hierdurch würde die Möglichkeit eröffnet, bestimmte Verhaltensweisen von Betroffenen, die nicht unmittelbar ihre Bedürftigkeit oder deren Überwindung betreffen, zum Gegenstand von Ausschlussregelungen zu machen. Eine derartige Einschränkung ist mit der aus der Menschenwürdegarantie abgeleiteten Annahme der Unverfügbarkeit des Grundrechts nicht vereinbar. Würde die zitierte Auffassung des BSG zutreffen, könnten Leistungsausschlüsse an jegliches unerwünschte Verhalten des Betroffenen anknüpfen, sofern hierin eine „selbst zu verantwortende Entscheidung“ erblickt werden kann und mit dem Ausschluss irgendwelche politischen Zwecke verfolgt werden. Dabei ist die Aufnahme oder Fortführung einer Ausbildung oder eines Studiums für sich genommen nicht einmal eine besonders verwerfliche oder vorwerfbare Handlung. Der hieraus resultierende Leistungsausschluss steht vielmehr sogar in einem gesetzlichen Zielkonflikt mit der sanktionsbewehrten Obliegenheit der Leistungsberechtigten, eine zumutbare Ausbildung aufzunehmen oder fortzuführen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II).

584

Bei einer Verallgemeinerung der genannten Auffassung würden die Grundrechtsträger exakt zu jener Verhandlungsmasse der Staats- und Gemeinschaftszwecke, die die Fundierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Art. 1 Abs. 1 GG eigentlich verhindern soll (s.o. unter I.5.2).

585

6. Aus dem Umstand, dass der Leistungsausschluss an den Tatbestand nach anderen Leistungssystemen förderungsfähiger Ausbildungen anknüpft, folgt im Übrigen nicht, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Ausschlussregelungen nur in den dortigen Systemen zu prüfen wäre. Die dortigen Ausschlussgründe stehen nicht in einem bestimmten Rangverhältnis zum Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II (s.o. unter I.10 und unter 5.4).

IV.

586

Die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II sind zur Überzeugung der Kammer auf Grund des Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verfassungswidrig (s.o. unter II und III). Auf die Gültigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und des § 7 Abs. 5 SGB II kommt es im vorliegenden Verfahren an (s.o. unter A.IV). Das Gericht hat das Verfahren daher nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG über die Gültigkeit der Vorschriften einzuholen.

C.

587

Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. September 2010 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Februar 2008 geändert, soweit der Beklagte zur Nachzahlung von mehr als 32,70 Euro monatlich an die Klägerin zu 1 verurteilt worden ist.

Im Übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Höhe der bei der Klägerin zu 1 zu berücksichtigenden Regelleistung im Rahmen der zu erbringenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 1.6.2006 bis zum 30.11.2006.

2

Die 1983 geborene Klägerin zu 1 ist die Mutter der 2000 und 2001 geborenen Klägerinnen zu 2 und 3. Im streitigen Zeitraum lebte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Vater der Klägerinnen zu 2 und 3, in einer Wohnung in Hamburg. Die Klägerin zu 1 erzielte monatliche Einnahmen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 165 Euro, die Klägerinnen zu 2 und 3 verfügten über Einkommen aus Kindergeld in Höhe von monatlich jeweils 154 Euro. Der Ehemann der Klägerin zu 1 erhielt Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe von monatlich 199,40 Euro zuzüglich anteiliger Unterkunftskosten.

3

Bei der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für den streitgegenständlichen Zeitraum legte die Rechtsvorgängerin des beklagten Jobcenters bei der Klägerin zu 1 eine Regelleistung in Höhe von 311 Euro, entsprechend 90 % der Regelleistung, zugrunde. Unter Berücksichtigung eines Bedarfes für die Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich jeweils 175,12 Euro sowie des Kindergeldes und eines anzurechnenden Erwerbseinkommens der Klägerin zu 1 in Höhe von monatlich 52 Euro ermittelte sie den Leistungsanspruch der Klägerin zu 1 mit 459,30 Euro und der Klägerinnen zu 2 und 3 mit jeweils 215,33 Euro monatlich (Bescheid vom 15.5.2006).

4

Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 12.10.2006) begehrten die Klägerinnen mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht (SG) die Berechnung der Ansprüche auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Ansatz einer ungekürzten Regelleistung bei der Klägerin zu 1. Das SG hat der Klage stattgegeben.

5

Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 2.9.2010 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte verurteilt wurde, den Klägerinnen unter Abänderung des Bescheides vom 15.5.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2006 für die Zeit vom 1.6.2006 bis zum 30.11.2006 monatliche Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 34 Euro nachzuzahlen, wobei auf die Klägerin zu 1 33,12 Euro und auf die Klägerinnen zu 2 und 3 jeweils 0,44 Euro entfielen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Vorschrift des § 20 Abs 3 SGB II, wonach zwei volljährige Partner jeweils 90 vH der Regelleistung erhalten sollen, passe nicht auf Bedarfsgemeinschaften, in denen ein volljähriger Partner Leistungen nach dem SGB II, der andere aber lediglich Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhalte. Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut. Die Festlegung eines Betrags von insgesamt 180 vH der Regelleistung setze voraus, dass beide Partner Leistungen nach dem SGB II erhielten. Hinsichtlich gemischter Bedarfsgemeinschaften gebe es eine Regelungslücke, die nicht im Wege der analogen Anwendung des § 20 Abs 3 SGB II zu schließen sei, weshalb die Klägerin zu 1 einen Anspruch auf die ungekürzte Regelleistung habe.

6

Das LSG hat in seinem Urteil die Revision zugelassen, die der Beklagte eingelegt hat.

7

Er ist der Ansicht, die gesetzgeberische Absicht, unterstellte Einsparungen von zusammen wirtschaftenden Partnern gegenüber Alleinstehenden bei der Höhe des Regelsatzes zu berücksichtigen, gelte auch für Partner, die selbst keine Leistungen nach dem SGB II erhielten. Weder das SGB II oder Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) noch das AsylbLG normierten einen Anspruch aller Familienangehörigen auf Gewährung familieneinheitlicher existenzsichernder Leistungen. Daraus ergebe sich, dass sich der jeweilige individuelle Anspruch eines Leistungsbeziehers innerhalb seines Leistungssystems errechne. Im Übrigen führe eine Erhöhung der Regelleistung bei der Klägerin zu 1 faktisch zu einer Erhöhung der Leistungen für den Ehemann, dies bedeute eine ungerechtfertigte Privilegierung ua gegenüber anderen Leistungsbeziehern nach dem AsylbLG.

8

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Februar 2008 und des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. September 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

9

Die Klägerinnen beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

10

Sie halten die angegriffenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

11

Die rechtzeitig eingelegte und auch ansonsten zulässige Revision des Beklagten (§§ 160, 164 Sozialgerichtsgesetz) ist im Wesentlichen unbegründet. Das LSG hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht verurteilt, den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1.6.2006 bis zum 30.11.2006 Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung der vollen Regelleistung bei der Klägerin zu 1 in Höhe von damals 345 Euro zu zahlen.

12

1. Das beklagte Jobcenter ist gemäß § 70 Nr 1 SGG beteiligtenfähig. Bei dem Jobcenter (§ 6d SGB II idF des Gesetzes vom 3.8.2010, BGBl I 1112) handelt es sich um eine gemeinsame Einrichtung (§ 44b Abs 1 Satz 1 SGB II, ebenfalls idF des Gesetzes vom 3.8.2010), die mit Wirkung vom 1.1.2011 kraft Gesetzes entstanden ist und im Laufe des gerichtlichen Verfahrens als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisher beklagten Arbeitsgemeinschaft (vgl § 76 Abs 3 Satz 1 SGB II) tritt. Dieser kraft Gesetzes eingetretene Beteiligtenwechsel wegen der Weiterentwicklung der Organisation des SGB II stellt keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung dar. Das Passivrubrum war daher von Amts wegen zu berichtigen (vgl dazu insgesamt Bundessozialgericht Urteil vom 18.1.2011 - B 4 AS 99/10 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 5).

13

Die Klägerinnen zu 2 und 3 werden als nicht prozessfähige Minderjährige (§ 71 Abs 1 und 2 SGG) durch die Klägerin zu 1 vertreten, die die elterliche Sorge allein ausübt (§ 1629 Abs 1 Satz 3 Bürgerliches Gesetzbuch; vgl BSG Urteil vom 2.7.2009 - B 14 AS 54/08 R - BSGE 104, 48 = SozR 4-1500 § 71 Nr 2 RdNr 21).

14

2. Streitgegenstand des Verfahrens sind Ansprüche der Klägerinnen auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende, die der Beklagte mit Bescheid vom 15.5.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.10.2006 bewilligt hat.

15

3. Die Klägerin zu 1 erfüllt nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) als 1983 geborene erwerbsfähige hilfebedürftige deutsche Staatsangehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, die Klägerinnen zu 2 und 3 gehören der Bedarfsgemeinschaft über § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II an. Aufgrund der Verteilungsregelung des § 9 Abs 1 und Abs 2 Satz 3 SGB II profitieren die Klägerinnen zu 2 und 3 dabei auch von einer Erhöhung der Regelleistung bei der Klägerin zu 1. Diese hat einen Anspruch auf Berücksichtigung der vollen Regelleistung in Höhe von seinerzeit 345 Euro aus der analogen Anwendung des § 20 Abs 2 SGB II in der bis zum 30.6.2006 gültigen Fassung. Die maßgebliche hier anzuwendende Gesetzesfassung ergibt sich aus der Übergangsregelung des § 68 Abs 1 SGB II idF des Änderungsgesetzes vom 24.3.2006 (BGBl I 558). Danach war die neue Gesetzesfassung erst für Bewilligungszeiträume anzuwenden, die ab dem 1.7.2006 begannen. Da sich der Bewilligungszeitraum vorliegend vom 1.6.2006 bis 30.11.2006 erstreckte, war - anders als es das LSG getan hat - noch das Gesetz in der vorangegangenen Fassung anzuwenden, in der ua der Begriff "Angehörige" statt "Partner" verwendet wird. Die Prüfung der unzutreffenden Gesetzesfassung wirkt sich aber nicht aus, weil die Änderungen für die hier zu treffende Entscheidung ohne Bedeutung sind.

16

§ 20 Abs 2 SGB II in der maßgeblichen Fassung ist allerdings nicht direkt anzuwenden(dazu unter a). Die vorhandene Lücke ist auch nicht durch § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II zu schließen(dazu unter b). Der Anspruch der Klägerin zu 1 ergibt sich im Ergebnis aus der analogen Anwendung des § 20 Abs 2 SGB II(dazu unter c).

17

a) Gemäß § 20 Abs 2 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung(vgl oben) beträgt die monatliche Regelleistung für Personen, die alleinstehend oder alleinerziehend sind oder deren Partner minderjährig ist, in den alten Bundesländern einschließlich Berlin (Ost) 345 Euro, in den neuen Bundesländern 331 Euro (der letzte Satzteil wurde zum 1.7.2006 aufgehoben). Einer direkten Anwendung dieser Norm steht ihr Wortlaut entgegen. Die Interpretation des Begriffs "alleinstehend" in § 20 Abs 2 SGB II in dem Sinne "ohne Partner mit Leistungsbezug nach dem SGB II" kommt nicht in Betracht. Dem steht bereits die grundsätzlich nicht nach persönlicher Anspruchsberechtigung differenzierende gesetzliche Definition der Bedarfsgemeinschaft gemäß § 7 Abs 3 SGB II entgegen. Die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft zwischen Partnern wird unabhängig davon bestimmt, ob die einbezogene Person selbst leistungsberechtigt nach dem SGB II ist (vgl Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 7 RdNr 57). Die Ansprüche auch der Mitglieder einer mehrköpfigen Bedarfsgemeinschaft sind im SGB II als Individualansprüche ausgeformt. Ein familieneinheitlicher Leistungsanspruch ist im Gesetz nicht angelegt, wie die Kodifikation von Leistungsausschlüssen für Altersrentner und der Vorrang der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII vor dem Sozialgeld zeigen (§ 28 Abs 1 Satz 1 SGB II). Der Gesetzgeber hat bewusst in Kauf genommen, dass innerhalb einer Familie unterschiedlich geartete Existenzsicherungsansprüche bestehen (vgl BSG Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 66/08 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 14).

18

b) Die bestehende Regelungslücke kann entgegen der Ansicht des Beklagten nicht im Wege einer direkten (dazu unter aa) oder analogen (dazu unter bb) Anwendung des § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II geschlossen werden mit dem Ergebnis, dass die Klägerin zu 1 nur 90 vH der Regelleistung erhalten würde. Dem stehen Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Norm entgegen.

19

aa) Nach § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung beträgt die Regelleistung bei zwei Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, jeweils 90 vH der Regelleistung nach Abs 2. Bereits in der damaligen Fassung waren Partnerschaftsregelsätze gemeint (vgl dazu Lang in Eicher/Spellbrink, SGB II, 1. Aufl 2005, § 20 RdNr 98), obwohl der Begriff "Angehörige" erst in der ab 1.7.2006 geltenden Fassung durch "Partner" ersetzt wurde. Die Verwendung des Begriffs "jeweils" im Zusammenhang mit der Bestimmung der anteiligen Regelleistung von 90 vH kann in diesem Zusammenhang nur so verstanden werden, dass beide Partner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beanspruchen können, die rechnerisch bei der Bedarfsermittlung in Höhe von insgesamt 180 vH anzusetzen sind.

20

Diese Auslegung entspricht der Begründung des Entwurfs des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (vgl BT-Drucks 15/1516 S 56). Danach sollte durch § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II klargestellt werden, dass die Regelleistung für zwei Angehörige der Bedarfsgemeinschaft, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, jeweils 90 vH beträgt. Die Norm zielt damit auf die einheitliche Bemessung der Regelleistung für den genannten Fall. Es sollte dadurch berücksichtigt werden, dass Frauen in Paarbeziehungen in der Regel nicht als Haushaltsvorstand gelten und daher ohne Durchschnittsermittlung nur die geringere Regelleistung von 80 vH für sonstige erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft erhalten würden. Durch die "90 vH-Regelung" wird der in § 1 Abs 1 Satz 3 SGB II enthaltene gesetzgeberische Wille umgesetzt, wonach die Gleichstellung von Mann und Frau als durchgängiges Prinzip zu verfolgen ist. Nach Verzicht des Gesetzgebers auf die Figur des Haushaltsvorstands (vgl BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 6/06 R - BSGE 97, 211 = SozR 4-4200 § 20 Nr 2, RdNr 19)werden dem Wortlaut nach zwei volljährige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft bei Berücksichtigung identischer (Regel-)Bedarfe auch gleich behandelt. Die Gleichartigkeit der Bedarfe lässt sich auf zwei volljährige Angehörige (Partner) der Bedarfsgemeinschaft, die Leistungen nach dem SGB II beziehen können, also dem Grunde nach Anspruchsberechtigte sind, herabbrechen (vgl BSG Urteil vom 16.10.2007 - B 8/9b SO 2/06 R - BSGE 99, 131 = SozR 4-3500 § 28 Nr 1, RdNr 13).

21

Andere Personengruppen, die ihren Lebensunterhalt ebenfalls nicht aus eigener finanzieller Kraft decken können, stehen zB Leistungen nach dem SGB XII oder dem AsylbLG zur Verfügung. Ziel des SGB II ist aber nur die Sicherung des Lebensunterhalts für nach dem SGB II leistungsberechtigte Personen. Dementsprechend kann § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II grundsätzlich nur Konstellationen erfassen, in denen beide volljährige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft dem Leistungssystem des SGB II unterfallen. Eine analoge Anwendung von § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II auf nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige, die mit Partnern in einer Bedarfsgemeinschaft leben, kommt jedoch, wie das BSG bereits entschieden hat(vgl BSG Urteil vom 16.10.2007 - B 8/9b SO 2/06 R - BSGE 99, 131 = SozR 4-3500 § 28 Nr 1, RdNr 19), bei einer Anspruchsberechtigung nach dem SGB XII in Betracht. Im Fall einer "gemischten Bedarfsgemeinschaft" zwischen einem Leistungsberechtigten nach dem SGB II mit einem nach dem SGB XII leistungsberechtigten Partner sind die Regelungen nach dem SGB XII lückenhaft. Auf gemischte Bedarfsgemeinschaften, in denen kein Anspruch auf jeweils 90 vH der Regelleistung nach § 20 Abs 2 SGB II besteht, wie dies bei der hier vorliegenden Bedarfsgemeinschaft zwischen einem nach SGB II Leistungsberechtigten und einem Leistungsberechtigten nach § 3 AsylbLG der Fall ist, ist dagegen § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II nicht anwendbar.

22

bb) Die genannte Norm ist auch nicht entsprechend heranzuziehen. Eine analoge Anwendung eines Gesetzes auf gesetzlich nicht umfasste Sachverhalte kommt nur in Betracht, wenn die Regelung wegen der Gleichheit der zugrunde liegenden Interessenlage auch den nicht geregelten Fall hätte einbeziehen müssen. Wegen der Vorrangigkeit des gesetzgeberischen Willens gegenüber der richterlichen Rechtsetzung ist für eine Analogie schon dann kein Raum, wenn es nur zweifelhaft erscheint, ob die verglichenen Sachverhalte nicht doch derart unterschiedlich sind, dass durch eine Gleichstellung die gesetzliche Wertung in Frage gestellt würde (BSG Urteil vom 27.1.1987 - 6 RKa 28/86 - BSGE 61, 146, 147 = SozR 2200 § 368h Nr 4).

23

Nach der Konzeption des SGB II sollen Asylbewerber und ausreisepflichtige geduldete Personen als Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten. Der Gesetzgeber hat mit dem AsylbLG für den betroffenen Personenkreis ein besonderes Sicherungssystem geschaffen, das eigenständige und abschließende Regelungen zur Sicherung des Lebensunterhalts enthält (vgl BT-Drucks 15/1516 S 52). Systemprägend im Asylbewerberleistungsrecht ist die konkret-individuelle Bedarfsdeckung durch Sachleistungen (§ 3 Abs 1 Satz 3 AsylbLG; vgl Frerichs in jurisPK-SGB XII, § 3 AsylbLG RdNr 30). Wegen der Abhängigkeit vom konkreten Bedarf des Leistungsberechtigten lässt sich ein der pauschalierten Regelleistung vergleichbarer monatlicher Wert der Leistungen nicht feststellen. Selbst wenn - wie im vorliegenden Fall - die Hilfe nach dem AsylbLG als Geldleistung gewährt wird, führt dies nicht zu einer Vergleichbarkeit der Regelungen des SGB II und des AsylbLG. Dies folgt daraus, dass die Beträge des § 3 Abs 2 Satz 2 AsylbLG weder mit noch ohne Taschengeld gemäß § 3 Abs 1 Satz 4 AsylbLG einen im Vergleich zum SGB II identischen Prozentsatz abbilden. Eine Gleichbehandlung von zwei nach dem SGB II leistungsberechtigten Partnern mit zwei Partnern, von denen einer nach dem AsylbLG anspruchsberechtigt ist, entspricht dem gesetzgeberischen Gesamtkonzept erkennbar nicht.

24

c) Im Ergebnis folgt der Anspruch der Klägerin zu 1 auf die Berücksichtigung der vollen Regelleistung aus der analogen Anwendung des § 20 Abs 2 SGB II, denn die wirtschaftliche Situation des Leistungsberechtigten nach dem SGB II, der mit einem Leistungsberechtigten nach § 3 AsylbLG zusammenlebt, ist mit derjenigen eines Leistungsberechtigten vergleichbar, der alleinstehend ist oder dessen Partner jedenfalls nicht in den Genuss der vollen Regelleistung für Erwachsene kommt.

25

Die Regelleistung (jetzt: Regelbedarf, vgl Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011, BGBl I 453) im Rahmen des Arbeitslosengeldes II bildet das soziokulturelle Existenzminimum der insoweit als Referenzsystem für alle bedarfsorientierten und bedürftigkeitsabhängigen staatlichen Fürsorgeleistungen fungierenden Sozialhilfe ab (BT-Drucks 15/1516 S 56). Zwar vermeidet das SGB II die Verwendung des Begriffs "Eckregelsatz" als Bezugspunkt, der Sache nach ist § 20 Abs 2 SGB II aber nichts anderes(vgl Lang, aaO, § 20 RdNr 78). § 20 Abs 2 SGB II ist ebenso wie der Eckregelsatz im SGB XII Ausgangspunkt für die Ableitung der Regelleistungen der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II bzw der Haushaltsgemeinschaft nach dem SGB XII für den Fall, dass diese dem jeweiligen Leistungssystem unterfallen(vgl Begründung des Entwurfs der Regelsatzverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 12.3.2004, BR-Drucks 206/04 S 6). Von diesem "Eckregelsatz" abgeleitete Prozentsätze rechtfertigen sich in der durch § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II zugrunde gelegten Lebenssituation, in der beide Partner gleichwertige Existenzsicherungsleistungen erhalten. Ist ein Lebenssachverhalt dagegen nicht unter § 20 Abs 3 Satz 1 SGB II zu subsumieren, ist auf § 20 Abs 2 SGB II als Grundtatbestand für die Erbringung pauschalierter existenzsichernder Leistungen zu regelleistungsrelevanten Bedarfen iS des § 20 Abs 1 SGB II abzustellen.

26

§ 20 Abs 2 SGB II ist auch aus der Erwägung heraus anwendbar, dass durch die gesetzlichen Regelungen in § 20 SGB II mit der Kombination von 100 vH und 80 vH des Regelsatzes bzw jeweils 90 vH des Regelsatzes der Gesichtspunkt der Berücksichtigung von Haushaltsersparnissen betont wird. Die Annahme, dass durch eine gemeinsame Haushaltsführung Kosten erspart werden, setzt die Vergleichbarkeit der in den Bedarfen angesetzten Positionen voraus. Eine solche Vergleichbarkeit besteht zwischen SGB II-Leistungen und den Grundleistungen nach dem AsylbLG schon deshalb nicht, weil in dem genannten Rahmen nur Leistungen miteinander vergleichbar sind, die von dem Konzept pauschalierter, also abstrakter Bedarfsdeckung ausgehen, während dem AsylbLG - wie dargestellt - das Sachleistungsprinzip zugrunde liegt.

27

4. Entgegen der Auffassung des Beklagten führt die Berücksichtigung einer nach § 20 Abs 2 SGB II bemessenen Regelleistung für die Klägerin zu 1 auch nicht zu einer ungerechtfertigten Besserstellung deren Ehemannes gegenüber anderen Grundleistungsberechtigten nach dem AsylbLG. Der Ehemann hat dadurch keinen höheren Leistungsanspruch. Weder das SGB II noch das AsylbLG kennen einen Gesamtleistungsanspruch der Bedarfsgemeinschaft. Die Klägerinnen sind auch nicht verpflichtet, den Ehemann der Klägerin zu 1 an ihren höheren Leistungsansprüchen teilhaben zu lassen. Aus der Verklammerung von Personen zu Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft im SGB II entstehen keinerlei Rechtsansprüche der zusammen veranlagten Personen auf Unterhaltsleistungen (vgl BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 51/09 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 23).

28

Der Beklagte hat daher grundsätzlich bei der Klägerin zu 1 die volle Regelleistung zu berücksichtigen. Auf seine Revision hin war das angefochtene Urteil nur insoweit zu korrigieren, als das LSG die Rundungsregelung des § 41 Abs 2 SGB II nicht beachtet hat. Die Endzahlbeträge der errechneten Leistungen sind getrennt nach den Individualansprüchen der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu runden (vgl BSG Urteil vom 19.3.2008 - B 11b AS 23/06 R - SozR 4-4200 § 24 Nr 3 RdNr 25; Urteil vom 6.5.2010 - B 14 AS 2/09 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 15 RdNr 13). Da die Revision nur von dem Beklagten eingelegt wurde, ist eine Tenorierung zugunsten der Klägerinnen zu 2 und 3 ausgeschlossen. Für die Klägerin zu 1 ergibt sich hingegen ein Auszahlungsbetrag in Höhe von 492 Euro. Das Urteil des LSG ist daher dahingehend zu ändern, dass lediglich weitere 32,70 Euro monatlich zu zahlen sind.

29

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 15. Februar 2013 teilweise aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 19,75 Euro zu zahlen.

Im Übrigen wird die Revision wegen des Zinsanspruches zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Rückzahlung eines Erstattungsbetrages.

2

Die Klägerin lebte mit ihrem damaligen Lebensgefährten und ihren beiden minderjährigen Kindern in einer Bedarfsgemeinschaft. Die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erhielten im Zeitraum vom 1.6.2008 bis 30.11.2008 Leistungen nach dem SGB II.

3

Mit dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.10.2008 wurde die Leistungsbewilligung für die Klägerin in Höhe von 19,75 Euro aufgehoben und die Erstattung des Betrages verlangt. Nach einer Mahnung durch das Hauptzollamt erstattete der Lebensgefährte der Klägerin den geforderten Betrag im Zeitraum vor dem 5.8.2009.

4

Am 17.10.2011 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 23.10.2008. Daraufhin hob der Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mit dem Bescheid vom 13.12.2011 auf. Eine Rückzahlung des fraglichen Betrages erfolgte nicht.

5

Die Klägerin hat beim SG Klage auf Rückzahlung des Erstattungsbetrages erhoben. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15.2.2013). Es hat zur Begründung ausgeführt, die Klage sei als sog echte Leistungsklage zulässig. Der Umstand, dass der Lebensgefährte der Klägerin der Rückzahlungspflicht nachgekommen sei, berühre das Leistungsverhältnis zwischen den Beteiligten nicht. Vielmehr bleibe die Klägerin gegenüber dem Beklagten aktiv legitimiert. Der geltend gemachte Zahlungsanspruch stehe der Klägerin unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu. Dem Klagebegehren stehe § 40 Abs 1 SGB II in der seit 1.4.2011 geltenden Fassung iVm § 44 Abs 4 SGB X entgegen. Mit Rücksicht auf die Stellung des Antrages am 17.10.2011 gelte die kürzere Jahresfrist des § 40 Abs 1 S 2 SGB II. Danach habe der Beklagte den Überprüfungsantrag bereits wegen Verfristung ablehnen müssen. Aus dem Umstand, dass der Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 13.12.2011 aufgehoben habe, ergebe sich ein Anspruch ebenfalls nicht. Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin könne - nachdem der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid aufgehoben worden sei - nur der letzte Bewilligungsbescheid sein. Für die Nachzahlung von Sozialleistungen gelte die Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X ohne Weiteres. Habe der Leistungsberechtigte bereits erhaltene Sozialleistungen erstattet und werde der Rückforderungsbescheid aufgehoben, begehre er erneut die Auszahlung von Sozialleistungen. Der geltend gemachte Anspruch sei auch nicht als Herstellungsanspruch oder öffentlich-rechtlicher Bereicherungsanspruch begründet.

6

Die Klägerin hat die vom SG zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Auffassung, sie habe aus den Grundsätzen des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs einen Anspruch auf die Zahlung. § 44 Abs 4 SGB X schränke allenfalls die nachträgliche Erbringung von Sozialleistungen ein. Bei der Rückabwicklung rechtsgrundloser Zahlungen handele es sich schon nicht um Sozialleistungen. Des Weiteren erbringe der Grundsicherungsträger die Leistungen nicht nachträglich.

7

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Cottbus vom 15. Februar 2013 zu verurteilen, an die Klägerin 19,75 Euro nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Sprungrevision (§ 161 SGG) der Klägerin ist im Wesentlichen begründet.

11

Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass die Klägerin ihr Begehren auf Rückzahlung des Erstattungsbetrages mit der echten Leistungsklage verfolgen kann (§ 54 Abs 5 SGG). Zwar ist richtige Klageart im Rahmen eines Zugunstenverfahrens bei der Überprüfung einer rechtswidrigen Leistungsablehnung grundsätzlich die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (BSG SozR 4-1300 § 44 RdNr 9; BSG vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R - NZS 2013, 518, jeweils mwN). Hier war jedoch die Besonderheit zu beachten, dass der Beklagte auf den Antrag der Klägerin nach § 44 SGB X mit dem Bescheid vom 13.12.2011 den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.10.2008 bereits aufgehoben hat und damit dem Anfechtungs- und Verpflichtungsbegehren der Klägerin insoweit nachgekommen ist. Dieser Bescheid enthielt jedoch keine Regelung zur Frage der Rückgewähr des Erstattungsbetrages. Einer zusätzlichen Anfechtung des Ablehnungsbescheides und eines auf die Rücknahme der belastenden Entscheidung gerichteten Verpflichtungsantrages sowie einer Nachholung des Leistungsverfahrens bedurfte es daher ausnahmsweise nicht.

12

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf (Rück-)Zahlung von 19,75 Euro ist § 44 SGB X. Der Anwendbarkeit dieser Vorschrift für die Vergangenheit stehen im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende - wie der erkennende Senat bereits ausdrücklich entschieden hat - keine über die gesetzlich normierten Einschränkungen hinausgehenden Besonderheiten des SGB II entgegen (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 36).

13

1. Die Klägerin war zur Geltendmachung des Rückzahlungsbetrages materiell berechtigt. Hieran ändert sich nichts dadurch, dass nach den Feststellungen des SG der damalige Lebensgefährte der Klägerin den von dem Beklagten auf der Grundlage des § 50 SGB X geforderten Erstattungsbetrag an diesen überwiesen hatte. Die Zahlung erfolgte allein mit Rücksicht auf das zwischen der Klägerin und dem Beklagten bestehende Sozialrechtsverhältnis und ist deshalb allein in diesem Verhältnis rückabzuwickeln. Eine andere Beurteilung könnte sich nur ergeben, wenn die Klägerin den hier streitigen Rückzahlungsanspruch wirksam an ihren früheren Lebensgefährten abgetreten hätte.

14

2. Nach dem Wortlaut des § 44 Abs 1 S 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder - hier nicht von Interesse - Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Zutreffend ist der Beklagte zunächst davon ausgegangen, dass diese Regelung entsprechende Anwendung findet, soweit mit einem Aufhebungsbescheid eine Leistungsbewilligung zurückgenommen worden ist. Die entsprechende Anwendung folgt - wie der 11. Senat des BSG überzeugend ausgeführt hat (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 19; ebenso BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 21 und 24; BVerwGE 97, 103, 107) - aus dem Regelungszweck der Vorschrift, die nicht nur Fälle erfasst, in denen den Betroffenen ein rechtlicher Nachteil durch unrechtmäßiges Vorenthalten einer Sozialleistung entstanden ist, sondern auch solche, in denen der Bürger zwar Sozialleistungen erhalten hat, die Leistungsbewilligung nachträglich jedoch zurückgenommen worden ist. Dieser Rechtsprechung, der die Literatur überwiegend gefolgt ist (Baumeister in jurisPK-SGB X, 2013, § 44 RdNr 65; Schütze in von Wulffen/Schütze, 8. Aufl 2014, § 44 RdNr 16 f; Waschull in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 44 RdNr 22; aA Steinwedel in KassKomm, § 44 RdNr 42, Stand September 2013), schließt sich der Senat an.

15

Der Senat geht davon aus, dass der Anspruch auf Rückzahlung des Betrages in Höhe von 19,75 Euro allein daraus folgt, dass der Beklagte den ursprünglichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid zurückgenommen und damit die Rechtsgrundlage für das Behaltendürfen des Erstattungsbetrages beseitigt hat. Ob der Beklagte den ursprünglichen - auf § 45 SGB X gestützten - Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.10.2008 zu Recht wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit zurückgenommen hat, weil die Voraussetzungen des § 44 SGB X erfüllt waren, brauchte vom Senat im Übrigen nicht geprüft zu werden, weil der Beklagte den fraglichen Bescheid bereits aufgehoben hat.

16

Zu der Aufhebung wäre der Beklagte zwar ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt, die rückwirkende Gewährung des Betrages sei nach § 44 Abs 4 SGB X iVm § 40 Abs 1 S 2 SGB II ausgeschlossen, nicht verpflichtet gewesen. Denn das BSG hat die Regelung des § 44 Abs 4 S 1 SGB X über ihren engen Wortlaut hinaus dahin ausgelegt, dass bereits die Rücknahme des belastenden Verwaltungsaktes bei Eingreifen der "Verfallklausel" des § 44 Abs 4 SGB X "schlechthin" ausgeschlossen ist(BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 1; BSG SozR 3-6610 Art 5 Nr 1). Die Verwaltung hat dementsprechend schon eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs 1 SGB X nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für eine Zeit betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist liegen. Die zwingend anzuwendende Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X steht folglich für länger zurückliegende Zeiten bereits dem Erlass eines Rücknahme- und Ersetzungsaktes entgegen. In anderem Falle darf die Verwaltung einen den Anspruch nach § 44 SGB X vollziehenden Verwaltungsakt nicht erlassen(BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 1 S 3), denn bereits die Rücknahme steht unter dem Vorbehalt, dass Leistungen nach § 44 Abs 4 SGB X noch zu erbringen sind(so etwa BSG vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R - RdNr 10).

17

Aus dieser Begrenzung der Rücknahmeverpflichtung dürfte andererseits im Umkehrschluss folgen, dass die Verwaltung zur Anwendung der zwingend anzuwendenden Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X verpflichtet bleibt, wenn sie den beanstandeten Verwaltungsakt ungeachtet einer etwaig eingreifenden Verfallfrist zurückgenommen hat. Hierbei ist hinsichtlich des Vollzugs des Rückzahlungsanspruchs nicht auf den ursprünglichen Bewilligungsbescheid zurückzugreifen. Denn der Anspruch auf die durch Verwaltungsakt zugesprochenen SGB II-Leistungen war von dem Beklagten durch Zahlung erfüllt (§ 362 BGB). Der bereits erfüllte Sozialleistungsanspruch lebt durch die Rücknahme der Aufhebungsentscheidung nicht wieder auf.

18

Hat die Verwaltung einen rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakt zurückgenommen, so ergibt sich der Rückzahlungsanspruch unmittelbar aus § 44 Abs 4 S 1 SGB X. Diese Vorschrift ist vom BSG - soweit nicht eine länger zurückliegende Zeit betroffen ist - als zwingend anzuwendende Vollzugsregelung angesehen worden (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 1 S 3 mwN). Die genannte Regelung verpflichtet die zuständige Behörde nach der Rücknahme eines Verwaltungsaktes zur Erbringung der bisher vorenthaltenen Leistungen. Sie folgt der dem SGB X zugrundeliegenden Unterscheidung von der Korrektur des Verfügungssatzes von Verwaltungsakten einerseits (§§ 44 bis 49 SGB X) und dem Vollzug der Korrektur in finanzieller Hinsicht andererseits (§ 44 Abs 4, § 50 SGB X; vgl zu dieser Unterscheidung BSGE 61, 134, 156 f = SozR 1300 § 48 Nr 32). Diesem systematischen Konzept entspricht es, die Korrektur des Verfügungssatzes jeweils unmittelbar mit dem finanziellen Ausgleich zu verkoppeln und eine nochmalige Prüfung der Aufhebungsvoraussetzungen bei der finanziellen Korrektur auszuschließen (so zum Verhältnis von § 48 Abs 1 SGB X und § 50 SGB X: BSG 1300 SozR § 50 Nr 16).

19

3. Der Senat kann dies aber im Ergebnis dahinstehen lassen, denn die Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme des Aufhebungsbescheides und zur Erstattung des Rückzahlbetrages war ohnehin nicht durch die Verfallfristen § 44 Abs 4 SGB X iVm § 40 Abs 1 S 2 SGB II ausgeschlossen. Nach § 44 Abs 4 S 1 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme eines Verwaltungsaktes erbracht, wenn der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Der Zeitraum der Rücknahme wird von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (Abs 4 S 2). Für die Berechnung tritt nach S 3 an die Stelle der Rücknahme der Antrag, wenn dieser zur Rücknahme führt. Diese Regelungen werden durch § 40 Abs 1 S 2 SGB II in der Weise modifiziert, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt. § 40 Abs 1 S 2 SGB II ist nach der Übergangsregelung in § 77 Abs 13 SGB II - hier mit Rücksicht auf den am 17.10.2011 gestellten Antrag nicht einschlägig - nicht anwendbar auf Anträge nach § 44 SGB X, die vor dem 1.4.2011 gestellt worden sind (zu den Gründen für die Übergangsregelung Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, § 77 RdNr 30, Stand 10/11; S. Knickrehm/Hahn in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 77 RdNr 27).

20

Eine entsprechende Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X iVm § 40 Abs 1 S 2 SGB II auf die vorliegende Gestaltung scheidet allerdings aus, denn Voraussetzung für die Anwendbarkeit der genannten Regelung ist stets, dass infolge der unrichtigen Entscheidung Sozialleistungen nicht erbracht worden sind(BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 19; vgl auch schon BSGE 68, 180 = SozR 3-1300 § 44 Nr 1). Der Senat folgt auch insoweit der überzeugenden Entscheidung des 11. Senats des BSG (SozR 3-1300 § 44 Nr 19), der eine Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X ausgeschlossen hat, soweit eine Erstattungsforderung des Leistungsträgers gegen einen Leistungsbezieher über eine bestimmte Geldsumme streitig ist. Danach rechtfertigt es insbesondere der Zweck der Vorschrift nicht, sie auch auf Fälle auszudehnen, in denen es nicht um rückwirkend zu erbringende Sozialleistungen geht. Denn der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift lediglich die materiell-rechtliche Begrenzung rückwirkender Leistungsansprüche prinzipiell für vier Jahre regeln (BT-Drucks 8/2034 S 34). Die analoge Übertragung der Regelung auf die Rücknahme von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden scheitert deshalb daran, dass ein dem geregelten nicht vergleichbarer Sachverhalt zu beurteilen ist. Denn die Klägerin fordert nicht die rückwirkende Gewährung von Sozialleistungen, sondern die Rückzahlung eines zu Unrecht geleisteten Erstattungsbetrages.

21

Die vom 11. Senat des BSG entwickelten Grundsätze sind auf die vorliegende Gestaltung übertragbar. Zwar unterscheidet sich der hier zu entscheidende Fall - worauf das SG zu Recht hingewiesen hat - von demjenigen Sachverhalt, der der Entscheidung des 11. Senats zugrunde lag, dadurch, dass die Verwaltung den Leistungsberechtigten wegen einer Geldforderung aus dem ursprünglichen Rücknahmebescheid noch aktuell in Anspruch genommen hatte. Hingegen war der im vorliegenden Verfahren streitige Erstattungsbetrag in Höhe von 19,75 Euro an den Beklagten bereits gezahlt worden, sodass es um die Rückgewähr dieses Geldbetrages geht. Hieraus folgt jedoch keine anderweitige Bewertung der Interessenlage. Vielmehr geht es auch in der vorliegenden Gestaltung um das rechtliche Schicksal einer von der Behörde rechtswidrig geltend gemachten Erstattungsforderung. Ausschlaggebend ist insoweit, dass derjenige rechtstreue Leistungsberechtigte, der eine von der Behörde geltend gemachte rechtswidrige Erstattungsforderung beglichen hat, im Ergebnis nicht schlechter stehen kann, als wenn diese Zahlung unterblieben wäre. Zudem greift unabhängig von der Frage der auf der Grundlage des § 50 SGB X durch den Leistungsberechtigten erfolgten Erstattung in beiden Konstellationen die Grundüberlegung für die Beschränkung des § 44 Abs 4 SGB X, dass laufende Sozialleistungen wegen ihres Unterhaltscharakters nicht für einen längeren Zeitraum nachgezahlt werden sollen(BT-Drucks 8/2034 S 34; vgl auch Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 44 RdNr 28; aA Baumeister in jurisPK-SGB X, 2013, § 44 RdNr 113, der auf die Schaffung von Rechtssicherheit abstellt), nicht ein. Die Nachzahlung von rechtswidrig vorenthaltenen Sozialleistungen kann dem Einbehalten von rechtswidrig erlangten Erstattungsbeträgen wertungsmäßig nicht gleichgestellt werden.

22

4. Die Revision ist jedoch hinsichtlich der begehrten Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Zinsen seit Rechtshängigkeit unbegründet; insoweit erfolgte die Klageabweisung zu Recht. Bei dem geltend gemachten Anspruch auf Rückgewähr des ursprünglich an den Beklagten gezahlten Erstattungsbetrages handelt es sich nicht um eine Geldleistung iS des § 44 Abs 1 SGB I. Unter Geldleistung im Sinne der Regelung über die Verzinsung von Ansprüchen im SGB sind grundsätzlich nur Sozialleistungen zu verstehen (vgl nur Hänlein in KSW, 3. Aufl 2013, § 44 RdNr 2; Wagner, jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2012, § 44 RdNr 14 jeweils mwN). Nicht ausreichend ist insoweit, dass der Rückzahlung des Erstattungsbetrages ursprünglich die Gewährung von Sozialleistungen zugrunde lag. Der Klägerin kann auch kein Anspruch auf Verzugs- (§ 288 BGB) oder Prozesszinsen (§ 291 BGB) zugebilligt werden. Ein derartiger Anspruch kommt jedenfalls nicht in Betracht, wenn der Hauptanspruch nicht nach § 44 SGB I zu verzinsen ist(vgl nur BSGE 71, 72 = SozR 3-7610 § 291 Nr 1 zu einem Anspruch auf Rückerstattung von vom Arbeitgeber zu Unrecht erstattetem Arbeitslosengeld).

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24. April 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungs-verfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) für die Zeit vom 1.1.2007 bis 30.6.2009.

2

Am 22.8.2011 beantragte der 1997 geborene Kläger rückwirkend ab 1.1.2007 bis 30.6.2009 höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Frist für die Nachzahlung von Leistungen nach § 44 Abs 4 SGB X sei durch Einfügen des § 116a Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) auch für das Asylbewerberleistungsrecht auf ein Jahr begrenzt worden. Für Leistungen nach § 2 AsylbLG sei das SGB XII entsprechend anzuwenden, sodass Nachzahlungen nur noch für die Zeit ab 1.1.2010 möglich seien (Bescheid vom 16.9.2011; Widerspruchsbescheid vom 23.9.2011).

3

Die hiergegen erhobene Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24.4.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, einer Überprüfung des streitbefangenen Zeitraums stehe § 116a SGB XII entgegen, wonach für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes § 44 Abs 4 SGB X mit der Maßgabe gelte, dass anstelle des (Nachzahlungs-)Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr trete, gerechnet von Beginn des Jahres an, in dem der Antrag gestellt worden sei. Diese Regelung sei nach § 136 SGB XII auf Überprüfungsanträge anzuwenden, die ab dem 1.4.2011 gestellt worden seien. Zwar finde sich keine § 116a SGB XII entsprechende Regelung im AsylbLG, die Vorschrift sei aber wegen einer planwidrigen Lücke im Gesetz analog anzuwenden.

4

Mit seiner Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 4 SGB X. Danach seien rechtswidrig vorenthaltene Leistungen für bis zu vier Jahre rückwirkend nachzuzahlen. § 116a SGB XII, der die Frist auf ein Jahr verkürze, sei nicht analog auf Leistungen nach dem AsylbLG anwendbar. Dem Gesetzgebungsverfahren zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch lasse sich entnehmen, dass der Gesetzgeber bewusst auf eine Verkürzung der Frist von vier Jahren bei den Überprüfungsanträgen nach § 44 SGB X für diesen Bereich verzichtet habe, sodass es an einer planwidrigen Regelungslücke mangele. Es fehle auch eine vergleichbare Interessenlage, weil Anträge nach § 44 SGB X nicht nur die Erhöhung der Leistungsgewährung auf die Regelsätze nach dem SGB XII, sondern auch die Überprüfung der Leistungsgewährung nach §§ 1a und 3 AsylbLG beträfen.

5

Der Kläger hat sinngemäß schriftsätzlich beantragt,
das Urteil des SG und den Bescheid vom 16.9.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.9.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Rücknahme entgegenstehender Verwaltungsakte für die Zeit vom 1.1.2007 bis 30.6.2009 höhere Leistungen zu zahlen.

6

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Sprungrevision (§ 161 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz) ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Kläger hat schon deshalb keinen Anspruch auf rückwirkend zu gewährende höhere Leistungen für den streitbefangenen Zeitraum, weil er seinen Überprüfungsantrag erst im August 2011 gestellt hat und § 116a SGB XII der rückwirkenden Leistungsgewährung entgegensteht.

9

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 16.9.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.9.2011 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, dem Kläger unter Aufhebung entgegenstehender bestandskräftiger Bescheide rückwirkend höhere Leistungen nach dem AsylbLG zu zahlen. Gegen diesen wendet sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4 SGG, § 56 SGG(BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 9; BSG, Urteil vom 20.12.2012 - B 7 AY 4/11 R - RdNr 10), auf die auch bei Anwendung des § 44 SGB X ein Grundurteil nach § 130 Abs 1 SGG ergehen kann (BSGE 88, 299, 300 = SozR 3-4300 § 137 Nr 1 S 2; BSG SozR 4-3520 § 3 Nr 3 RdNr 10; BSG, Urteil vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R - RdNr 9).

10

Gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 1 SGB X(zur Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Asylbewerberleistungsrecht vgl: BSGE 104, 213 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22)ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Einer Entscheidung darüber, ob dem Kläger in der Zeit vom 1.1.2007 bis zum 30.6.2009 Leistungen zu Unrecht vorenthalten wurden und die insoweit ergangenen Bescheide rechtswidrig waren (§ 44 Abs 1 SGB X), bedarf es nicht. § 44 Abs 1 SGB X zielt im Ergebnis auf die Ersetzung des rechtswidrigen Verwaltungsakts, mit dem eine (höhere) Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, durch einen die (höhere) Leistung gewährenden Verwaltungsakt ab. Einem Antragsteller, der über § 44 Abs 4 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten kann, kann regelmäßig kein rechtliches Interesse an der Rücknahme iS von § 44 Abs 1 SGB X zugebilligt werden. Die Unanwendbarkeit der "Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X" steht dann einer isolierten Rücknahme entgegen(BSGE 104, 213 ff RdNr 22 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; BSGE 68, 180 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 1). So liegt der Fall hier. Selbst im Falle der Rechtswidrigkeit bestandskräftiger Bescheide über Leistungen nach dem AsylbLG könnten höhere Leistungen rückwirkend allenfalls für die Zeit ab 1.1.2010 erbracht werden, die nicht streitbefangen ist; insoweit ist § 116a SGB XII analog im Asylbewerberleistungsrecht anzuwenden.

11

Zu Unrecht vorenthaltene Leistungen nach dem AsylbLG werden zwar gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 4 SGB X längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgten Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes erbracht; dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs 4 Satz 2 SGB X). Erfolgt die Rücknahme - wie hier - auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag. Die 4-Jahresfrist verkürzt sich aber für Anträge, die - wie hier - nach dem 31.3.2011 gestellt wurden, in entsprechender Anwendung des die Regelung des § 44 Abs 4 SGB X modifizierenden § 116a SGB XII iVm dem bis 31.12.2012 geltenden § 136 SGB XII(jeweils in der Normfassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 - BGBl I 453) auf ein Jahr, sodass angesichts der im August 2011 erfolgten Antragstellung keine für den streitbefangenen Zeitraum zu Unrecht vorenthaltenen Leistungen mehr zu erbringen sind. Wann ein bestandskräftiger Bescheid über die Ablehnung von Leistungen nach dem AsylbLG für den streitbefangenen Zeitraum - ausdrücklich durch förmlichen Verwaltungsakt oder konkludent (dazu BSG, Urteil vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R- RdNr 9) - ergangen ist, ist für die Anwendung des § 44 Abs 1 iVm Abs 4 SGB X ohne Bedeutung.

12

§ 116a SGB XII ist im Zusammenhang mit § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 SGB X analog anzuwenden, weil das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch durch das Unterlassen einer Änderung in § 9 Abs 3 AsylbLG eine planwidrige Regelungslücke enthält, die durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen ist(Greiser in juris PraxisKommentar SGB XII, § 116a SGB XII RdNr 21 ff). Eine direkte Anwendung des § 116a SGB XII scheidet hingegen aus. Zwar werden Leistungen nach § 2 AsylbLG in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht (§ 2 Abs 1 AsylbLG); jedoch betrifft diese Regelung nach ihrem Wortlaut ("abweichend von §§ 3 bis 7"), gleich ob sie eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverweisung enthält(offengelassen in BSGE 101, 49 ff RdNr 14 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2), nur das Leistungsrecht des AsylbLG. Deshalb bedarf es für eine direkte Anwendung der den Zeitraum des § 44 Abs 4 SGB X von vier auf ein Jahr verkürzenden Regelung eines besonderen Anwendungsbefehls, der in § 9 Abs 3 AsylbLG aber nicht enthalten ist. § 9 Abs 3 AsylbLG sieht selbst (noch) keine Modifikation des § 44 Abs 4 SGB X vor.

13

Eine Analogie, die Übertragung einer gesetzlichen Regelung - hier des § 116a SGB XII - auf einen Sachverhalt, der von der betreffenden Vorschrift nicht erfasst wird, ist geboten, wenn dieser Sachverhalt mit dem geregelten vergleichbar ist und nach dem Grundgedanken der Norm und damit dem mit ihr verfolgten Zweck dieselbe rechtliche Bewertung erfordert(BSG SozR 3-2500 § 38 Nr 2 RdNr 15). Daneben muss eine (unbewusste) planwidrige Regelungslücke vorliegen (BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN; BSGE 77, 102, 104 = SozR 3-2500 § 38 Nr 1 S 3; BSGE 89, 199, 202 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 95 f mwN). Diese Voraussetzungen liegen vor.

14

Die zu regelnden Sachverhalte sind nicht nur im Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II, dort § 40 Abs 1 Satz 2) und im SGB XII, für die die Jahresbegrenzung eingefügt worden ist, sondern auch im AsylbLG in diesem Sinn gleichartig. Das SGB II, das SGB XII und das AsylbLG sind Existenzsicherungssysteme, die alle das Ziel haben, den Leistungsberechtigten ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen (§ 1 Abs 1 SGB II; § 1 Abs 1 Satz 1 SGB XII; BT-Drucks 12/4451 Satz 1 und 3, wonach die fürsorgerischen Gesichtspunkte der Leistungen an Asylbewerber durch das AsylbLG gewahrt bleiben). Ebenso ist allen drei Existenzsicherungssystemen gemeinsam, dass die gewährten Leistungen einen aktuellen Bedarf bei aktueller Hilfebedürftigkeit decken sollen (sog Aktualitätsgrundsatz, vgl nur Pattar in Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl 2013, S 136) und nicht als nachträgliche Geldleistung ausgestaltet sind (BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05; BVerwGE 60, 236, 238; 66, 335, 338), sodass Leistungen im Rahmen eines Zugunstenverfahrens für die Vergangenheit nur zu erbringen sind, wenn die Existenzsicherungsleistungen ihre Aufgabe noch erfüllen können (BSGE 104, 213 ff RdNr 12 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; SozR 4-1300 § 44 Nr 12 RdNr 14 f).

15

Dieser Gedanke war auch Beweggrund für den Gesetzgeber zur Einführung des § 116a SGB XII. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X für die Leistungen, die als steuerfinanzierte Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts dienten und dabei in besonderem Maße die Deckung gegenwärtiger Bedarfe bewirken sollten(sog Aktualitätsgrundsatz), zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und interessengerecht (BT-Drucks 17/3404, S 114, 129). Nichts anderes kann aber angesichts der Gleichartigkeit der zu regelnden Sachverhalte für Leistungen nach dem AsylbLG gelten. Die in den Regelungen des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II und § 116a SGB XII zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung muss deshalb für das AsylbLG übernommen werden. Erst recht gilt dies unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ursprüngliches Ziel der Leistungen nach dem AsylbLG eine "deutliche Absenkung" der früher nach § 120 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz gewährten Leistungen war, also eine Schlechterstellung der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG(BT-Drucks 12/4451 Satz 1; vgl insoweit aber BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2). Dieses Ziel würde konterkariert, wären im Zugunstenverfahren Leistungen nach dem AsylblG (anders als nach dem SGB II bzw dem SGB XII) annähernd bis zu fünf Jahren rückwirkend zu erbringen.

16

Die Gleichartigkeit der Sachverhalte im SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG gebietet auch eine gleiche Behandlung. Dies bestätigt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Verfassungswidrigkeit des § 3 AsylbLG(BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2), wonach das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Umgekehrt muss das aber auch für Einschränkungen bei der Nachzahlung zu Unrecht vorenthaltener Leistungen gelten. Deshalb soll nach dem Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG (Bearbeitungsstand 4.12.2012; http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/bverfg-asylblg-novelle.html) der Vorschrift des § 9 Abs 3 folgender Satz 2 angefügt werden(Referentenentwurf S 4): "§ 44 Abs 4 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch gilt mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt." Zur Begründung wird ausgeführt, es werde den Besonderheiten des AsylbLG nicht gerecht, Bedarfe, die tatsächlich nicht mehr vorhanden seien, auch für Zeiträume, die länger in die Vergangenheit zurückreichten, rückwirkend zu gewähren. Die Vierjahresfrist des § 44 SGB X sei für steuerfinanzierte Leistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts und damit in besonderem Maße der Deckung gegenwärtiger Bedarfe dienten, zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und interessengerecht. Insofern müssten dieselben Grundsätze wie in § 116a SGB XII und in § 40 Abs 1 SGB XII gelten. Entsprechend werde § 9 Abs 3 AsylbLG so abgeändert, dass § 44 SGB X zukünftig auch im AsylbLG nur mit der Maßgabe Anwendung finde, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein solcher von einem Jahr trete(Referentenentwurf S 15 f, aaO). Die Begründung im Referentenentwurf ist damit annähernd wortgleich zu der Begründung der Änderung des § 40 Abs 1 SGB II und der Einfügung des § 116a SGB XII(BT-Drucks aaO).

17

Es fehlt auch nicht deshalb an der vergleichbaren Interessenlage, weil die Anträge nach § 44 SGB X auch die Überprüfung der Leistungsgewährung nach §§ 1a und 3 AsylbLG betreffen und das System des AsylbLG in erster Linie als Sachleistungssystem ausgestattet ist. Zum einen sind hier solche Leistungen nicht betroffen, sondern Leistungen nach § 2 AsylbLG, die in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht werden, sodass es nicht einzusehen ist, weshalb insoweit eine Besserstellung des Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG erfolgen soll; zum anderen wären Sachleistungen für die Vergangenheit nicht zu erbringen, sondern allenfalls ohnehin Geldleistungen im Sinne eines Sekundäranspruchs. Im Übrigen sehen auch das SGB II und das SGB XII die - allerdings eingeschränkte - Möglichkeit vor, Sachleistungen zu erbringen. Bei der Prüfung, ob die beiden verglichenen Sachverhalte in einer die Analogie ermöglichenden Weise "gleich" bzw "ähnlich" sind, ist die Grenze (erst) dort zu ziehen, wo durch die entsprechende Anwendung die Regelungsabsicht des Gesetzgebers vereitelt würde. Dies ist zwar schon dann zu bejahen, wenn es nur zweifelhaft ist, ob der Unterschied zwischen den verglichenen Sachverhalten nicht doch so groß ist, dass durch eine Gleichstellung die gesetzliche Wertung in Frage gestellt sein könnte (BSGE 57, 195 ff = SozR 1500 § 149 Nr 7). Derartige Zweifel bestehen aber nach oben Gesagtem gerade nicht. So sieht auch der Referentenentwurf (aaO) eine § 116a SGB XII identische Regelung bei annähernd identischer Begründung vor, ohne zwischen den jeweiligen Leistungen nach dem AsylbLG zu unterscheiden.

18

Dies rechtfertigt auch die Folgerung einer durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch entstandenen (unbewussten) planwidrigen Regelungslücke (vgl auch: Greiser in jurisPK-SGB XII, § 116a SGB XII RdNr 27; Scheider in Hohm, AsylbLG, § 9 RdNr 73, Stand Dezember 2012, der ein gesetzgeberisches Versehen wegen unterschiedlicher ministerieller Zuständigkeiten vermutet). Diese hat der Gesetzgeber mittlerweile selbst erkannt, der, wie die beabsichtigte Ergänzung von § 9 Abs 3 AsylbLG und insbesondere die Begründung im Referentenentwurf zeigen, die Gesetzeslücke nachträglich schließen will. Die Annahme einer Gesetzeslücke verbietet sich - anders als der Kläger meint - nicht etwa deshalb, weil in der BT-Drucks 17/3404 die Leistungen nach dem AsylbLG bei der Bewertung der finanziellen Auswirkungen des Entwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ausdrücklich genannt werden (S 45 und 47) und in der dritten Beratung des Gesetzentwurfs (Plenarprotokoll 17/79) über den Entschließungsantrag der Fraktion "Die Linke" zur Ergänzung des Kreises der Leistungsberechtigten nach dem SGB II und dem SGB XII um bisherige Leistungsberechtigte nach dem dann aufzuhebenden AsylbLG (BT-Drucks 17/4106) abgestimmt wurde. Denn die Ausführungen in der BT-Drucks 17/3404 betreffen nur die finanziellen Auswirkungen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes, die natürlich auch Asylbewerber betreffen, die Leistungen entsprechend dem SGB XII erhalten. Auch der Entschließungsantrag der Fraktion "Die Linke" betrifft allein die Höhe der Leistungen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch war eine Reaktion des Gesetzgebers auf die den Regelbedarf nach dem SGB II und dem SGB XII betreffende Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175 ff = SozR 4-4200 § 20 Nr 12). Die zitierten amtlichen Drucksachen und Protokolle betreffen ebenfalls unmittelbar oder mittelbar nur den Regelbedarf bzw die Höhe der Leistungsgewährung, haben jedoch keinen Bezug zur Ergänzung des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II bzw des § 116a SGB XII. Sie sind deshalb weder Beleg dafür, dass Leistungen nach dem AsylbLG bewusst ausgeklammert worden sind, noch begründen sie einen solchen Zweifel. Der Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG belegt insoweit sogar das Gegenteil (dazu oben).

19

An diesem Ergebnis ändert die beabsichtigte Übergangsregelung in § 14 AsylbLG des Referentenentwurfs(Referentenentwurf S 5) nichts, wonach § 9 Abs 3 Satz 2 AsylbLG nicht bei Anträgen nach § 44 SGB X anwendbar sein soll, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung gestellt worden sind. Damit ist bereits keine die Analogie verbietende Regelung beabsichtigt. Ohnedies verbleibt es bis zum möglichen Inkrafttreten bei der Gesetzeslücke, die durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen ist.

20

Schließlich besteht im öffentlichen Recht auch kein allgemeines Analogieverbot zum Nachteil von Bürgern, also der analogen Anwendung einer "belastenden" Norm (BSGE 104, 285 ff = SozR 4-4300 § 335 Nr 2; BSG SozR 3-4100 § 59e Nr 1 S 6; SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 23). Aus der Bindung an "Gesetz und Recht" (Art 20 Abs 3 Grundgesetz ) ergibt sich, dass Exekutive und Judikative bei der Normanwendung - von speziellen verfassungsrechtlichen Analogieverboten wie Art 103 Abs 2 GG abgesehen - nicht auf den ausdrücklich bestimmten Anwendungsbereich der gesetzlichen Bestimmungen beschränkt sind, sondern das Recht insgesamt anwenden müssen (BSGE 104, 285 ff = SozR 4-4300 § 335 Nr 2). Infolgedessen sind auch belastende Normen des öffentlichen Rechts analog anzuwenden, sofern sich die Übertragung auf einen gesetzlich nicht ausdrücklich geregelten Fall - wie hier - wegen der Gleichartigkeit der Sachverhalte gebietet und die Regelungsabsicht des Gesetzgebers sicherstellt.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Beschäftigte, die nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze versicherungsfrei sind, erhalten von ihrem Arbeitgeber als Beitragszuschuß den Betrag, den der Arbeitgeber entsprechend § 249 Absatz 1 oder 2 bei Versicherungspflicht des Beschäftigten zu tragen hätte. Satz 1 gilt für freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Beschäftigte, deren Mitgliedschaft auf der Versicherungsberechtigung nach § 9 Absatz 1 Satz 1 Nummer 8 beruht, entsprechend. Bestehen innerhalb desselben Zeitraums mehrere Beschäftigungsverhältnisse, sind die beteiligten Arbeitgeber anteilig nach dem Verhältnis der Höhe der jeweiligen Arbeitsentgelte zur Zahlung des Beitragszuschusses verpflichtet. Freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte, die eine Beschäftigung nach dem Jugendfreiwilligendienstegesetz oder nach dem Bundesfreiwilligendienstgesetz ausüben, erhalten von ihrem Arbeitgeber als Beitragszuschuss den Betrag, den der Arbeitgeber bei Versicherungspflicht der Freiwilligendienstleistenden nach § 20 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 des Vierten Buches für die Krankenversicherung zu tragen hätte.

(2) Beschäftigte, die nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze oder auf Grund von § 6 Abs. 3a versicherungsfrei oder die von der Versicherungspflicht befreit und bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert sind und für sich und ihre Angehörigen, die bei Versicherungspflicht des Beschäftigten nach § 10 versichert wären, Vertragsleistungen beanspruchen können, die der Art nach den Leistungen dieses Buches entsprechen, erhalten von ihrem Arbeitgeber einen Beitragszuschuß. Der Zuschuss wird in Höhe des Betrages gezahlt, der sich bei Anwendung der Hälfte des Beitragssatzes nach § 241 zuzüglich der Hälfte des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes nach § 242a und der nach § 226 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bei Versicherungspflicht zugrunde zu legenden beitragspflichtigen Einnahmen als Beitrag ergibt, höchstens jedoch in Höhe der Hälfte des Betrages, den der Beschäftigte für seine Krankenversicherung zu zahlen hat. Für Beschäftigte, die bei Versicherungspflicht keinen Anspruch auf Krankengeld hätten, tritt an die Stelle des Beitragssatzes nach § 241 der Beitragssatz nach § 243. Soweit Kurzarbeitergeld bezogen wird, ist der Beitragszuschuss in Höhe des Betrages zu zahlen, den der Arbeitgeber bei Versicherungspflicht des Beschäftigten entsprechend § 249 Absatz 2 zu tragen hätte, höchstens jedoch in Höhe des Betrages, den der Beschäftigte für seine Krankenversicherung zu zahlen hat; für die Berechnung gilt der um den durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz nach § 242a erhöhte allgemeine Beitragssatz nach § 241. Absatz 1 Satz 3 gilt.

(2a) Der Zuschuss nach Absatz 2 wird ab 1. Januar 2009 für eine private Krankenversicherung nur gezahlt, wenn das Versicherungsunternehmen

1.
diese Krankenversicherung nach Art der Lebensversicherung betreibt,
2.
einen Basistarif im Sinne des § 152 Absatz 1 des Versicherungsaufsichtsgesetzes anbietet,
2a.
sich verpflichtet, Interessenten vor Abschluss der Versicherung das amtliche Informationsblatt der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gemäß § 146 Absatz 1 Nummer 6 des Versicherungsaufsichtsgesetzes auszuhändigen, welches über die verschiedenen Prinzipien der gesetzlichen sowie der privaten Krankenversicherung aufklärt,
3.
soweit es über versicherte Personen im brancheneinheitlichen Standardtarif im Sinne von § 257 Abs. 2a in der bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung verfügt, sich verpflichtet, die in § 257 Abs. 2a in der bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung in Bezug auf den Standardtarif genannten Pflichten einzuhalten,
4.
sich verpflichtet, den überwiegenden Teil der Überschüsse, die sich aus dem selbst abgeschlossenen Versicherungsgeschäft ergeben, zugunsten der Versicherten zu verwenden,
5.
vertraglich auf das ordentliche Kündigungsrecht verzichtet,
6.
die Krankenversicherung nicht zusammen mit anderen Versicherungssparten betreibt, wenn das Versicherungsunternehmen seinen Sitz im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat.
Der Versicherungsnehmer hat dem Arbeitgeber jeweils nach Ablauf von drei Jahren eine Bescheinigung des Versicherungsunternehmens darüber vorzulegen, dass die Aufsichtsbehörde dem Versicherungsunternehmen bestätigt hat, dass es die Versicherung, die Grundlage des Versicherungsvertrages ist, nach den in Satz 1 genannten Voraussetzungen betreibt.

(2b) u. (2c) (weggefallen)

(3) Für Bezieher von Vorruhestandsgeld nach § 5 Abs. 3, die als Beschäftigte bis unmittelbar vor Beginn der Vorruhestandsleistungen Anspruch auf den vollen oder anteiligen Beitragszuschuß nach Absatz 1 hatten, bleibt der Anspruch für die Dauer der Vorruhestandsleistungen gegen den zur Zahlung des Vorruhestandsgeldes Verpflichteten erhalten. Der Zuschuss wird in Höhe des Betrages gezahlt, den der Arbeitgeber bei Versicherungspflicht des Beziehers von Vorruhestandsgeld zu tragen hätte. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend.

(4) Für Bezieher von Vorruhestandsgeld nach § 5 Abs. 3, die als Beschäftigte bis unmittelbar vor Beginn der Vorruhestandsleistungen Anspruch auf den vollen oder anteiligen Beitragszuschuß nach Absatz 2 hatten, bleibt der Anspruch für die Dauer der Vorruhestandsleistungen gegen den zur Zahlung des Vorruhestandsgeldes Verpflichteten erhalten. Der Zuschuss wird in Höhe des Betrages gezahlt, der sich bei Anwendung der Hälfte des Beitragssatzes nach § 243 und des Vorruhestandsgeldes bis zur Beitragsbemessungsgrenze (§ 223 Absatz 3) als Beitrag ergibt, höchstens jedoch in Höhe der Hälfte des Betrages, den der Bezieher von Vorruhestandsgeld für seine Krankenversicherung zu zahlen hat; Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend.

(1) Die Krankenkasse kann für Arbeits- und Erwerbslose, die nicht gesetzlich gegen Krankheit versichert sind, für andere Hilfeempfänger sowie für die vom Bundesministerium für Gesundheit bezeichneten Personenkreise die Krankenbehandlung übernehmen, sofern der Krankenkasse Ersatz der vollen Aufwendungen für den Einzelfall sowie eines angemessenen Teils ihrer Verwaltungskosten gewährleistet wird. Die Krankenkasse ist zur Übernahme der Krankenbehandlung nach Satz 1 für Empfänger von Gesundheitsleistungen nach den §§ 4 und 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes verpflichtet, wenn sie durch die Landesregierung oder die von der Landesregierung beauftragte oberste Landesbehörde dazu aufgefordert wird und mit ihr eine entsprechende Vereinbarung mindestens auf Ebene der Landkreise oder kreisfreien Städte geschlossen wird. Die Vereinbarung über die Übernahme der Krankenbehandlung nach Satz 1 für den in Satz 2 genannten Personenkreis hat insbesondere Regelungen zur Erbringung der Leistungen sowie zum Ersatz der Aufwendungen und Verwaltungskosten nach Satz 1 zu enthalten; die Ausgabe einer elektronischen Gesundheitskarte kann vereinbart werden. Wird von der Landesregierung oder der von ihr beauftragten obersten Landesbehörde eine Rahmenvereinbarung auf Landesebene zur Übernahme der Krankenbehandlung für den in Satz 2 genannten Personenkreis gefordert, sind die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam zum Abschluss einer Rahmenvereinbarung verpflichtet. Zudem vereinbart der Spitzenverband Bund der Krankenkassen mit den auf Bundesebene bestehenden Spitzenorganisationen der nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuständigen Behörden Rahmenempfehlungen zur Übernahme der Krankenbehandlung für den in Satz 2 genannten Personenkreis. Die Rahmenempfehlungen nach Satz 5, die von den zuständigen Behörden nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und den Krankenkassen nach den Sätzen 1 bis 3 sowie von den Vertragspartnern auf Landesebene nach Satz 4 übernommen werden sollen, regeln insbesondere die Umsetzung der leistungsrechtlichen Regelungen nach den §§ 4 und 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes, die Abrechnung und die Abrechnungsprüfung der Leistungen sowie den Ersatz der Aufwendungen und der Verwaltungskosten der Krankenkassen nach Satz 1.

(2) Die Krankenbehandlung von Empfängern von Leistungen nach dem Dritten bis Neunten Kapitel des Zwölften Buches, nach dem Teil 2 des Neunten Buches, von Empfängern laufender Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes und von Empfängern von Krankenhilfeleistungen nach dem Achten Buch, die nicht versichert sind, wird von der Krankenkasse übernommen. Satz 1 gilt nicht für Empfänger, die voraussichtlich nicht mindestens einen Monat ununterbrochen Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen, für Personen, die ausschließlich Leistungen nach § 11 Abs. 5 Satz 3 und § 33 des Zwölften Buches beziehen sowie für die in § 24 des Zwölften Buches genannten Personen.

(3) Die in Absatz 2 Satz 1 genannten Empfänger haben unverzüglich eine Krankenkasse im Bereich des für die Hilfe zuständigen Trägers der Sozialhilfe oder der öffentlichen Jugendhilfe zu wählen, die ihre Krankenbehandlung übernimmt. Leben mehrere Empfänger in häuslicher Gemeinschaft, wird das Wahlrecht vom Haushaltsvorstand für sich und für die Familienangehörigen ausgeübt, die bei Versicherungspflicht des Haushaltsvorstands nach § 10 versichert wären. Wird das Wahlrecht nach den Sätzen 1 und 2 nicht ausgeübt, gelten § 28i des Vierten Buches und § 175 Abs. 3 Satz 2 entsprechend.

(4) Für die in Absatz 2 Satz 1 genannten Empfänger gelten § 11 Abs. 1 sowie die §§ 61 und 62 entsprechend. Sie erhalten eine elektronische Gesundheitskarte nach § 291. Als Versichertenstatus nach § 291a Absatz 2 Nummer 7 gilt für Empfänger bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres die Statusbezeichnung "Mitglied", für Empfänger nach Vollendung des 65. Lebensjahres die Statusbezeichnung "Rentner". Empfänger, die das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, in häuslicher Gemeinschaft leben und nicht Haushaltsvorstand sind, erhalten die Statusbezeichnung "Familienversicherte".

(5) Wenn Empfänger nicht mehr bedürftig im Sinne des Zwölften Buches oder des Achten Buches sind, meldet der Träger der Sozialhilfe oder der öffentlichen Jugendhilfe diese bei der jeweiligen Krankenkasse ab. Bei der Abmeldung hat der Träger der Sozialhilfe oder der öffentlichen Jugendhilfe die elektronische Gesundheitskarte vom Empfänger einzuziehen und an die Krankenkasse zu übermitteln. Aufwendungen, die der Krankenkasse nach Abmeldung durch eine missbräuchliche Verwendung der Karte entstehen, hat der Träger der Sozialhilfe oder der öffentlichen Jugendhilfe zu erstatten. Satz 3 gilt nicht in den Fällen, in denen die Krankenkasse auf Grund gesetzlicher Vorschriften oder vertraglicher Vereinbarungen verpflichtet ist, ihre Leistungspflicht vor der Inanspruchnahme der Leistung zu prüfen.

(6) Bei der Bemessung der Vergütungen nach § 85 oder § 87a ist die vertragsärztliche Versorgung der Empfänger zu berücksichtigen. Werden die Gesamtvergütungen nach § 85 nach Kopfpauschalen berechnet, gelten die Empfänger als Mitglieder. Leben mehrere Empfänger in häuslicher Gemeinschaft, gilt abweichend von Satz 2 nur der Haushaltsvorstand nach Absatz 3 als Mitglied; die vertragsärztliche Versorgung der Familienangehörigen, die nach § 10 versichert wären, wird durch die für den Haushaltsvorstand zu zahlende Kopfpauschale vergütet.

(7) Die Aufwendungen, die den Krankenkassen durch die Übernahme der Krankenbehandlung nach den Absätzen 2 bis 6 entstehen, werden ihnen von den für die Hilfe zuständigen Trägern der Sozialhilfe oder der öffentlichen Jugendhilfe vierteljährlich erstattet. Als angemessene Verwaltungskosten einschließlich Personalaufwand für den Personenkreis nach Absatz 2 werden bis zu 5 vom Hundert der abgerechneten Leistungsaufwendungen festgelegt. Wenn Anhaltspunkte für eine unwirtschaftliche Leistungserbringung oder -gewährung vorliegen, kann der zuständige Träger der Sozialhilfe oder der öffentlichen Jugendhilfe von der jeweiligen Krankenkasse verlangen, die Angemessenheit der Aufwendungen zu prüfen und nachzuweisen.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Juli 2012 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert wird auf 5728,34 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Aufwendungen für die Krankenbehandlung eines nicht krankenversicherten Sozialhilfeempfängers.

2

Die klagende Krankenkasse (KK) übernahm aufgrund der Rahmenvereinbarung vom 14.11.2003 ua für den hier betroffenen Zeitraum von 2004 bis Ende August 2005 die Krankenbehandlung für nicht krankenversicherte Sozialhilfeempfänger der beklagten Stadt als dem örtlich zuständigen Sozialhilfeträger. Die Rahmenvereinbarung enthält keine Regelung einer Ausschlussfrist oder der Verjährung von Ansprüchen. Die Klägerin rechnete die Aufwendungen für die Arznei- und Hilfsmittel über ein IT-Verfahren quartalsweise ab. Sie stellte im Jahr 2004 bei der Übernahme der Verordnungsdaten in das Abrechnungsprogramm aufgrund eines Programmfehlers lediglich 12 vH der tatsächlichen Aufwendungen für Arznei- und Hilfsmittel in Rechnung. Deshalb machte sie ua für den nicht krankenversicherten Sozialhilfeempfänger Peter B. (B), für den die Beklagte zuständig ist, Aufwendungen für Arzneimittel in Höhe von insgesamt 5728,34 Euro nicht geltend, die ihr in der Zeit vom 5.1. bis 20.12.2004 (3541,48 Euro) und vom 31.1. bis 26.8.2005 (2186,86 Euro) entstanden. Als die Klägerin den Fehler entdeckte und eine Nachberechnung von insgesamt ca 18 Millionen Euro für die betroffenen Sozialhilfeträger ankündigte (Schreiben vom 8.9.2006), berief sich ua der Städtetag Baden-Württemberg darauf, Leistungen bis August 2005 seien wegen der verspäteten Meldung entsprechend § 111 S 1 SGB X von einer Erstattung ausgeschlossen. Die Beklagte lehnte deshalb die Bezahlung der in einer Liste spezifizierten Arzneimittelaufwendungen für B ab (2008). Das SG hat die Beklagte zur Zahlung verurteilt (Urteil vom 18.4.2011), das LSG ihre Berufung zurückgewiesen: Der entstandene Anspruch auf Aufwendungsersatz aus dem gesetzlichen Auftragsverhältnis nach § 264 Abs 7 SGB V sei nicht entsprechend § 111 S 1 SGB X ausgeschlossen(Urteil vom 11.7.2012).

3

Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 111 SGB X. Es sei Sinn und Zweck der Ausschlussfrist, frühzeitig klare Verhältnisse über die Zahlungspflichten zu schaffen und mit einer Nachforderung einhergehende haushaltsrechtliche Probleme der Stadt- und Landkreise zu vermeiden.

4

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Juli 2012 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. April 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

6

Die zulässige Revision der als örtliche Trägerin der Sozialhilfe beklagten Stadt ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung der Beklagten gegen das sie zur Zahlung verurteilende SG-Urteil zurückgewiesen. Die von der Klägerin erhobene (echte) Leistungsklage ist im hier bestehenden Gleichordnungsverhältnis zulässig (vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9 mwN; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12)und in vollem Umfang begründet. Denn der Anspruch der klagenden KK auf Zahlung von 5728,34 Euro Aufwendungen für Arzneimittel für den nicht krankenversicherten Sozialhilfeempfänger B in der Zeit von 2004 bis August 2005 gemäß der Einzelaufstellung vom 9.4.2008 entstand wirksam (dazu 1.). Dieser Anspruch erlosch nicht, insbesondere nicht aufgrund des Ablaufs einer Ausschlussfrist (dazu 2.).

7

1. Rechtsgrundlage des Zahlungsanspruchs der Klägerin ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, § 264 Abs 7 S 1 SGB V(hier anzuwenden in der ab 1.1.2004 geltenden Fassung durch Art 1 Nr 152 GKV-Modernisierungsgesetz - GMG - vom 14.11.2003, BGBI I 2190; § 264 Abs 2 SGB V geändert mit Wirkung vom 1.1.2005 durch Art 4 Nr 7 Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003, BGBl I 3022). Danach werden die Aufwendungen, die den KKn durch die Übernahme der Krankenbehandlung nach den Absätzen 2 bis 6 entstehen, von den für die Hilfe zuständigen Trägern der Sozialhilfe oder der öffentlichen Jugendhilfe vierteljährlich erstattet. Als angemessene Verwaltungskosten einschließlich Personalaufwand für den Personenkreis nach Abs 2 werden gemäß § 264 Abs 7 S 2 SGB V bis zu 5 vH der abgerechneten Leistungsaufwendungen festgelegt. Wenn Anhaltspunkte für eine unwirtschaftliche Leistungserbringung oder -gewährung vorliegen, kann der zuständige Träger der Sozialhilfe oder der öffentlichen Jugendhilfe gemäß § 264 Abs 7 S 3 SGB V von der jeweiligen KK verlangen, die Angemessenheit der Aufwendungen zu prüfen und nachzuweisen.

8

Die Voraussetzungen für die Entstehung des Anspruchs der Klägerin auf Zahlung von 5728,34 Euro waren erfüllt. Sie übernahm als KK entsprechend der auf § 264 Abs 1 SGB V gestützten Rahmenvereinbarung vom 14.11.2003 für die Beklagte als für B zuständige Trägerin der Sozialhilfe die Krankenbehandlung für nicht krankenversicherte Sozialhilfeempfänger ab 2004. Ihr entstanden Aufwendungen durch die Übernahme der im Einzelnen aufgelisteten Arzneimittelversorgung in der geltend gemachten, konkret belegten Höhe im genannten Zeitraum für den nicht krankenversicherten Sozialhilfeempfänger B. Die Klägerin war nach § 264 Abs 2 und Abs 3 SGB V für die Krankenbehandlung des B zuständig. Die Beklagte war für ihn die örtlich zuständige Sozialhilfeträgerin. Die Beklagte zieht die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung an B nicht in Zweifel. Die Erstattungspflicht war auch im Übrigen nicht nach § 91 Abs 1 S 3 SGB X ausgeschlossen. Danach besteht eine Erstattungspflicht nicht, soweit Sozialleistungen zu Unrecht erbracht worden sind und den Beauftragten hierfür ein Verschulden trifft. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin im genannten Zeitraum die Arzneimittelversorgung des B zu Unrecht erbrachte und sie ein Verschulden trifft, liegen nicht vor. All dies hat das LSG nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen für den Senat bindend festgestellt (§ 163 SGG).

9

2. Der Zahlungsanspruch erlosch weder aufgrund der Regelung des § 111 S 1 SGB X noch aus anderem Grunde(dazu e). § 111 S 1 SGB X ist weder nach dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen(dazu a) noch nach dem Sinn und Zweck des Regelungskonzepts (dazu b), dem Regelungssystem (dazu c) und der Entwicklungsgeschichte (dazu d) auf den Aufwendungsersatzanspruch im Auftragsverhältnis des § 264 SGB V zwischen KKn und Sozialhilfeträgern anzuwenden(ebenso Böttiger in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung, Stand Juli 2013, § 264 SGB V RdNr 97; Dietmair in Mutschler, jurisPK-SGB X, 2013, § 93 RdNr 27; Eichenhofer in Eichenhofer/Wenner, SGB I, IV, X, 2012, § 91 SGB X RdNr 3, auch zur Terminologie; Flint in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Aufl 2012, § 48 RdNr 50; Roller in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 111 RdNr 4 unter Hinweis auf die abgeschlossene Sonderregelung in § 91 Abs 1, § 93 SGB X; Steinbach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand Dezember 2012, § 91 RdNr 12; aA Engelmann in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 91 RdNr 3; Mutschler in ders, jurisPK-SGB X, 2013, § 111 RdNr 11 bei Fn 20, alle mwN). Für eine entsprechende Anwendung des § 111 S 1 SGB X fehlt es schon an einer Regelungslücke(aA Engelmann in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 91 RdNr 3).

10

a) § 264 SGB V bestimmt nach seinem dargelegten Wortlaut nicht, dass § 111 SGB X Zahlungsansprüche der KKn wegen Übernahme der Krankenbehandlung nicht Versicherter begrenzt. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, erbringen die KKn die Krankenbehandlung von nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Sozialhilfeempfängern nach § 264 SGB V aufgrund gesetzlichen Auftrags iS des § 93 SGB X(vgl ausführlich BSGE 101, 42 = SozR 4-2500 § 264 Nr 1, RdNr 10 ff mwN, auch zu aA; BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 13; zustimmend zB Engelmann in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 93 RdNr 4; Welti, jurisPR-SozR 21/2011 Anm 1). Handelt ein Leistungsträger aufgrund gesetzlichen Auftrags für einen anderen, gelten danach § 89 Abs 3 und 5 SGB X sowie § 91 Abs 1 und 3 SGB X entsprechend. Die Regelung verweist dagegen nach ihrem Wortlaut nicht auf § 111 SGB X. Auch § 111 SGB X greift nach seinem Wortlaut nicht zwingend ein. Die Norm bestimmt: Der Anspruch auf Erstattung ist ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Der Lauf der Frist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat.

11

b) Die Unanwendbarkeit des § 111 SGB X auf Ansprüche auf Aufwendungsersatz nach § 264 Abs 7 SGB V entspricht dem Zweck dieser Regelung. Sie stellt sicher, dass Kosten in Höhe der tatsächlich entstandenen Aufwendungen erstattet werden und es weder auf Seiten der Sozialhilfeträger noch auf Seiten der KK eine Überforderung gibt. Damit werden auch die Vorgaben des § 264 Abs 1 SGB V erfüllt, ua für Ersatz der vollen Aufwendungen zu sorgen(vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eines GMG, BT-Drucks 15/1525 S 141, linke Spalte letzter Absatz). Eine Übernahme der Krankenbehandlung nicht Versicherter ist der KK nach § 264 Abs 1 SGB V ausdrücklich nur gestattet, sofern ihr ua Ersatz der vollen Aufwendungen für den Einzelfall gewährleistet wird. Die Unanwendbarkeit des § 111 S 1 SGB X sichert gerade den Ersatz der vollen Aufwendungen für den Einzelfall.

12

Im Rahmen des § 264 Abs 7 SGB V tritt demgegenüber der Zweck der Ausschlussfrist des § 111 S 1 SGB X zurück, möglichst rasch klare Verhältnisse darüber zu schaffen, ob eine Erstattungspflicht besteht(vgl BT-Drucks 9/95 S 26 zu § 117 des Entwurfs eines SGB; BSGE 65, 31, 39 = SozR 1300 § 111 Nr 6; BSG SozR 2200 § 1504 Nr 8 = Juris RdNr 15). Dieser Regelungszweck hat besonderes Gewicht in Rechtsverhältnissen, in denen der Gesetzgeber die Anwendung der Ausschlussfrist ausdrücklich vorsieht (vgl § 21 S 1 Bundesversorgungsgesetz zur Erstattung nach § 18c Abs 5 BVG)oder in denen aufgrund gegenseitiger Erwartung von Erstattungsansprüchen der jeweils betroffenen Träger eine Pauschalierung der Abgeltung gegenseitiger Erstattungsansprüche möglich ist (vgl zB § 110 SGB X). Nur solche Rechtsverhältnisse rechtfertigen eine zurückhaltende Handhabung der Erstattungsansprüche, wie sie auch der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu § 111 S 2 SGB X zugrunde liegt(keine den Fristenlauf hinausschiebende Kenntnisnahme von der "Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht", wenn der Erstattungsverpflichtete eine materiell-rechtliche Entscheidung über Leistungen, wie sie der Erstattungsberechtigte bereits erbracht hat, überhaupt nicht mehr treffen kann und darf, vgl BSG SozR 4-1300 § 111 Nr 3 LS 1 und RdNr 15 f; BSG Urteil vom 28.2.2008 - B 1 KR 13/07 R - USK 2008-6, Juris RdNr 15 ff; BSG SozR 2200 § 1504 Nr 8 = Juris RdNr 20 mwN; ebenso BSGE 98, 238 = SozR 4-1300 § 111 Nr 4, RdNr 16 f). Pauschalierende Regelungen von wechselseitig bestehenden Erstattungsansprüchen kommen hingegen beim Aufwendungsersatzanspruch nach § 264 Abs 7 SGB V nicht in Betracht.

13

c) Es entspricht auch dem gesetzlichen Regelungssystem, § 111 S 1 SGB X nicht auf Erstattungsansprüche der KKn aus § 264 Abs 7 SGB V anzuwenden. § 111 SGB X bezieht sich in erster Linie auf die im Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels des SGB X geregelten Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander. Ihm geht die spezielle Regelung des § 264 SGB V vor(vgl § 37 SGB I). In diesem Sinne greift auch zB das Erstattungsverbot für Verwaltungskosten (vgl § 109 S 1 SGB X)für das gesetzliche Auftragsverhältnis nach § 264 Abs 7 SGB V nicht ein.

14

d) Schließlich entspricht es auch der Entwicklungsgeschichte der Regelungen, von der Unanwendbarkeit des § 111 S 1 SGB X auf das gesetzliche Auftragsverhältnis zwischen KKn und Sozialhilfeträgern auszugehen. Sie legt einen Gleichlauf zwischen den Forderungen der KKn auf Beiträge und Aufwendungsersatz nahe. § 264 SGB V schafft Ersatz dafür, dass sich die ursprünglich in Art 28 Gesundheitsstrukturgesetz - GSG -(vom 21.12.1992, BGBl I 2266) vorgesehene leistungsrechtliche Gleichstellung von einerseits Empfängern laufender Hilfe zum Lebensunterhalt und von Empfängern von Hilfen in besonderen Lebenslagen nach dem BSHG, die nicht krankenversichert sind, mit gesetzlich Krankenversicherten andererseits wegen politischer Uneinigkeit über angemessene Beitragszahlungen nicht verwirklichen ließ (vgl BT-Drucks 15/1525 S 140, rechte Spalte zu Art 1 Nr 152 - § 264 -). An die Stelle der ursprünglich vorgesehenen Mitgliedschaft aufgrund eines Versicherungspflichttatbestandes (Art 28 GSG) setzt § 264 SGB V in den Absätzen 2 bis 7 nunmehr die leistungsrechtliche Gleichstellung der nicht versicherten Sozialhilfeempfänger nach § 264 Abs 2 SGB V ohne volle Mitgliedschaftsrechte, kombiniert mit der Kostenerstattung durch die Sozialhilfeträger(vgl zum Ganzen BSGE 101, 42 = SozR 4-2500 § 264 Nr 1, RdNr 16 f mwN). Dem intendierten Gleichlauf zwischen den Forderungen der KKn auf Beiträge und Aufwendungsersatz widerspräche es, ohne ersichtlichen Sachgrund, Sozialhilfeträger im Regelungsbereich des gesetzlichen Auftrags (§ 264 SGB V)durch die Anwendung der zwölfmonatigen Ausschlussfrist des § 111 S 1 SGB X auf Aufwendungsersatzansprüche der KKn gegenüber den Mitgliedschaftsfällen zu privilegieren, in denen die Beiträge für krankenversicherte Sozialhilfeempfänger der vierjährigen Verjährungsfrist des § 25 Abs 1 S 1 SGB IV unterliegen.

15

e) Der Aufwendungsersatzanspruch der Klägerin erlosch auch nicht aus einem anderen Grund. Insbesondere steht ihm nicht der Grundsatz der Verwirkung entgegen. Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht, die auch für Ansprüche auf Aufwendungsersatz nach § 264 Abs 7 SGB V greift. Es ist als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN; BSGE 109, 22 = SozR 4-2400 § 7 Nr 14, RdNr 36; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 31; BSG SozR 4-2600 § 243 Nr 4 RdNr 36; BSG SozR 4-4200 § 37 Nr 1 RdNr 17; BSG SozR 3-2400 § 4 Nr 5 S 13; BSG Urteil vom 30.7.1997 - 5 RJ 64/95 - Juris RdNr 27; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f; BSG Urteil vom 1.4.1993 - 1 RK 16/92 - FEVS 44, 478, 483 = Juris RdNr 23; BSG SozR 2200 § 520 Nr 3 S 7; BSG Urteil vom 29.7.1982 - 10 RAr 11/81 - Juris RdNr 15; BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15; BSG Urteil vom 25.1.1972 - 9 RV 238/71 - Juris RdNr 17; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke (Hrsg), Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147 ff, 167 f). Soweit der erkennende Senat enge Ausnahmen von dem Grundsatz der Nichtanwendbarkeit von auf Treu und Glauben gestützten Ausschlussfristen innerhalb der kurzen sozialrechtlichen Verjährung mit Blick auf ein besonderes Vertrauen begründendes Verhalten des Berechtigten anerkannt hat (vgl zB zur Schlussrechnung BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 13; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19 RdNr 16; kritisch, aber diesen Ansatzpunkt in der Rspr nicht hinreichend beleuchtend Knispel, NZS 2013, 685, 688 f), sind die Voraussetzungen hierfür mangels eines besonderen, Vertrauensschutz der Beklagten begründenden Verhaltens der Klägerin hier nicht erfüllt.

16

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.

(1) Der Bund trägt die Aufwendungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende einschließlich der Verwaltungskosten, soweit die Leistungen von der Bundesagentur erbracht werden. Der Bundesrechnungshof prüft die Leistungsgewährung. Dies gilt auch, soweit die Aufgaben von gemeinsamen Einrichtungen nach § 44b wahrgenommen werden. Eine Pauschalierung von Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten ist zulässig. Die Mittel für die Erbringung von Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten werden in einem Gesamtbudget veranschlagt.

(2) Der Bund kann festlegen, nach welchen Maßstäben die Mittel nach Absatz 1 Satz 4 auf die Agenturen für Arbeit zu verteilen sind. Bei der Zuweisung wird die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach diesem Buch zugrunde gelegt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates andere oder ergänzende Maßstäbe für die Verteilung der Mittel nach Absatz 1 Satz 4 festlegen.

(3) Der Anteil des Bundes an den Gesamtverwaltungskosten der gemeinsamen Einrichtungen beträgt 84,8 Prozent. Durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen festlegen, nach welchen Maßstäben

1.
kommunale Träger die Aufwendungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bei der Bundesagentur abrechnen, soweit sie Aufgaben nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 wahrnehmen,
2.
die Gesamtverwaltungskosten, die der Berechnung des Finanzierungsanteils nach Satz 1 zugrunde liegen, zu bestimmen sind.

(4) (weggefallen)

(5) Der Bund beteiligt sich zweckgebunden an den Ausgaben für die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Absatz 1. Der Bund beteiligt sich höchstens mit 74 Prozent an den bundesweiten Ausgaben für die Leistungen nach § 22 Absatz 1. Es gelten landesspezifische Beteiligungsquoten, deren Höhe sich nach den Absätzen 6 bis 10 bestimmt.

(6) Der Bund beteiligt sich an den Ausgaben für die Leistungen nach § 22 Absatz 1 ab dem Jahr 2016

1.
im Land Baden-Württemberg mit 31,6 Prozent,
2.
im Land Rheinland-Pfalz mit 37,6 Prozent sowie
3.
in den übrigen Ländern mit 27,6 Prozent.

(7) Die in Absatz 6 genannten Prozentsätze erhöhen sich jeweils

1.
im Jahr 2018 um 7,9 Prozentpunkte,
2.
im Jahr 2019 um 3,3 Prozentpunkte,
3.
im Jahr 2020 um 27,7 Prozentpunkte,
4.
im Jahr 2021 um 26,2 Prozentpunkte sowie
5.
ab dem Jahr 2022 um 35,2 Prozentpunkte.

(8) Die in Absatz 6 genannten Prozentsätze erhöhen sich jeweils um einen landesspezifischen Wert in Prozentpunkten. Dieser entspricht den Gesamtausgaben des jeweiligen Landes für die Leistungen nach § 28 dieses Gesetzes sowie nach § 6b des Bundeskindergeldgesetzes des abgeschlossenen Vorjahres geteilt durch die Gesamtausgaben des jeweiligen Landes für die Leistungen nach § 22 Absatz 1 des abgeschlossenen Vorjahres multipliziert mit 100.

(9) Die in Absatz 6 genannten Prozentsätze erhöhen sich in den Jahren 2016 bis 2021 jeweils um einen weiteren landesspezifischen Wert in Prozentpunkten.

(10) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates

1.
die landesspezifischen Werte nach Absatz 8 Satz 1 jährlich für das Folgejahr festzulegen und für das laufende Jahr rückwirkend anzupassen,
2.
die weiteren landesspezifischen Werte nach Absatz 9
a)
im Jahr 2019 für das Jahr 2020 festzulegen sowie für das laufende Jahr 2019 und das Vorjahr 2018 rückwirkend anzupassen,
b)
im Jahr 2020 für das Jahr 2021 festzulegen sowie für das laufende Jahr 2020 und das Vorjahr 2019 rückwirkend anzupassen,
c)
im Jahr 2021 für das laufende Jahr 2021 und das Vorjahr 2020 rückwirkend anzupassen,
d)
im Jahr 2022 für das Vorjahr 2021 rückwirkend anzupassen sowie
3.
die landesspezifischen Beteiligungsquoten jährlich für das Folgejahr festzulegen und für das laufende Jahr rückwirkend anzupassen sowie in den Jahren 2019 bis 2022 für das jeweilige Vorjahr rückwirkend anzupassen.
Die Festlegung und Anpassung der Werte nach Satz 1 Nummer 1 erfolgen in Höhe des jeweiligen Wertes nach Absatz 8 Satz 2 des abgeschlossenen Vorjahres. Für die Festlegung und Anpassung der Werte nach Satz 1 Nummer 2 werden auf der Grundlage statistischer Daten die Vorjahresausgaben eines Landes für Leistungen nach § 22 Absatz 1 für solche Bedarfsgemeinschaften ermittelt, in denen mindestens eine erwerbsfähige leistungsberechtigte Person, die nicht vor Oktober 2015 erstmals leistungsberechtigt war, über eine Aufenthaltsgestattung, eine Duldung oder eine Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen nach den §§ 22 bis 26 des Aufenthaltsgesetzes verfügt. Bei der Ermittlung der Vorjahresausgaben nach Satz 3 ist nur der Teil zu berücksichtigen, der nicht vom Bund auf Basis der geltenden landesspezifischen Werte nach Absatz 6 erstattet wurde. Die Festlegung und Anpassung der Werte nach Satz 1 Nummer 2 erfolgen in Höhe des prozentualen Verhältnisses der nach den Sätzen 3 und 4 abgegrenzten Ausgaben zu den entsprechenden Vorjahresausgaben eines Landes für die Leistungen nach § 22 Absatz 1 für alle Bedarfsgemeinschaften. Soweit die Festlegung und Anpassung nach Satz 1 Nummer 1 und 2 zu landesspezifischen Beteiligungsquoten führen, auf Grund derer sich der Bund mit mehr als 74 Prozent an den bundesweiten Gesamtausgaben für die Leistungen nach § 22 Absatz 1 beteiligt, sind die Werte nach Absatz 7 proportional in dem Umfang zu mindern, dass die Beteiligung an den bundesweiten Gesamtausgaben für die Leistungen nach § 22 Absatz 1 nicht mehr als 74 Prozent beträgt. Soweit eine vollständige Minderung nach Satz 6 nicht ausreichend ist, sind anschließend die Werte nach Absatz 9 proportional in dem Umfang zu mindern, dass die Beteiligung an den bundesweiten Gesamtausgaben für die Leistungen nach § 22 Absatz 1 nicht mehr als 74 Prozent beträgt.

(11) Die Anteile des Bundes an den Leistungen nach § 22 Absatz 1 werden den Ländern erstattet. Der Abruf der Erstattungen ist höchstens zweimal monatlich zulässig. Soweit eine Bundesbeteiligung für Zahlungen geltend gemacht wird, die wegen des fristgerechten Eingangs beim Empfänger bereits am Ende eines Haushaltsjahres geleistet wurden, aber erst im folgenden Haushaltsjahr fällig werden, ist die für das folgende Haushaltsjahr geltende Bundesbeteiligung maßgeblich. Im Rahmen der rückwirkenden Anpassung nach Absatz 10 Satz 1 wird die Differenz, die sich aus der Anwendung der bis zur Anpassung geltenden landesspezifischen Beteiligungsquoten und der durch die Verordnung rückwirkend geltenden landesspezifischen Beteiligungsquoten ergibt, zeitnah im Erstattungsverfahren ausgeglichen. Die Gesamtausgaben für die Leistungen nach § 28 sowie nach § 6b des Bundeskindergeldgesetzes sowie die Gesamtausgaben für Leistungen nach § 22 Absatz 1 sind durch die Länder bis zum 31. März des Folgejahres zu ermitteln und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales mitzuteilen. Bei der Ermittlung ist maßgebend, dass diese Ausgaben im entsprechenden Jahr vom kommunalen Träger tatsächlich geleistet wurden; davon abweichend sind geleistete Ausgaben in Fällen des Satzes 3 den Gesamtausgaben des Jahres zuzurechnen, in dem sie fällig geworden sind. Die Ausgaben nach Satz 6 sind um entsprechende Einnahmen für die jeweiligen Leistungen im entsprechenden Jahr zu mindern. Die Länder gewährleisten, dass geprüft wird, dass die Ausgaben der kommunalen Träger nach Satz 5 begründet und belegt sind und den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entsprechen.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Streitwert wird auf 524 862,23 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über eine ergänzende Bundesbeteiligung an den Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II (KdU).

2

Die klagende Freie Hansestadt Bremen erhält von der beklagten Bundesrepublik Deutschland nach einem gesetzlich festgelegten Satz (§ 46 Abs 5 ff SGB II)eine Beteiligung an den im Gebiet ihres Bundeslandes aufgewandten KdU. Der Berechnung liegen Aufstellungen der Stadtgemeinde Bremen (S) über ihre erbrachten Leistungen zugrunde. Sie war mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) zunächst gemeinsam Trägerin der Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAGIS; § 44b SGB II aF). Die Funktion der BAGIS ging zum 1.1.2011 auf das Jobcenter Bremen über (gemeinsame Einrichtung von S und BA, § 44b SGB II nF). Die BAGIS erbrachte Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende einheitlich für BA und S (§ 6 Abs 1 S 1 SGB II; bzgl S: Leistungen nach § 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II). Die BAGIS bewirkte die Auszahlungen über Software der BA. Um die BA hierbei nicht mit kommunalen Leistungen zu belasten, verpflichtete sich die S, diesbezügliche Beträge jeweils binnen zweier Werktage nach Anforderung der BA zu zahlen. Die S erhielt Zugriff auf das EDV-System der BA, um zu ihren Lasten und Gunsten getätigte Buchungen abzurufen. Die S prüfte die sachliche Richtigkeit der Anforderungen wegen der kurzen Zahlungsfrist von zwei Werktagen und der Zahl von werktäglich hunderten bis über tausend Buchungen nicht, bevor sie die Zahlungen anwies. Sie erhielt für eine nachträgliche Prüfung - entsprechend der Praxis gegenüber kommunalen Trägern - von der BAGIS und später vom Jobcenter vierteljährlich Aufstellungen über die Ausgaben und Einnahmen bzgl der Leistungen, die den kommunalen Trägern obliegen. Die Prüfungen ließen wiederholt Fehlbuchungen erkennen. Sie lasteten zT nichtkommunale Leistungen der S an und erweckten zT den Eindruck geringerer Aufwendungen für KdU. Deshalb forderte die Klägerin geringere Beträge der Bundesbeteiligung. Sie sah in den Fehlbuchungen zunächst zu vernachlässigende Einzelfälle. Die Beklagte berichtete über Fehler und ihre Beseitigung (23.3.2010). Die Klägerin berief sich gegenüber dem Jobcenter Bremen wegen Hinweisen auf erhebliche Fehlbuchungen in Hamburg und Köln auf Umbuchungsansprüche rückwirkend ab 2005, deren Umfang ihre Innenrevision überprüfe (4.12.2013). Der Bund beglich lediglich die aufgrund einer Stichprobe bezifferten Ansprüche wegen Fehlbuchungen ab Januar 2010. Die Beklagte machte ua geltend, die übrigen Forderungen betreffend die Zeit von 2005 bis 2009 seien verjährt (5.2.2015).

3

Die Klägerin fordert mit ihrer am 15.1.2016 erhobenen Klage ergänzende Zahlung der Bundesbeteiligung an den KdU für die Zeit von 2005 bis Ende 2009. Der Anspruch sei nicht verjährt, da sie erst seit Ende 2013 Kenntnis von den strukturellen Buchungsfehlern der BAGIS habe. Die Beklagte habe sich in einem Parallelfall gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg nicht auf Verjährung berufen.

4

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin 524 862,23 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 15. Januar 2016 zu zahlen.

5

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

6

Die Beklagte trägt vor, sie habe sich auch gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg auf Verjährung berufen.

Entscheidungsgründe

7

Die Klage ist zulässig (dazu 1.), aber nicht begründet. Soweit die klagende Freie Hansestadt Bremen noch einen ergänzenden Zahlungsanspruch gegen die beklagte Bundesrepublik Deutschland hat, ist er wegen Verjährung nicht durchsetzbar (dazu 2.). Die Klägerin hat auch keinen Haftungsanspruch wegen grober Pflichtverletzung der Beklagten (dazu 3.). Ein Zinsanspruch ist mangels eines durchsetzbaren Hauptanspruchs nicht gegeben.

8

1. Die Klage ist zulässig. Das BSG entscheidet ua im ersten und letzten Rechtszug über Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern in Angelegenheiten des § 51 SGG(§ 39 Abs 2 S 1 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin streitet als Bundesland gegen den Bund (vgl dazu BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 11; BSGE 114, 55 = SozR 4-4200 § 6b Nr 1, RdNr 23 ff) mit der allgemeinen Leistungsklage (vgl § 54 Abs 5 SGG) um Zahlung. Der Anspruch ist öffentlich-rechtlicher, nicht verfassungsrechtlicher Art (dazu a). Er betrifft eine Angelegenheit nach § 51 Abs 1 Nr 4a SGG(dazu b) und ist grundlegender Art (dazu c).

9

a) Maßgeblich für das Vorliegen einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit ist, ob der geltend gemachte Klageanspruch in einem Rechtsverhältnis wurzelt, das entscheidend vom Verfassungsrecht geprägt wird und nicht durch Normen des einfachen Rechts (vgl BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 11, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; BVerfGE 109, 1, 6; BVerwGE 116, 234, 237 = Buchholz 310, § 40 VwGO Nr 289; BVerwGE 128, 99 RdNr 15 = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 20). Der Gegenstand des vorliegenden Klageverfahrens betrifft nicht die grundsätzliche Zuordnung verfassungsrechtlicher Finanzlasten und das verfassungsrechtliche Grundverhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern stellt sich als eine lediglich im einfachen Recht wurzelnde Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art dar. Es geht im Kern um einen Zahlungsanspruch aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II.

10

b) Die Streitigkeit betrifft Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende iS von § 51 Abs 1 Nr 4a SGG. Hierfür sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig. Das streitige Begehren findet nämlich seine Grundlage im SGB II (vgl entsprechend BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 20; BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 12, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Coseriu in Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2015, § 51 RdNr 16a).

11

c) Betroffen ist auch eine Streitigkeit grundlegender Art, die sich nach ihrem Gegenstand einem Vergleich mit den landläufigen Verwaltungsstreitigkeiten entzieht (vgl zum Erfordernis BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 21; BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 13, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2015, § 39 RdNr 3a). Die Eigenart der Bund-Länder-Beziehungen prägt den Gegenstand des Verfahrens. Hierbei geht es ua um die für diese Beziehungen grundlegende Frage nach den maßgeblichen verjährungsrechtlichen Regelungen.

12

2. Die Klägerin hat keinen durchsetzbaren Anspruch auf Zahlung von 524 862,23 Euro gegen die Beklagte aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II. Der erkennende Senat lässt die Frage offen, ob der geltend gemachte ergänzende Zahlungsanspruch besteht (dazu a). Die Beklagte ist nämlich wegen Verjährung des Anspruchs berechtigt, die Leistung zu verweigern (dazu b). Die dagegen erhobenen Einwendungen der Klägerin greifen nicht durch (dazu c).

13

a) Als Rechtsgrundlage des Zahlungsanspruchs der Klägerin kommt das Recht auf Bundesbeteiligung aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II in Betracht(zuletzt geändert durch Art 5 Nr 1 Gesetz zur Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen und zur Entlastung von Ländern und Kommunen bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern vom 24.6.2015, BGBl I 974 mWv 30.6.2015, ursprünglich eingefügt durch Art 1 Kommunales Optionsgesetz vom 30.7.2004, BGBl I 2014 mWv 1.1.2005). Danach beteiligt sich der Bund zweckgebunden an den Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II. Die Klägerin ist als Bundesland aus dieser Regelung berechtigt, obwohl diese eine quotale Beteiligung des Bundes an den Kosten der kommunalen Träger (§ 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II) für Unterkunft und Heizung normiert (Harich in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 46 RdNr 20). Die Norm des § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II findet ihre finanzverfassungsrechtliche Grundlage nämlich in Art 104a Abs 3 S 1 GG(vgl BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 22, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Knapp in jurisPK-SGB II, Stand Online-Kommentierung 4.1.2016, § 46 RdNr 70; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Stand Dezember 2015, § 46 RdNr 22). Danach können Bundesgesetze, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden, bestimmen, dass die Geldleistungen ganz oder zum Teil vom Bund getragen werden. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes ermöglicht keine unmittelbaren Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Kommunen. Die Bundesbeteiligung wird an die Länder gezahlt, die für die Verteilung der Mittel an die Kommunen zuständig sind (vgl § 46 Abs 8 S 1 SGB II; Knapp in jurisPK-SGB II, Stand 4.1.2016 § 46 RdNr 70, 84 ff; O´Sullivan in Estelmann, SGB II, Stand April 2016, § 46 RdNr 56).

14

b) Wenn der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch besteht, kann die Beklagte die Leistung verweigern. Sie beruft sich zutreffend darauf, dass der Anspruch verjährt ist. Der Zahlungsanspruch aus § 46 Abs 5 SGB II unterliegt einer vierjährigen Verjährungsfrist(dazu aa). Die Verjährungsfrist war bei Klageerhebung abgelaufen (dazu bb).

15

aa) Das SGB II regelt weder in § 46 SGB II noch an anderer Stelle ausdrücklich die Verjährung des Zahlungsanspruchs aus der Bundesbeteiligung. Hierfür gelten die allgemeinen Grundsätze. Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient (vgl BSG Urteil vom 23.6.2015 - B 1 KR 26/14 R - Juris RdNr 44, für BSGE und SozR 4-5560 § 17c Nr 3). Die Regelung ist aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten, um früher zu beobachtende jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen (stRspr, vgl zB BSGE 42, 135, 138 = SozR 3100 § 10 Nr 7 S 10<10. BSG-Senat>; BSGE 69, 158 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1 S 5<6. BSG-Senat>; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 17<3. BSG-Senat>; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 12 ff,<1. BSG-Senat>, alle mwN). Dieses allgemeine Rechtsprinzip gilt umfassend in den sozialrechtlich geprägten Rechtsbeziehungen (vgl zB Arzneimittelregress einer Kassenärztlichen Vereinigung gegen eine Universität, BSG SozR 2200 § 368e Nr 10; Zahlungsanspruch eines Krankenhauses gegen einen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, BSG Urteil vom 28.6.1988 - 2 RU 40/87 - Juris; Erstattungsanspruch zwischen öffentlich-rechtlichen Körperschaften im Bereich des Kassenarztrechts, BSGE 69, 158, 160 ff = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; kassenzahnärztlicher Honorarkürzungsbescheid, BSGE 72, 271, 272 ff = SozR 3-2500 § 106 Nr 19; kassenärztlicher Honoraranspruch, BSGE 76, 117, 118 ff = SozR 3-1200 § 45 Nr 5; entsprechende Anwendung auf sozialrechtliche Ausschlussvorschriften, BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 15; gegenseitige Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen - KKn - BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; Erstattungsanspruch einer KK gegen ein Krankenhaus, BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; Anspruch auf Aufwendungsersatz der kraft gesetzlichen Auftrags tätigen KK gegen den Sozialhilfeträger, BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15).

16

Die Grundsätze gelten trotz zwischenzeitlicher Modifizierung des Verjährungsrechts im BGB unverändert fort (vgl BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 15 mwN). Der Gesetzgeber hat die zitierte ständige Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen, die gesetzlichen Regelungen des SGB zu ändern. Er wollte eine Änderung der verjährungsrechtlichen Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht herbeiführen (vgl auch BSGE 115, 40 = SozR 4-2500 § 302 Nr 1, RdNr 44; entsprechend generell für das öffentliche Recht, BVerwGE 132, 324 RdNr 11 f). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem der bürgerlich-rechtlichen Verjährung auf spezialgesetzlich geregelte Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857 S 42 zu Nr 1). Bei Erlass des Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) entschied sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts. Denn im öffentlichen Recht gelten grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen. Nach der Gesetzesbegründung kann auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 15/3653 S 10).

17

Der Anspruch der Bundesländer auf Zahlung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung ist im gebotenen Sinne sozialrechtlich geprägt. Der Gesetzgeber hat die Rechtsgrundlage (§ 46 Abs 5 und 8 SGB II) dem SGB II zugeordnet. Der Bund beteiligt sich aufgrund dieser Regelung - wie dargelegt - an der Finanzierung der genannten Sozialleistungen.

18

bb) Die Verjährungsfrist war zum Zeitpunkt der Klageerhebung (vgl § 204 Abs 1 Nr 1 BGB) am 15.1.2016 bereits abgelaufen. Die allgemeine sozialrechtliche Verjährungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist (entsprechend § 45 Abs 1 SGB I, vgl zB BSGE 69, 158, 163 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12; BSGE 117, 82 = SozR 4-2500 § 109 Nr 40, RdNr 33). Auch insoweit kommt aus den dargelegten Gründen ein Rückgriff auf die Vorschriften des durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001 (BGBl I 3138) novellierten bürgerlich-rechtlichen Verjährungsrechts nicht in Betracht.

19

Der Anspruch auf Bundesbeteiligung an den KdU entsteht mit Aufwendung der Kosten. Der Abruf der Erstattungen ist zur Monatsmitte und zum Monatsende zulässig (§ 46 Abs 8 S 2 SGB II). Die Verjährungsfrist für Ansprüche der Klägerin auf Bundesbeteiligung an den Aufwendungen in der Zeit vom 1.1.2005 bis 31.12.2009 endete dementsprechend grundsätzlich spätestens mit Ablauf des 31.12.2013. Anderes ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen der Hemmung, der Ablaufhemmung oder des Neubeginns der Verjährung. Hierfür gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß (vgl BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 13 zur entsprechenden Anwendung von § 45 Abs 2 SGB I idF durch Art 5 Nr 3 Buchst a Gesetz zur Einführung einer kapitalgedeckten Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und zur Änderung anderer Gesetze vom 21.6.2002, BGBl I 2167).

20

Für einen Neubeginn der Verjährung (vgl § 212 BGB)liegt nichts vor. Die Voraussetzungen keiner der sinngemäß geltenden Regelungen für die Hemmung sind erfüllt, ihre analoge Anwendung ist ausgeschlossen. Insbesondere hemmte das Schreiben der Klägerin an das Jobcenter Bremen (4.12.2013) den Ablauf der Verjährung nicht. Es löste zwischen Gläubiger und Schuldner, also Klägerin und Beklagter keine Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände aus, die die Verjährung hemmten (vgl § 203 S 1 BGB). Verhandlungen schweben zwar schon dann, wenn eine der Parteien Erklärungen abgibt, die der jeweils anderen Partei die Annahme gestatten, der Erklärende lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung des von ihr - der anderen Partei - geltend gemachten Anspruches oder dessen Umfang ein (BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 16 mwN). Die Beklagte gab aber der Klägerin bis zum Ablauf des Jahres 2013 keinen Anlass dafür, anzunehmen, sie lasse sich verjährungshemmend auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruches oder dessen Umfang ein.

21

Es liegt auch keine Hemmung der Verjährung nach Maßgabe einer der Fälle des § 204 BGB vor. Keiner der Hemmungstatbestände der Vorschrift ist auf das vorgerichtliche Schreiben vom 4.12.2013 übertragbar. Handlungen, welche das Vorliegen eines Anspruchs nur prüfen und damit seine (mögliche) Geltendmachung vorbereiten, hemmen den Ablauf der Verjährungsfrist nicht (vgl BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 14; BGH Urteil vom 25.9.2015 - V ZR 246/14 - Juris RdNr 30; BGH Urteil vom 24.5.2012 - IX ZR 168/11 - Juris RdNr 16). Gleiches muss erst Recht für die (bloße) Ankündigung einer Prüfung gelten. Die Klägerin machte lediglich vorsorglich Ansprüche geltend, deren Vorliegen sie noch nicht geprüft hatte, sondern erst überprüfen wollte. Auch eine analoge Anwendung des § 204 BGB kommt nicht in Betracht. Eine planwidrige Regelungslücke ist nicht ersichtlich (vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 22).

22

c) Die Beklagte beruft sich nicht treuwidrig auf Verjährung. Ihre Erhebung der Verjährungseinrede ist weder rechtsmissbräuchlich (dazu aa) noch widerspricht sie im Übrigen dem Grundsatz der Bundestreue (dazu bb).

23

aa) Die Geltendmachung der Verjährungseinrede findet generell ihre Grenze im Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und hierbei im Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung wegen Rechtsmissbrauchs (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 11). Die Beklagte wäre nach Treu und Glauben gehindert, sich auf Verjährung zu berufen, wenn sie die Klägerin durch Irreführung von einer rechtzeitigen verjährungshemmenden oder - unterbrechenden Geltendmachung ihrer Ansprüche abgehalten hätte (vgl entsprechend zum Abhalten von Obliegenheiten zB BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15, RdNr 27 f; BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 7 RdNr 19; E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung Bd 1, Stand Januar 2016, § 13 SGB V RdNr 254). Die in diese Richtung zielende Behauptung der Klägerin, die Beklagte habe einen zum Minderabruf der Bundesbeteiligung führenden Softwarefehler erkannt, aber die Klägerin nicht hierüber informiert, findet in den Akten keine Stütze. Die Beklagte legte vielmehr auch gegenüber der Klägerin die Probleme mit dem IT-Verfahren A2LL und ihre Bemühungen offen, aktiv von sich aus eingetretene Fehler zu beseitigen (Schreiben vom 23.3.2010). Sie gab der Klägerin damit zugleich Gelegenheit zu einer umfassenden Prüfung, die jene aber nicht nutzte. Die Klägerin kann sich insoweit nicht mit Erfolg auf Rechtsmissbrauch berufen, da sie es versäumte, zeitnah ihren eigenen Prüfobliegenheiten nachzukommen. Ausdrücklich sieht das Gesetz zwar erst ab 1.4.2011 vor, dass die Länder die Prüfung zu gewährleisten haben, dass die Ausgaben der kommunalen Träger begründet und belegt sind und den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entsprechen (vgl § 46 Abs 8 S 5 SGB II idF der Bekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850). Die Prüfobliegenheit traf die Klägerin nach allgemeinen Grundsätzen aber auch schon zuvor.

24

bb) Die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten ist eine Ausprägung des Bundesstaatsprinzips (Art 20 Abs 1 GG; vgl zB BVerfGE 12, 205, 255; 13, 54, 75; 81, 310, 337 mwN). Die Pflicht verlangt, dass sowohl der Bund als auch die Länder bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder nehmen (stRspr, vgl zB BVerfGE 32, 199, 218; 43, 291, 348; 81, 310, 337; 104, 249, 269 f; 139, 321 RdNr 101 mwN). Der Bund oder ein Land verstoßen gegen diese Pflicht allerdings nicht schon dadurch, dass sie von einer ihnen durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenz oder gesetzlich eingeräumten Rechten Gebrauch machen; vielmehr muss deren Inanspruchnahme missbräuchlich sein oder gegen prozedurale Anforderungen verstoßen, die aus diesem Grundsatz herzuleiten sind (vgl BVerfGE 106, 1, 27). Grundsätzlich dürfen sich der Bund und die Länder dementsprechend nach dem für sie geltenden Grundsatz der sparsamen Haushaltsführung (§ 7 Abs 1 Bundeshaushaltsordnung)auf Verjährung berufen.

25

Es bedarf keiner Vertiefung, inwieweit hiernach eine willkürliche Benachteiligung eines Bundeslandes gegenüber anderen Bundesländern bei Ausübung des Leistungsverweigerungsrechts die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten verletzt. In diesem Sinne sieht sich die Klägerin gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg benachteiligt. Die Beklagte berief sich indes nach dem Akteninhalt auch gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg auf Verjährung.

26

3. Die Klägerin hat gegen die Beklagte auch keinen Haftungsanspruch wegen grober Pflichtverletzung (vgl Art 104a Abs 5 S 1 Halbs 2 GG). Nach dem Wortlaut dieser Norm haften Bund und Länder im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung. Ungeachtet der Fragen, inwieweit solche Haftungsansprüche zugleich mit dem speziell ausgestalteten Anspruch auf Bundesbeteiligung (§ 46 Abs 5 ff SGB II)bestehen können (zum grundsätzlichen Anwendungsbereich der Haftungsregelung für das Auseinanderfallen von Verwaltungs- und Finanzierungszuständigkeit vgl BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 26 ff mwN) und welche Verjährungsregeln hierfür gelten, sind auch bei unterstellter Anwendbarkeit jedenfalls dessen Voraussetzungen nicht erfüllt. Außerhalb der Fälle der gemeinschaftsrechtlichen Anlastung, in denen nur ein "einfaches", objektiv rechtswidriges Verhalten erforderlich ist (vgl BVerfGE 116, 271, 318 mwN), bedarf es bei Anwendung rein nationalen Rechts darüber hinaus zumindest einer schwerwiegenden grob fahrlässig oder vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung der in Anspruch genommenen Gebietskörperschaft (vgl BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 25 mwN; BSG SozR 4-4200 § 6b Nr 2 RdNr 44 mwN; BVerwGE 96, 45, 57 ff = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 11; BVerwG Buchholz 11 Art 104a GG Nr 13 und 14; BVerwGE 128, 99 RdNr 21 = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 20; "vorsätzliche Pflichtverletzungen" für notwendig erachtend: BVerwGE 104, 29, 32 ff = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 16). Daran fehlt es. Wie dargelegt hielt die Beklagte die Klägerin nicht treuwidrig von der Realisierung von Ansprüchen ab.

27

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Entscheidung über den Streitwert folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und Abs 3 S 1 sowie § 47 Abs 1 S 1 GKG.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Streitwert wird auf 524 862,23 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über eine ergänzende Bundesbeteiligung an den Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II (KdU).

2

Die klagende Freie Hansestadt Bremen erhält von der beklagten Bundesrepublik Deutschland nach einem gesetzlich festgelegten Satz (§ 46 Abs 5 ff SGB II)eine Beteiligung an den im Gebiet ihres Bundeslandes aufgewandten KdU. Der Berechnung liegen Aufstellungen der Stadtgemeinde Bremen (S) über ihre erbrachten Leistungen zugrunde. Sie war mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) zunächst gemeinsam Trägerin der Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAGIS; § 44b SGB II aF). Die Funktion der BAGIS ging zum 1.1.2011 auf das Jobcenter Bremen über (gemeinsame Einrichtung von S und BA, § 44b SGB II nF). Die BAGIS erbrachte Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende einheitlich für BA und S (§ 6 Abs 1 S 1 SGB II; bzgl S: Leistungen nach § 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II). Die BAGIS bewirkte die Auszahlungen über Software der BA. Um die BA hierbei nicht mit kommunalen Leistungen zu belasten, verpflichtete sich die S, diesbezügliche Beträge jeweils binnen zweier Werktage nach Anforderung der BA zu zahlen. Die S erhielt Zugriff auf das EDV-System der BA, um zu ihren Lasten und Gunsten getätigte Buchungen abzurufen. Die S prüfte die sachliche Richtigkeit der Anforderungen wegen der kurzen Zahlungsfrist von zwei Werktagen und der Zahl von werktäglich hunderten bis über tausend Buchungen nicht, bevor sie die Zahlungen anwies. Sie erhielt für eine nachträgliche Prüfung - entsprechend der Praxis gegenüber kommunalen Trägern - von der BAGIS und später vom Jobcenter vierteljährlich Aufstellungen über die Ausgaben und Einnahmen bzgl der Leistungen, die den kommunalen Trägern obliegen. Die Prüfungen ließen wiederholt Fehlbuchungen erkennen. Sie lasteten zT nichtkommunale Leistungen der S an und erweckten zT den Eindruck geringerer Aufwendungen für KdU. Deshalb forderte die Klägerin geringere Beträge der Bundesbeteiligung. Sie sah in den Fehlbuchungen zunächst zu vernachlässigende Einzelfälle. Die Beklagte berichtete über Fehler und ihre Beseitigung (23.3.2010). Die Klägerin berief sich gegenüber dem Jobcenter Bremen wegen Hinweisen auf erhebliche Fehlbuchungen in Hamburg und Köln auf Umbuchungsansprüche rückwirkend ab 2005, deren Umfang ihre Innenrevision überprüfe (4.12.2013). Der Bund beglich lediglich die aufgrund einer Stichprobe bezifferten Ansprüche wegen Fehlbuchungen ab Januar 2010. Die Beklagte machte ua geltend, die übrigen Forderungen betreffend die Zeit von 2005 bis 2009 seien verjährt (5.2.2015).

3

Die Klägerin fordert mit ihrer am 15.1.2016 erhobenen Klage ergänzende Zahlung der Bundesbeteiligung an den KdU für die Zeit von 2005 bis Ende 2009. Der Anspruch sei nicht verjährt, da sie erst seit Ende 2013 Kenntnis von den strukturellen Buchungsfehlern der BAGIS habe. Die Beklagte habe sich in einem Parallelfall gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg nicht auf Verjährung berufen.

4

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin 524 862,23 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 15. Januar 2016 zu zahlen.

5

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

6

Die Beklagte trägt vor, sie habe sich auch gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg auf Verjährung berufen.

Entscheidungsgründe

7

Die Klage ist zulässig (dazu 1.), aber nicht begründet. Soweit die klagende Freie Hansestadt Bremen noch einen ergänzenden Zahlungsanspruch gegen die beklagte Bundesrepublik Deutschland hat, ist er wegen Verjährung nicht durchsetzbar (dazu 2.). Die Klägerin hat auch keinen Haftungsanspruch wegen grober Pflichtverletzung der Beklagten (dazu 3.). Ein Zinsanspruch ist mangels eines durchsetzbaren Hauptanspruchs nicht gegeben.

8

1. Die Klage ist zulässig. Das BSG entscheidet ua im ersten und letzten Rechtszug über Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern in Angelegenheiten des § 51 SGG(§ 39 Abs 2 S 1 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin streitet als Bundesland gegen den Bund (vgl dazu BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 11; BSGE 114, 55 = SozR 4-4200 § 6b Nr 1, RdNr 23 ff) mit der allgemeinen Leistungsklage (vgl § 54 Abs 5 SGG) um Zahlung. Der Anspruch ist öffentlich-rechtlicher, nicht verfassungsrechtlicher Art (dazu a). Er betrifft eine Angelegenheit nach § 51 Abs 1 Nr 4a SGG(dazu b) und ist grundlegender Art (dazu c).

9

a) Maßgeblich für das Vorliegen einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit ist, ob der geltend gemachte Klageanspruch in einem Rechtsverhältnis wurzelt, das entscheidend vom Verfassungsrecht geprägt wird und nicht durch Normen des einfachen Rechts (vgl BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 11, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; BVerfGE 109, 1, 6; BVerwGE 116, 234, 237 = Buchholz 310, § 40 VwGO Nr 289; BVerwGE 128, 99 RdNr 15 = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 20). Der Gegenstand des vorliegenden Klageverfahrens betrifft nicht die grundsätzliche Zuordnung verfassungsrechtlicher Finanzlasten und das verfassungsrechtliche Grundverhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern stellt sich als eine lediglich im einfachen Recht wurzelnde Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art dar. Es geht im Kern um einen Zahlungsanspruch aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II.

10

b) Die Streitigkeit betrifft Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende iS von § 51 Abs 1 Nr 4a SGG. Hierfür sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig. Das streitige Begehren findet nämlich seine Grundlage im SGB II (vgl entsprechend BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 20; BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 12, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Coseriu in Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2015, § 51 RdNr 16a).

11

c) Betroffen ist auch eine Streitigkeit grundlegender Art, die sich nach ihrem Gegenstand einem Vergleich mit den landläufigen Verwaltungsstreitigkeiten entzieht (vgl zum Erfordernis BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 21; BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 13, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2015, § 39 RdNr 3a). Die Eigenart der Bund-Länder-Beziehungen prägt den Gegenstand des Verfahrens. Hierbei geht es ua um die für diese Beziehungen grundlegende Frage nach den maßgeblichen verjährungsrechtlichen Regelungen.

12

2. Die Klägerin hat keinen durchsetzbaren Anspruch auf Zahlung von 524 862,23 Euro gegen die Beklagte aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II. Der erkennende Senat lässt die Frage offen, ob der geltend gemachte ergänzende Zahlungsanspruch besteht (dazu a). Die Beklagte ist nämlich wegen Verjährung des Anspruchs berechtigt, die Leistung zu verweigern (dazu b). Die dagegen erhobenen Einwendungen der Klägerin greifen nicht durch (dazu c).

13

a) Als Rechtsgrundlage des Zahlungsanspruchs der Klägerin kommt das Recht auf Bundesbeteiligung aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II in Betracht(zuletzt geändert durch Art 5 Nr 1 Gesetz zur Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen und zur Entlastung von Ländern und Kommunen bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern vom 24.6.2015, BGBl I 974 mWv 30.6.2015, ursprünglich eingefügt durch Art 1 Kommunales Optionsgesetz vom 30.7.2004, BGBl I 2014 mWv 1.1.2005). Danach beteiligt sich der Bund zweckgebunden an den Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II. Die Klägerin ist als Bundesland aus dieser Regelung berechtigt, obwohl diese eine quotale Beteiligung des Bundes an den Kosten der kommunalen Träger (§ 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II) für Unterkunft und Heizung normiert (Harich in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 46 RdNr 20). Die Norm des § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II findet ihre finanzverfassungsrechtliche Grundlage nämlich in Art 104a Abs 3 S 1 GG(vgl BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 22, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Knapp in jurisPK-SGB II, Stand Online-Kommentierung 4.1.2016, § 46 RdNr 70; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Stand Dezember 2015, § 46 RdNr 22). Danach können Bundesgesetze, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden, bestimmen, dass die Geldleistungen ganz oder zum Teil vom Bund getragen werden. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes ermöglicht keine unmittelbaren Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Kommunen. Die Bundesbeteiligung wird an die Länder gezahlt, die für die Verteilung der Mittel an die Kommunen zuständig sind (vgl § 46 Abs 8 S 1 SGB II; Knapp in jurisPK-SGB II, Stand 4.1.2016 § 46 RdNr 70, 84 ff; O´Sullivan in Estelmann, SGB II, Stand April 2016, § 46 RdNr 56).

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b) Wenn der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch besteht, kann die Beklagte die Leistung verweigern. Sie beruft sich zutreffend darauf, dass der Anspruch verjährt ist. Der Zahlungsanspruch aus § 46 Abs 5 SGB II unterliegt einer vierjährigen Verjährungsfrist(dazu aa). Die Verjährungsfrist war bei Klageerhebung abgelaufen (dazu bb).

15

aa) Das SGB II regelt weder in § 46 SGB II noch an anderer Stelle ausdrücklich die Verjährung des Zahlungsanspruchs aus der Bundesbeteiligung. Hierfür gelten die allgemeinen Grundsätze. Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient (vgl BSG Urteil vom 23.6.2015 - B 1 KR 26/14 R - Juris RdNr 44, für BSGE und SozR 4-5560 § 17c Nr 3). Die Regelung ist aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten, um früher zu beobachtende jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen (stRspr, vgl zB BSGE 42, 135, 138 = SozR 3100 § 10 Nr 7 S 10<10. BSG-Senat>; BSGE 69, 158 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1 S 5<6. BSG-Senat>; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 17<3. BSG-Senat>; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 12 ff,<1. BSG-Senat>, alle mwN). Dieses allgemeine Rechtsprinzip gilt umfassend in den sozialrechtlich geprägten Rechtsbeziehungen (vgl zB Arzneimittelregress einer Kassenärztlichen Vereinigung gegen eine Universität, BSG SozR 2200 § 368e Nr 10; Zahlungsanspruch eines Krankenhauses gegen einen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, BSG Urteil vom 28.6.1988 - 2 RU 40/87 - Juris; Erstattungsanspruch zwischen öffentlich-rechtlichen Körperschaften im Bereich des Kassenarztrechts, BSGE 69, 158, 160 ff = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; kassenzahnärztlicher Honorarkürzungsbescheid, BSGE 72, 271, 272 ff = SozR 3-2500 § 106 Nr 19; kassenärztlicher Honoraranspruch, BSGE 76, 117, 118 ff = SozR 3-1200 § 45 Nr 5; entsprechende Anwendung auf sozialrechtliche Ausschlussvorschriften, BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 15; gegenseitige Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen - KKn - BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; Erstattungsanspruch einer KK gegen ein Krankenhaus, BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; Anspruch auf Aufwendungsersatz der kraft gesetzlichen Auftrags tätigen KK gegen den Sozialhilfeträger, BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15).

16

Die Grundsätze gelten trotz zwischenzeitlicher Modifizierung des Verjährungsrechts im BGB unverändert fort (vgl BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 15 mwN). Der Gesetzgeber hat die zitierte ständige Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen, die gesetzlichen Regelungen des SGB zu ändern. Er wollte eine Änderung der verjährungsrechtlichen Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht herbeiführen (vgl auch BSGE 115, 40 = SozR 4-2500 § 302 Nr 1, RdNr 44; entsprechend generell für das öffentliche Recht, BVerwGE 132, 324 RdNr 11 f). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem der bürgerlich-rechtlichen Verjährung auf spezialgesetzlich geregelte Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857 S 42 zu Nr 1). Bei Erlass des Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) entschied sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts. Denn im öffentlichen Recht gelten grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen. Nach der Gesetzesbegründung kann auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 15/3653 S 10).

17

Der Anspruch der Bundesländer auf Zahlung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung ist im gebotenen Sinne sozialrechtlich geprägt. Der Gesetzgeber hat die Rechtsgrundlage (§ 46 Abs 5 und 8 SGB II) dem SGB II zugeordnet. Der Bund beteiligt sich aufgrund dieser Regelung - wie dargelegt - an der Finanzierung der genannten Sozialleistungen.

18

bb) Die Verjährungsfrist war zum Zeitpunkt der Klageerhebung (vgl § 204 Abs 1 Nr 1 BGB) am 15.1.2016 bereits abgelaufen. Die allgemeine sozialrechtliche Verjährungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist (entsprechend § 45 Abs 1 SGB I, vgl zB BSGE 69, 158, 163 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12; BSGE 117, 82 = SozR 4-2500 § 109 Nr 40, RdNr 33). Auch insoweit kommt aus den dargelegten Gründen ein Rückgriff auf die Vorschriften des durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001 (BGBl I 3138) novellierten bürgerlich-rechtlichen Verjährungsrechts nicht in Betracht.

19

Der Anspruch auf Bundesbeteiligung an den KdU entsteht mit Aufwendung der Kosten. Der Abruf der Erstattungen ist zur Monatsmitte und zum Monatsende zulässig (§ 46 Abs 8 S 2 SGB II). Die Verjährungsfrist für Ansprüche der Klägerin auf Bundesbeteiligung an den Aufwendungen in der Zeit vom 1.1.2005 bis 31.12.2009 endete dementsprechend grundsätzlich spätestens mit Ablauf des 31.12.2013. Anderes ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen der Hemmung, der Ablaufhemmung oder des Neubeginns der Verjährung. Hierfür gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß (vgl BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 13 zur entsprechenden Anwendung von § 45 Abs 2 SGB I idF durch Art 5 Nr 3 Buchst a Gesetz zur Einführung einer kapitalgedeckten Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und zur Änderung anderer Gesetze vom 21.6.2002, BGBl I 2167).

20

Für einen Neubeginn der Verjährung (vgl § 212 BGB)liegt nichts vor. Die Voraussetzungen keiner der sinngemäß geltenden Regelungen für die Hemmung sind erfüllt, ihre analoge Anwendung ist ausgeschlossen. Insbesondere hemmte das Schreiben der Klägerin an das Jobcenter Bremen (4.12.2013) den Ablauf der Verjährung nicht. Es löste zwischen Gläubiger und Schuldner, also Klägerin und Beklagter keine Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände aus, die die Verjährung hemmten (vgl § 203 S 1 BGB). Verhandlungen schweben zwar schon dann, wenn eine der Parteien Erklärungen abgibt, die der jeweils anderen Partei die Annahme gestatten, der Erklärende lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung des von ihr - der anderen Partei - geltend gemachten Anspruches oder dessen Umfang ein (BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 16 mwN). Die Beklagte gab aber der Klägerin bis zum Ablauf des Jahres 2013 keinen Anlass dafür, anzunehmen, sie lasse sich verjährungshemmend auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruches oder dessen Umfang ein.

21

Es liegt auch keine Hemmung der Verjährung nach Maßgabe einer der Fälle des § 204 BGB vor. Keiner der Hemmungstatbestände der Vorschrift ist auf das vorgerichtliche Schreiben vom 4.12.2013 übertragbar. Handlungen, welche das Vorliegen eines Anspruchs nur prüfen und damit seine (mögliche) Geltendmachung vorbereiten, hemmen den Ablauf der Verjährungsfrist nicht (vgl BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 14; BGH Urteil vom 25.9.2015 - V ZR 246/14 - Juris RdNr 30; BGH Urteil vom 24.5.2012 - IX ZR 168/11 - Juris RdNr 16). Gleiches muss erst Recht für die (bloße) Ankündigung einer Prüfung gelten. Die Klägerin machte lediglich vorsorglich Ansprüche geltend, deren Vorliegen sie noch nicht geprüft hatte, sondern erst überprüfen wollte. Auch eine analoge Anwendung des § 204 BGB kommt nicht in Betracht. Eine planwidrige Regelungslücke ist nicht ersichtlich (vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 22).

22

c) Die Beklagte beruft sich nicht treuwidrig auf Verjährung. Ihre Erhebung der Verjährungseinrede ist weder rechtsmissbräuchlich (dazu aa) noch widerspricht sie im Übrigen dem Grundsatz der Bundestreue (dazu bb).

23

aa) Die Geltendmachung der Verjährungseinrede findet generell ihre Grenze im Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und hierbei im Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung wegen Rechtsmissbrauchs (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 11). Die Beklagte wäre nach Treu und Glauben gehindert, sich auf Verjährung zu berufen, wenn sie die Klägerin durch Irreführung von einer rechtzeitigen verjährungshemmenden oder - unterbrechenden Geltendmachung ihrer Ansprüche abgehalten hätte (vgl entsprechend zum Abhalten von Obliegenheiten zB BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15, RdNr 27 f; BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 7 RdNr 19; E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung Bd 1, Stand Januar 2016, § 13 SGB V RdNr 254). Die in diese Richtung zielende Behauptung der Klägerin, die Beklagte habe einen zum Minderabruf der Bundesbeteiligung führenden Softwarefehler erkannt, aber die Klägerin nicht hierüber informiert, findet in den Akten keine Stütze. Die Beklagte legte vielmehr auch gegenüber der Klägerin die Probleme mit dem IT-Verfahren A2LL und ihre Bemühungen offen, aktiv von sich aus eingetretene Fehler zu beseitigen (Schreiben vom 23.3.2010). Sie gab der Klägerin damit zugleich Gelegenheit zu einer umfassenden Prüfung, die jene aber nicht nutzte. Die Klägerin kann sich insoweit nicht mit Erfolg auf Rechtsmissbrauch berufen, da sie es versäumte, zeitnah ihren eigenen Prüfobliegenheiten nachzukommen. Ausdrücklich sieht das Gesetz zwar erst ab 1.4.2011 vor, dass die Länder die Prüfung zu gewährleisten haben, dass die Ausgaben der kommunalen Träger begründet und belegt sind und den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entsprechen (vgl § 46 Abs 8 S 5 SGB II idF der Bekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850). Die Prüfobliegenheit traf die Klägerin nach allgemeinen Grundsätzen aber auch schon zuvor.

24

bb) Die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten ist eine Ausprägung des Bundesstaatsprinzips (Art 20 Abs 1 GG; vgl zB BVerfGE 12, 205, 255; 13, 54, 75; 81, 310, 337 mwN). Die Pflicht verlangt, dass sowohl der Bund als auch die Länder bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder nehmen (stRspr, vgl zB BVerfGE 32, 199, 218; 43, 291, 348; 81, 310, 337; 104, 249, 269 f; 139, 321 RdNr 101 mwN). Der Bund oder ein Land verstoßen gegen diese Pflicht allerdings nicht schon dadurch, dass sie von einer ihnen durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenz oder gesetzlich eingeräumten Rechten Gebrauch machen; vielmehr muss deren Inanspruchnahme missbräuchlich sein oder gegen prozedurale Anforderungen verstoßen, die aus diesem Grundsatz herzuleiten sind (vgl BVerfGE 106, 1, 27). Grundsätzlich dürfen sich der Bund und die Länder dementsprechend nach dem für sie geltenden Grundsatz der sparsamen Haushaltsführung (§ 7 Abs 1 Bundeshaushaltsordnung)auf Verjährung berufen.

25

Es bedarf keiner Vertiefung, inwieweit hiernach eine willkürliche Benachteiligung eines Bundeslandes gegenüber anderen Bundesländern bei Ausübung des Leistungsverweigerungsrechts die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten verletzt. In diesem Sinne sieht sich die Klägerin gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg benachteiligt. Die Beklagte berief sich indes nach dem Akteninhalt auch gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg auf Verjährung.

26

3. Die Klägerin hat gegen die Beklagte auch keinen Haftungsanspruch wegen grober Pflichtverletzung (vgl Art 104a Abs 5 S 1 Halbs 2 GG). Nach dem Wortlaut dieser Norm haften Bund und Länder im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung. Ungeachtet der Fragen, inwieweit solche Haftungsansprüche zugleich mit dem speziell ausgestalteten Anspruch auf Bundesbeteiligung (§ 46 Abs 5 ff SGB II)bestehen können (zum grundsätzlichen Anwendungsbereich der Haftungsregelung für das Auseinanderfallen von Verwaltungs- und Finanzierungszuständigkeit vgl BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 26 ff mwN) und welche Verjährungsregeln hierfür gelten, sind auch bei unterstellter Anwendbarkeit jedenfalls dessen Voraussetzungen nicht erfüllt. Außerhalb der Fälle der gemeinschaftsrechtlichen Anlastung, in denen nur ein "einfaches", objektiv rechtswidriges Verhalten erforderlich ist (vgl BVerfGE 116, 271, 318 mwN), bedarf es bei Anwendung rein nationalen Rechts darüber hinaus zumindest einer schwerwiegenden grob fahrlässig oder vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung der in Anspruch genommenen Gebietskörperschaft (vgl BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 25 mwN; BSG SozR 4-4200 § 6b Nr 2 RdNr 44 mwN; BVerwGE 96, 45, 57 ff = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 11; BVerwG Buchholz 11 Art 104a GG Nr 13 und 14; BVerwGE 128, 99 RdNr 21 = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 20; "vorsätzliche Pflichtverletzungen" für notwendig erachtend: BVerwGE 104, 29, 32 ff = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 16). Daran fehlt es. Wie dargelegt hielt die Beklagte die Klägerin nicht treuwidrig von der Realisierung von Ansprüchen ab.

27

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Entscheidung über den Streitwert folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und Abs 3 S 1 sowie § 47 Abs 1 S 1 GKG.

(1) Die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam schließen mit der Landeskrankenhausgesellschaft oder mit den Vereinigungen der Krankenhausträger im Land gemeinsam Verträge, um sicherzustellen, daß Art und Umfang der Krankenhausbehandlung den Anforderungen dieses Gesetzbuchs entsprechen.

(2) Die Verträge regeln insbesondere

1.
die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung einschließlich der
a)
Aufnahme und Entlassung der Versicherten,
b)
Kostenübernahme, Abrechnung der Entgelte, Berichte und Bescheinigungen,
2.
die Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung einschließlich eines Kataloges von Leistungen, die in der Regel teilstationär erbracht werden können,
3.
Verfahrens- und Prüfungsgrundsätze für Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfungen,
4.
die soziale Betreuung und Beratung der Versicherten im Krankenhaus,
5.
den nahtlosen Übergang von der Krankenhausbehandlung zur Rehabilitation oder Pflege,
6.
das Nähere über Voraussetzungen, Art und Umfang der medizinischen Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach § 27a Abs. 1.
Sie sind für die Krankenkassen und die zugelassenen Krankenhäuser im Land unmittelbar verbindlich.

(3) Kommt ein Vertrag nach Absatz 1 bis zum 31. Dezember 1989 ganz oder teilweise nicht zustande, wird sein Inhalt auf Antrag einer Vertragspartei durch die Landesschiedsstelle nach § 114 festgesetzt.

(4) Die Verträge nach Absatz 1 können von jeder Vertragspartei mit einer Frist von einem Jahr ganz oder teilweise gekündigt werden. Satz 1 gilt entsprechend für die von der Landesschiedsstelle nach Absatz 3 getroffenen Regelungen. Diese können auch ohne Kündigung jederzeit durch einen Vertrag nach Absatz 1 ersetzt werden.

(5) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen und die Deutsche Krankenhausgesellschaft oder die Bundesverbände der Krankenhausträger gemeinsam sollen Rahmenempfehlungen zum Inhalt der Verträge nach Absatz 1 abgeben.

(6) Beim Abschluß der Verträge nach Absatz 1 und bei Abgabe der Empfehlungen nach Absatz 5 sind, soweit darin Regelungen nach Absatz 2 Nr. 5 getroffen werden, die Spitzenorganisationen der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen zu beteiligen.

Die Krankenkassen dürfen Krankenhausbehandlung nur durch folgende Krankenhäuser (zugelassene Krankenhäuser) erbringen lassen:

1.
Krankenhäuser, die nach den landesrechtlichen Vorschriften als Hochschulklinik anerkannt sind,
2.
Krankenhäuser, die in den Krankenhausplan eines Landes aufgenommen sind (Plankrankenhäuser), oder
3.
Krankenhäuser, die einen Versorgungsvertrag mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen abgeschlossen haben.

(1) Der Versorgungsvertrag nach § 108 Nr. 3 kommt durch Einigung zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam und dem Krankenhausträger zustande; er bedarf der Schriftform. Bei den Hochschulkliniken gilt die Anerkennung nach den landesrechtlichen Vorschriften, bei den Plankrankenhäusern die Aufnahme in den Krankenhausbedarfsplan nach § 8 Abs. 1 Satz 2 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes als Abschluss des Versorgungsvertrages. Dieser ist für alle Krankenkassen im Inland unmittelbar verbindlich. Die Vertragsparteien nach Satz 1 können im Einvernehmen mit der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde eine gegenüber dem Krankenhausplan geringere Bettenzahl vereinbaren, soweit die Leistungsstruktur des Krankenhauses nicht verändert wird; die Vereinbarung kann befristet werden. Enthält der Krankenhausplan keine oder keine abschließende Festlegung der Bettenzahl oder der Leistungsstruktur des Krankenhauses, werden diese durch die Vertragsparteien nach Satz 1 im Benehmen mit der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde ergänzend vereinbart.

(2) Ein Anspruch auf Abschluß eines Versorgungsvertrags nach § 108 Nr. 3 besteht nicht. Bei notwendiger Auswahl zwischen mehreren geeigneten Krankenhäusern, die sich um den Abschluß eines Versorgungsvertrags bewerben, entscheiden die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam unter Berücksichtigung der öffentlichen Interessen und der Vielfalt der Krankenhausträger nach pflichtgemäßem Ermessen, welches Krankenhaus den Erfordernissen einer qualitativ hochwertigen, patienten- und bedarfsgerechten sowie leistungsfähigen und wirtschaftlichen Krankenhausbehandlung am besten gerecht wird.

(3) Ein Versorgungsvertrag nach § 108 Nr. 3 darf nicht abgeschlossen werden, wenn das Krankenhaus

1.
nicht die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche Krankenhausbehandlung bietet,
2.
bei den maßgeblichen planungsrelevanten Qualitätsindikatoren nach § 6 Absatz 1a des Krankenhausfinanzierungsgesetzes auf der Grundlage der vom Gemeinsamen Bundesausschuss nach § 136c Absatz 2 übermittelten Maßstäbe und Bewertungskriterien nicht nur vorübergehend eine in einem erheblichen Maß unzureichende Qualität aufweist, die im jeweiligen Landesrecht vorgesehenen Qualitätsanforderungen nicht nur vorübergehend und in einem erheblichen Maß nicht erfüllt, höchstens drei Jahre in Folge Qualitätsabschlägen nach § 5 Absatz 3a des Krankenhausentgeltgesetzes unterliegt oder
3.
für eine bedarfsgerechte Krankenhausbehandlung der Versicherten nicht erforderlich ist.
Abschluß und Ablehnung des Versorgungsvertrags werden mit der Genehmigung durch die zuständigen Landesbehörden wirksam. Verträge, die vor dem 1. Januar 1989 nach § 371 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung abgeschlossen worden sind, gelten bis zu ihrer Kündigung nach § 110 weiter.

(4) Mit einem Versorgungsvertrag nach Absatz 1 wird das Krankenhaus für die Dauer des Vertrages zur Krankenhausbehandlung der Versicherten zugelassen. Das zugelassene Krankenhaus ist im Rahmen seines Versorgungsauftrags zur Krankenhausbehandlung (§ 39) der Versicherten verpflichtet. Die Krankenkassen sind verpflichtet, unter Beachtung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs mit dem Krankenhausträger Pflegesatzverhandlungen nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des Krankenhausentgeltgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung zu führen.

(5) Ansprüche der Krankenhäuser auf Vergütung erbrachter Leistungen und Ansprüche der Krankenkassen auf Rückzahlung von geleisteten Vergütungen verjähren in zwei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind. Dies gilt auch für Ansprüche der Krankenkassen auf Rückzahlung von geleisteten Vergütungen, die vor dem 1. Januar 2019 entstanden sind. Satz 1 gilt nicht für Ansprüche der Krankenhäuser auf Vergütung erbrachter Leistungen, die vor dem 1. Januar 2019 entstanden sind. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend.

(6) Gegen Forderungen von Krankenhäusern, die aufgrund der Versorgung von ab dem 1. Januar 2020 aufgenommenen Patientinnen und Patienten entstanden sind, können Krankenkassen nicht mit Ansprüchen auf Rückforderung geleisteter Vergütungen aufrechnen. Die Aufrechnung ist abweichend von Satz 1 möglich, wenn die Forderung der Krankenkasse vom Krankenhaus nicht bestritten wird oder rechtskräftig festgestellt wurde. In der Vereinbarung nach § 17c Absatz 2 Satz 1 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes können abweichende Regelungen vorgesehen werden.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

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Tenor

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von 937,10 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.10.2015 bis zum 31.12.2015 und in Höhe von 941,10 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 31.03.2016 zu zahlen.

2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller begehrt die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von Arbeitslosengeld II im Wege der einstweiligen Anordnung.

2

Der 1961 geborene Antragsteller ist spanischer Staatsangehöriger. Er lebt mit seiner Ehefrau (geboren1985) und zwei gemeinsamen Kindern zusammen in einer Genossenschaftswohnung in Mainz und war im Jahr 2014 aus Spanien nach Deutschland eingereist. Für die Wohnung ist eine Nutzungsgebühr in Höhe von monatlich 577,10 Euro monatlich zu entrichten, einschließlich 100 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 60 Euro Wärme- und Warmwasserkostenvorauszahlung. Vertragspartner der Baugenossenschaft ist ausschließlich der Antragsteller selbst. Der Antragsteller verfügt über eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 FreizügigkeitsG/EU. Vom 01.08.2014 bis zur arbeitgeberseitigen Kündigung zum 31.03.2015 übte der Antragsteller eine Erwerbstätigkeit in einem Arbeitsverhältnis im Umfang von 40 Stunden wöchentlich als Spüler aus und verdiente hierbei zuletzt 1.654 Euro brutto monatlich.

3

Der Antragsteller stellte für sich und seine Familie am 30.03.2015 erstmals einen Antrag auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beim Antragsgegner.

4

Mit Bescheid vom 26.05.2015 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller und seiner Familie Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis zum 30.09.2015. Für die Monate Mai bis September 2015 wurde dem Antragsteller hierbei ein monatlicher Betrag von 504,28 Euro bewilligt. Der Antragsgegner legte Gesamtkosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 577,12 Euro, bei dem Antragsteller einen „Kopfteil“ von 144,28 Euro zu Grunde. Des Weiteren wurde bei dem Antragsteller ein Regelbedarf in Höhe von 360 Euro berücksichtigt. Das Einkommen aus Kindergeld wurde bei den Kindern des Antragstellers bedarfsmindernd berücksichtigt. Für die ganze Familie belief sich die Leistungshöhe ab Mai 2015 auf 1.430,12 Euro monatlich.

5

Mit einem Bescheid vom 21.09.2015 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen für den Zeitraum vom 01.08.2015 bis zum 30.09.2015. Hierbei wurde die vorangegangene Bewilligungsentscheidung für den Monat August 2015 wegen Ortsabwesenheit teilweise aufgehoben, nachdem zuvor bereits eine vorläufige Zahlungseinstellung erfolgt war. Für den Monat September 2015 verblieb es bei der zuvor bewilligten Leistungshöhe.

6

Unter dem 05.10.2015 stellte der Antragsteller für sich und seine Familie einen Weiterbewilligungsantrag. Hierbei gab er an, dass – abgesehen vom Kindergeld in Höhe von jeweils 184 Euro – kein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Einkommen erziele.

7

Mit Bescheid vom 07.10.2015 lehnte der Antragsgegner den Weiterbewilligungsantrag des Antragstellers ab. Zur Begründung führte er aus, dass der Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts habe. Der Arbeitnehmerstatus liege ab dem 01.10.2015 nicht vor und deshalb habe er keinen Anspruch mehr auf Leistungen nach dem SGB II. Der Arbeitnehmerstatus gelte für sechs Monate nach Beendigung der Beschäftigung. Diese sechs Monate seien im Falle des Antragstellers bis zum 30.09.2015 gegangen. Da er aktuell keine Beschäftigung innehabe, sei der Weiterbewilligungsantrag abzulehnen. Die Ehefrau und die Kinder des Antragstellers finden in dem Bescheid keine Erwähnung.

8

Der Antragsteller stellte den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz am 12.10.2015 zu Protokoll der Geschäftsstelle unter Vorlage des Ablehnungsbescheids. Zur Begründung führt er aus, dass er am vorangegangenen Wochenende den Ablehnungsbescheid erhalten habe. Noch heute (am 12.10.2015) werde er Widerspruch einlegen. Er sei völlig ohne Einnahmen und wisse nicht, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten solle.

9

Auf Frage des Gerichts legte der Antragsteller einen aktuellen Kontoauszug vom 26.10.2015 vor, wonach er an diesem Tag über ein Guthaben in Höhe von 61,22 Euro verfügte. Eine Gutschrift in Höhe von 500 Euro vom 09.09.2015 durch einen Herrn Mohamed O. erklärt der Antragsteller damit, dass der Schwager ihm diesen Betrag für die Miete geliehen habe. Der Antragsteller hatte des Weiteren am 14.10.2015 eine Kindergeldzahlung in Höhe von 376 Euro und eine Kindergeldnachzahlung in Höhe von 64 Euro erhalten. Des Weiteren geht aus dem Kontoauszug hervor, dass die Vermieterin des Antragstellers am 10.09.2015 einen Betrag von 585,52 Euro und am 01.10.2015 einen Betrag von 589,10 Euro per Lastschrift eingezogen hat.

10

Die gerichtliche Aufforderung zur Mitteilung, ob der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz auch für seine Ehefrau und seine Kinder gestellt werden sollte, ließ der Antragsteller hingegen unbeantwortet.

11

Der Antragsteller beantragt,

12

den Antragsgegner zur vorläufigen Gewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu verpflichten.

13

Der Antragsgegner beantragt,

14

den Antrag abzulehnen.

15

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz könne keinen Erfolg haben. „Die Antragsteller“ besäßen alle die spanische Staatsangehörigkeit und befänden sich seit Juni 2014 in Deutschland. Der Antragsteller sei in der Zeit vom 01.08.2014 bis zum 31.03.2015 weniger als ein Jahr sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Seit April 2015 seien „die (erwerbsfähigen) Antragsteller“ weder abhängig beschäftigt noch selbstständig tätig. Nach Art. 7 Abs. 3 c) der Richtlinie 2004/38 bleibe einem Erwerbstätigen, wenn er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stelle, seine Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate aufrechterhalten. Während dieses Zeitraums behalte der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat sein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 der Richtlinie und könne sich auf das in Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegte Gleichbehandlungsgebot (Gleichbehandlung mit Staatsangehörigen des Aufnahmestaates) berufen. Der Antragsteller habe die Erwerbstätigeneigenschaft gemäß Art. 7 Abs. 3 c) der Richtlinie 2004/38 bis zum 30.09.2015 behalten. Diesen Status habe der Antragsteller jedoch zum Zeitpunkt der Ablehnung der Leistungsbewilligung nicht mehr innegehabt. „Die Antragsteller“ könnten zwar ein Aufenthaltsrecht aus Art. 14 Abs. 2 b) der Richtlinie 2004/38 herleiten. Jedoch stünde dem Anspruch auf Leistungen Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie entgegen. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II stellten eine Leistung der Sozialhilfe im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dar. Die entsprechende deutsche Ausschlussvorschrift sei europarechtskonform.

16

Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstands und bezüglich des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners verwiesen. Er war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

17

Der Antrag ist zulässig und begründet.

18

1. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZivilprozessordnungZPO). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen als auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 596/05 – alle Entscheidungen zitiert nach juris). Handelt es sich - wie hier - um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistungen für den Empfänger mit der Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistungen aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu gewähren sind.

19

2. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wurde nur durch den Antragsteller selbst gestellt. Die Ehefrau und die Kinder des Antragstellers sind nicht am Verfahren beteiligt. Dies ergibt sich aus der Auslegung des zu Protokoll der Geschäftsstelle gestellten Antrags. Protokolliert wurde ausschließlich der Name des Antragstellers selbst. Der Antrag ist durchweg in der Ich-Form formuliert. Die Ehefrau und die Kinder des Antragstellers werden im Protokoll nicht erwähnt. Als Grund für die Antragstellung wurde wörtlich festgehalten: „Ich bin völlig ohne Einkommen und weiß nicht, wie ich meinen Lebensunterhalt bestreiten soll“. Anlässlich der Antragstellung wurde lediglich der Ablehnungsbescheid vom 08.10.2015 zur Akte genommen. Dieser Bescheid richtete sich ebenfalls ausschließlich an den Antragsteller selbst, Ehefrau und Kinder finden keine Erwähnung. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich zwar, dass der Antragsteller vermutlich auch die der Ehefrau und den Kindern zustehenden Leistungen im Wege des einstweiligen Rechtschutzes erlangen möchte. Weiterhin ist wohl davon auszugehen, dass der Antragsgegner meint, mit seinem Bescheid vom 08.10.2015 auch die Anträge der Ehefrau und der Kinder abschlägig beschieden zu haben. Nachdem der Antragsteller jedoch auch auf Anfrage des Gerichts nicht klargestellt hat, dass der Antrag auch für seine Familienmitglieder gestellt werden sollte, besteht kein Spielraum für eine Auslegung der Erklärung des Antragstellers dahingehend, dass er auch stellvertretend für die Ehefrau und die Kinder einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt hat.

20

3. Der Antragsteller hat für sich selbst einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Abgesehen vom fraglichen Vorliegen eines Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II liegen die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II vor. Ob der Antragsteller seiner Ankündigung gemäß fristgerecht Widerspruch gegen den Bescheid vom 07.10.2015 erhoben hat, ist für das Bestehen eines Anordnungsanspruchs unerheblich, weil der Antragsgegner gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) innerhalb der zeitlichen Begrenzung des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II auch dann zur Leistung verpflichtet bleibt, wenn eine rechtswidrige Ablehnungsentscheidung in Bestandskraft erwächst. Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1, Satz 3 SGB II erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte Arbeitslosengeld II unter Berücksichtigung von Regelbedarf, Mehrbedarfen und Bedarf für Unterkunft und Heizung, wobei das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen die Geldleistungen mindert (§ 19 Abs. 3 Satz 1 SGB II).

21

3.1 Der Antragsteller ist erwerbsfähiger Leistungsberechtigter. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die für ihn nach § 7a Satz 2 SGB II maßgebliche Altersgrenze von 66 Jahren und sechs Monaten noch nicht erreicht hat.

22

Er hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt auch im Bundesgebiet (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der Antragsteller lebt mit seiner Familie in einer Wohnung in Mainz und ist während seines Aufenthalts in Deutschland bereits einer mehrmonatigen Erwerbstätigkeit nachgegangen. Anhaltspunkte dafür, dass er sich nur vorübergehend in Mainz bzw. in Deutschland aufhalten wird, sind nicht erkennbar. Für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts kommt es auf aufenthaltsrechtliche Aspekte nicht an (BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R – Rn. 18 f.).

23

3.2 Der Antragsteller ist aller Wahrscheinlichkeit nach erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II, da kein Anhaltspunkt dafür vorliegt, dass er wegen Krankheit oder Behinderung außerstande sein könnte, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 8 Abs. 1 SGB II). Dem Antragsteller ist als Unionsbürger in Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit die Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland auch erlaubt (§ 8 Abs. 2 Satz 1 SGB II).

24

3.3 Der Antragsteller hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass er hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II ist, was gemäß § 9 Abs. 1 SGB II der Fall ist, wenn jemand seinen eigenen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus dem zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II) sichern kann und die nötige Hilfe nicht von anderen erhält. Der Antragsteller verfügt nach seinen Angaben und nach den Erkenntnissen des Antragsgegners abgesehen von den Kindergeldzahlungen für seine Kinder nicht über Einkommen oder Vermögen. Dies hat der Antragsteller durch Vorlage von Kontoauszügen glaubhaft gemacht. Auch der Antragsgegner geht von der Einkommens- und Vermögenslosigkeit des Antragstellers aus, was sich in der vorausgegangenen Leistungsbewilligung für den Zeitraum bis zum 30.09.2015 zeigt, bei der lediglich das Kindergeld bei den Kindern des Antragstellers bedarfsmindernd angerechnet wurde. Den Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners lassen sich auch keine gegenteiligen Anhaltspunkte entnehmen. Die aus dem Kontoauszug ersichtliche Zahlung von 500 Euro durch Herrn O. vom 09.09.2015 hat der Antragsteller als Darlehen des Schwagers für die Miete bezeichnet. Diese Angabe ist insofern plausibel, als der Nachname des Überweisenden mit dem der Ehefrau des Antragstellers identisch ist und dem Antragsteller in Folge einer vorläufigen Zahlungseinstellung wegen des Verdachts unerlaubter Ortsabwesenheit die Leistungen für September 2015 zunächst nicht ausgezahlt wurden, so dass es zu einer akuten Bedarfsunterdeckung gekommen sein kann. Anhaltspunkte dafür, dass dem Antragsteller oder seiner Ehefrau andere Einkommensquellen zur Verfügung stehen könnten oder verwertbares Vermögen vorhanden sein könnte, liegen nicht vor. Die letzte Entgeltzahlung aus dem gekündigten Arbeitsverhältnis hat der Antragsteller im April 2015 erhalten. Das Nettoeinkommen lag etwa 200 Euro unter dem später nach dem SGB II bewilligten Gesamtbetrag, so dass auch plausibel ist, dass keine nennenswerten Beträge hieraus angespart werden konnten.

25

Das Einkommen aus Kindergeld wird einschließlich der im Monat Oktober 2015 zugeflossenen Nachzahlung rechnerisch vollständig zur Deckung des Bedarfs der Kinder des Antragstellers, der sich nach der hier vertretenen Auffassung mangels eigener Belastung mit Kosten für Unterkunft und Heizung auf den Regelbedarf beschränkt (siehe oben unter 3.6.1), benötigt. Das Kindergeld ist in Folge dessen gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht bei dem Antragsteller bedarfsmindernd zu berücksichtigen.

26

3.4 Der Antragsteller ist nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da er sich bereits länger als drei Monate in Deutschland aufhält. Er ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ausgeschlossen, da eine Leistungsberechtigung nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nicht gegeben ist. Insbesondere ist der Antragsteller – soweit erkennbar – nicht vollziehbar ausreisepflichtig (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG). Der Antragsteller ist auch nicht nach § 7 Abs. 4 SGB II, § 7 Abs. 5 SGB II oder § 77 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 7 Abs. 4a SGB II a.F. von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.

27

3.5 Der Antragsteller ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen, jedenfalls wenn sie nicht als Angehörige einer Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 SGB II leistungsberechtigt sind.

28

Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ist es möglich, dass der Antragsteller bereits tatbestandlich nicht unter die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fällt, weil er nicht mehr über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche verfügen könnte (3.5.1).

29

Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, dürfte die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht greifen, da diese Regelung gegen Art. 4 i.V.m. Art. 70 VO der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004) verstößt und in Folge dessen bei Unionsbürgern nicht anzuwenden ist (3.5.2).

30

Darüber hinaus ist der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nach der Rechtsauffassung der erkennenden Kammer verfassungswidrig. Sollte die Anwendung der Vorschrift im Hauptsacheverfahren nicht ohnehin wegen des Verstoßes gegen Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 nicht zur Anwendung kommen, wäre das Hauptsacheverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorzulegen. Im Falle einer Nichtigerklärung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II würde die Ausschlussregelung nicht greifen, mit der Folge, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hätte (3.5.3).

31

3.5.1 Der Antragsteller könnte nicht unter die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen, da er möglicherweise nicht über ein Aufenthaltsrecht, das ausschließlich dem Zweck der Arbeitsuche dient, verfügt.

32

a) Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, für bis zu sechs Monate freizügigkeitsberechtigt, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand ist offen, ob der Antragsteller diese Voraussetzungen erfüllt. Zum einen hält sich der Antragsteller bereits deutlich länger als sechs Monate in Deutschland auf, des Weiteren liegt dem Gericht derzeit kein Nachweis über eine Arbeitsuche des Antragstellers vor.

33

Sofern ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU nicht (mehr) bestünde, ergäbe sich für diesen nur noch ein (formelles) Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsvermutung. Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erst dann ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht (Hessisches LSG, Beschluss vom 07.04.2015 – L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 48 m.w.N.).

34

b) Der Wegfall des Aufenthaltsrechts aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU hätte zur Folge, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht zum Zuge käme. Dies ergibt sich aus dem insoweit klaren Wortlaut der Regelung, in der von Personen die Rede ist „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“ (vgl. zum Ganzen ausführlich und in jeder Hinsicht überzeugend: LSG Hessen, Beschluss vom 07.04.2015 – L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 49 bis 54 m.w.N. sowie LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.03.2015 – L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 27 ff. und LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.09.2015 – L 7 SF 535/15 ER – Rn. 8).

35

Die gegenteilige Auffassung, nach der der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch bei ausländischen Staatsangehörigen (und ihren Familienangehörigen) greift, die über kein (materielles) Aufenthaltsrecht verfügen, ist nicht vertretbar (vgl. bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.03.2014 – L 31 AS 1348/13 – Rn. 26), unabhängig davon, ob dies mit der Konstruktion einer „ungeschriebene(n) Anspruchsvoraussetzung des Bestehens eines Aufenthaltsrechts“ (so Hessisches LSG, Beschluss vom 11.12.2014 – L 7 AS 528/14 B ER – Rn. 55) oder mit Erörterungen von vermeintlichen Wertungswidersprüchen sowie Sinn- und Zweckerwägungen (so LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 34 oder LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.09.2015 – L 34 AS 1868/15 B ER – Rn. 16 ff.) begründet wird.

36

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, Rn. 310, zum Ganzen Rn. 304 ff. und Rn. 526 ff.). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Es ist den Gerichten daher verfassungsrechtlich strikt verboten, „ungeschriebene Anspruchsvoraussetzungen“ zu erschaffen oder sich anderweitig über die Grenzen des Gesetzeswortlautes hinwegzusetzen, beispielsweise mit der Behauptung, aus einer „allein am Wortlaut“ orientierten Auslegung ergäben sich Wertungswidersprüche.

37

Insbesondere ist es aus verfassungsrechtlichen Gründen methodisch verfehlt, unter Berufung auf einen angeblich „im Gesetzeswortlaut objektivierte(n) Wille(n) des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang“ ergebe, den Gesetzeswortlaut für unmaßgeblich zu erklären (so aber Hessisches LSG, Beschluss vom 18.09.2015 – L 7 AS 431/15 B ER – Rn. 19). Bei einem solchen Vorgehen ermächtigt sich der erkennende Spruchkörper selbst, jenseits des Wortlautes eine „zweckmäßige, vernünftige und gerechte Regelung“ zu schaffen, weil die unter Berücksichtigung des Wortlauts zu formulierende Rechtsnorm nach Auffassung des Spruchkörpers an „offenbare(r) Sinnwidrigkeit“ leide.

38

Zur Normsetzung sind Gerichte auf Grund des Gewaltenteilungsprinzips allenfalls ausnahmsweise bei echten Regelungslücken befugt. Dies trägt dem Dilemma Rechnung, das aus dem Umstand entsteht, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind. Denn Gerichte müssen auch dann, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen. In Folge des Grundsatzes der Gesetzesbindung darf allerdings von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die (analoge) Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot (vgl. SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 – zur Veröffentlichung vorgesehen).

39

Eine solche Regelungslücke liegt hier nicht vor. Selbst wenn sich die These aufstellen lässt, der Gesetzgeber bzw. der Gesetzesautor habe das Bestehen eines Aufenthaltsrechts als Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II stillschweigend vorausgesetzt (was auf Grund der Formulierung „deren Aufenthaltsrecht“ durchaus plausibel ist), macht dies eine ausdrückliche gesetzliche Regelung einer solchen Voraussetzung schon auf Grund des rechtsstaatlichen Gebotes der Normenklarheit nicht entbehrlich. Eine solche Regelung ist nicht Gesetz geworden, auch wenn sie beabsichtigt gewesen oder vorausgesetzt worden sein mag. Personen ohne Aufenthaltsrecht werden jedenfalls von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht erfasst.

40

c) Da der Antragsteller sich länger als sechs Monate in Deutschland aufhält, ist es denkbar, dass die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht vorliegen. Denn das Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1a FreizügG/EU würde nur fortbestehen, solange der Antragsteller nachweisen kann, dass er Arbeit sucht und begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, kann nach derzeitigem Sach- und Streitstand nicht beurteilt werden. Diesbezügliche Ermittlungen sind jedenfalls im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren bereits deshalb nicht erforderlich, weil dem Antrag aus im Folgenden zu erläuternden anderen Gründen stattzugeben ist.

41

3.5.2 Denn auch für den Fall, dass der Antragsteller weiterhin über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügen sollte, bestünde ein Anordnungsanspruch. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist bei Unionsbürgern auf Grund des Verstoßes gegen zwingendes Recht der Europäischen Union nicht anzuwenden. Die Regelung verstößt gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten, den Zugang zu nationalen System der Sozialhilfe auch für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38/EG)) gerechtfertigt werden (a.A. wohl EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63).

42

a) Die VO (EG) 883/2004 ist gemäß Art. 288 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) allgemein verbindlich und gilt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar, ohne dass es eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes bedürfte. Nach Art. 288 Abs. 2 AEUV können die Regelungen in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden.

43

Der Antragsteller unterfällt nach Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung. Vom persönlichen Geltungsbereich erfasst wird der Antragsteller als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates (Spanien), der seinen Wohnort in einem (anderen) Mitgliedstaat (Deutschland) hat, für den die Rechtsvorschriften dieses aufnehmenden Staates gelten und der – wie hier über die Kindergeldberechtigung, über die frühere sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und über den vorangegangenen Bezug von Arbeitslosengeld II – in ein Sozialversicherungs- und/oder Familienleistungssystem im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Verordnung (EG) 883/2004 eingebunden ist.

44

Das Arbeitslosengeld II als die hier streitige Leistung unterfällt gemäß Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 dem Anwendungsbereich der Verordnung. Nach dieser Regelung gilt die Verordnung auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Art. 70 VO (EG) 883/2004. Das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II gehört zu den "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" nach Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 (so auch EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 43). Diese Zuordnung setzt voraus, dass die Leistung einem besonderen Schutzzweck im Sinne eines zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutzes zu einem System der sozialen Sicherheit oder im Sinne eines besonderen Schutzes behinderter Menschen dient, beitragsunabhängig finanziert wird und dass sie im Anhang X der VO (EG) 883/2004 aufgeführt ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der besondere Schutzzweck des Arbeitslosengeldes II liegt darin, dass es sich um eine ergänzende Leistung im Rahmen des Leistungssystems zur Überwindung von Arbeitslosigkeit handelt. Diese besondere ergänzende Leistung ist nicht beitrags-, sondern steuerfinanziert und in Anhang X zur Verordnung (EG) 883/2004 aufgeführt. Dementsprechend sind Leistungen nach dem SGB II auch nicht als Fürsorgeleistungen gemäß Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeschlossen, unabhängig davon, dass diese Leistungen zugleich als Sozialhilfeleistungen qualifiziert werden können.

45

Art. 70 VO (EG) 883/2004 nimmt besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch nicht aus. Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 enthält nur die Aufhebung des so genannten Exportgebots, indem die Geltung des Art. 7 VO (EG) 883/2004 für die in Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 genannten Leistungen ausgeschlossen wird. Darüber hinaus wird die Geltung der weiteren Vorschriften „dieses“, d.h. des dritten Titels (Art. 17 bis Art. 69) der Verordnung ausgeschlossen. Daneben regelt Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 quasi als Gegenstück zum Ausschluss des Art. 7 VO (EG) 883/2004, dass die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, nach dessen Rechtsvorschriften vom Träger des Wohnorts zu dessen Lasten gewährt werden.

46

b) Die Voraussetzungen des Art. 4 VO (EG) 883/2004 in der Person des Antragstellers sind erfüllt. Diese Bestimmung regelt, dass Personen, für die die Verordnung gilt und sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, die gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Unter Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004 sind auch Rechtsvorschriften zu verstehen, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004) beziehen. Zwar wird der Begriff der Rechtsvorschriften – soweit hier von Interesse – in Art. 1 l VO (EG) 883/2014 wie folgt definiert:

47

„(Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck) "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit.“

48

Leistungen nach dem SGB II unterfallen als besondere beitragsunabhängige Leistungen jedoch nicht unmittelbar dem Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004, sondern werden über Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 in den Geltungsbereich der Verordnung einbezogen. Hieraus könnte der Schluss gezogen werden, dass sich das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 nur auf Rechtsvorschriften der in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten sozialen Sicherungssysteme bezieht (so mit ausführlicher Begründung: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012 – L 3 AS 250/12 B ER – Rn. 23 ff.). Hiergegen spricht aber, dass der Begriff „Rechtsvorschriften“ in der Verordnung offensichtlich nicht immer im Sinne der vorangestellten Legaldefinition verwendet wird (vgl. auch Groth, jurisPR-SozR 2/2015 Anm. 1, der ein Redaktionsversehen vermutet). Denn beispielsweise in Art. 70 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 und Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 ist ausdrücklich von „Rechtsvorschriften“ die Rede, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen beziehen. Deshalb liegt es näher, die in Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 bestimmte Geltung der Verordnung auch für besondere beitragsunabhängige Leistungen so zu verstehen, dass hiermit die Definition des Begriffs der „Rechtsvorschriften“ auf solche Rechtsvorschriften erweitert wird, die sich auf besondere beitragsunabhängige Leistungen beziehen. Wenn das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 für die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen hätte ausgeschlossen werden sollen, wäre dies dem Ausschluss der Geltung des Art. 7 VO (EG) 883/2004 in Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 entsprechend geschehen. Eine derart gravierende Einschränkung der Geltung der Verordnung für besondere beitragsunabhängige Leistungen hätte im Verordnungstext entsprechend deutlich zum Ausdruck kommen können und müssen. Auch der EuGH geht ausdrücklich von einer Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auf besondere beitragsunabhängige Leistungen aus (EuGH, Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13 – Rn. 55).

49

c) Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung (zum Begriff vgl. Bokeloh, ZESAR 2013, S. 402), denn das entscheidende Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit. Von der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II können ausschließlich Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit betroffen sein. In der VO (EG) 883/2004 selbst findet sich keine Regelung, die eine solche unterschiedliche Behandlung allgemein oder bei besonderen beitragsunabhängigen Leistungen unter bestimmten Umständen zulässt.

50

Die VO (EG) 883/2004 selbst enthält keine Bestimmungen im Sinne des Art. 4 EG (VO) 883/2004, die eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot im vorliegenden Fall zulassen.

51

d) Eine den Leistungsausschluss möglicherweise rechtfertigende Einschränkung des Diskriminierungsverbots ergibt sich auch nicht aus Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der RL 2004/38/EG (so auch SG Berlin, Urteil vom 19.12.2012 – S 55 AS 18011/12 – Rn. 26 ff.; Schreiber, NZS 2012, S. 651; Hofmann/Kummer, ZESAR 2013, S. 206). Die hierin enthaltene Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Unionsbürger unter bestimmten Voraussetzungen von Sozialhilfeleistungen auszuschließen, ist bereits deshalb nicht zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung geeignet, weil sich Beschränkungen nach dem Wortlaut des Art. 4 VO (EG) 882/2004 ausschließlich aus dieser Verordnung selbst ergeben dürfen. Die Verordnung enthält keine Vorschrift, nach der Normen aus anderen primären oder sekundären Rechtsakten der EU das Diskriminierungsverbot einschränken dürften.

52

Hieran vermag auch die Qualifikation der streitigen Leistungen nach dem SGB II als Sozialhilfeleistungen im Sinne der RL 2004/38/EG nichts zu ändern. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind Sozialhilfeleistungen sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichtete Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann (EuGH, Urteil vom 19.09.2013 – C-140/12 – Rn. 61). Aus dem sich hieraus ergebenden Umstand, dass die RL 2004/38/EG neben der VO (EG) 883/2004 grundsätzlich anwendbar ist, folgt jedoch nicht, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG eingeschränkt ist.

53

Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der RL 2004/38/EG stellt zwar eine inhaltliche Einschränkung des Diskriminierungsverbots aus Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG dar. Nach letzterer Vorschrift genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund der Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Abweichend hiervon ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) RL 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Dem (Aufnahme-)Mitgliedstaat ist es danach grundsätzlich erlaubt, Unionsbürgern, die die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

54

Aus dem systematischen Zusammenhang ergibt sich demnach, dass Mitgliedstaaten den Zugang zu Sozialhilfeleistungen nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG einschränken dürfen, die Teilmenge der Sozialhilfeleistungen, die zugleich als besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne von Art. 70 VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren sind, von einer solchen Vorgehensweise nach Art. 4 VO (EG) 883/2004 jedoch ausgenommen sind. Eine andere Auffassung erscheint rechtswissenschaftlich nicht vertretbar.

55

Zunächst stehen Verordnung und Richtlinie auf einer Ebene der Normenhierarchie, d.h. keines der beiden Regelungswerke vermag das jeweils andere zu verdrängen. Die Regelungswerke stehen im hier interessierenden Zusammenhang auch nicht in Widerspruch zueinander. Die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG wird durch die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots auf besondere beitragsunabhängige Leistungen nicht funktionslos, da es weiterhin Leistungen der Sozialhilfe in den Mitgliedstaaten gibt, die nicht von Art. 70 VO (EG) 883/2004 erfasst sind. Diese sind als Leistungen der sozialen und medizinischen Fürsorge nach Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich der Verordnung sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Hierunter fallen für Deutschland beispielsweise die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) mit Ausnahme des 4. Kapitels. Die Aufnahme so genannter Hybridleistungen, die Elemente der sonstigen sozialen Sicherungssysteme und der Sozialhilfe miteinander vereinen, in die Koordinierungsverordnung führt zu der Konsequenz, dass diese nicht wie (sonstige) Sozialhilfeleistungen eingeschränkt werden dürfen, sondern dem strikten Diskriminierungsverbot unterliegen. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG ist gegenüber Art. 4 VO (EG) 883/2004 daher auch nicht die speziellere Norm. Die Anwendungsbereiche überschneiden sich vielmehr (vgl. zum Ganzen auch SG Berlin, Urteil vom 19.12.2012 – S 55 AS 18011/12 – Rn. 43 ff.).

56

Im Übrigen können aus rechtssystematischen Gründen weder eine Richtlinie im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV noch eine auf Grund der Richtlinie erlassene nationale Rechtsvorschrift gegenüber einer Verordnung im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUV leges speciales sein. Dies ergibt sich aus dem Vorrang europäischen Rechts, wie er in Art. 288 Abs. 2 AEUV zum Ausdruck kommt. Richtlinien im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV geben den Mitgliedstaaten auf, Rechtsvorschriften mit bestimmten Mindestanforderungen zu erlassen. Diese Rechtsvorschriften sind aber kein Europarecht, sondern nationales Recht. Sie stehen deshalb normhierarchisch unterhalb des primären und sekundären Europarechts und werden daher bei Verstoß gegen Verordnungsrecht nach Art. 288 Abs. 2 AEUV von diesem verdrängt. Ob das nationale Recht in irgendeinem Sinne „spezieller“ als das entgegenstehende Verordnungsrecht ist, spielt hierfür keine Rolle. Die Richtlinie selbst steht zwar als Sekundärrecht der Europäischen Union auf einer Ebene der Normhierarchie mit der Verordnung, enthält aber kein unmittelbar geltendes Recht. Den Mitgliedstaaten wird beispielsweise in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG lediglich ermöglicht, unter bestimmten Umständen Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen auszuschließen. Ob hiervon Gebrauch gemacht wird, bleibt den Mitgliedsstaaten überlassen. Nicht unmittelbar geltendes Recht kann aber mangels selbstständigem Anwendungsbefehl unmittelbar geltendes Recht nicht verdrängen.

57

e) Die entgegenstehende Rechtsprechung des EuGH aus dem Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) kann demgegenüber nicht überzeugen (kritisch auch Kingreen, NVwZ 2015, S. 1505; Farahat, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de; im Hinblick auf die fehlende Begründung: Kador in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, Art. 70 VO (EG) 883/2004, Rn. 5.4). Der EuGH geht hierbei davon aus, „dass Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit ihrem Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen (seien), dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht.“ Der EuGH thematisiert in seiner Entscheidung nicht, aus welchem rechtssystematischen Grund die Ausnahmevorschrift des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 relativieren können soll. Vielmehr hat er dieser Regelung ohne Begründung offenbar keinerlei eigene Bedeutung beigemessen (vgl. Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, Anhang zu § 23, Rn. 68.3). Es fehlt letztlich an einem rechtlichen Argument, mit dem die in Art. 4 VO (EG) 883/2004 ausdrücklich geregelte Beschränkung der Abweichungsmöglichkeiten vom Gleichbehandlungsgebot auf in der Verordnung selbst enthaltene Ausnahmen überwunden werden könnte.

58

f) Der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 führt wegen des Anwendungsvorrangs (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 09.06.1971 – 2 BvR 225/69 – Rn. 92 ff.) zur Nichtanwendbarkeit des diskriminierenden Merkmals des nationalen Rechts bei Anwendung der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Leistungsanspruchs.

59

Aus der Nichtanwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf Unionsbürger folgt, dass der Antragsteller aller Voraussicht nach einen Anspruch auf die begehrten Leistungen nach dem SGB II hat.

60

Die erkennende Kammer ist an das entgegenstehende Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) nicht gebunden. Wenn ein Gericht Unionsrecht anders auslegen will als der EuGH, folgt hieraus keine Vorlagepflicht, solange innerstaatliche Rechtsmittel gegen die Entscheidung bestehen (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Im Hauptsacheverfahren stünde es vielmehr im Ermessen des Gerichts, die Rechtssache gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH vorzulegen, um ggf. eine Korrektur der Rechtsprechung zu ermöglichen (vgl. Wißmann in: Erfurter Kommentar, AEUV, Art. 267, Rn. 22, 16. Aufl. 2016).

61

3.5.4 Selbst für den Fall, dass der EuGH in Folge einer solchen Vorlage bei seiner Rechtsauffassung verbliebe, wäre allerdings eine Verurteilung zur Gewährung von Arbeitslosengeld II in der Hauptsache wahrscheinlich, ein Anordnungsanspruch daher gegeben. Denn der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verstößt nach der Rechtsauffassung der erkennenden Kammer auch gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG, wie es vom BVerfG in den Urteilen vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) und vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) konstituiert worden ist (so bereits SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER – zur Veröffentlichung vorgesehen, und SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 7 ff.; vgl. auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285 f.).

62

a) Das BVerfG entwickelt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Das Menschenwürdeprinzip aus Art. 1 Abs. 1 GG wird dabei als eigentliche Anspruchsgrundlage herangezogen, während das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG im Sinne eines Gestaltungsgebots mit erheblichem Wertungsspielraum verstanden wird (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 62). Das auf dieser Grundlage bestimmte Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG demnach neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133).

63

Die Entwicklung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dem Umstand geschuldet, dass sowohl die Menschenwürdegarantie als auch das Sozialstaatsprinzip als echte einklagbare verfassungsrechtliche Garantien verstanden werden, nicht nur als bloße Programmsätze. Ein menschenwürdiges Leben, zu dessen Achtung und Schutz alle staatliche Gewalt nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet ist, kann nur mit einem Mindestmaß an materiellen und sozialen Ressourcen geführt werden (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 211).

64

Das Bekenntnis zum Sozialstaat bedingt die (Selbst-)Verpflichtung des Staates und der ihn tragenden Gesellschaft, ein solches menschenwürdiges Leben auch denen zu garantieren, die hierfür nicht aus eigener Kraft (bzw. mit den Mitteln, die ihnen Staat und Gesellschaft anderweitig durch Bildung, Infrastruktur etc. zur Verfügung stellen) sorgen können. Die objektive staatliche Verpflichtung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums enthält auch die Verpflichtung, Hilfebedürftigen einen Anspruch auf die Leistung zu verschaffen (so bereits BVerfG, Urteil vom 07.06.2005 – 1 BvR 1508/96 – Rn. 48; vgl. Baer, NZS 2014, S. 3). Diese subjektivrechtliche Seite der verfassungsrechtlichen Garantie ist eine zwingende Folge daraus, dass Art. 1 Abs. 1 GG als echte Rechtsnorm verstanden wird (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 212).

65

Die Unverfügbarkeit des Grundrechts (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74) resultiert aus dessen Verankerung im Grundsatz der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), weil hierin der Schutz der Selbstbestimmung des Menschen auf Grund seines Eigenwerts enthalten ist (vgl. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10, 4. Auflage 1999). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen. Die vom BVerfG hervorgehobene Unverfügbarkeit "dem Grunde nach" bringt lediglich zum Ausdruck, dass hinsichtlich der Art und Höhe der existenzsichernden Leistungen ein Gestaltungsspielraum besteht. Die Verwendung dieser Formulierung ist abzugrenzen von einem lediglich "grundsätzlich" bestehenden Recht, welches im Ausnahmefall auch nicht bestehen kann. Die Verpflichtung zur "Konkretisierung" und "Aktualisierung" (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74) bedeutet hingegen keine Einschränkungsbefugnis (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12. Dezember 2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 213).

66

Bei der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums geht es nicht darum, bestimmte Lebensentwürfe zu ermöglichen, sondern das physische Überleben und ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe des Menschen im Falle der Hilfebedürftigkeit unabhängig von dessen Lebensentwurf zu garantieren. Der Staat kann Art und Höhe der Gewährung von Sozialleistungen generell zwar von der Erfüllung von Verhaltenserwartungen abhängig machen, nicht jedoch die Gewährleistung des Existenzminimums. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Soweit für die Beschränkung des Anspruchs auf Gewährleistung des Existenzminimums unter Bezugnahme auf den Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 (1 BvR 2556/09) angeführt wird, die Verfassung gewährleiste nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (so z.B. Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 34), wird übersehen, dass das BVerfG in diesem Kontext ausschließlich auf die Bedarfsabhängigkeit abstellt und dem Gesetzgeber bei der Anrechnung von Einkommen einen weiten Gestaltungsspielraum zubilligt. Das Verfassungsrecht gebietet demnach keinen Anspruch auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern lediglich auf existenzsichernde Leistungen bei Hilfebedürftigkeit.

67

Die Gewährung existenzsichernder Leistungen darf deshalb nicht von der Erfüllung von Gegenleistungen oder von bestimmten Handlungen durch den Hilfebedürftigen abhängig gemacht werden. Dies lässt die Zulässigkeit der Schaffung von Mitwirkungsobliegenheiten unberührt, die dazu dienen festzustellen, ob Hilfebedürftigkeit überhaupt besteht (vgl. §§ 60 ff. Erstes Buch Sozialgesetzbuch –SGB I – ; vgl. auch Aubel in: Emmenegger/Wiedmann, Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Band 2, 1. Aufl. 2011, S. 290). Die Unverfügbarkeit des Grundrechts ist nicht durch den Verweis auf ein gleichfalls aus dem Begriff der Menschenwürde abgeleitetes Prinzip der Selbstverantwortlichkeit zu relativieren (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12. 2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 215).

68

Leistungsausschlüsse dem Grunde nach, die trotz bestehender Hilfebedürftigkeit eintreten und nicht durch ein anderes existenzsicherndes Leistungssystem (z.B. durch Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG) aufgefangen werden, sind per se verfassungswidrig, da sie die Gewährleistung von Lebensbedingungen verhindern, die physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen sind (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 219; so auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

69

Das Grundrecht ist – unbeschadet der Beschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und vom 08.10.2014 (1 BvR 886/11) – dem Grunde nach unverfügbar und insoweit "abwägungsfest" (Baer, NZS 2014, S. 3).

70

b) Als Menschenrecht steht das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 63).

71

Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73).

72

Ob und in welchem Umfang der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen für Menschen mit nur vorübergehendem Aufenthaltsrecht in Deutschland gesetzlich abweichend von dem gesetzlich bestimmten Bedarf anderer Hilfebedürftiger bestimmt werden kann, hängt allein davon ab, ob wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden können. Hierbei ist zu berücksichtigen, ob durch die Kürze des Aufenthalts Minderbedarfe durch Mehrbedarfe kompensiert werden, die typischerweise gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfallen. Auch hier kommt dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse dieser Personengruppe wie auch die wertende Einschätzung ihres notwendigen Bedarfs umfasst, aber nicht davon entbindet, das Existenzminimum hinsichtlich der konkreten Bedarfe zeit- und realitätsgerecht zu bestimmen (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 21 BvL 2/11 – Rn. 73).

73

c) Unter Zugrundelegung des geschilderten Maßstabs ist die erkennende Kammer von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II überzeugt, da der vollständige Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II ohne anderweitige Kompensationsmöglichkeit eine Sicherung des Existenzminimums bereits dem Grunde nach ausschließt. Ein völliger Ausschluss von existenzsichernden Leistungen lässt sich nicht mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG vereinbaren (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 SGB XII, Rn. 73; Frerichs, ZESAR 2014, S. 285).

74

Allenfalls ein Teil des von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffenen Personenkreises kann auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII verwiesen werden. Zwar ist der Anwendungsbereich des SGB XII nicht bereits nach § 21 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen, da die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu einem Leistungsausschluss dem Grunde nach führt (vgl. auch Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 SGB XII, Rn. 56.1). Soweit behauptet wird, die Abgrenzung der Systeme der Grundsicherung nach dem SGB II und dem SGB XII geschehe durch den Begriff der Erwerbsfähigkeit (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 20 m.w.N.), so gibt dies die Rechtslage nicht exakt wieder. Gemäß § 21 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Personen, die trotz Erwerbsfähigkeit dem Grunde nach von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, fallen nicht unter diese Ausschlussregelung. Es spielt hierbei keine Rolle, das Fehlen welcher Voraussetzung bzw. das Vorliegen welches Ausschlusstatbestands den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausschließt (vgl. hierzu ausführlich LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – Rn. 13 ff.).

75

In § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist jedoch ein dem § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entsprechender bzw. im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis noch weitergehender Leistungsausschluss normiert. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Lediglich Hilfe bei Krankheit kann unter den Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII gewährt werden. Dieser Leistungsausschluss verstößt – anders als § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – nicht generell gegen Art. 4 VO (EG) 883/2004, weil von den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII lediglich die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII als besondere beitragsunabhängige Leistung im Sinne des Art. 70 VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren ist.

76

Ein Rückgriff auf die Auffangregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ist auf Grund deren systematischer Stellung ausgeschlossen. Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten u.a. Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten. § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ermöglicht eine Ermessensentscheidung über die Erbringung von Leistungen der Sozialhilfe, die nicht bereits nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zu gewähren sind. Gegenüber der Gesamtregelung des § 23 Abs. 1 SGB XII bildet § 23 Abs. 3 SGB XII erkennbar an der der Grundregel nachfolgenden Stellung im Paragraphen eine einschränkende Sonderregel. Über diese Gesetzessystematik kann auch eine „verfassungskonforme Auslegung“ (vgl. Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 SGB XII, Rn. 75) nicht hinweghelfen. Eine verfassungskonforme Auslegung ist nur unter Beachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlautes und unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik zulässig. Andernfalls würde die Verfassungskonformität der "ausgelegten" Vorschrift durch einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG und zugleich gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz erkauft.

77

Die in Gesetzgebungstechnik und Rechtspraxis etablierten Standards der Gesetzessystematik stellen lediglich Abkürzungen für bestimmte sprachliche Operationen dar, die die Lesbarkeit von Gesetzestexten erhöhen und deren Umfang reduzieren sollen. Die Verwendung solcher Gesetzgebungstechniken bindet die Gerichte in gleichem Maße wie der Wortlaut des Gesetzestextes in seiner Begrenzungsfunktion. Dies gilt beispielsweise auch für den Grundsatz, dass die speziellere Regelung die allgemeinere verdrängt. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist in diesem Sinne eine Spezialregelung gegenüber § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, da für die Anwendbarkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII („Ausländer“) vorliegen und weitere Voraussetzungen (Einreise zur Erlangung von Sozialhilfe oder Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche) hinzutreten müssen. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII schließt als Rechtsfolge somit einen Anspruch auf Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aus. Die ergänzende Regelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII bezieht sich wiederum ausschließlich auf § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, der selbst nur einen Anspruch für bestimmte Leistungsarten des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft, Hilfe zur Pflege) konstituiert. § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ermöglicht daneben beispielsweise die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen und Hilfe in besonderen Lebenslagen für den in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Personenkreis. Der Anspruchsausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII folgt auch dieser Auffangregelung nach und schließt diese mit aus.

78

d) Vorliegend kann offen bleiben, ob die Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII bei erwerbsfähigen Angehörigen der Signatarstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 (EFA – neben Deutschland sind dies Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und das Vereinigte Königreich) auf Grund des Gleichbehandlungsgebots des Art. 1 EFA nicht zur Anwendung kommt (bejahend mit überzeugender Begründung: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – Rn. 22 ff.). Dies würde zwar dazu führen, dass ein erheblicher Teil der vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen – einschließlich des Antragstellers im vorliegenden Verfahren – einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII hätten und hierdurch ihr Existenzminimum gesichert sein könnte.

79

Diese Rechtsfolge würde die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II jedoch nicht verhindern, da dieser Ausschlusstatbestand einen erheblich größeren Personenkreis erfasst, zum einen die Staatsangehörigen von EU-Mitgliedstaaten, die nicht Unterzeichner des EFA sind (Bulgarien, Finnland, Kroatien, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern), zum anderen Angehörige potenziell aller anderen Staaten der Welt, sofern sie ein Aufenthaltsrecht nach § 16 Abs. 4 AufenthG oder nach § 18c AufenthG besitzen.

80

e) Andere Ansprüche auf Sozialleistungen, die das Existenzminimum bei Vorliegen des Ausschlusstatbestands des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vollständig sichern könnten, bestehen nicht. Ansprüche auf Leistungen nach dem AsylbLG können bei Unionsbürgern allenfalls gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG bei vollziehbarer Ausreisepflicht bestehen (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 05.02.2015 – L 6 AS 883/14 B ER – Rn. 12).

81

f) Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums kann nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden (a.A. LSG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40 und vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2238/15 ER-B, L 1 AS L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22 f.; Bayerisches LSG, Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 33; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 B ER – Rn. 36 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9 f.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht).

82

Die verfassungsrechtliche Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums besteht – wie oben ausgeführt – unabhängig von bestimmten Verhaltenserwartungen, da das Grundrecht unverfügbar ist (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 133; BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. – Rn. 74). Die Unverfügbarkeit resultiert aus dessen Verankerung im Grundsatz der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), insofern hierin der Schutz der Selbstbestimmung des Menschen auf Grund seines Eigenwerts angesprochen wird (vgl. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10, 4. Auflage 1999). Der Mensch kann seinen Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht verwirken, auch nicht durch selbst zu verantwortende Handlungen oder Unterlassungen. Die vom BVerfG hervorgehobene Unverfügbarkeit "dem Grunde nach" bringt lediglich zum Ausdruck, dass hinsichtlich der Art und Höhe der existenzsichernden Leistungen ein Gestaltungsspielraum besteht (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 213). Hieraus folgt, dass auch dann das Existenzminimum durch staatliche Sozialleistungen gewährleistet werden muss, wenn bestehende Selbsthilfemöglichkeiten (z.B. Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) tatsächlich nicht genutzt werden, gleich aus welchem Grund. Dies gilt auch dann, wenn eine Selbsthilfemöglichkeit darin bestehen könnte, in den Herkunftsstaat auszureisen und dort Fürsorgeleistungen in Anspruch zu nehmen.

83

Hieran ändert auch der z. B. vom Bayerischen Landessozialgericht (Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 32; Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 37) bemühte Hinweis auf die Nichtannahmebeschlüsse des BVerfG vom 03.09.2014 (1 BvR 1768/11) und 08.10.2014 (1 BvR 886/11) nichts, mit denen das BVerfG den grundsätzlichen Leistungsausschluss für Studenten und Auszubildende nach § 7 Abs. 5 SGB II unbeanstandet gelassen hat. Die hierin vom BVerfG geäußerte Auffassung, der Leistungsausschluss von Auszubildenden in § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II a.F. verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht, da existenzielle Bedarfe, soweit sie durch die Ausbildung entstünden, vorrangig durch Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) beziehungsweise nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) gedeckt würden (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 – 1 BvR 886/11 – Rn. 13), obwohl diese Leistungssysteme bedarfsunabhängige Ausschlussgründe vorsehen, stellt einen nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Bruch mit der im Urteil vom 09.02.2010 entwickelten Dogmatik dar. Denn es ist unklar, weshalb die zur Voraussetzung der Gewährung existenzsichernder Leistungen gemachte Verhaltenserwartung des Abbruchs der Ausbildung oder des Studiums mit dem Axiom der Unverfügbarkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sein sollte (so bereits SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 220). Die in diesen Kammerbeschlüssen geäußerte Auffassung des BVerfG dürfte deshalb nicht aufrechtzuerhalten sein. Das Existenzminimum dürfte auch bildungspolitisch nicht zu relativieren sein. Hiervon abgesehen ist die Situation von Studenten oder Auszubildenden mit denen von Unionsbürgern oder sonstigen ausländischen Staatsangehörigen im vorliegenden Kontext nicht vergleichbar. Während Studenten oder Auszubildenden im Allgemeinen rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit offen steht, Studium oder Ausbildung abzubrechen und hierdurch den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II zu beseitigen, kann die Ausreise eines vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Betroffenen in den Herkunftsstaat durch tatsächliche (z.B. wirtschaftliche) Hindernisse erschwert oder unmöglich sein. Sie führt auch nicht zu einem Wegfall des Ausschlussgrundes, sondern – im Gegenteil – wegen der Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland zum Wegfall des Anspruchs (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Anders als im Falle des Studenten oder Auszubildenden durch Studien- bzw. Ausbildungsabbruch kann der vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II durch die Ausreise den Anspruch auf Leistungen gerade nicht herbeiführen.

84

Unzutreffend ist auch die Auffassung des 20. Senats des LSG Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 28.09.2015 (L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22). Dieser meint, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht ausschließe, Leistungen nur insoweit vorzuhalten, wie es erforderlich ist, um einen Betroffenen in die Lage zu versetzen, dass er existenzsichernde Leistungen seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen kann. Sei ein Unionsbürger in der Lage, ohne weiteres in sein Herkunftsland zu reisen, um dort existenzsichernde Leistungen in Anspruch zu nehmen, sei der Staat im Rahmen seiner Gewährleistungsverpflichtung allenfalls gehalten, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung vorzuhalten. Soweit angenommen werde, dass der vollständige Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II ohne anderweitige Kompensationsmöglichkeit eine Sicherung des Existenzminimums dem Grunde nach ausschließe (Bezugnahme auf SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER), werde verkannt, dass bei einem Unionsbürger, der sich ohne Aufenthaltsrecht im Sinne des Art. 7 RL 2004/38 im Inland aufhalte und der nicht aus anerkennenswerten, schwerwiegenden Gründen an der Rückreise gehindert sei, gerade eine Kompensationsmöglichkeit durch Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen im Herkunftsland bestehe.

85

Hiergegen ist – abgesehen vom grundsätzlichen Einwand, dass der Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums weder von der Staatsangehörigkeit, noch vom rechtmäßigen Aufenthalt, noch von bestimmten Verhaltensweisen abhängen kann – einzuwenden, dass auf Grund der einander ergänzenden Ausschlussregelungen im SGB II und im SGB XII selbst der durch das LSG Berlin-Brandenburg als notwendig angesehene Anspruch auf Reise- und Verpflegungskosten nicht besteht. Selbst wenn man einen solchen Anspruch für ausreichend zur Gewährleistung des Existenzminimums halten würde, wäre die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II somit nicht behoben. Darüber hinaus ist unklar, ob und ggf. nach welchem Maßstab das LSG Berlin-Brandenburg hier zur Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses macht, dass betroffene Personen im Herkunftsland existenzsichernde Leistungen tatsächlich erhalten können. Vor allem werden keine näheren Ausführungen darüber gemacht, ob und inwieweit die Existenzsicherungssysteme der Herkunftsstaaten sich am Maßstab des Existenzsicherungsgrundrechts nach deutschem Verfassungsrecht messen lassen müssen. Die Annahme, dass sämtliche Staaten der Europäischen Union eine Leistung zur Sicherung des Existenzminimums gewährleisten, die den vom BVerfG bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland entwickelten Anforderungen genügen, ginge fehl. Aber auch schon die These, dass alle Staaten der Europäischen Union ein auch nur entfernt vergleichbares Sicherungssystem zur Verfügung stellen, ist gewagt. Abgesehen hiervon verfügt der grundrechtsverpflichtete deutsche Staat über keinerlei Möglichkeit, eine solche Sicherung im Ausland rechtlich oder tatsächlich zu garantieren.

86

Selbst wenn man aber den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für verfassungsmäßig halten würde, wenn die Betroffenen im Herkunftsland existenzsichernde Leistungen erhalten können, müsste diese Voraussetzung zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift nicht nur in sämtlichen 24 Staaten der Europäischen Union erfüllt sein, sondern auch in allen anderen Staaten der Welt, weil der Leistungsausschluss sich zugleich auch auf das Aufenthaltsrecht aus § 16 Abs. 4 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), welches nach Abschluss eines Studiums zum Zweck der Arbeitsuche erworben werden kann, und auf das Aufenthaltsrecht aus § 18c AufenthG bezieht. Diese Aufenthaltstitel sind nicht auf Angehörige bestimmter Staaten, insbesondere nicht auf Unionsbürger beschränkt.

87

Dies zeigt aber letztlich nur, dass ein Verweis auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Sozialleistungen in anderen Staaten kein sinnvolles Kriterium zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines Leistungsausschlusses von existenzsichernden Leistungen bei transnationalen Sachverhalten ist. Die Gewährleistungspflicht des deutschen Staates für ein Existenzminimum gilt innerhalb der Staatsgrenzen für deutsche Staatsangehörige, ausländische Staatsangehörige und Staatenlose gleichermaßen und uneingeschränkt und unabhängig davon, ob vergleichbare Ansprüche in einem anderen Staat geltend gemacht werden könnten. Sie endet aber auch an den Staatsgrenzen, sodass ein Verstoß gegen das Existenzsicherungsrundrecht wohl nicht schon dann angenommen werden kann, wenn eine Person rechtmäßig in einen Staat abgeschoben wird, der über kein vergleichbares Existenzsicherungssystem verfügt (vgl. Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 1210.2015, S. 18).

88

Vor diesem Hintergrund ist es auch verfassungsrechtlich unerheblich, ob im von der Behörde oder dem Gericht zu prüfenden Einzelfall eine Rückkehrmöglichkeit in einen Staat mit existenzsicherndem Sozialhilfesystem besteht. Sofern § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für nichtig erklärt werden muss, fällt der Ausschlusstatbestand für alle hiervon betroffenen Personen weg, unabhängig davon, ob sie selbst zu der Fallgruppe gehören, die die Verfassungswidrigkeit der Norm begründet. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung ist daher in jedem Fall entscheidungserheblich, in dem der Ausschlusstatbestand greift. Deshalb sind die von verschiedenen Gerichten in Eilverfahren oberflächlich vorgenommenen Prüfungen der in den jeweiligen Herkunftsländern der Betroffenen bestehenden Sozialhilfesysteme (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 – L 2 AS 14/15 B ER – Rn. 40: Tschechien; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.05.2015 – L 2 AS 256/15 B ER – Rn. 31: Rumänien; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B, L 1 AS 2358/15 B: Slowakei; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2015 – L 12 AS 1180/15 B ER – Rn. 27: Italien; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER – Rn. 38: Portugal) ebenso unerheblich, wie die Frage, ob bei dem Betroffenen im konkreten Einzelfall ein Hinderungsgrund für die Rückkehr in den Herkunftsstaat vorliegt.

89

g) Der Auffassung des 4. Senats des LSG Hamburg (Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403715 B ER – Rn. 9), den verfassungsrechtlichen Vorgaben könne dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass arbeitsuchenden Unionsbürgern ein Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen eingeräumt werde, muss ebenfalls widersprochen werden. Das LSG Hamburg führt hierzu aus:

90

„Welche Leistungen unabweisbar sind, hängt dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland kommt in der Regel lediglich die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht (Überbrückungsleistungen). Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Anspruch auf die unabweisbar gebotene Hilfe aus einer entsprechenden Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (…) oder unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (…) herzuleiten ist oder ob in entsprechenden Fällen von einer atypischen Bedarfslage auszugehen ist, die den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) rechtfertigt.“

91

Das Fehlen bzw. der Ausschluss eines verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen Anspruchs auf eine Leistung kann nicht zur Vermeidung des verfassungswidrigen Zustands dadurch ausgeglichen werden, dass nicht einschlägige Anspruchsgrundlagen „entsprechend“ herangezogen oder Ansprüche direkt aus der Verfassung abgeleitet werden (vgl. hierzu auch Frerichs, ZESAR 2014, S. 285). Konkret ist sowohl die Anwendung des § 23 Abs. 2 Satz 3 SGB XII als auch des § 73 SGB XII durch § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen. Diese Regelungen dennoch „entsprechend“ anzuwenden, würde gegen das Gesetzesbindungsgebot verstoßen. Die weiter geäußerte Behauptung, der durch das Gericht beschriebene Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form unabweisbar gebotener Leistungen sei ein (nach dem BVerfG verfassungsrechtlich gebotener) „gesetzlicher Anspruch“, selbst wenn seine „konkrete Ausgestaltung im Einzelfall“ nicht direkt aus dem Gesetz ablesbar sei (LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403715 B ER – Rn. 10), ist in sich widersprüchlich und verfehlt die Grundlinien der Rechtsprechung des BVerfG, dem es um eine parlamentarisch-demokratische Ausgestaltung der existenzsichernden Leistung durch Gesetz geht. In § 31 SGB I ist darüber hinaus positiv normiert, dass Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des SGB nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Auch diese Regelung schließt es aus, einen Anspruch gegen einen Sozialleistungsträger des Sozialgesetzbuches unmittelbar auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zu stützen. Der verfassungswidrige Zustand kann auf Grund des Normverwerfungsmonopols letztlich nur durch das BVerfG behoben werden.

92

Anders als der 4. Senat des LSG Hamburg im genannten Beschluss vom 15.10.2015 (L 4 AS 403715 B ER – Rn. 10) meint, kann der Leistungsausschluss auch keine „Rechtfertigung in dem europäischen Konzept einer Freizügigkeit“ finden, ohne dass eine Sozialunion hergestellt sei. Das LSG Hamburg lässt die dogmatische Herleitung einer solchen Rechtfertigung offen. Die Freizügigkeit ist lediglich tatsächliche Ursache dafür, dass es vielen Menschen möglich ist, sich in Deutschland legal aufzuhalten. Inwiefern sich dieser Umstand beschränkend auf einen in der Menschenwürde fußenden verfassungsrechtlichen Anspruch auswirken könnte, bleibt unklar. Allerdings scheint das LSG Hamburg den Leistungsausschluss damit rechtfertigen zu wollen, dass er von der Realisierung der in Art. 2 des EU-Vertrages festgelegten Werte der Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Wahrung der Menschenrechte in allen EU-Mitgliedstaaten ausgeht. Ohne dies näher auszuformulieren, scheint daher auch dieses Gericht davon auszugehen, dass der deutsche Staat ein menschenwürdiges Existenzminimum dann nicht gewährleisten muss, wenn die betroffene Person die theoretische Möglichkeit hat, in seinem Herkunftsstaat unter – nach welchen Kriterien auch immer – menschenwürdigen Umständen zu leben.

93

h) Die Auffassung, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoße, erweist sich nach alldem als unzutreffend. Praktisch wird von den diese Auffassung vertretenden Senaten der Landessozialgerichte für ausreichend gehalten, dass die betroffenen Personen aus einem EU-Staat stammen, in den sie zurückkehren können. Die Möglichkeit der dortigen Inanspruchnahme von Sozialleistungen und deren Niveau wird, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich geprüft und dann stets bejaht. Würde dieses Kriterium ernst genommen, wäre die Rechtslage im jeweiligen Herkunftsstaat deutlich genauer zu prüfen. Bei verbleibenden Zweifeln müssten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen zugesprochen werden. Die Auffassung der hier zitierten Landessozialgerichte liefe daher darauf hinaus, dass es dem Gesetzgeber jedenfalls nach deutschem Verfassungsrecht freistünde, alle ausländischen Staatsangehörigen von existenzsichernden Leistungen auszuschließen, die legal in ihren Herkunftsstaat zurückreisen könnten, da sich der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht allein auf Unionsbürger bezieht, sondern auch Personen mit Aufenthaltsrechten aus § 16 Abs. 4 AufenthG und § 18c AufenthG erfasst. Es gäbe schließlich keinen Grund, weshalb der Gesetzgeber Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nicht auch bei anderen Aufenthaltszwecken als dem der Arbeitsuche ausschließen dürfte, wenn die betroffenen Personen sich nicht in Deutschland aufhalten müssten. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums würde auf diese Weise auf ein Grundrecht für Deutsche, Flüchtlinge und Asylberechtigte reduziert, bzw. unterläge bei anderen Personen einem einfachen Gesetzesvorbehalt.

94

i) Vor dem Hintergrund, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nach dem Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) und unter Berücksichtigung des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) offensichtlich der Klärung bedarf und dieser Umstand sowohl in Literaturbeiträgen (vgl. Frerichs, ZESAR 2014, S. 285; Kingreen, NVwZ 2015, S. 1506; Thym, NJW 2015, S. 134; Farahat, Verfassungsblog 2015/9/16, www.verfassungsblog.de; Körtek, SozSich 2015, S. 370 ff.; Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, Anhang zu § 23, Rn. 119; Löbich ZESAR 2015, S. 426 f.; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 7, Rn. 102; Harich, jurisPR-SozR 15/2011 Anm. 1; vgl. auch Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 SGB XII, Rn. 73 und Kirchhof, NZS 2015, S. 4) als auch Gerichtsentscheidungen (Bayerisches LSG, Beschluss vom 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER – Rn. 59; Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 – L 6 AS 378/12 – Rn. 63; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 17.08.2015 – L 19 AS 1265/15 B ER, L 19 ASL 19 AS 1266/15 B – Rn. 28, vom 20.03.2015 – L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 32, und vom 09.09.2015 – L 19 AS 1260/15 B ER – Rn. 27; SG Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER; SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 – Rn. 7 ff.) benannt wird, erscheint die aktuelle Praxis einiger Landessozialgerichte (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2015 – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 22 f.; Bayerisches LSG, Beschluss vom 01.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER – Rn. 33; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 B ER – Rn. 36 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER – Rn. 9 f.; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 503/15 B ER – nicht veröffentlicht; die verfassungsrechtliche Fragestellung ignorierend: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.09.2015 – L 2 AS 1582/15 B ER), dem betroffenen Personenkreis bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen keinen einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, nicht vertretbar.

95

Ferdinand Kirchhof führt zum (selbst mitverantworteten) Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) in bemerkenswerter Klarheit aus (NZS 2015, S. 4):

96

„In der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz wurde nochmals klargestellt, dass die Menschenwürde nicht etwa nur Deutschen zukommt, sondern jeder Person, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhält. Das Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt also nicht nur für „Hartz-IV-Bezieher“; es bleibt nicht bloßes Deutschen- oder Bürgerrecht. Ob Deutscher, Angehöriger eines Mitgliedstaates der EU oder Staatsangehöriger eines Drittstaates — Mensch ist man immer.

97

Es mag sein, dass soziale Leistungen dieser Art auf Personen aus ärmeren Ländern anziehende Wirkungen entfalten. Solange der deutsche Staat sie indessen auf seinem Territorium aufnimmt, beherbergt oder auch nur duldet, sind sie in diesem bescheidenen Umfang auch leistungsberechtigt. Vorwürfe, mit dieser Rechtsprechung würde der Zuzug nach Deutschland angeregt, übersehen, dass das Grundrecht auf eine Gewährleistung menschenwürdiger Existenz eine Folge zwingenden Verfassungsrechts ist, die einen Aufenthalt in Deutschland voraussetzt. Wer hier Anreizeffekte vermeiden will, müsste das eigentlich ursächliche Aufenthaltsrecht ändern. Dessen Konsequenz einer finanziellen Versorgung von Menschen, die nicht selbst ihren Lebensunterhalt bestreiten können, hängt völlig vom Aufenthalt in Deutschland ab; erst dann entfaltet das Menschenrecht seine Wirkung.“

98

Die für die Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses angeführten Argumente sind in den zitierten Entscheidungen hingegen allenfalls kursorisch ausgearbeitet und entbehren einer vertieften verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung. Auch für die oben zitierten Senate der Landessozialgerichte dürfte bei Lektüre des Urteils das BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) erkennbar sein, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durch das BVerfG bei entsprechender Befassung nicht unwahrscheinlich ist. Bei dieser Ausgangslage existenzsichernde Leistungen zu versagen (und teilweise sogar mangels Erfolgsaussicht Prozesskostenhilfe abzulehnen, LSG Berlin-Brandenburg – L 20 AS 2161/15 B ER – Rn. 25; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 02.11.2015 – L 6 AS 504/15 B – nicht veröffentlicht) ist daher rechtsstaatlich bedenklich, zumal die Landessozialgerichte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die letzte Instanz bilden und durch die Leistungsablehnung effektiver Rechtsschutz endgültig vereitelt wird.

99

j) Aus der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II folgt, dass im Falle der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens und bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Übrigen das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen wäre, wenn das Gericht nicht ohnehin von einer Nichtanwendung des Ausschlusstatbestands in Folge der Europarechtswidrigkeit ausginge. Der Anwendungsvorrang des Art. 4 VO (EG) 883/2004 beseitigt im Übrigen die Verfassungswidrigkeit der Regelung nicht, sondern beschränkt nur den Kreis der Verfahren, bei denen die Frage der Verfassungsmäßigkeit entscheidungserheblich sein dürfte. Im Falle einer Nichtigerklärung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II würde die Ausschlussregelung nicht greifen, mit der Folge, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hätte.

100

Mithin besteht ein Anordnungsanspruch auch für den Fall, dass der Antragsteller über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU verfügt und ein Verstoß des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen Art. 4 VO (EG) 883/2004 entgegen der hier vertretenen Auffassung nicht angenommen werden kann oder der EuGH dies im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV für den zu entscheidenden Einzelfall verbindlich feststellt.

101

3.6 Hinsichtlich des Leistungsumfangs erstreckt sich der Anordnungsanspruch gemäß § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II im Falle des Antragstellers auf den Regelbedarf für Partner nach § 20 Abs. 4 SGB II i.V.m. der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2015 (RBSFV 2015) in Höhe von derzeit 360 Euro sowie auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Ab dem 01.01.2016 ist gemäß der RBSFV 2016 von einem Regelbedarf in Höhe von 364 Euro auszugehen.

102

Beim Antragsteller sind auch die vollständigen tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung aus dem Dauernutzungsvertrag in Höhe von 577,10 Euro monatlich zu berücksichtigen. Aus den vom Antragsteller vorgelegten Kontoauszügen ergeben sich zwar für die Monate September und Oktober 2015 geringfügig höhere Abbuchungen des Vermieters in Höhe von 585,52 Euro bzw. 589,10 Euro. Da hierfür keine Erklärung abgegeben wurde, kann die Kammer beim gegenwärtigen Sachstand jedoch nicht von einer Erhöhung der Unterkunfts- und Heizkosten ausgehen.

103

3.6.1 Der Unterkunfts- und Heizungsbedarf des Antragstellers besteht nicht lediglich in einem auf ihn entfallenden „Kopfteil“ der Gesamtkosten (so bereits SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – Rn. 289 ff.). Der Antragsteller ist selbst und allein Schuldner der Unterkunfts- und Heizkosten. Dies ergibt sich aus dem in den Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners enthaltenem Dauernutzungsvertrag. Der Antragsteller ist alleinige Vertragspartei auf Mieterseite.

104

Aus der Gesetzessystematik des § 22 SGB II ergibt sich zwingend, dass die Aufwendungen bei Mehrpersonenhaushalten den Personen als Bedarf zuzuordnen sind, die die Aufwendungen tatsächlich haben, d.h. die tatsächlich einer entsprechenden Forderung ausgesetzt sind. Für eine Aufteilung nach Kopfteilen besteht hingegen keine Rechtsgrundlage (für das "Kopfteilprinzip" aber grundsätzlich das BSG, Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 1/06 R – Rn. 28 f.; Urteil vom 31.10.2007 – B 14/11b AS 7/07AS 7/07 R – Rn. 19).

105

a) Die Festsetzung des Unterkunftsbedarfs anhand der tatsächlichen Aufwendungen ist im Zusammenhang mit § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II als Bestandteil der Bedarfsberechnung anzusehen. Die Leistungen nach dem SGB II sind als Individualansprüche ausgestaltet (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R – Rn. 12). Der Betrag der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft, soweit er angemessen ist, wird gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II als Unterkunftsbedarf anerkannt, d. h. er fließt als Berechnungsposten in die Bestimmung des individuellen Gesamtanspruchs auf Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld nach § 19 Abs. 1, 19 Abs. 3 Satz 1 SGB II ein. Der für die Leistungsberechnung nach § 19 SGB II maßgebliche Unterkunftsbedarf wird somit nicht anhand der Nutzungsintensität einer Unterkunft durch eine leistungsberechtigte Person bemessen, sondern anhand der für die Nutzung aufzuwendenden Kosten. Der Ausgangspunkt des BSG, die Höhe des Unterkunftsbedarfs anhand der Nutzungsintensität der Unterkunft durch die einzelne Person festlegen zu wollen (vgl. BSG, Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 1/06 R – Rn. 28) und hierbei aus Gründen der Praktikabilität von einer gleichmäßigen Nutzung, also von "Kopfteilen" auszugehen, geht daher fehl.

106

Dass § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II die Möglichkeit einschließt, dass auch Empfänger von Sozialgeld Leistungen für Bedarfe für Unterkunft und Heizung erhalten können, besagt noch nichts über deren Verteilung.

107

b) Bei Personen, die selbst keine Unterkunftskosten schulden, somit keine Aufwendungen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II haben, fehlt es an einer Bemessungsgrundlage für den Unterkunftsbedarf, der bei der Bedarfsberechnung nach § 19 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 SGB II berücksichtigt werden könnte. Für eine Berücksichtigung nach Kopfteilen bedürfte es einer Rechtsgrundlage, nach der fiktive oder pauschale Unterkunftsbedarfe zu Grunde gelegt werden dürften. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), auf dessen Rechtsprechung zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sich das BSG zur Begründung des Kopfteilprinzips stützt, ist ausdrücklich davon ausgegangen, dass es sich bei der Anwendung des Kopfteilprinzip um eine pauschalierende Regelung handelt (BVerwG, Urteil vom 21.01.1988 – 5 C 68/85 – Rn. 10). Im Unterschied zum Sozialhilferecht (§ 35 Abs. 3 SGB XII) und außerhalb des Anwendungsbereichs des § 22a Abs. 2 SGB II ist eine Pauschalierung von Unterkunftskosten im SGB II jedoch nicht vorgesehen.

108

Praktikabilitätserwägungen (vgl. BSG, Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 1/06 R – Rn. 28) vermögen eine solche Rechtsgrundlage nicht zu ersetzen. Dies verbietet sich bereits auf Grund der Rechtsfolgen, die die Berücksichtigung von Unterkunftsbedarfen nach sich ziehen. Unter Anwendung der Kopfteilmethode kann trotz der Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 SGB II nicht sichergestellt werden, dass die zur Deckung der Unterkunftsbedarfe erbrachten Leistungen tatsächlich dem im Außenverhältnis zur Leistung der Unterkunftsaufwendungen Verpflichteten zur Verfügung stehen. Die zur Entgegennahme von Leistungen berechtigende Vertretungsvermutung kann widerlegt, ihr kann auch ausdrücklich widersprochen werden. Sie gilt im Übrigen nur zu Gunsten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter, obwohl auch nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte (Sozialgeldempfänger) Unterkunftskostenschuldner sein können. Sie gilt nicht für reine Haushaltsgemeinschaften, deren Unterkunftskosten nach der Rechtsprechung des BSG ebenfalls nach dem Kopfteilprinzip berücksichtigt werden sollen (vgl. BSG, Urteil vom 31.10.2007 – B 14/11b AS 7/07AS 7/07 R – Rn. 19). Bei der Auszahlung der Leistungen an verschiedene Haushaltsmitglieder läge eine zweckentsprechende Mittelverwendung nicht in der Hand des Verpflichteten.

109

c) Unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Kontextes ist letztlich aber von entscheidender Bedeutung, dass das Kopfteilprinzip vom Bedarfsdeckungsgrundsatz abweicht und je nach Konstellation eine Sicherstellung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums im Konfliktfall verhindern kann, selbst wenn die der Haushaltsgemeinschaft gewährten Leistungen insgesamt zur Bedarfsdeckung ausreichen würden. Die durch die Anwendung des Kopfteilprinzips entstehenden praktischen Probleme („Mithaftung“ der übrigen Bedarfsgemeinschaftsmitglieder bei Sanktionen, Unterkunftsbedarf bei „temporärer Bedarfsgemeinschaft“, Zuordnung von Erstattungsansprüchen bei der Rückabwicklung von Leistungen, Sicherstellung der Zahlungen an Vermieter) widerlegen die These, dass das Kopfteilprinzip verwaltungspraktikabel sei. Das BSG begegnet diesen Phänomenen mit inzwischen zahlreichen Ausnahmen (BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 50/10 R – Rn. 19 – Ortsabwesenheit eines Bedarfsgemeinschaftsmitglieds; BSG, Urteil vom 23.05.2013 – B 4 AS 67/12 R – Rn. 21 f. – Sanktion; BSG, Urteil vom 18.11.2014 – B 4 AS 3/14 R – Rn. 27 – Mietschuldenübernahme nach § 22 Abs. 5 SGB II a.F.), hält aber (noch) am Kopfteilprinzip fest, geht jedoch (inzwischen) davon aus, dass diese typisierende Annahme „nicht gesetzlich als den Anspruch auf KdU begrenzend festgeschrieben ist“ (BSG, Urteil vom 23.05.2013 – B 4 AS 67/12 R – Rn. 19).

110

3.6.2 Eine Kürzung auf „angemessene“ Kosten der Unterkunft und Heizung ist im Hinblick auf die verfassungsrechtlich bedenkliche Unbestimmtheit des § 22 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 SGB II und der hierzu anhängigen Verfahren vor dem BVerfG (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 – anhängig unter 1 BvL 2/15; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 370/14 – anhängig unter 1 BvL 5/15) vorläufig nicht veranlasst.

111

4. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Da es sich bei den begehrten Leistungen um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums handelt, ist von Eilbedürftigkeit auszugehen. Der Antragsteller hat durch Vorlage aktueller Kontoauszüge glaubhaft gemacht, dass er nicht über Einkommen oder Vermögen im anspruchsbeschränkenden Umfang verfügt (siehe oben unter 3.3).

112

4.1 Ein Anordnungsgrund besteht auch im Hinblick auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Hierfür ist es entgegen einer in der Rechtsprechung verbreiteten Auffassung keineswegs erforderlich, dass bereits eine Räumungsklage erhoben wurde und konkret Wohnungslosigkeit droht (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.05.2015 – L 7 AS 139/15 B ER – Rn. 26 ff.; dem folgend LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.06.2015 – L 6 AS 833/15 B ER – Rn. 33).

113

Der 7. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen führt zur Begründung seiner (geänderten) Auffassung im Wesentlichen aus (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.05.2015 – L 7 AS 139/15 B ER – Rn. 27 ff.):

114

„Nach der Rechtsprechung des BVerfG (…) ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden. Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde positiv schützen. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Mit dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann. Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die die physische Existenz des Menschen umfasst. Zu dieser physischen Existenz gehört nach ausdrücklicher Rechtsprechung des BVerfG (…) auch die Gewährleistung von Unterkunft und Heizung (…).

115

Der elementare Lebensbedarf eines Menschen ist nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich in dem Augenblick zu befriedigen, in dem er besteht (…).

116

Die Versagung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung führt damit unmittelbar und sogleich zu einer Bedarfsunterdeckung, die bei glaubhaft gemachter Hilfebedürftigkeit den Kernbereich des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums berührt (…).

117

Gegen die Übernahme von Unterkunftskosten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor Erhebung der Räumungsklage durch den Vermieter wird geltend gemacht, im Hinblick auf den gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismus zur Abwendung eines drohenden Wohnungsverlustes wegen Mietrückständen seien die einschränkenden Anforderungen an einen Anordnungsgrund verfassungsrechtlich unbedenklich. Allein aus dem existenzsichernden Charakter der Unterkunftskosten lasse sich ein Anordnungsgrund nicht ableiten. Denn für den Fall einer fristlosen Kündigung und einer sich anschließenden Räumungsklage könne die Kündigung noch abgewendet werden. Für den Fall der Räumungsklage enthalte § 22 Abs. 9 SGB II Regelungen zur Sicherung der Unterkunft. Hiernach sei das Amtsgericht verpflichtet, dem Grundsicherungsträger unverzüglich Tatsachen und näher bezeichnete Einzelheiten einer Räumungsklage nach der Kündigung von Wohnraum wegen Zahlungsverzugs mitzuteilen. Dies diene der Prävention von Obdachlosigkeit und solle den Leistungsträgern ermöglichen, auch unabhängig von einem Antrag zu prüfen, ob die Kündigung durch Übernahme der Mietrückstände abzuwenden ist. Denn gemäß § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB werde eine Kündigung unwirksam, wenn der Vermieter spätestens bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Räumungsanspruchs hinsichtlich der fälligen Miete und der fälligen Entschädigung nach § 546a Abs. 1 BGB befriedigt wird oder sich eine öffentliche Stelle zur Befriedigung verpflichtet. Sollte der Leistungsträger nach dem SGB II in einer solchen Situation die Leistungszahlung verweigern, stehe den Antragstellern die Beantragung von einstweiligem Rechtsschutz - dann dem Zweck dieses Verfahrens entsprechend (Art. 19 Abs. 4 GG) - offen. Ein Anordnungsgrund resultiere auch nicht bereits aus eventuellen Kostenfolgen der Kündigung des Mietverhältnisses. Maßgebliches Kriterium für die Feststellung eines Anordnungsgrundes hinsichtlich der Geltendmachung des Bedarfs für Unterkunft und Heizung sei nicht die Vermeidung von Mehrkosten, sondern die drohende Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit. Ein Anordnungsgrund lasse sich auch nicht damit begründen, dass zwar die außerordentliche, nicht jedoch die ordentliche Kündigung wegen Zahlungsverzugs durch nachträgliche Zahlung des Mietzinses abgewendet werden könnte. Während der Mieter grundsätzlich, insbesondere auch bei Zahlungsverzug als Voraussetzung der außerordentlichen Kündigung, für seine finanzielle Leistungsfähigkeit einzustehen habe und sich bei Geldmangel nicht auf § 286 Abs. 4 BGB berufen könne, entlaste ihn im Rahmen von § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB eine unverschuldete Zahlungsunfähigkeit. Bei der Prüfung der schuldhaften und nicht unerheblichen Pflichtverletzung i.S.d. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB seien die Gesamtumstände im Zusammenhang mit dem Zahlungsverhalten zu berücksichtigen. Damit begünstige § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB den Mieter bei einer ordentlichen Kündigung und eröffne ihm im Gegensatz zur fristlosen Kündigung wegen Zahlungsverzugs die Möglichkeit, sich auf unvorhersehbare wirtschaftliche Engpässe zu berufen. Im Rahmen des Verschuldens könne zudem eine nachträgliche Zahlung des Mieters innerhalb der Schonfrist des § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB zu seinen Gunsten berücksichtigt werden, weil sie ein etwaiges Eigenverschulden in einem milderen Licht erscheinen lasse (…).

118

Diese Argumentation steht der Bejahung des Anordnungsgrundes auch vor Erhebung der Räumungsklage indes nicht entgegen. Es ist den Betroffenen gerade nicht zuzumuten, einen zivilrechtlichen Kündigungsgrund entstehen zu lassen, eine Kündigung hinzunehmen, eine Räumungsklage abzuwarten und auf die nachfolgende Beseitigung der Kündigung zu hoffen (in diesem Sinne auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.01.2015 - L 6 AS 2085/14 B ER mit zutreffendem Hinweis auf den Grundrechtsschutz nach Art 13 GG; (…)). Denn die prozessuale Konsequenz der Anerkennung eines im Moment der Bedarfsentstehung bestehenden verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Gewährleistung des Existenzminimums folgt aus Art. 19 Abs. 4 GG: Es muss sichergestellt sein, dass gegen eine Versagung der existenznotwendigen Mittel effektiver Rechtsschutz zur Verfügung steht (…). Ein "Vertrösten" des Antragstellers auf Rechtsschutz zu einem späteren Zeitpunkt - nach Erhebung einer Räumungsklage durch den Vermieter - ist hiermit nicht vereinbar.

119

Zudem stellt es - auch unabhängig von der Anerkennung eines Grundrechts auf Gewährleistung des Existenzminimums - einen nach geänderter Auffassung des Senats nicht hinnehmbaren Wertungswiderspruch dar, wenn ein Gericht von einem Bürger, der Rechtsschutz gegen eine Behördenentscheidung sucht, verlangt, dass dieser sich gegenüber einem Dritten vertragswidrig verhält, indem er seine vertraglich geschuldete Miete nicht vollständig zahlt und damit die Kündigung des Mietverhältnisses provoziert (…). Die Versagung von effektivem Rechtsschutz im Zeitpunkt der Bedarfsentstehung zwingt den Antragsteller zum Vertragsbruch. Denn nach der Rechtsprechung des BGH zu den Voraussetzungen der außerordentlichen fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses nach § 543 BGB (BGH, Urteil vom 04.02.2015 - VIII ZR 175/14) ändert der Umstand, dass der Mieter, um die Miete entrichten zu können, auf Sozialleistungen einer öffentlichen Stelle angewiesen war und diese Leistungen rechtzeitig beantragt hatte, an dem Vertretenmüssen des Mietrückstands ebenso wenig etwas wie der Umstand, dass der zuständige Sozialleistungsträger nach Kündigungsausspruch zur Übernahme der Mietschulden verpflichtet worden ist“.

120

Die Kammer schließt sich dieser in jeder Hinsicht überzeugenden Argumentation an. Im Hinblick auf Unterkunftsbedarfe nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Falle des Antragstellers nicht zumutbar.

121

4.2 Die Kammer hat ihr Ermessen hinsichtlich der Leistungshöhe dahingehend ausgeübt, dass dem Antragsteller die Leistungen bereits in voller Höhe zu erbringen sind. Die Leistungen nach dem SGB II sind weit überwiegend für den sofortigen Verbrauch gedacht und werden hierfür in der Regel auch benötigt. Deshalb kann die Leistungshöhe bei hoher Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache nicht auf das „Unabweisbare“ gekürzt werden, zumal sich die Einschätzung dessen, welche Bedarfe im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG existenziell und auf welche Art diese zu decken sind, der Regelungskompetenz der Gerichtsbarkeit entzieht (vgl. zum Ganzen SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014, S 3 AS 130/14 – Rn. 240 u.a.).

122

Die Kammer hat ihr Ermessen hinsichtlich des Zeitraums der Verpflichtung des Antragsgegners dahingehend ausgeübt, dass der ab dem 01.10.2015 beginnende regelmäßige Bewilligungszeitraum (§ 41 Abs. 1 Satz 2 SGB II) vollständig abgedeckt wird. Hierbei wurde berücksichtigt, dass angesichts des Grundsatzes der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und des Urteils des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) nicht zu erwarten ist, dass der Antragsgegner bei Ablauf des Verpflichtungszeitraums ohne gerichtliche Anordnung vorläufig Leistungen erbringen wird, solange dem BVerfG kein Verfahren zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zur Entscheidung vorliegt (vgl. § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III). Da nicht mit einer schnellen Klärung der (Verfassungs-) Rechtslage zu rechnen ist, erscheint die erneute Durchführung einstweiliger Rechtsschutzverfahren nach Ablauf des Verpflichtungszeitraums nahezu unvermeidlich, so dass es sinnvoll erscheint, zumindest den regelmäßigen Bewilligungszeitraum auszuschöpfen.

123

Nichtsdestotrotz wird der Antragsgegner zu prüfen haben, ob im Falle des Antragstellers und seiner Familie sowie in vergleichbaren Fällen Leistungen nach dem SGB II gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III vorläufig zu erbringen sind, solange bezüglich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II noch Verfahren vor dem BSG (derzeit die Verfahren zu den Aktenzeichen B 4 AS 9/13 R, B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 24/14 R, B 4 AS 32/15 R, B 14 AS 51/13 R, B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R, B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R) anhängig sind (vgl. zu einer möglichen Ermessensreduzierung SG Hamburg, Beschluss vom 22.09.2015 – S 22 AS 3298/15 ER – Rn. 31 ff.). Da das Urteil des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) nur im Ausgangsverfahren B 4 AS 9/13 R Bindungswirkung entfaltet, kann es dazu kommen, dass das BSG dem EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV weitere Verfahren vorlegen wird. Ebenso kommt ein Vorlagebeschluss zum BVerfG in Betracht.

124

Hinsichtlich des Beginns der Verpflichtung wurde nicht auf den Tag der Antragstellung bei Gericht (12.10.2015) sondern auf den Beginn des Monats abgestellt, da jedenfalls für die im Streit stehenden Unterkunftsbedarfe ein Nachholbedarf besteht (vgl. zu diesem Erfordernis Binder in Lüdtke, SGG, § 86b Rn. 36, 4. Aufl. 2012 m.w.N.). Forderungen aus einem Mietverhältnis können nicht durch faktische Bedarfsdeckung beseitigt werden, so dass die nachteiligen Wirkungen eines Zahlungsverzugs nicht auf die Vergangenheit beschränkt sind.

125

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, ist zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet. Als Herbeiführung im Sinne des Satzes 1 gilt auch, wenn die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde. Sachleistungen sind, auch wenn sie in Form eines Gutscheins erbracht wurden, in Geld zu ersetzen. § 40 Absatz 6 Satz 2 gilt entsprechend. Der Ersatzanspruch umfasst auch die geleisteten Beiträge zur Sozialversicherung. Von der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs ist abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würde.

(2) Eine nach Absatz 1 eingetretene Verpflichtung zum Ersatz der Leistungen geht auf den Erben über. Sie ist auf den Nachlasswert zum Zeitpunkt des Erbfalls begrenzt.

(3) Der Ersatzanspruch erlischt drei Jahre nach Ablauf des Jahres, für das die Leistung erbracht worden ist. Die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten sinngemäß; der Erhebung der Klage steht der Erlass eines Leistungsbescheides gleich.

Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

(1) Ansprüche auf Beiträge verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie fällig geworden sind. Ansprüche auf vorsätzlich vorenthaltene Beiträge verjähren in dreißig Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie fällig geworden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß. Die Verjährung ist für die Dauer einer Prüfung beim Arbeitgeber gehemmt; diese Hemmung der Verjährung bei einer Prüfung gilt auch gegenüber den auf Grund eines Werkvertrages für den Arbeitgeber tätigen Nachunternehmern und deren weiteren Nachunternehmern. Satz 2 gilt nicht, wenn die Prüfung unmittelbar nach ihrem Beginn für die Dauer von mehr als sechs Monaten aus Gründen unterbrochen wird, die die prüfende Stelle zu vertreten hat. Die Hemmung beginnt mit dem Tag des Beginns der Prüfung beim Arbeitgeber oder bei der vom Arbeitgeber mit der Lohn- und Gehaltsabrechnung beauftragten Stelle und endet mit der Bekanntgabe des Beitragsbescheides, spätestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Abschluss der Prüfung. Kommt es aus Gründen, die die prüfende Stelle nicht zu vertreten hat, zu einem späteren Beginn der Prüfung, beginnt die Hemmung mit dem in der Prüfungsankündigung ursprünglich bestimmten Tag. Die Sätze 2 bis 5 gelten für Prüfungen der Beitragszahlung bei sonstigen Versicherten, in Fällen der Nachversicherung und bei versicherungspflichtigen Selbständigen entsprechend. Die Sätze 1 bis 5 gelten auch für Prüfungen nach § 28q Absatz 1 und 1a sowie nach § 251 Absatz 5 und § 252 Absatz 5 des Fünften Buches.

(1) Das Forschungsdatenzentrum macht die ihm vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen und von der Vertrauensstelle übermittelten Daten nach Maßgabe der Absätze 3 bis 6 folgenden Nutzungsberechtigten zugänglich, soweit diese nach Absatz 2 zur Verarbeitung der Daten berechtigt sind:

1.
dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen,
2.
den Bundes- und Landesverbänden der Krankenkassen,
3.
den Krankenkassen,
4.
den Kassenärztlichen Bundesvereinigungen und den Kassenärztlichen Vereinigungen,
5.
den für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildeten maßgeblichen Spitzenorganisationen der Leistungserbringer auf Bundesebene,
6.
den Institutionen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes und der Länder,
7.
den Institutionen der Gesundheitsversorgungsforschung,
8.
den Hochschulen, den nach landesrechtlichen Vorschriften anerkannten Hochschulkliniken, öffentlich geförderten außeruniversitären Forschungseinrichtungen und sonstigen Einrichtungen mit der Aufgabe unabhängiger wissenschaftlicher Forschung, sofern die Daten wissenschaftlichen Vorhaben dienen,
9.
dem Gemeinsamen Bundesausschuss,
10.
dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen,
11.
dem Institut des Bewertungsausschusses,
12.
der oder dem Beauftragten der Bundesregierung und der Landesregierungen für die Belange der Patientinnen und Patienten,
13.
den für die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen maßgeblichen Organisationen auf Bundesebene,
14.
dem Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen,
15.
dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus,
16.
den für die gesetzliche Krankenversicherung zuständigen obersten Bundes- und Landesbehörden und deren jeweiligen nachgeordneten Bereichen sowie den übrigen obersten Bundesbehörden,
17.
der Bundesärztekammer, der Bundeszahnärztekammer, der Bundespsychotherapeutenkammer sowie der Bundesapothekerkammer,
18.
der Deutschen Krankenhausgesellschaft.

(2) Soweit die Datenverarbeitung jeweils für die Erfüllung von Aufgaben der nach Absatz 1 Nutzungsberechtigten erforderlich ist, dürfen die Nutzungsberechtigten Daten für folgende Zwecke verarbeiten:

1.
Wahrnehmung von Steuerungsaufgaben durch die Kollektivvertragspartner,
2.
Verbesserung der Qualität der Versorgung,
3.
Planung von Leistungsressourcen, zum Beispiel Krankenhausplanung,
4.
Forschung, insbesondere für Längsschnittanalysen über längere Zeiträume, Analysen von Behandlungsabläufen oder Analysen des Versorgungsgeschehens,
5.
Unterstützung politischer Entscheidungsprozesse zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung,
6.
Analyse und Entwicklung von sektorenübergreifenden Versorgungsformen sowie von Einzelverträgen der Krankenkassen,
7.
Wahrnehmung von Aufgaben der Gesundheitsberichterstattung.

(3) Das Forschungsdatenzentrum macht einem Nutzungsberechtigten auf Antrag Daten zugänglich, wenn die Voraussetzungen nach Absatz 2 erfüllt sind. In dem Antrag hat der antragstellende Nutzungsberechtigte nachvollziehbar darzulegen, dass Umfang und Struktur der beantragten Daten geeignet und erforderlich sind, um die zu untersuchende Frage zu beantworten. Liegen die Voraussetzungen nach Absatz 2 vor, übermittelt das Forschungsdatenzentrum dem antragstellenden Nutzungsberechtigten die entsprechend den Anforderungen des Nutzungsberechtigten ausgewählten Daten anonymisiert und aggregiert. Das Forschungsdatenzentrum kann einem Nutzungsberechtigten entsprechend seinen Anforderungen auch anonymisierte und aggregierte Daten mit kleinen Fallzahlen übermitteln, wenn der antragstellende Nutzungsberechtigte nachvollziehbar darlegt, dass ein nach Absatz 2 zulässiger Nutzungszweck, insbesondere die Durchführung eines Forschungsvorhabens, die Übermittlung dieser Daten erfordert.

(4) Das Forschungsdatenzentrum kann einem Nutzungsberechtigten entsprechend seinen Anforderungen auch pseudonymisierte Einzeldatensätze bereitstellen, wenn der antragstellende Nutzungsberechtigte nachvollziehbar darlegt, dass die Nutzung der pseudonymisierten Einzeldatensätze für einen nach Absatz 2 zulässigen Nutzungszweck, insbesondere für die Durchführung eines Forschungsvorhabens, erforderlich ist. Das Forschungsdatenzentrum stellt einem Nutzungsberechtigten die pseudonymisierten Einzeldatensätze ohne Sichtbarmachung der Pseudonyme für die Verarbeitung unter Kontrolle des Forschungsdatenzentrums bereit, soweit

1.
gewährleistet ist, dass diese Daten nur solchen Personen bereitgestellt werden, die einer Geheimhaltungspflicht nach § 203 des Strafgesetzbuches unterliegen, und
2.
durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen sichergestellt wird, dass die Verarbeitung durch den Nutzungsberechtigten auf das erforderliche Maß beschränkt und insbesondere ein Kopieren der Daten verhindert werden kann.
Personen, die nicht der Geheimhaltungspflicht nach § 203 des Strafgesetzbuches unterliegen, können pseudonymisierte Einzeldatensätze nach Satz 2 bereitgestellt werden, wenn sie vor dem Zugang zur Geheimhaltung verpflichtet wurden. § 1 Absatz 2, 3 und 4 Nummer 2 des Verpflichtungsgesetzes gilt entsprechend.

(5) Die Nutzungsberechtigten dürfen die nach Absatz 3 oder Absatz 4 zugänglich gemachten Daten

1.
nur für die Zwecke nutzen, für die sie zugänglich gemacht werden,
2.
nicht an Dritte weitergeben, es sei denn, das Forschungsdatenzentrum genehmigt auf Antrag eine Weitergabe an einen Dritten im Rahmen eines nach Absatz 2 zulässigen Nutzungszwecks.
Die Nutzungsberechtigten haben bei der Verarbeitung der nach Absatz 3 oder Absatz 4 zugänglich gemachten Daten darauf zu achten, keinen Bezug zu Personen, Leistungserbringern oder Leistungsträgern herzustellen. Wird ein Bezug zu Personen, Leistungserbringern oder Leistungsträgern unbeabsichtigt hergestellt, so ist dies dem Forschungsdatenzentrum zu melden. Die Verarbeitung der bereitgestellten Daten zum Zwecke der Herstellung eines Personenbezugs, zum Zwecke der Identifizierung von Leistungserbringern oder Leistungsträgern sowie zum Zwecke der bewussten Verschaffung von Kenntnissen über fremde Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse ist untersagt.

(6) Wenn die zuständige Datenschutzaufsichtsbehörde feststellt, dass Nutzungsberechtigte die vom Forschungsdatenzentrum nach Absatz 3 oder Absatz 4 zugänglich gemachten Daten in einer Art und Weise verarbeitet haben, die nicht den geltenden datenschutzrechtlichen Vorschriften oder den Auflagen des Forschungsdatenzentrums entspricht, und wegen eines solchen Verstoßes eine Maßnahme nach Artikel 58 Absatz 2 Buchstabe b bis j der Verordnung (EU) 2016/679 gegenüber dem Nutzungsberechtigten ergriffen hat, informiert sie das Forschungsdatenzentrum. In diesem Fall schließt das Forschungsdatenzentrum den Nutzungsberechtigten für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren vom Datenzugang aus.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2012 - L 1 KR 18/10 - und des Sozialgerichts Aachen vom 8. Dezember 2009 geändert und die Auskunfts- und Herausgabeklage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten der Auskunfts- und Herausgabeklage in allen Instanzen.

Der Streitwert der Auskunfts- und Herausgabeklage wird für alle Instanzen auf 20 000 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Erteilung von Auskünften sowie die Herausgabe von Unterlagen zur Abrechnungsprüfung aus den Jahren 2001 bis 2003.

2

Der beklagte Augenoptiker versorgte in den fraglichen Jahren ua Versicherte der klagenden und zweier weiterer Ersatzkrankenkassen mit Sehhilfen aufgrund vertragsärztlicher Verordnungen und sog Berechtigungsscheine. Aufgrund eines Hinweises der AOK aus dem Jahr 2005 auf möglicherweise fehlerhafte Abrechnungen begann die Klägerin mit der Überprüfung der Abrechnung von Augenoptikern aus den Jahren 2001 bis 2003. Hierzu entwickelte sie zunächst statistische Parameter, anhand derer sie das Versorgungsverhalten einzelner Leistungserbringer mit dem durchschnittlichen Versorgungsverhalten der Augenoptiker im jeweiligen Land verglich. Nachdem das Versorgungsverhalten des Beklagten - wie das einer Vielzahl anderer Augenoptiker - vom Landesdurchschnitt abwich, forderte die Klägerin von dem damals von ihr beauftragten Rechenzentrum die vom Beklagten in der Zeit vom 1.1.2001 bis 31.12.2003 eingereichten Rechnungsbelege unter Bezugnahme auf § 302 SGB V und § 10 des Vertrages zwischen dem Zentralverband der Augenoptiker und den Landesvertretungen des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen eV (VdAK) und dem Arbeiter-Ersatzkassen-Verband eV (AEV) vom 30.6.1994 (in der Folge: Rahmenvertrag) an.

3

Am 29.12.2007 hat die Klägerin Klage zum SG Aachen mit dem Ziel erhoben, Auskunft zu erhalten über sämtliche Leistungs- und Abrechnungsvorgänge, in denen der Beklagte im Zeitraum 2001 bis 2003 Leistungen aufgrund vertragsärztlicher Verordnungen sowie über Berechtigungsscheine abgerechnet hat, und zwar durch Vorlage der diesbezüglichen Kundenunterlagen und -daten, insbesondere der Karteikarten und Lieferscheine. Später sollte der Beklagte verpflichtet werden, überzahlte Rechnungsbeträge zu erstatten, deren Gesamthöhe aber erst nach Erfüllung des Auskunfts- und Herausgabeanspruchs hätte beziffert werden können. Zur Begründung führte die Klägerin aus, eine erste Prüfung habe zahlreiche Auffälligkeiten bei den Abrechnungen des Beklagten ergeben; dies konkretisierte sie durch Vorlage eines von ihr im Februar 2008 in Auftrag gegebenen Gutachtens. Danach ergäben sich Berechnungen von Versorgungsleistungen, auf die ein Anspruch der Versicherten nicht bestanden habe. Zudem bestünden Anhaltspunkte für das Vorliegen weiterer Fehlabrechnungen, bei denen eine gutachterliche Würdigung und Bewertung aber nur nach Einsicht und Vergleich mit den Kundenkarteikarten und Lieferscheinen erfolgen könne. Die Berechtigungsscheine hätten nicht abschließend geprüft werden können, da der Beklagte sie unvollständig oder widersprüchlich ausgefüllt habe; auch insoweit sei die Sichtung weiterer Unterlagen nötig.

4

Am 12.6.2008 teilte die Klägerin dem SG mit, dass die Klage die Erstattungsansprüche sämtlicher dem VdAK und dem AEV angeschlossenen Ersatzkassen betreffe, was sie später auf die Ansprüche der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH, seit 1.4.2009 durch Aufnahme der BKK Allianz "KKH-Allianz", in der Folge nur KKH) und der Barmer Ersatzkasse (BEK, seit 1.1.2010 durch Vereinigung mit der Gmünder Ersatzkasse "Barmer GEK", in der Folge nur BEK) beschränkte. Hierzu legte die Klägerin Erklärungen der KKH bzw der BEK vom 27.3.2008 sowie der GEK vom 16.4.2008 vor, wonach sie am 26.7.2007 beauftragt worden sei, die Abrechnungen von Augenoptikern im Zeitraum 2001 bis 2003 zu überprüfen, soweit die Versorgung von BEK-, GEK- und KKH-Versicherten betroffen sei. Sie sei ermächtigt, alle aus ihrer Sicht notwendigen Schritte nach eigenem Ermessen durchzuführen, wozu auch der Einzug von Forderungen sowie die gerichtliche Geltendmachung von Auskunfts- und Zahlungsansprüchen im eigenen Namen gehörten. Alle evtl Erstattungsansprüche gegen Optiker in Nordrhein-Westfalen seien an sie - die Klägerin - abgetreten. Mit Erklärungen vom 18. und 22.9.2009 ermächtigten die BEK und die KKH die Klägerin außerdem zur Durchsetzung ihrer Ansprüche auf Rückforderung zu Unrecht geleisteter Zahlungen im Zeitraum 2001 bis 2003 gegen den Beklagten vor dem SG Aachen.

5

Das SG hat den Beklagten verurteilt, Auskunft zu erteilen über sämtliche rund 600 Leistungs- und Abrechnungsvorgänge, in denen er im Abrechnungszeitraum 2001 bis 2003 Leistungen für namentlich genannte Versicherte der Klägerin, der BEK und der KKH abgerechnet habe, durch Vorlage der diesbezüglichen Kundenunterlagen und -daten, insbesondere der betreffenden Auszüge aus der Kundendatei, Lieferscheine, Lieferantenrechnungen und Kundenrechnungen, in denen Angaben enthalten sind zu Befundwerten (Fern- und Nah-Bereich; rechts und links; sphärisch, Zylinder; Achse; Prisma) inklusive Refraktionsprotokoll, Grund der Abgabe der Sehhilfe, Art und Umfang der erbrachten Leistungen inklusive Fassungs- und Glashersteller, mit dem Versicherten abgerechnete Leistungen, Datum der Bestellung der Sehhilfe beim Lieferanten sowie - aus dem jeweiligen Lieferschein des Lieferanten - zur genauen Bezeichnung des gelieferten Artikels nach Artikelnummer, Artikelbezeichnung und Material, technischen Spezifizierungen und zu den Werten des Artikels, wie zB Radien-Brechwert-Zylinder, Achse oder Durchmesser und zur Anzahl der jeweils gelieferten Artikel (Urteil vom 8.12.2009). Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 16.5.2012). Die Klägerin sei befugt, im Wege der Prozessstandschaft auch Ansprüche der BEK und der KKH geltend zu machen. Der Auskunfts- und Unterlagenherausgabeanspruch der Krankenkassen beruhe zum einen auf einer ergänzenden Auslegung des Rahmenvertrages und zum anderen auf § 69 Abs 1 S 3 SGB V iVm § 675 Abs 1, § 666 BGB, da zwischen der Klägerin und dem Beklagten bei Lieferung der Sehhilfen jeweils ein den Regeln des Auftragsrecht unterfallender Geschäftsbesorgungsvertrag zustande gekommen sei. Regelungen des SGB V stünden dem nicht entgegen; insbesondere lasse die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Datenübermittlung nach § 302 Abs 1 SGB V die Befugnis der Krankenkassen unberührt, im Rahmen ihrer vertraglichen Beziehungen zu den Leistungserbringern die Gesetzmäßigkeit erbrachter Versorgungsleistungen durch Einholung weitergehender Auskünfte zu überprüfen. Der Auskunftsanspruch der Klägerin sei schließlich nicht verjährt, da die Verjährungsfrist nicht vier, sondern wegen hinreichender Anhaltspunkte für einen Abrechnungsbetrug 30 Jahre betrage.

6

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Beklagten. Das LSG habe gegen allgemein geltende Auslegungsgrundsätze verstoßen, als es dem Rahmenvertrag die Verpflichtung des Beklagten zur Herausgabe der streitigen Unterlagen entnommen habe. Gegen Bundesrecht sei weiter verstoßen worden, indem das LSG ergänzend die Regelungen des BGB über das Auftragsrecht angewendet habe. Zumindest sei der Herausgabeanspruch der Klägerin verjährt bzw verwirkt, nachdem die Klägerin gegen das für das Prüfverfahren geltende Beschleunigungsgebot verstoßen habe.

7

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2012 - L 1 KR 18/10 - und des Sozialgerichts Aachen vom 8. Dezember 2009 zu ändern und die Klage auf Erteilung von Auskünften und Herausgabe von Unterlagen abzuweisen.

8

Die Klägerin verteidigt die angegriffenen Entscheidungen und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision ist begründet. Die Entscheidungen des SG und des LSG sind dahin zu ändern, dass die Klage auf Erteilung von Auskünften und Herausgabe der begehrten Unterlagen abgewiesen wird, da die Klägerin gegen den Beklagten keinen Anspruch auf die Herausgabe der streitigen Unterlagen besitzt.

10

1. Gegenstand der Revision ist der von der Klägerin umfassend geltend gemachte Anspruch auf die Erteilung von Auskünften und die Herausgabe sämtlicher Unterlagen, die beim Beklagten über die Versorgung von Versicherten der Klägerin, der BEK und der KKH mit Sehhilfen im Zeitraum 2001 bis 2003 angefallen sind. Hierfür sind die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt:

11

a. Die Herausgabeklage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG zulässig. Beim Streit zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer handelt es sich um einen sog Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (BSGE 92, 300 = SozR 4-2500 § 39 Nr 2, RdNr 5; BSGE 86, 166, 167 f = SozR 3-2500 § 112 Nr 1 S 2 f; BSGE 90, 1 f = SozR 3-2500 § 112 Nr 3 S 20; BSG SozR 3-2500 § 39 Nr 4 S 14 f; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 11 RdNr 10). Die Klägerin war damit insbesondere nicht in der Lage, den Beklagten durch Verwaltungsakt zur Herausgabe der streitigen Unterlagen zu verpflichten. Der Senat hat weiterhin bereits entschieden, dass das Begehren auf Auskunftserteilung und Herausgabe von (medizinischen) Unterlagen sowie auf Begleichung etwaiger sich aus diesen ergebender Erstattungsansprüche im Wege der auch in der Sozialgerichtsbarkeit nach § 202 SGG iVm § 254 ZPO statthaften Stufenklage verfolgt werden kann(BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 12; s auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 56 RdNr 5). Zwar will die Klägerin hier mit ihrem Auskunftsbegehren zunächst nur in Erfahrung bringen, ob ihr überhaupt Erstattungsansprüche gegen den Beklagten zustehen. Dies ist allerdings unschädlich, wenn - wie vorliegend - die Erfüllung des Auskunftsbegehrens auch zur Bezifferung des Erstattungsanspruchs erforderlich ist (BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 11 mwN).

12

b. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass die Klägerin zur Prozessführung befugt ist, und zwar auch soweit die begehrten Unterlagen die Versorgung von Versicherten der BEK und der KKH betreffen.

13

Die Prozessführungsbefugnis ist das Recht, einen bestimmten Prozess als richtige Partei zu führen. Sie ist ohne Weiteres gegeben, wenn der Kläger einen nach seinem Vortrag ihm zustehenden sachlichen Anspruch im eigenen Namen geltend macht. Dagegen bedarf die Prozessführungsbefugnis besonderer Feststellung und Begründung, wenn der Kläger einen fremden materiellen Anspruch im eigenen Namen verfolgt, wie es die Klägerin vorliegend hinsichtlich der Unterlagen tut, die die Versorgung von Versicherten der BEK und der KKH betreffen. In diesen Fällen liegt die Prozessführungsbefugnis nur vor, wenn entweder das Gesetz dies ausdrücklich anordnet (gesetzliche Prozessstandschaft) oder der Kläger aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Befugnis handelt und er dabei ein eigenes rechtliches Interesse an der Geltendmachung des fremden materiellen Anspruchs hat (gewillkürte Prozessstandschaft) (stRspr: BSG SozR Nr 3 zu § 69 SGG; BSG SozR 2200 § 639 Nr 1; BSGE 86, 94, 96 f = SozR 3-3300 § 77 Nr 3 S 20 f; BSG SozR 3-3300 § 72 Nr 2 S 3 f, jeweils mwN). Zudem dürfen schutzwürdige Belange des Prozessgegners nicht entgegenstehen (BSGE aaO).

14

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. BEK und KKH haben im Rahmen ihrer Erklärungen vom 18. bzw 22.9.2009 der Prozessführung durch die Klägerin hinreichend konkret und bezogen auf die streitigen Ansprüche zugestimmt. Diese Zustimmung genügt zur Begründung einer gewillkürten Prozessstandschaft (Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl 2013, § 51 RdNr 33). Es kann offenbleiben, ob ein eigenes schutzwürdiges Interesse der Klägerin an der Prüfung von Erstattungsansprüchen Dritter hier bereits aus der Pflicht der Krankenkassen zur Zusammenarbeit nach § 197a Abs 3 SGB V folgt. Denn dieses ergibt sich jedenfalls aus der Verpflichtung der Klägerin zur Erfüllung der ihr von BEK und KKH übertragenen Aufgaben nach § 88 SGB X. Auf dieser Grundlage waren die BEK und KKH berechtigt, die Überprüfung von Leistungsabrechnungen durch Hilfsmittelerbringer als Teil ihrer gesetzlichen Aufgaben (vgl dazu BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 23; BSG SozR 4-2500 § 112 Nr 6 RdNr 16 mwN; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 37 f; BSGE 105, 150 = SozR 4-2500 § 109 Nr 20, RdNr 13) einem anderen Leistungsträger - hier der Klägerin - zu übertragen. Diese erfüllte mit der Prozessführung die gegenüber der BEK und der KKH übernommene Verpflichtung (zur Prozessstandschaft der Postbeamtenkrankenkasse für die Gemeinschaft der privaten Versicherungsunternehmen zur Durchführung der Pflegeversicherung s BSGE 86, 94, 97 = SozR 3-3300 § 77 Nr 3 S 21). Dass verfahrensrechtliche Interessen des Beklagten beeinträchtigt sein könnten, weil die Klägerin statt der BEK und KKH den Rechtsstreit führt, trägt dieser selbst nicht vor und ist auch anderweitig nicht ersichtlich. Die Klägerin hat die Prozessstandschaft schließlich mit Schriftsatz vom 12.6.2008 auch noch rechtzeitig (vgl BSG SozR 3-1500 § 55 Nr 34 S 67) offengelegt. Deshalb kann es dahinstehen, ob die BEK und die KKH die ihnen ggf gegen den Beklagten zustehenden Erstattungsforderungen mit ihren Erklärungen vom 27.3.2008 wirksam an die Klägerin abgetreten haben, da dies nach Eintritt der Rechtshängigkeit erfolgt ist und damit auf den Prozess keinen Einfluss haben kann (§ 202 SGG iVm § 265 Abs 2 S 1 ZPO).

15

c. Die Vorinstanzen sind schließlich zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage von Anfang an gegen den Beklagten und nicht gegen Herrn S. gerichtet war. Insbesondere handelte es sich bei der Änderung des Passivrubrums von "Herrn S. handelnd als P. OHG" auf "P. oHG" nicht um einen gewillkürten Parteiwechsel und damit um eine Klageänderung iS von § 99 SGG, sondern lediglich um eine Berichtigung des Passivrubrums. Die ursprüngliche Bezeichnung in der Klageschrift war nicht eindeutig. Gegen wen sich die Klage richtete, hatte das SG damit durch Auslegung zu ermitteln (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 92 RdNr 7). Die hierzu getroffenen Feststellungen des SG (S 13 des Urteilsumdrucks) sind nicht zu beanstanden. Entsprechendes gilt hinsichtlich des vom LSG angenommenen späteren Parteiwechsels auf Beklagtenseite von einer oHG zu einem Einzelunternehmer (S 8 f des Urteilsumdrucks).

16

2. Die Klage auf Auskunftserteilung und Herausgabe sämtlicher Unterlagen, die die rund 600 Versorgungen von Versicherten der Klägerin, der BEK und KKH durch den Beklagten im Zeitraum 2001 bis 2003 betreffen, zum Zweck der Abrechnungsprüfung ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf die Erteilung der begehrten Auskünfte und die Herausgabe der begehrten Unterlagen. Ein solcher ergibt sich weder aus dem öffentlichen Recht (dazu a) noch aus der (entsprechenden) Anwendung von Vorschriften des BGB (dazu b). Lediglich ergänzend ist deshalb darauf hinzuweisen, dass Auskunftsansprüchen der Klägerin darüber hinaus weitestgehend die Einrede der Verjährung, zumindest aber die Einwendung der Verwirkung entgegenstehen (dazu c).

17

a. Die Klägerin kann ihren Anspruch weder auf Vorschriften des SGB noch auf eine die Hilfsmittelversorgung ergänzend regelnde Vereinbarung nach § 127 SGB V stützen.

18

aa. Die hier geltend gemachten Ansprüche der Krankenkasse bzw die Verpflichtung des Leistungserbringers zur Auskunft und ggf Herausgabe von Unterlagen sind als Bestandteil des Leistungserbringerrechts zunächst im SGB V geregelt. Soweit sie Sozialdaten oder Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse betreffen, sind ergänzend die Regelungen des SGB I und SGB X zu berücksichtigen. Dementsprechend gilt für die Ansprüche der Krankenkasse bzw die Auskunfts- und Herausgabepflicht des Hilfsmittelerbringers Folgendes:

19

(1) Die Klägerin fordert die Erteilung von Auskünften und die Herausgabe von Unterlagen, die die Befundwerte der Versicherten, den Grund der Abgabe der Sehhilfe, die Art und den Umfang der erbrachten Leistung und die mit dem Versicherten abgerechnete Leistung enthalten. Hierbei handelt es sich um Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse bestimmter natürlicher Personen und damit um Sozialdaten iS von § 67 Abs 1 S 1 SGB X.

20

Die Erhebung von Sozialdaten durch die Krankenkassen ist nur unter den Voraussetzungen des Zweiten Kapitels des SGB X zulässig (§ 35 Abs 2 SGB I idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sozialgesetzbuches - 2. SGBÄndG - vom 13.6.1994, BGBl I 1229). Danach dürfen Sozialdaten ohne Mitwirkung des Betroffenen bei anderen als den in § 35 SGB I bzw § 69 Abs 2 SGB X genannten Stellen und Personen - mithin auch bei Leistungserbringern - nur erhoben werden, wenn eine Rechtsvorschrift die Erhebung bei ihnen zulässt oder die Übermittlung an die erhebende Stelle ausdrücklich vorschreibt(§ 67a Abs 2 S 2 Nr 2 Buchst a SGB X iVm § 35 Abs 2 SGB I) oder wenn die Aufgaben der Krankenkasse nach dem SGB ihrer Art nach eine Erhebung bei anderen Personen oder Stellen erforderlich machen oder die Erhebung beim Betroffenen einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde (§ 67a Abs 2 S 2 Nr 2 Buchst b SGB X iVm § 35 Abs 2 SGB I).

21

Allein aus der Befugnis der Krankenkasse, Sozialdaten zu erheben, folgt allerdings noch nicht, dass die Personen oder Stellen, bei denen die Daten angefordert werden, ihrerseits automatisch zur Übermittlung dieser Daten verpflichtet sind. Dementsprechend regelt das SGB X im Zweiten Kapitel (§§ 67 bis 85a) die Voraussetzungen, unter denen die Erhebung, Verarbeitung, Nutzung und Übermittlung von Sozialdaten durch Leistungsträger wie die Krankenkassen zulässig ist, während die Auskunftspflichten Dritter gegenüber den Leistungsträgern Gegenstand des Dritten Kapitels des SGB X (§§ 86 bis 119) sind. Eine entsprechende Differenzierung nimmt das SGB V vor, indem es in den §§ 284 bis 293 die Informationsgrundlagen, insbesondere die Datenerhebungsbefugnisse der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen regelt, und in den §§ 294 bis 303 SGB V spiegelbildlich die entsprechenden Pflichten der Leistungserbringer zur Datenübermittlung bestimmt(BSGE 90, 1, 5 f = SozR 3-2500 § 112 Nr 3 S 24).

22

Auf dieser Grundlage bestehen zwischen den Beteiligten im Rahmen der Abrechnungsprüfung durch die Klägerin folgende Auskunftsansprüche bzw -pflichten:

23

(a) Die Krankenkassen dürfen - in dem hier relevanten Bereich der Abrechnungsprüfung - Sozialdaten für Zwecke der Krankenversicherung erheben und speichern, soweit diese für die Prüfung der Leistungspflicht und die Gewährung von Leistungen an Versicherte, die Beteiligung des Medizinischen Dienstes nach § 275 SGB V oder die Abrechnung mit den Leistungserbringern und die Überwachung des Wirtschaftlichkeitsgebots erforderlich sind(§ 284 Abs 1 S 1 Nr 4 und 7 bis 9 SGB V idF des 2. SGBÄndG vom 13.6.1994, BGBl I 1229). Demgegenüber sind Leistungserbringer nach § 294 SGB V(ebenfalls idF des 2. SGBÄndG vom 13.6.1994, BGBl I 1229) verpflichtet, "die für die Erfüllung der Aufgaben der Krankenkassen (…) notwendigen Angaben, die aus der Erbringung (…) sowie der Abgabe von Versicherungsleistungen entstehen, aufzuzeichnen und gemäß den nachstehenden Vorschriften den Krankenkassen (…) oder den mit der Datenverarbeitung beauftragten Stellen mitzuteilen".

24

(aa) Für den hier relevanten Bereich der Abrechnung von Hilfsmitteln verpflichten § 302, § 303 SGB V die Leistungserbringer, der Krankenkasse maschinenlesbar in den Abrechnungsbelegen die von ihnen erbrachten Leistungen nach Art, Menge und Preis zu bezeichnen und den Tag der Leistungserbringung sowie die Arztnummer des verordnenden Arztes, die Verordnung des Arztes mit Diagnose und den erforderlichen Angaben über den Befund und die Angaben nach § 291 Abs 2 Nr 1 bis 6 SGB V zur Krankenversicherungskarte anzugeben; bei der Abgabe von Hilfsmitteln sind dabei die Bezeichnungen des Hilfsmittelverzeichnisses nach § 128 SGB V zu verwenden(§ 302 Abs 1 SGB V idF des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 vom 22.12.1999, BGBl I 2626). Damit ist aus datenschutzrechtlichen Gründen abschließend und enumerativ aufgelistet, welche Angaben der Krankenkasse bei einer Hilfsmittelversorgung ihrer Versicherten auf jeden Fall zu übermitteln sind (vgl BT-Drucks 12/3608 S 125, zu Nummer 142 <§ 302>, die insoweit auf die für die anderen Leistungsbereiche geltende Regelung zu Nummer 141<§ 301> verweist). Nach der zugrunde liegenden Vorstellung des Gesetzgebers sind damit die wesentlichen Angaben bezeichnet, die die Krankenkasse insbesondere zur ordnungsgemäßen Abrechnung mit den Hilfsmittelerbringern benötigt (BT-Drucks 12/3608 S 125). Das Nähere über die Form und den Inhalt des Abrechnungsverfahrens bestimmen die Spitzenverbände der Krankenkassen (heute: Spitzenverband Bund der Krankenkassen) in Richtlinien, die in den Leistungs- und Lieferverträgen zu beachten sind (§ 302 Abs 2 S 1 SGB V). Vorliegend sind die Richtlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen nach § 302 Abs 2 SGB V über Form und Inhalt des Abrechnungsverfahrens mit "sonstigen Leistungserbringern" sowie Hebammen und Entbindungspflegern(§ 301a SGB V) vom 9.5.1996 (BAnz Nr 112 vom 20.6.1996, zuletzt geändert durch Beschluss vom 13.3.2003; in der Folge: Richtlinie) maßgeblich gewesen. Haben die Hilfsmittelerbringer die Daten nach § 302 Abs 1 SGB V in dem jeweils zugelassenen Umfang nicht maschinenlesbar oder auf maschinell verwertbaren Datenträgern abgegeben oder übermittelt, so haben die Krankenkassen die Daten nachzuerfassen(§ 303 Abs 3 S 1 SGB V idF des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14.11.2003, BGB I 2190). Wie der Senat bereits zur entsprechenden Regelung für den Bereich der Abrechnung von Krankenhausbehandlungen entschieden hat, dürfen die Krankenkassen bei Zweifeln und Unklarheiten in Bezug auf die übermittelten Daten durch nicht-medizinische Nachfragen selbst beim Leistungserbringer klären, ob die jeweiligen Voraussetzungen der Zahlungspflicht im Einzelfall gegeben sind (sog erste Stufe der Sachverhaltserhebung, vgl für den Bereich der Abrechnung von Krankenhausbehandlung nach § 301 SGB V: BSG Urteil vom 16.5.2013 - B 3 KR 32/12 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen, RdNr 21; BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 19). Dieses Recht steht den Krankenkassen auch in Bezug auf die übrigen Leistungserbringer zu.

25

(bb) Die Klägerin kann ihren Auskunfts- und Herausgabeanspruch im vorliegenden Fall nicht auf § 302 SGB V iVm der Richtlinie stützen. Insoweit ist - nachdem die Klägerin bzw die von ihr vertretenen BEK und KKH die streitigen Abrechnungen bereits vergütet haben - zunächst davon auszugehen, dass der Beklagte die entsprechenden Angaben bereits ordnungsgemäß übermittelt hat. Dies gilt auch für die Verpflichtung aus § 302 SGB V iVm §§ 2 bis 5 Richtlinie zur Übermittlung der dort genannten weiteren Abrechnungsdaten sowie der sog Urbelege(Verordnungsblätter, Berechtigungs- und Reparaturscheine, § 2 Abs 1b Richtlinie). Bei diesen Urbelegen handelt es sich um von der Richtlinie vorgegebene Muster (§ 3 Richtlinie), die vom Leistungserbringer in einem bestimmten Format maschinenlesbar zu übermitteln sind. Die Klägerin selbst behauptet aber nicht, dass der Beklagte diesen Verpflichtungen nicht ausreichend nachgekommen ist. Darüber hinaus besteht weder aus § 302 SGB V noch nach der Richtlinie eine Verpflichtung des Beklagten, die von der Klägerin begehrten Kundenunterlagen und -daten, insbesondere Auszüge aus der Kundendatei, Lieferscheine, Lieferantenrechnungen und Kundenrechnungen und bei ihm darüber hinaus ggf vorliegenden weiteren Unterlagen herauszugeben. Das Klagebegehren richtet sich auch nicht auf ein zulässiges Nachfragen der Krankenkasse beim Leistungserbringer, um Zweifel und Unklarheiten im Einzelfall in Bezug auf die nach § 302 SGB V übermittelten Daten zu klären.

26

(b) Die Klägerin kann ihren weiten Auskunfts- und Herausgabeanspruch auch nicht auf die Mitteilungspflichten des Leistungserbringers nach § 276 Abs 2 SGB V idF des 2. SGBÄndG vom 13.6.1994 (BGBl I 1229) stützen. Zwar sieht § 276 Abs 2 SGB V weitere Mitteilungspflichten von Leistungserbringern vor, die allerdings auf die anschließende medizinische Begutachtung eines Leistungs- oder Abrechnungsfalles durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) gerichtet sind. Dieser darf Sozialdaten erheben, soweit dies für seine gutachterliche Stellungnahme erforderlich ist (§ 276 Abs 2 S 1 Halbs 1 SGB V). Voraussetzung ist aber nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V - die weiteren Alternativen dieser Vorschrift kommen ersichtlich nicht in Betracht - ein Prüfauftrag der Krankenkasse an den MDK entweder wegen der Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistungserbringung oder wegen Auffälligkeiten der ordnungsgemäßen Abrechnung. Daran fehlt es hier; die Klägerin vermutet zwar das Fehlen von ordnungsgemäßen Abrechnungen des Klägers in zahlreichen Fällen, sie hat dazu jedoch - aus ihrer Sicht folgerichtig - kein medizinisches Überprüfungsverfahren beim MDK eingeleitet. Ein solches Prüfverfahren nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V hinsichtlich sämtlicher Abrechnungsvorgänge des Beklagten in den Jahren 2001 bis 2003 wäre im Übrigen auch unzulässig, da die Klägerin keine Auffälligkeit im Einzelfall geltend macht. Eine Auffälligkeit liegt nämlich nur dann vor, wenn der konkrete Verdacht einer fehlerhaften Abrechnung besteht (BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 22 mwN); daran fehlt es hier.

27

Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Klägerin behauptet, nach dem von ihr in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten seien bei einigen Abrechnungen des Beklagten konkrete Fragen zu deren sachlich-rechnerischen Richtigkeit offen. Sie macht aber weder geltend noch ist es anderweitig ersichtlich, dass es zur Überprüfung dieser auffälligen Abrechnungen sämtlicher Abrechnungsunterlagen des Beklagten aus drei Jahren bedarf. Die Klägerin beruft sich vielmehr auf statistische Abweichungen im Versorgungsverhalten des Beklagten vom durchschnittlichen Versorgungsverhalten der Augenoptiker in Nordrhein-Westfalen, die sie durch Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Abrechnung durch den Beklagten in Einzelfällen bestätigt sieht, und glaubt daraus ableiten zu können, mittels der von ihr begehrten Auskünfte und Unterlagen die komplette Versorgung durch den Beklagten in den Jahren 2001 bis 2003 überprüfen zu dürfen. Für eine derartige umfassende Ausforschung bietet das an Auffälligkeiten im Einzelfall anknüpfende Prüfverfahren nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V und damit auch die in dessen Rahmen bestehende Auskunftspflicht des Leistungserbringers nach § 276 SGB V keine Grundlage.

28

(2) Die vorstehenden Ausführungen gelten erst recht für die begehrte Übermittlung von Daten, die zu den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen des Beklagten - Unterlagen von Lieferanten und deren Abrechnungen sowie Kundendaten aller Art - gehören (§ 35 Abs 4 SGB I idF des 2. SGBÄndG vom 13.6.1994, BGBl I 1229). Es ist im SGB keine Rechtsgrundlage ersichtlich, die eine derartige Auskunftspflicht des Beklagten gegenüber der Klägerin begründen könnte.

29

bb. Der Anspruch der Klägerin auf Auskunftserteilung und Herausgabe von Unterlagen ergibt sich auch nicht aus Vorschriften des Rahmenvertrages vom 30.6.1994 oder dessen ergänzender Vertragsauslegung.

30

(1) Allerdings geht das LSG zu Recht davon aus, dass § 10 Rahmenvertrag die vom Leistungserbringer im Rahmen der Rechnungslegung zu übermittelnden Angaben und Unterlagen konkretisiert. Dort ist insbesondere geregelt, wann diese zu erfolgen hat (einmal monatlich bis zum 10. des auf das Ende der letzten Lieferung folgenden Monats, § 10 Abs 1 S 1, Abs 2 S 4), welche Unterlagen vorzulegen sind (ärztliche Verordnung oder Berechtigungsschein mit Datum und Bestätigung über den Empfang der Sehhilfe oder sonstigen Leistung durch den Versicherten und Stempel des Augenoptikers, § 10 Abs 1 S 2 und 3, Abs 2 S 4), wie die Lieferungen zu bezeichnen sind (§ 10 Abs 2 S 1), welcher Festpreis ggf gilt (§ 10 Abs 2 S 8), von wem die Kosten zu tragen sind (§ 10 Abs 1 S 4) und wann die Rechnung zu bezahlen ist (§ 10 Abs 2 S 6). Darüber hinaus verweist § 10 Abs 2 S 3 auf § 302 iVm § 303 SGB V und damit auf die gesetzliche Regelung der Pflichten der Leistungserbringer im Rahmen der Leistungsabrechnung mit den Krankenkassen. Die vertraglichen Informationspflichten des Leistungserbringers gehen damit weit über die Verpflichtungen hinaus, die das LSG festgestellt hat (S 12 des Urteilsumdrucks). Die Parteien des Rahmenvertrages wollten nach dem ausdrücklichen Wortlaut nicht nur die sich aus den geltenden gesetzlichen Regelungen ergebenden Verpflichtungen wiederholen, sondern darüber hinaus ergänzende Mitteilungspflichten des Leistungserbringers vertraglich vereinbaren. Gleichwohl folgt daraus keine Verpflichtung des Beklagten zur umfassenden Auskunftserteilung und zur Herausgabe der von der Klägerin begehrten Unterlagen.

31

(2) Zu Unrecht hat das LSG allerdings angenommen, hieraus könne auf eine ergänzungsbedürftige Regelungslücke des Rahmenvertrages geschlossen werden. Denn die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung sind vorliegend offensichtlich nicht erfüllt.

32

(a) Voraussetzung für eine ergänzende Vertragsauslegung ist eine Regelungslücke in einem regelungsbedürftigen Punkt der vertraglichen Regelung (BGHZ 40, 91, 103; BGHZ 77, 301, 304; stRspr). Hierfür genügt nicht jeder offengebliebene Punkt eines Vertrages. Eine durch ergänzende Vertragsauslegung zu füllende Lücke ist vielmehr nur dann zu bejahen, wenn die von den Parteien vereinbarte Regelung eine Bestimmung vermissen lässt, die erforderlich ist, um den ihr zugrunde liegenden Regelungsplan der Parteien zu verwirklichen (BGH Urteil vom 13.2.2004 - V ZR 225/03, NJW 2004, 1873; Staudinger/Roth, BGB, Aufl 2010 § 157 BGB RdNr 15 mwN). Ohne die gebotene Vervollständigung darf eine angemessene interessengerechte Lösung nicht zu erzielen sein (BGH Urteil vom 13.5.1993 - IX ZR 166/92, NJW 1993, 2935; BGHZ 90, 69, 74 f; BGH Urteil vom 12.7.1989 - VIII ZR 297/88, NJW 1990, 115, 116).

33

(b) Die Parteien des Rahmenvertrages wollten - § 127 Abs 1 SGB V idF des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21.12.1992 (BGBl I 2266) entsprechend - Einzelheiten der Versorgung mit Hilfsmitteln sowie über die Abrechnung der Festbeträge regeln (§ 1 Rahmenvertrag). Zur Umsetzung dieses Regelungsplans haben sie insbesondere die im Rahmen der Rechnungslegung zu übermittelnden Unterlagen und Angaben festgelegt und dabei auch bestimmt, dass die gesetzlichen Regelungen und der Rahmenvertrag gelten sollen (§ 10 Abs 2 S 3 Rahmenvertrag). Es kann dahinstehen, ob schon allein diese ausdrückliche Regelung der Geltung der Gesetzesvorschriften eine Regelungslücke ausschließt (vgl BGHZ 40, 91, 103 mwN). Denn zumindest ist es nicht zur Verwirklichung der Ziele des Rahmenvertrages notwendig, weitere und derartig umfassende Auskunfts- und Herausgabepflichten zu statuieren. So waren die Beteiligten zunächst über Jahre in der Lage, die Hilfsmittelversorgung durch den Beklagten und deren Abrechnung gegenüber der Klägerin entsprechend dem Rahmenvertrag und den von ihm in Bezug genommenen gesetzlichen Regelungen durchzuführen. Auch die Klägerin sah sich aufgrund der vom Beklagten übermittelten Belege und Angaben offenkundig in der Lage, die von diesem erbrachten Leistungen zu vergüten, was im Hinblick auf § 303 Abs 3 SGB V für eine ordnungsgemäße Rechnungslegung durch den Beklagten gemäß den Regeln von § 10 Rahmenvertrag spricht. Anders als das LSG meint, ergibt sich die Notwendigkeit einer Ergänzung des Rahmenvertrages um die Verpflichtung des Beklagten zur Vorlage weiterer Unterlagen auch nicht aus dem Interesse der Krankenkasse, ihren Prüfpflichten nach dem SGB V nachkommen zu können. Denn dieses Interesse ist bereits anhand der Regelungen des Rahmenvertrages und damit ohne die Verpflichtung des Leistungserbringers zur Herausgabe weiterer Unterlagen angemessen berücksichtigt.

34

Zudem muss sich die Klägerin vorwerfen lassen, dass sie die Optiker jahrelang hat gewähren lassen - sie hatte die Abwicklung der Abrechnungen einem Rechenzentrum übergeben und offensichtlich keine ausreichende Kontrolle durchgeführt. Es wäre ihr - zumindest mit sachverständiger Unterstützung des MDK - bereits anhand der vom Beklagten bei der Rechnungslegung regelmäßig übermittelten Unterlagen und Angaben durchaus möglich gewesen, das Vorliegen rechtswidriger Hilfsmittelversorgungen oder Anhaltspunkte hierfür festzustellen. Unkorrekte Abrechnungen wären nicht zu vergüten gewesen, zweifelhafte Punkte hätten im jeweiligen Einzelfall gegenüber dem Beklagten zeitnah geltend gemacht werden können und ggf durch den MDK überprüft werden müssen. Soweit die Klägerin geltend macht, der Beklagte habe ganze Versorgungsfälle fingiert (Stichwort "unzulässige Doppelversorgung") oder es seien fehlerhafte Versorgungen erfolgt (Stichwort "fehlerhafte Augenglasbestimmung"), hätte ebenfalls im jeweiligen Einzelfall eine zeitnahe Überprüfung unter Beteiligung des Versicherten (zur Einholung von Stellungnahme bei Versicherten im Rahmen der Abrechnungsprüfung s BSG SozR 4-2500 § 301 Nr 1) erfolgen und eine Stellungnahme des MDK eingeholt werden können. Zum Einwand der Klägerin, entsprechende Ermittlungen bei Versicherten seien nicht mehr zielführend, da diese regelmäßig nicht in der Lage seien, Angaben zu einer Versorgung in den Jahren 2001 bis 2003 zu machen, wird übersehen, dass dies im Wesentlichen aus ihrem Verschulden resultiert, weil die Abrechnungsprüfung nicht zeitnah durchgeführt worden ist.

35

(c) Die vom LSG angenommene Vertragsergänzung widerspricht darüber hinaus ersichtlich einer abgewogenen Auslegung, weil sie einseitig dem Interesse der Krankenkasse Rechnung trägt, eine Abrechnungsprüfung auch nach Jahren und in gesetzlich nicht vorgesehenem Umfang vornehmen zu dürfen. Der Senat weist in ständiger Rechtsprechung auf das im Leistungserbringerrecht allgemein existierende Beschleunigungsgebot hin (vgl zuletzt Urteil vom 18.7.2013 - B 3 KR 21/12 R, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen, RdNr 20 mwN; zum Bereich der Hilfsmittelversorgung BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 14 RdNr 13), das ua auf dem schutzwürdigen Interesse beider Seiten an Abrechnungssicherheit beruht (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 14 RdNr 13). Dem widerspräche es, der Krankenkasse - nachdem sie die gesetzlich und vertraglich vorgesehenen Möglichkeiten der Abrechnungsprüfung über Jahre ungenutzt gelassen hat - einen solch umfassenden Auskunfts- und Herausgabeanspruch einzuräumen. Das Interesse des Leistungserbringers bliebe völlig unberücksichtigt, wenn er allein auf der Grundlage statistischer Abweichungen seines Versorgungsverhaltens gegenüber dem Durchschnitt aller Optiker verpflichtet würde, sämtliche Geschäfts- und Versorgungsunterlagen unabhängig von Anhaltspunkten für eine fehlerhafte Abrechnung im Einzelfall vorzulegen. Dies gilt hier umso mehr, als die Klägerin vor dem SG selbst erklärt hat, keinen Hinweis für ein betrügerisches Verhalten des Beklagten gefunden zu haben. Damit wäre die vom LSG angenommene ergänzende Vertragsauslegung unvereinbar.

36

b. Entgegen der Auffassung des LSG kann sich die Klägerin auch nicht auf Vorschriften des bürgerlichen Rechts stützen. Insbesondere bestehen keine Auskunfts- und Rechenschaftspflichten auf Grund eines Geschäftsbesorgungsvertrages (§ 675 Abs 1 iVm § 666 BGB) oder nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB); ein etwaiger Anspruch nach dem Recht der unerlaubten Handlungen (§ 823 Abs 2 BGB)ist völlig fernliegend.

37

aa. Entgegen der Auffassung des LSG sind bereits die Voraussetzungen für die entsprechende Anwendung der Vorschriften des BGB nicht erfüllt. Denn die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden werden durch das Vierte Kapitel des SGB V sowie die §§ 63 und 64 SGB V abschließend geregelt(§ 69 S 1 SGB V). Im Übrigen gelten die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind(§ 69 S 3 SGB V idF des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 vom 22.12.1999, BGBl I 2626). Eine entsprechende Anwendung der Vorschriften des BGB kommt damit nur in Betracht, wenn die Regelungen des SGB V lückenhaft sind (BSGE 105, 157 = SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 15 aE). Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall.

38

Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und der Augenoptiker sind durch die §§ 126 und 127 SGB V sowie die darauf fußenden vertraglichen Vereinbarungen abschließend geregelt. Ein Rückgriff auf vertragliche Modelle des BGB kommt daneben nicht in Betracht (so schon für den Bereich der Arzneimittelversorgung BSGE 105, 157 = SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 15 ff). Auch die Versorgung von Versicherten mit Hilfsmitteln hat ihre Grundlage unmittelbar im öffentlichen Recht. Die Konstruktion eines in jedem einzelnen Versorgungsfall abzuschließenden und den Versicherten drittbegünstigenden öffentlich-rechtlichen Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen Leistungserbringer und Krankenkasse ist damit entbehrlich.

39

bb. Ein Auskunftsanspruch der Klägerin ergibt auch nicht unmittelbar aus § 242 BGB. Dabei kann dahinstehen, ob der aus § 242 BGB abzuleitende Grundsatz von Treu und Glauben ausschließlich über § 69 S 3 SGB V auf das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten anzuwenden ist(BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 28 RdNr 13) oder als auch dem Sozialrecht immanenter allgemeiner Rechtsgrundsatz (BSGE 99, 271 = SozR 4-2400 § 27 Nr 3, RdNr 13) unmittelbar zur Anwendung kommen kann. Denn auch insoweit bietet das öffentliche Recht die alleinigen Anspruchsgrundlagen (§§ 275 ff SGB V und die ergänzenden vertraglichen Regelungen). Die Klägerin hätte mit zeitnahen Rechnungsprüfungen rechtswidrige Hilfsmittelversorgungen und/oder Abrechnungen erkennen und verhindern können; dies hat sie versäumt. Zudem gebieten Treu und Glauben keinen über die einschlägigen gesetzlichen und vertraglichen Regelungen hinausgehende Auskunfts- und Herausgabepflichten, die ausschließlich deshalb nötig werden, weil letztere erst gar nicht oder nicht rechtzeitig genutzt wurden.

40

cc. Die Klägerin kann einen Auskunfts- und Herausgabeanspruch auch nicht aus dem Recht der unerlaubten Handlungen (§ 823 BGB) herleiten. Denn Voraussetzung für die Annahme einer diesen Anspruch begründenden rechtlichen Sonderbeziehung wäre, dass ein Leistungsanspruch dem Grunde nach besteht und nur der Anspruchsinhalt noch offen ist (BGH Urteil vom 18.1.1978 - VIII ZR 262/76, NJW 1978, 1002; Sprau in Palandt, BGB, 73. Aufl 2014, Einführung vor § 823 RdNr 17). Hiervon ist vorliegend nicht auszugehen; die Klägerin selbst hat keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme eines unerlaubten - betrügerischen - Verhaltens des Beklagten gesehen (Schriftsatz vom 30.1.2009 an das SG).

41

c. Etwaige Auskunfts- und Herausgabeansprüche der Klägerin gegen den Beklagten scheitern darüber hinaus weitestgehend an der Einrede der Verjährung (dazu aa) und im Übrigen an der Einwendung der Verwirkung (dazu bb).

42

aa) Ansprüchen aus der Zeit 2001 und 2002, die Versicherte der Klägerin betreffen, sowie aus dem Zeitraum 2001 bis 2003, die für Versicherte der BEK und der KKH geltend gemacht werden, steht die vom Beklagten erhobene Einrede der Verjährung entgegen. Für diese Auskunftsansprüche der Krankenkasse gegen den Leistungserbringer gilt die allgemeine sozialrechtliche Verjährungsfrist von vier Jahren, die mit Ablauf des Jahres beginnt, in dem der Anspruch entstanden ist - § 45 Abs 1 SGB I.

43

Der Senat hat bereits entschieden, dass die sozialrechtliche Verjährungsfrist von vier Jahren für alle gegenseitigen Rechte und Pflichten zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern und damit auch für den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen etwaiger Überzahlung von Vergütungsansprüchen als Kehrseite des Leistungsanspruchs gilt (für die Vergütung von Krankenhausbehandlung sowie die Mitteilungspflichten des Leistungserbringers nach § 276 Abs 2 S 1 SGB V: BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; für die Vergütung von Krankenhaustransporten: BSG SozR 4-1200 § 45 Nr 4 RdNr 22). Die Verjährungsvorschriften des BGB kommen auch über § 69 S 3 SGB V nicht zur Anwendung, weil die Verjährungsfrage schon aus dem Vierten Kapitel des SGB V selbst und den hierfür geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien zu beantworten ist(BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 17 ff; BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 8 S 30). Denn das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient. Die Regelung ist aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten, um jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen (so bereits BSGE 42, 135 = SozR 3100 § 10 Nr 7 S 10; BSGE 69, 158 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1 S 5; Übertragung auf das Abrechnungsverhältnis zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer: BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 8 S 30; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 17; BSGE 97, 125 = SozR 4-1500 § 92 Nr 3, RdNr 11; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; BSG SozR 4-1200 § 45 Nr 4 RdNr 22).

44

Die allgemeine sozialrechtliche Verjährungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist (vgl § 45 Abs 1 SGB I; BSGE 97, 125 = SozR 4-1500 § 92 Nr 3, RdNr 11). Auch insoweit kommt ein Rückgriff auf die Vorschriften des durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001 (BGBl I 3138) novellierten bürgerlich-rechtlichen Verjährungsrechts - anders als wohl das LSG meint - nicht in Betracht. Zwar mag sich der Gesetzgeber dort (§ 199 Abs 1 BGB) bewusst dagegen entschieden haben, kurze Verjährungsfristen mit einem kenntnisunabhängigen Beginn der Verjährungsfrist zu kombinieren. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass der Gesetzgeber eine entsprechende Änderung auch für den Bereich des Sozialrechts habe treffen wollen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber eine Änderung der verjährungsrechtlichen Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht hat herbeiführen wollen (vgl für den Bereich des öffentlichen Rechts BVerwGE 132, 324, RdNr 12). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem auf spezialgesetzlich geregelte Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857, S 42 zu Nummer 1). Hierzu wurde in der Folge das Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) erlassen. Auch dort hat sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts entschieden, da im öffentlichen Recht grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen gelten würden und auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden könne (BT-Drucks 15/3653 S 10).

45

Eine Korrektur der allgemeinen sozialrechtlichen vierjährigen Verjährungsfrist ist vorliegend schließlich auch im Hinblick auf die vom LSG gesehenen "hinreichenden Anhaltspunkte für einen Abrechnungsbetrug" nicht geboten. Denn Anhaltspunkte genügen zur Bestimmung der maßgeblichen Verjährungsfrist nicht. Welche Verjährungsfrist maßgeblich ist, bestimmt sich vielmehr nach dem - festgestellten - Sachverhalt zur Zeit der Entstehung des Anspruchs (Ellenberger in Palandt, BGB, 73. Aufl 2014, § 195 RdNr 14). Es widerspräche der mit der Verjährung (auch im öffentlichen Recht) bezweckten Zielsetzung der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens, stattdessen auf hinreichende Anhaltspunkte abzustellen. Im Übrigen hat die Klägerin selbst angegeben, keine derartigen Anhaltspunkte vorweisen zu können.

46

Daraus folgt für den geltend gemachten Klageanspruch: Ein Anspruch auf Auskunft und Herausgabe von Geschäftsunterlagen wäre ebenso wie ein möglicher Erstattungsanspruch mit Zugang der jeweiligen Abrechnungsunterlagen entstanden. Dementsprechend hat die vierjährige Verjährungsfrist der in den Jahren 2001 und 2002 vergüteten Hilfsmittelversorgungen in entsprechender Anwendung des § 45 Abs 1 SGB I am 1.1.2002 bzw 1.1.2003 begonnen und mit Ablauf des Jahres 2005 bzw 2006 geendet. Ansprüche aus 2001 und 2002 sind damit zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 29.12.2007 bereits verjährt gewesen. Dies gilt auch für die Ansprüche, die die Klägerin darüber hinaus in gewillkürter Prozessstandschaft für die BEK und KKH wegen der Versorgung von deren Versicherten im Jahr 2003 geltend macht. Zwar wird in entsprechender Anwendung von § 45 Abs 2 SGB I iVm § 204 Abs 1 Nr 1 BGB die Verjährung durch Klageerhebung gehemmt. Die verjährungshemmende Wirkung tritt im Fall der gewillkürten Prozessstandschaft aber erst in dem Augenblick ein, in dem diese prozessual offengelegt wird oder offensichtlich ist (BGH Urteil vom 7.6.2001 - I ZR 49/99, NJW-RR 2002, 20 mwN). Die Klägerin hat erstmals mit Schriftsatz vom 12.6.2008 (Bl 55 der SG-Gerichtsakte) offengelegt, dass sie mit der Klage nicht nur eigene Ansprüche, sondern darüber hinaus die weiterer Ersatzkrankenkassen, insbesondere der BEK und der KKH, geltend macht. Zum Zeitpunkt der Offenlegung der Prozessstandschaft war damit die vierjährige Verjährungsfrist auch hinsichtlich der von BEK und KKH in 2003 vergüteten Hilfsmittelversorgungen bereits abgelaufen.

47

bb) Soweit der Auskunfts- und Herausgabeanspruch nicht an der Einrede der Verjährung scheitert, ist er jedenfalls verwirkt, da die Klägerin die Abrechnungsprüfung entgegen dem sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergebenden Beschleunigungsgrundsatz erst knapp vier Jahre nach Rechnungslegung und vollständigem Rechnungsausgleich eingeleitet hat.

48

Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl Urteil vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R, SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 24 ff; BSGE 89, 104, 109 f = SozR 3-2500 § 112 Nr 2 S 16 f - "Berliner Fälle" sowie zB SozR 4-2500 § 109 Nr 28 RdNr 12) steht die Korrektur einer bereits bezahlten Krankenhausrechnung durch die Krankenkasse unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben. Danach ist eine Krankenkasse jedenfalls dann mit Einwendungen gegen eine Schlussrechnung ausgeschlossen, wenn sie die Rechnung zeitnah und vorbehaltlos bezahlt hat, ein Prüfverfahren beim MDK ohne nachvollziehbaren Grund dann aber erst Jahre nach Rechnungslegung und kurz vor Ablauf der Verjährung eingeleitet hat. Der Senat hat weiter aus den dauerhaften Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern auf die Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme geschlossen und hieraus die Befugnis zur nachträglichen Rechnungskorrektur durch das Krankenhaus begrenzt. Wegen des "Prinzips der Waffengleichheit" ist der Senat zudem davon ausgegangen, dass dies - also die Begrenzung der Befugnis zur nachträglichen Korrektur der Abrechnung - auch für nachträglich geltend gemachte Ansprüche der Krankenkasse gilt (vgl Urteil des Senats vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R, SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 26). Dieses vom Senat für den Bereich der Krankenhausabrechnung immer wieder betonte Beschleunigungsgebot bestimmt auch das Abrechnungswesen in der Hilfsmittelversorgung (vgl hierzu bereits SozR 4-2500 § 33 Nr 14 RdNr 13).

49

Um die Verwirkung eines Rechts anzunehmen, bedarf es dreier Voraussetzungen (stRspr, zuletzt Urteil des Senats vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R, SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 27 sowie BSG Urteil vom 13.11.2012 - B 1 KR 24/11 R - BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN; vgl auch Grüneberg in Palandt, BGB, 73. Aufl 2014, § 242 RdNr 93 ff mwN):

50

Zeitmoment: Seit der Möglichkeit, das Recht geltend zu machen, muss ein längerer Zeitraum verstrichen sein; maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls. Im vorliegenden Fall hätte die Klägerin die Abrechnungen des Beklagten bereits in den Jahren 2001, 2002 bzw 2003 überprüfen können und müssen, alle dafür erforderlichen Informationen lagen ihr vor. In Anbetracht der vierjährigen Verjährungsfrist und der Pflicht zur Beschleunigung aller Abrechnungsverfahren ist ein Abwarten von knapp vier Jahren (Abrechnungen aus Dezember 2003 bis zur Klageerhebung am 29.12.2007) bzw mehr als vier Jahren (Abrechnungen vor Dezember 2003) deutlich zu lang. Umstandsmoment: Der Verpflichtete hat sich darauf eingestellt, der Berechtigte werde aufgrund des geschaffenen Vertrauenstatbestandes sein Recht nicht mehr geltend machen. Dies ist der Fall, wenn der Berechtigte unter solchen Umständen untätig geblieben ist, die den Eindruck erwecken, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wird. Diese Voraussetzung ist hier ebenfalls erfüllt, weil in der Regel zu erwarten ist, dass Krankenkassen - wie Leistungserbringer - ihre Korrekturmöglichkeiten bis zum Ende des auf die Abrechnung folgenden Kalenderjahres wahrgenommen haben (vgl für den Bereich der Krankenhausabrechnung Urteil des Senats vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R, SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 27). Hinweise für einen Ausnahmefall sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus den von der Klägerin ermittelten statistischen Abweichungen des Versorgungsverhaltens des Beklagten, über die dieser schließlich nicht informiert war. Von einem den Vertrauenstatbestand zerstörenden unredlichen Verhalten des Beklagten geht schließlich auch die Klägerin nicht aus. Untätigkeit: Die Klägerin ist knapp bzw mehr als vier Jahre bezüglich der Geltendmachung ihrer Ansprüche gegenüber dem Beklagten untätig geblieben.

51

Damit steht fest, dass der Beklagte zum Zeitpunkt der Klageerhebung Ende 2007 nicht mehr mit einer Überprüfung seiner Abrechnungen aus den Jahren 2001 bis 2003 rechnen musste, so dass dem entsprechenden Auskunfts- und Herausgabeanspruch der Klägerin - auch - die Einwendung der Verwirkung entgegensteht.

52

3. Gegenstand des vorliegenden Revisionsverfahrens ist ausschließlich der Auskunfts- und Herausgabeanspruch, weil SG und LSG zu Recht ausschließlich dazu verhandelt und entschieden haben (BGH Urteil vom 28.11.2001 - VIII ZR 37/01, NJW 2002, 1042; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 56 RdNr 5 und § 157 RdNr 2a aE). Erst nach Rechtskraft der Entscheidung über den Auskunfts- und Herausgabeanspruch sind Verhandlung und Entscheidung über die nächste Stufe zulässig, also über den Leistungsantrag (Greger in Zöller, ZPO, 29. Aufl 2012, § 254 RdNr 11). Zwar ist eine gemeinsame Entscheidung über mehrere in der Stufenklage verbundene Anträge nicht ausgeschlossen. Dies setzt aber voraus, dass schon die Prüfung des Auskunfts- und Herausgabeanspruchs ergibt, dass dem Hauptanspruch die materiell-rechtliche Grundlage fehlt (BGH Urteil vom 28.11.2001 - VIII ZR 37/01, NJW 2002, 1042; Greger, aaO, § 254 RdNr 14). Dies ist vorliegend nicht der Fall, so dass dem Senat eine Entscheidung über die nächste Stufe verwehrt ist. Es liegt an den Beteiligten, die Fortsetzung des Rechtsstreits ggf durch Verhandlung und Entscheidung eines Leistungsantrags beim SG zu beantragen (Greger, aaO, § 254 RdNr 14).

53

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO.

54

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und § 47 Abs 1 GKG, die Korrektur der Streitwertfestsetzung für die 1. und 2. Instanz aus § 63 Abs 3 GKG. Bei Stufenklagen ist nach § 44 GKG für die Wertberechnung nur einer der verbundenen Ansprüche maßgebend, und zwar der höhere. Dies gilt aber nur, wenn in einer Instanz über beide Ansprüche entschieden wird. Ist - wie hier - in allen Instanzen lediglich ein der Informationsgewinnung dienender Auskunftsanspruch oder ein dem gleichen Zweck dienender Herausgabeanspruch Streitgegenstand, ist der Streitwert jeweils nur anhand dieses Anspruchs zu bemessen. Der Senat hat bereits entschieden, dass der Streitwert für eine Auskunfts- und Herausgabeklage am (ggf zu schätzenden) Leistungsanspruch zu orientieren ist, und je nachdem, in welchem Umfang der Kläger auf die Auskunft zur Durchsetzung seines Leistungsanspruchs angewiesen ist, ein Abschlag vorzunehmen ist (BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 31). Der Senat schätzt vorliegend den möglichen Erstattungsanspruch der Klägerin auf der zweiten Stufe der Stufenklage auf rund 50 Euro pro Versorgung, zu der vorliegend Angaben bzw Unterlagen angefordert werden. Hiervon ist ein Abschlag in Höhe von einem Drittel vorzunehmen, da die Bedeutung der begehrten Auskunft bzw Unterlagen für den Erstattungsanspruch als erheblich zu bewerten ist, nachdem die Klägerin geltend macht, ohne die Unterlagen eine abschließende Rechnungsprüfung beim Beklagten nicht vornehmen zu können.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2012 - L 1 KR 18/10 - und des Sozialgerichts Aachen vom 8. Dezember 2009 geändert und die Auskunfts- und Herausgabeklage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten der Auskunfts- und Herausgabeklage in allen Instanzen.

Der Streitwert der Auskunfts- und Herausgabeklage wird für alle Instanzen auf 20 000 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Erteilung von Auskünften sowie die Herausgabe von Unterlagen zur Abrechnungsprüfung aus den Jahren 2001 bis 2003.

2

Der beklagte Augenoptiker versorgte in den fraglichen Jahren ua Versicherte der klagenden und zweier weiterer Ersatzkrankenkassen mit Sehhilfen aufgrund vertragsärztlicher Verordnungen und sog Berechtigungsscheine. Aufgrund eines Hinweises der AOK aus dem Jahr 2005 auf möglicherweise fehlerhafte Abrechnungen begann die Klägerin mit der Überprüfung der Abrechnung von Augenoptikern aus den Jahren 2001 bis 2003. Hierzu entwickelte sie zunächst statistische Parameter, anhand derer sie das Versorgungsverhalten einzelner Leistungserbringer mit dem durchschnittlichen Versorgungsverhalten der Augenoptiker im jeweiligen Land verglich. Nachdem das Versorgungsverhalten des Beklagten - wie das einer Vielzahl anderer Augenoptiker - vom Landesdurchschnitt abwich, forderte die Klägerin von dem damals von ihr beauftragten Rechenzentrum die vom Beklagten in der Zeit vom 1.1.2001 bis 31.12.2003 eingereichten Rechnungsbelege unter Bezugnahme auf § 302 SGB V und § 10 des Vertrages zwischen dem Zentralverband der Augenoptiker und den Landesvertretungen des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen eV (VdAK) und dem Arbeiter-Ersatzkassen-Verband eV (AEV) vom 30.6.1994 (in der Folge: Rahmenvertrag) an.

3

Am 29.12.2007 hat die Klägerin Klage zum SG Aachen mit dem Ziel erhoben, Auskunft zu erhalten über sämtliche Leistungs- und Abrechnungsvorgänge, in denen der Beklagte im Zeitraum 2001 bis 2003 Leistungen aufgrund vertragsärztlicher Verordnungen sowie über Berechtigungsscheine abgerechnet hat, und zwar durch Vorlage der diesbezüglichen Kundenunterlagen und -daten, insbesondere der Karteikarten und Lieferscheine. Später sollte der Beklagte verpflichtet werden, überzahlte Rechnungsbeträge zu erstatten, deren Gesamthöhe aber erst nach Erfüllung des Auskunfts- und Herausgabeanspruchs hätte beziffert werden können. Zur Begründung führte die Klägerin aus, eine erste Prüfung habe zahlreiche Auffälligkeiten bei den Abrechnungen des Beklagten ergeben; dies konkretisierte sie durch Vorlage eines von ihr im Februar 2008 in Auftrag gegebenen Gutachtens. Danach ergäben sich Berechnungen von Versorgungsleistungen, auf die ein Anspruch der Versicherten nicht bestanden habe. Zudem bestünden Anhaltspunkte für das Vorliegen weiterer Fehlabrechnungen, bei denen eine gutachterliche Würdigung und Bewertung aber nur nach Einsicht und Vergleich mit den Kundenkarteikarten und Lieferscheinen erfolgen könne. Die Berechtigungsscheine hätten nicht abschließend geprüft werden können, da der Beklagte sie unvollständig oder widersprüchlich ausgefüllt habe; auch insoweit sei die Sichtung weiterer Unterlagen nötig.

4

Am 12.6.2008 teilte die Klägerin dem SG mit, dass die Klage die Erstattungsansprüche sämtlicher dem VdAK und dem AEV angeschlossenen Ersatzkassen betreffe, was sie später auf die Ansprüche der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH, seit 1.4.2009 durch Aufnahme der BKK Allianz "KKH-Allianz", in der Folge nur KKH) und der Barmer Ersatzkasse (BEK, seit 1.1.2010 durch Vereinigung mit der Gmünder Ersatzkasse "Barmer GEK", in der Folge nur BEK) beschränkte. Hierzu legte die Klägerin Erklärungen der KKH bzw der BEK vom 27.3.2008 sowie der GEK vom 16.4.2008 vor, wonach sie am 26.7.2007 beauftragt worden sei, die Abrechnungen von Augenoptikern im Zeitraum 2001 bis 2003 zu überprüfen, soweit die Versorgung von BEK-, GEK- und KKH-Versicherten betroffen sei. Sie sei ermächtigt, alle aus ihrer Sicht notwendigen Schritte nach eigenem Ermessen durchzuführen, wozu auch der Einzug von Forderungen sowie die gerichtliche Geltendmachung von Auskunfts- und Zahlungsansprüchen im eigenen Namen gehörten. Alle evtl Erstattungsansprüche gegen Optiker in Nordrhein-Westfalen seien an sie - die Klägerin - abgetreten. Mit Erklärungen vom 18. und 22.9.2009 ermächtigten die BEK und die KKH die Klägerin außerdem zur Durchsetzung ihrer Ansprüche auf Rückforderung zu Unrecht geleisteter Zahlungen im Zeitraum 2001 bis 2003 gegen den Beklagten vor dem SG Aachen.

5

Das SG hat den Beklagten verurteilt, Auskunft zu erteilen über sämtliche rund 600 Leistungs- und Abrechnungsvorgänge, in denen er im Abrechnungszeitraum 2001 bis 2003 Leistungen für namentlich genannte Versicherte der Klägerin, der BEK und der KKH abgerechnet habe, durch Vorlage der diesbezüglichen Kundenunterlagen und -daten, insbesondere der betreffenden Auszüge aus der Kundendatei, Lieferscheine, Lieferantenrechnungen und Kundenrechnungen, in denen Angaben enthalten sind zu Befundwerten (Fern- und Nah-Bereich; rechts und links; sphärisch, Zylinder; Achse; Prisma) inklusive Refraktionsprotokoll, Grund der Abgabe der Sehhilfe, Art und Umfang der erbrachten Leistungen inklusive Fassungs- und Glashersteller, mit dem Versicherten abgerechnete Leistungen, Datum der Bestellung der Sehhilfe beim Lieferanten sowie - aus dem jeweiligen Lieferschein des Lieferanten - zur genauen Bezeichnung des gelieferten Artikels nach Artikelnummer, Artikelbezeichnung und Material, technischen Spezifizierungen und zu den Werten des Artikels, wie zB Radien-Brechwert-Zylinder, Achse oder Durchmesser und zur Anzahl der jeweils gelieferten Artikel (Urteil vom 8.12.2009). Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 16.5.2012). Die Klägerin sei befugt, im Wege der Prozessstandschaft auch Ansprüche der BEK und der KKH geltend zu machen. Der Auskunfts- und Unterlagenherausgabeanspruch der Krankenkassen beruhe zum einen auf einer ergänzenden Auslegung des Rahmenvertrages und zum anderen auf § 69 Abs 1 S 3 SGB V iVm § 675 Abs 1, § 666 BGB, da zwischen der Klägerin und dem Beklagten bei Lieferung der Sehhilfen jeweils ein den Regeln des Auftragsrecht unterfallender Geschäftsbesorgungsvertrag zustande gekommen sei. Regelungen des SGB V stünden dem nicht entgegen; insbesondere lasse die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Datenübermittlung nach § 302 Abs 1 SGB V die Befugnis der Krankenkassen unberührt, im Rahmen ihrer vertraglichen Beziehungen zu den Leistungserbringern die Gesetzmäßigkeit erbrachter Versorgungsleistungen durch Einholung weitergehender Auskünfte zu überprüfen. Der Auskunftsanspruch der Klägerin sei schließlich nicht verjährt, da die Verjährungsfrist nicht vier, sondern wegen hinreichender Anhaltspunkte für einen Abrechnungsbetrug 30 Jahre betrage.

6

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Beklagten. Das LSG habe gegen allgemein geltende Auslegungsgrundsätze verstoßen, als es dem Rahmenvertrag die Verpflichtung des Beklagten zur Herausgabe der streitigen Unterlagen entnommen habe. Gegen Bundesrecht sei weiter verstoßen worden, indem das LSG ergänzend die Regelungen des BGB über das Auftragsrecht angewendet habe. Zumindest sei der Herausgabeanspruch der Klägerin verjährt bzw verwirkt, nachdem die Klägerin gegen das für das Prüfverfahren geltende Beschleunigungsgebot verstoßen habe.

7

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2012 - L 1 KR 18/10 - und des Sozialgerichts Aachen vom 8. Dezember 2009 zu ändern und die Klage auf Erteilung von Auskünften und Herausgabe von Unterlagen abzuweisen.

8

Die Klägerin verteidigt die angegriffenen Entscheidungen und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision ist begründet. Die Entscheidungen des SG und des LSG sind dahin zu ändern, dass die Klage auf Erteilung von Auskünften und Herausgabe der begehrten Unterlagen abgewiesen wird, da die Klägerin gegen den Beklagten keinen Anspruch auf die Herausgabe der streitigen Unterlagen besitzt.

10

1. Gegenstand der Revision ist der von der Klägerin umfassend geltend gemachte Anspruch auf die Erteilung von Auskünften und die Herausgabe sämtlicher Unterlagen, die beim Beklagten über die Versorgung von Versicherten der Klägerin, der BEK und der KKH mit Sehhilfen im Zeitraum 2001 bis 2003 angefallen sind. Hierfür sind die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt:

11

a. Die Herausgabeklage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG zulässig. Beim Streit zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer handelt es sich um einen sog Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (BSGE 92, 300 = SozR 4-2500 § 39 Nr 2, RdNr 5; BSGE 86, 166, 167 f = SozR 3-2500 § 112 Nr 1 S 2 f; BSGE 90, 1 f = SozR 3-2500 § 112 Nr 3 S 20; BSG SozR 3-2500 § 39 Nr 4 S 14 f; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 11 RdNr 10). Die Klägerin war damit insbesondere nicht in der Lage, den Beklagten durch Verwaltungsakt zur Herausgabe der streitigen Unterlagen zu verpflichten. Der Senat hat weiterhin bereits entschieden, dass das Begehren auf Auskunftserteilung und Herausgabe von (medizinischen) Unterlagen sowie auf Begleichung etwaiger sich aus diesen ergebender Erstattungsansprüche im Wege der auch in der Sozialgerichtsbarkeit nach § 202 SGG iVm § 254 ZPO statthaften Stufenklage verfolgt werden kann(BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 12; s auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 56 RdNr 5). Zwar will die Klägerin hier mit ihrem Auskunftsbegehren zunächst nur in Erfahrung bringen, ob ihr überhaupt Erstattungsansprüche gegen den Beklagten zustehen. Dies ist allerdings unschädlich, wenn - wie vorliegend - die Erfüllung des Auskunftsbegehrens auch zur Bezifferung des Erstattungsanspruchs erforderlich ist (BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 11 mwN).

12

b. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass die Klägerin zur Prozessführung befugt ist, und zwar auch soweit die begehrten Unterlagen die Versorgung von Versicherten der BEK und der KKH betreffen.

13

Die Prozessführungsbefugnis ist das Recht, einen bestimmten Prozess als richtige Partei zu führen. Sie ist ohne Weiteres gegeben, wenn der Kläger einen nach seinem Vortrag ihm zustehenden sachlichen Anspruch im eigenen Namen geltend macht. Dagegen bedarf die Prozessführungsbefugnis besonderer Feststellung und Begründung, wenn der Kläger einen fremden materiellen Anspruch im eigenen Namen verfolgt, wie es die Klägerin vorliegend hinsichtlich der Unterlagen tut, die die Versorgung von Versicherten der BEK und der KKH betreffen. In diesen Fällen liegt die Prozessführungsbefugnis nur vor, wenn entweder das Gesetz dies ausdrücklich anordnet (gesetzliche Prozessstandschaft) oder der Kläger aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Befugnis handelt und er dabei ein eigenes rechtliches Interesse an der Geltendmachung des fremden materiellen Anspruchs hat (gewillkürte Prozessstandschaft) (stRspr: BSG SozR Nr 3 zu § 69 SGG; BSG SozR 2200 § 639 Nr 1; BSGE 86, 94, 96 f = SozR 3-3300 § 77 Nr 3 S 20 f; BSG SozR 3-3300 § 72 Nr 2 S 3 f, jeweils mwN). Zudem dürfen schutzwürdige Belange des Prozessgegners nicht entgegenstehen (BSGE aaO).

14

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. BEK und KKH haben im Rahmen ihrer Erklärungen vom 18. bzw 22.9.2009 der Prozessführung durch die Klägerin hinreichend konkret und bezogen auf die streitigen Ansprüche zugestimmt. Diese Zustimmung genügt zur Begründung einer gewillkürten Prozessstandschaft (Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl 2013, § 51 RdNr 33). Es kann offenbleiben, ob ein eigenes schutzwürdiges Interesse der Klägerin an der Prüfung von Erstattungsansprüchen Dritter hier bereits aus der Pflicht der Krankenkassen zur Zusammenarbeit nach § 197a Abs 3 SGB V folgt. Denn dieses ergibt sich jedenfalls aus der Verpflichtung der Klägerin zur Erfüllung der ihr von BEK und KKH übertragenen Aufgaben nach § 88 SGB X. Auf dieser Grundlage waren die BEK und KKH berechtigt, die Überprüfung von Leistungsabrechnungen durch Hilfsmittelerbringer als Teil ihrer gesetzlichen Aufgaben (vgl dazu BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 23; BSG SozR 4-2500 § 112 Nr 6 RdNr 16 mwN; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 37 f; BSGE 105, 150 = SozR 4-2500 § 109 Nr 20, RdNr 13) einem anderen Leistungsträger - hier der Klägerin - zu übertragen. Diese erfüllte mit der Prozessführung die gegenüber der BEK und der KKH übernommene Verpflichtung (zur Prozessstandschaft der Postbeamtenkrankenkasse für die Gemeinschaft der privaten Versicherungsunternehmen zur Durchführung der Pflegeversicherung s BSGE 86, 94, 97 = SozR 3-3300 § 77 Nr 3 S 21). Dass verfahrensrechtliche Interessen des Beklagten beeinträchtigt sein könnten, weil die Klägerin statt der BEK und KKH den Rechtsstreit führt, trägt dieser selbst nicht vor und ist auch anderweitig nicht ersichtlich. Die Klägerin hat die Prozessstandschaft schließlich mit Schriftsatz vom 12.6.2008 auch noch rechtzeitig (vgl BSG SozR 3-1500 § 55 Nr 34 S 67) offengelegt. Deshalb kann es dahinstehen, ob die BEK und die KKH die ihnen ggf gegen den Beklagten zustehenden Erstattungsforderungen mit ihren Erklärungen vom 27.3.2008 wirksam an die Klägerin abgetreten haben, da dies nach Eintritt der Rechtshängigkeit erfolgt ist und damit auf den Prozess keinen Einfluss haben kann (§ 202 SGG iVm § 265 Abs 2 S 1 ZPO).

15

c. Die Vorinstanzen sind schließlich zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage von Anfang an gegen den Beklagten und nicht gegen Herrn S. gerichtet war. Insbesondere handelte es sich bei der Änderung des Passivrubrums von "Herrn S. handelnd als P. OHG" auf "P. oHG" nicht um einen gewillkürten Parteiwechsel und damit um eine Klageänderung iS von § 99 SGG, sondern lediglich um eine Berichtigung des Passivrubrums. Die ursprüngliche Bezeichnung in der Klageschrift war nicht eindeutig. Gegen wen sich die Klage richtete, hatte das SG damit durch Auslegung zu ermitteln (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 92 RdNr 7). Die hierzu getroffenen Feststellungen des SG (S 13 des Urteilsumdrucks) sind nicht zu beanstanden. Entsprechendes gilt hinsichtlich des vom LSG angenommenen späteren Parteiwechsels auf Beklagtenseite von einer oHG zu einem Einzelunternehmer (S 8 f des Urteilsumdrucks).

16

2. Die Klage auf Auskunftserteilung und Herausgabe sämtlicher Unterlagen, die die rund 600 Versorgungen von Versicherten der Klägerin, der BEK und KKH durch den Beklagten im Zeitraum 2001 bis 2003 betreffen, zum Zweck der Abrechnungsprüfung ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf die Erteilung der begehrten Auskünfte und die Herausgabe der begehrten Unterlagen. Ein solcher ergibt sich weder aus dem öffentlichen Recht (dazu a) noch aus der (entsprechenden) Anwendung von Vorschriften des BGB (dazu b). Lediglich ergänzend ist deshalb darauf hinzuweisen, dass Auskunftsansprüchen der Klägerin darüber hinaus weitestgehend die Einrede der Verjährung, zumindest aber die Einwendung der Verwirkung entgegenstehen (dazu c).

17

a. Die Klägerin kann ihren Anspruch weder auf Vorschriften des SGB noch auf eine die Hilfsmittelversorgung ergänzend regelnde Vereinbarung nach § 127 SGB V stützen.

18

aa. Die hier geltend gemachten Ansprüche der Krankenkasse bzw die Verpflichtung des Leistungserbringers zur Auskunft und ggf Herausgabe von Unterlagen sind als Bestandteil des Leistungserbringerrechts zunächst im SGB V geregelt. Soweit sie Sozialdaten oder Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse betreffen, sind ergänzend die Regelungen des SGB I und SGB X zu berücksichtigen. Dementsprechend gilt für die Ansprüche der Krankenkasse bzw die Auskunfts- und Herausgabepflicht des Hilfsmittelerbringers Folgendes:

19

(1) Die Klägerin fordert die Erteilung von Auskünften und die Herausgabe von Unterlagen, die die Befundwerte der Versicherten, den Grund der Abgabe der Sehhilfe, die Art und den Umfang der erbrachten Leistung und die mit dem Versicherten abgerechnete Leistung enthalten. Hierbei handelt es sich um Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse bestimmter natürlicher Personen und damit um Sozialdaten iS von § 67 Abs 1 S 1 SGB X.

20

Die Erhebung von Sozialdaten durch die Krankenkassen ist nur unter den Voraussetzungen des Zweiten Kapitels des SGB X zulässig (§ 35 Abs 2 SGB I idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sozialgesetzbuches - 2. SGBÄndG - vom 13.6.1994, BGBl I 1229). Danach dürfen Sozialdaten ohne Mitwirkung des Betroffenen bei anderen als den in § 35 SGB I bzw § 69 Abs 2 SGB X genannten Stellen und Personen - mithin auch bei Leistungserbringern - nur erhoben werden, wenn eine Rechtsvorschrift die Erhebung bei ihnen zulässt oder die Übermittlung an die erhebende Stelle ausdrücklich vorschreibt(§ 67a Abs 2 S 2 Nr 2 Buchst a SGB X iVm § 35 Abs 2 SGB I) oder wenn die Aufgaben der Krankenkasse nach dem SGB ihrer Art nach eine Erhebung bei anderen Personen oder Stellen erforderlich machen oder die Erhebung beim Betroffenen einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde (§ 67a Abs 2 S 2 Nr 2 Buchst b SGB X iVm § 35 Abs 2 SGB I).

21

Allein aus der Befugnis der Krankenkasse, Sozialdaten zu erheben, folgt allerdings noch nicht, dass die Personen oder Stellen, bei denen die Daten angefordert werden, ihrerseits automatisch zur Übermittlung dieser Daten verpflichtet sind. Dementsprechend regelt das SGB X im Zweiten Kapitel (§§ 67 bis 85a) die Voraussetzungen, unter denen die Erhebung, Verarbeitung, Nutzung und Übermittlung von Sozialdaten durch Leistungsträger wie die Krankenkassen zulässig ist, während die Auskunftspflichten Dritter gegenüber den Leistungsträgern Gegenstand des Dritten Kapitels des SGB X (§§ 86 bis 119) sind. Eine entsprechende Differenzierung nimmt das SGB V vor, indem es in den §§ 284 bis 293 die Informationsgrundlagen, insbesondere die Datenerhebungsbefugnisse der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen regelt, und in den §§ 294 bis 303 SGB V spiegelbildlich die entsprechenden Pflichten der Leistungserbringer zur Datenübermittlung bestimmt(BSGE 90, 1, 5 f = SozR 3-2500 § 112 Nr 3 S 24).

22

Auf dieser Grundlage bestehen zwischen den Beteiligten im Rahmen der Abrechnungsprüfung durch die Klägerin folgende Auskunftsansprüche bzw -pflichten:

23

(a) Die Krankenkassen dürfen - in dem hier relevanten Bereich der Abrechnungsprüfung - Sozialdaten für Zwecke der Krankenversicherung erheben und speichern, soweit diese für die Prüfung der Leistungspflicht und die Gewährung von Leistungen an Versicherte, die Beteiligung des Medizinischen Dienstes nach § 275 SGB V oder die Abrechnung mit den Leistungserbringern und die Überwachung des Wirtschaftlichkeitsgebots erforderlich sind(§ 284 Abs 1 S 1 Nr 4 und 7 bis 9 SGB V idF des 2. SGBÄndG vom 13.6.1994, BGBl I 1229). Demgegenüber sind Leistungserbringer nach § 294 SGB V(ebenfalls idF des 2. SGBÄndG vom 13.6.1994, BGBl I 1229) verpflichtet, "die für die Erfüllung der Aufgaben der Krankenkassen (…) notwendigen Angaben, die aus der Erbringung (…) sowie der Abgabe von Versicherungsleistungen entstehen, aufzuzeichnen und gemäß den nachstehenden Vorschriften den Krankenkassen (…) oder den mit der Datenverarbeitung beauftragten Stellen mitzuteilen".

24

(aa) Für den hier relevanten Bereich der Abrechnung von Hilfsmitteln verpflichten § 302, § 303 SGB V die Leistungserbringer, der Krankenkasse maschinenlesbar in den Abrechnungsbelegen die von ihnen erbrachten Leistungen nach Art, Menge und Preis zu bezeichnen und den Tag der Leistungserbringung sowie die Arztnummer des verordnenden Arztes, die Verordnung des Arztes mit Diagnose und den erforderlichen Angaben über den Befund und die Angaben nach § 291 Abs 2 Nr 1 bis 6 SGB V zur Krankenversicherungskarte anzugeben; bei der Abgabe von Hilfsmitteln sind dabei die Bezeichnungen des Hilfsmittelverzeichnisses nach § 128 SGB V zu verwenden(§ 302 Abs 1 SGB V idF des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 vom 22.12.1999, BGBl I 2626). Damit ist aus datenschutzrechtlichen Gründen abschließend und enumerativ aufgelistet, welche Angaben der Krankenkasse bei einer Hilfsmittelversorgung ihrer Versicherten auf jeden Fall zu übermitteln sind (vgl BT-Drucks 12/3608 S 125, zu Nummer 142 <§ 302>, die insoweit auf die für die anderen Leistungsbereiche geltende Regelung zu Nummer 141<§ 301> verweist). Nach der zugrunde liegenden Vorstellung des Gesetzgebers sind damit die wesentlichen Angaben bezeichnet, die die Krankenkasse insbesondere zur ordnungsgemäßen Abrechnung mit den Hilfsmittelerbringern benötigt (BT-Drucks 12/3608 S 125). Das Nähere über die Form und den Inhalt des Abrechnungsverfahrens bestimmen die Spitzenverbände der Krankenkassen (heute: Spitzenverband Bund der Krankenkassen) in Richtlinien, die in den Leistungs- und Lieferverträgen zu beachten sind (§ 302 Abs 2 S 1 SGB V). Vorliegend sind die Richtlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen nach § 302 Abs 2 SGB V über Form und Inhalt des Abrechnungsverfahrens mit "sonstigen Leistungserbringern" sowie Hebammen und Entbindungspflegern(§ 301a SGB V) vom 9.5.1996 (BAnz Nr 112 vom 20.6.1996, zuletzt geändert durch Beschluss vom 13.3.2003; in der Folge: Richtlinie) maßgeblich gewesen. Haben die Hilfsmittelerbringer die Daten nach § 302 Abs 1 SGB V in dem jeweils zugelassenen Umfang nicht maschinenlesbar oder auf maschinell verwertbaren Datenträgern abgegeben oder übermittelt, so haben die Krankenkassen die Daten nachzuerfassen(§ 303 Abs 3 S 1 SGB V idF des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14.11.2003, BGB I 2190). Wie der Senat bereits zur entsprechenden Regelung für den Bereich der Abrechnung von Krankenhausbehandlungen entschieden hat, dürfen die Krankenkassen bei Zweifeln und Unklarheiten in Bezug auf die übermittelten Daten durch nicht-medizinische Nachfragen selbst beim Leistungserbringer klären, ob die jeweiligen Voraussetzungen der Zahlungspflicht im Einzelfall gegeben sind (sog erste Stufe der Sachverhaltserhebung, vgl für den Bereich der Abrechnung von Krankenhausbehandlung nach § 301 SGB V: BSG Urteil vom 16.5.2013 - B 3 KR 32/12 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen, RdNr 21; BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 19). Dieses Recht steht den Krankenkassen auch in Bezug auf die übrigen Leistungserbringer zu.

25

(bb) Die Klägerin kann ihren Auskunfts- und Herausgabeanspruch im vorliegenden Fall nicht auf § 302 SGB V iVm der Richtlinie stützen. Insoweit ist - nachdem die Klägerin bzw die von ihr vertretenen BEK und KKH die streitigen Abrechnungen bereits vergütet haben - zunächst davon auszugehen, dass der Beklagte die entsprechenden Angaben bereits ordnungsgemäß übermittelt hat. Dies gilt auch für die Verpflichtung aus § 302 SGB V iVm §§ 2 bis 5 Richtlinie zur Übermittlung der dort genannten weiteren Abrechnungsdaten sowie der sog Urbelege(Verordnungsblätter, Berechtigungs- und Reparaturscheine, § 2 Abs 1b Richtlinie). Bei diesen Urbelegen handelt es sich um von der Richtlinie vorgegebene Muster (§ 3 Richtlinie), die vom Leistungserbringer in einem bestimmten Format maschinenlesbar zu übermitteln sind. Die Klägerin selbst behauptet aber nicht, dass der Beklagte diesen Verpflichtungen nicht ausreichend nachgekommen ist. Darüber hinaus besteht weder aus § 302 SGB V noch nach der Richtlinie eine Verpflichtung des Beklagten, die von der Klägerin begehrten Kundenunterlagen und -daten, insbesondere Auszüge aus der Kundendatei, Lieferscheine, Lieferantenrechnungen und Kundenrechnungen und bei ihm darüber hinaus ggf vorliegenden weiteren Unterlagen herauszugeben. Das Klagebegehren richtet sich auch nicht auf ein zulässiges Nachfragen der Krankenkasse beim Leistungserbringer, um Zweifel und Unklarheiten im Einzelfall in Bezug auf die nach § 302 SGB V übermittelten Daten zu klären.

26

(b) Die Klägerin kann ihren weiten Auskunfts- und Herausgabeanspruch auch nicht auf die Mitteilungspflichten des Leistungserbringers nach § 276 Abs 2 SGB V idF des 2. SGBÄndG vom 13.6.1994 (BGBl I 1229) stützen. Zwar sieht § 276 Abs 2 SGB V weitere Mitteilungspflichten von Leistungserbringern vor, die allerdings auf die anschließende medizinische Begutachtung eines Leistungs- oder Abrechnungsfalles durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) gerichtet sind. Dieser darf Sozialdaten erheben, soweit dies für seine gutachterliche Stellungnahme erforderlich ist (§ 276 Abs 2 S 1 Halbs 1 SGB V). Voraussetzung ist aber nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V - die weiteren Alternativen dieser Vorschrift kommen ersichtlich nicht in Betracht - ein Prüfauftrag der Krankenkasse an den MDK entweder wegen der Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistungserbringung oder wegen Auffälligkeiten der ordnungsgemäßen Abrechnung. Daran fehlt es hier; die Klägerin vermutet zwar das Fehlen von ordnungsgemäßen Abrechnungen des Klägers in zahlreichen Fällen, sie hat dazu jedoch - aus ihrer Sicht folgerichtig - kein medizinisches Überprüfungsverfahren beim MDK eingeleitet. Ein solches Prüfverfahren nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V hinsichtlich sämtlicher Abrechnungsvorgänge des Beklagten in den Jahren 2001 bis 2003 wäre im Übrigen auch unzulässig, da die Klägerin keine Auffälligkeit im Einzelfall geltend macht. Eine Auffälligkeit liegt nämlich nur dann vor, wenn der konkrete Verdacht einer fehlerhaften Abrechnung besteht (BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 22 mwN); daran fehlt es hier.

27

Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Klägerin behauptet, nach dem von ihr in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten seien bei einigen Abrechnungen des Beklagten konkrete Fragen zu deren sachlich-rechnerischen Richtigkeit offen. Sie macht aber weder geltend noch ist es anderweitig ersichtlich, dass es zur Überprüfung dieser auffälligen Abrechnungen sämtlicher Abrechnungsunterlagen des Beklagten aus drei Jahren bedarf. Die Klägerin beruft sich vielmehr auf statistische Abweichungen im Versorgungsverhalten des Beklagten vom durchschnittlichen Versorgungsverhalten der Augenoptiker in Nordrhein-Westfalen, die sie durch Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Abrechnung durch den Beklagten in Einzelfällen bestätigt sieht, und glaubt daraus ableiten zu können, mittels der von ihr begehrten Auskünfte und Unterlagen die komplette Versorgung durch den Beklagten in den Jahren 2001 bis 2003 überprüfen zu dürfen. Für eine derartige umfassende Ausforschung bietet das an Auffälligkeiten im Einzelfall anknüpfende Prüfverfahren nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V und damit auch die in dessen Rahmen bestehende Auskunftspflicht des Leistungserbringers nach § 276 SGB V keine Grundlage.

28

(2) Die vorstehenden Ausführungen gelten erst recht für die begehrte Übermittlung von Daten, die zu den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen des Beklagten - Unterlagen von Lieferanten und deren Abrechnungen sowie Kundendaten aller Art - gehören (§ 35 Abs 4 SGB I idF des 2. SGBÄndG vom 13.6.1994, BGBl I 1229). Es ist im SGB keine Rechtsgrundlage ersichtlich, die eine derartige Auskunftspflicht des Beklagten gegenüber der Klägerin begründen könnte.

29

bb. Der Anspruch der Klägerin auf Auskunftserteilung und Herausgabe von Unterlagen ergibt sich auch nicht aus Vorschriften des Rahmenvertrages vom 30.6.1994 oder dessen ergänzender Vertragsauslegung.

30

(1) Allerdings geht das LSG zu Recht davon aus, dass § 10 Rahmenvertrag die vom Leistungserbringer im Rahmen der Rechnungslegung zu übermittelnden Angaben und Unterlagen konkretisiert. Dort ist insbesondere geregelt, wann diese zu erfolgen hat (einmal monatlich bis zum 10. des auf das Ende der letzten Lieferung folgenden Monats, § 10 Abs 1 S 1, Abs 2 S 4), welche Unterlagen vorzulegen sind (ärztliche Verordnung oder Berechtigungsschein mit Datum und Bestätigung über den Empfang der Sehhilfe oder sonstigen Leistung durch den Versicherten und Stempel des Augenoptikers, § 10 Abs 1 S 2 und 3, Abs 2 S 4), wie die Lieferungen zu bezeichnen sind (§ 10 Abs 2 S 1), welcher Festpreis ggf gilt (§ 10 Abs 2 S 8), von wem die Kosten zu tragen sind (§ 10 Abs 1 S 4) und wann die Rechnung zu bezahlen ist (§ 10 Abs 2 S 6). Darüber hinaus verweist § 10 Abs 2 S 3 auf § 302 iVm § 303 SGB V und damit auf die gesetzliche Regelung der Pflichten der Leistungserbringer im Rahmen der Leistungsabrechnung mit den Krankenkassen. Die vertraglichen Informationspflichten des Leistungserbringers gehen damit weit über die Verpflichtungen hinaus, die das LSG festgestellt hat (S 12 des Urteilsumdrucks). Die Parteien des Rahmenvertrages wollten nach dem ausdrücklichen Wortlaut nicht nur die sich aus den geltenden gesetzlichen Regelungen ergebenden Verpflichtungen wiederholen, sondern darüber hinaus ergänzende Mitteilungspflichten des Leistungserbringers vertraglich vereinbaren. Gleichwohl folgt daraus keine Verpflichtung des Beklagten zur umfassenden Auskunftserteilung und zur Herausgabe der von der Klägerin begehrten Unterlagen.

31

(2) Zu Unrecht hat das LSG allerdings angenommen, hieraus könne auf eine ergänzungsbedürftige Regelungslücke des Rahmenvertrages geschlossen werden. Denn die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung sind vorliegend offensichtlich nicht erfüllt.

32

(a) Voraussetzung für eine ergänzende Vertragsauslegung ist eine Regelungslücke in einem regelungsbedürftigen Punkt der vertraglichen Regelung (BGHZ 40, 91, 103; BGHZ 77, 301, 304; stRspr). Hierfür genügt nicht jeder offengebliebene Punkt eines Vertrages. Eine durch ergänzende Vertragsauslegung zu füllende Lücke ist vielmehr nur dann zu bejahen, wenn die von den Parteien vereinbarte Regelung eine Bestimmung vermissen lässt, die erforderlich ist, um den ihr zugrunde liegenden Regelungsplan der Parteien zu verwirklichen (BGH Urteil vom 13.2.2004 - V ZR 225/03, NJW 2004, 1873; Staudinger/Roth, BGB, Aufl 2010 § 157 BGB RdNr 15 mwN). Ohne die gebotene Vervollständigung darf eine angemessene interessengerechte Lösung nicht zu erzielen sein (BGH Urteil vom 13.5.1993 - IX ZR 166/92, NJW 1993, 2935; BGHZ 90, 69, 74 f; BGH Urteil vom 12.7.1989 - VIII ZR 297/88, NJW 1990, 115, 116).

33

(b) Die Parteien des Rahmenvertrages wollten - § 127 Abs 1 SGB V idF des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21.12.1992 (BGBl I 2266) entsprechend - Einzelheiten der Versorgung mit Hilfsmitteln sowie über die Abrechnung der Festbeträge regeln (§ 1 Rahmenvertrag). Zur Umsetzung dieses Regelungsplans haben sie insbesondere die im Rahmen der Rechnungslegung zu übermittelnden Unterlagen und Angaben festgelegt und dabei auch bestimmt, dass die gesetzlichen Regelungen und der Rahmenvertrag gelten sollen (§ 10 Abs 2 S 3 Rahmenvertrag). Es kann dahinstehen, ob schon allein diese ausdrückliche Regelung der Geltung der Gesetzesvorschriften eine Regelungslücke ausschließt (vgl BGHZ 40, 91, 103 mwN). Denn zumindest ist es nicht zur Verwirklichung der Ziele des Rahmenvertrages notwendig, weitere und derartig umfassende Auskunfts- und Herausgabepflichten zu statuieren. So waren die Beteiligten zunächst über Jahre in der Lage, die Hilfsmittelversorgung durch den Beklagten und deren Abrechnung gegenüber der Klägerin entsprechend dem Rahmenvertrag und den von ihm in Bezug genommenen gesetzlichen Regelungen durchzuführen. Auch die Klägerin sah sich aufgrund der vom Beklagten übermittelten Belege und Angaben offenkundig in der Lage, die von diesem erbrachten Leistungen zu vergüten, was im Hinblick auf § 303 Abs 3 SGB V für eine ordnungsgemäße Rechnungslegung durch den Beklagten gemäß den Regeln von § 10 Rahmenvertrag spricht. Anders als das LSG meint, ergibt sich die Notwendigkeit einer Ergänzung des Rahmenvertrages um die Verpflichtung des Beklagten zur Vorlage weiterer Unterlagen auch nicht aus dem Interesse der Krankenkasse, ihren Prüfpflichten nach dem SGB V nachkommen zu können. Denn dieses Interesse ist bereits anhand der Regelungen des Rahmenvertrages und damit ohne die Verpflichtung des Leistungserbringers zur Herausgabe weiterer Unterlagen angemessen berücksichtigt.

34

Zudem muss sich die Klägerin vorwerfen lassen, dass sie die Optiker jahrelang hat gewähren lassen - sie hatte die Abwicklung der Abrechnungen einem Rechenzentrum übergeben und offensichtlich keine ausreichende Kontrolle durchgeführt. Es wäre ihr - zumindest mit sachverständiger Unterstützung des MDK - bereits anhand der vom Beklagten bei der Rechnungslegung regelmäßig übermittelten Unterlagen und Angaben durchaus möglich gewesen, das Vorliegen rechtswidriger Hilfsmittelversorgungen oder Anhaltspunkte hierfür festzustellen. Unkorrekte Abrechnungen wären nicht zu vergüten gewesen, zweifelhafte Punkte hätten im jeweiligen Einzelfall gegenüber dem Beklagten zeitnah geltend gemacht werden können und ggf durch den MDK überprüft werden müssen. Soweit die Klägerin geltend macht, der Beklagte habe ganze Versorgungsfälle fingiert (Stichwort "unzulässige Doppelversorgung") oder es seien fehlerhafte Versorgungen erfolgt (Stichwort "fehlerhafte Augenglasbestimmung"), hätte ebenfalls im jeweiligen Einzelfall eine zeitnahe Überprüfung unter Beteiligung des Versicherten (zur Einholung von Stellungnahme bei Versicherten im Rahmen der Abrechnungsprüfung s BSG SozR 4-2500 § 301 Nr 1) erfolgen und eine Stellungnahme des MDK eingeholt werden können. Zum Einwand der Klägerin, entsprechende Ermittlungen bei Versicherten seien nicht mehr zielführend, da diese regelmäßig nicht in der Lage seien, Angaben zu einer Versorgung in den Jahren 2001 bis 2003 zu machen, wird übersehen, dass dies im Wesentlichen aus ihrem Verschulden resultiert, weil die Abrechnungsprüfung nicht zeitnah durchgeführt worden ist.

35

(c) Die vom LSG angenommene Vertragsergänzung widerspricht darüber hinaus ersichtlich einer abgewogenen Auslegung, weil sie einseitig dem Interesse der Krankenkasse Rechnung trägt, eine Abrechnungsprüfung auch nach Jahren und in gesetzlich nicht vorgesehenem Umfang vornehmen zu dürfen. Der Senat weist in ständiger Rechtsprechung auf das im Leistungserbringerrecht allgemein existierende Beschleunigungsgebot hin (vgl zuletzt Urteil vom 18.7.2013 - B 3 KR 21/12 R, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen, RdNr 20 mwN; zum Bereich der Hilfsmittelversorgung BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 14 RdNr 13), das ua auf dem schutzwürdigen Interesse beider Seiten an Abrechnungssicherheit beruht (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 14 RdNr 13). Dem widerspräche es, der Krankenkasse - nachdem sie die gesetzlich und vertraglich vorgesehenen Möglichkeiten der Abrechnungsprüfung über Jahre ungenutzt gelassen hat - einen solch umfassenden Auskunfts- und Herausgabeanspruch einzuräumen. Das Interesse des Leistungserbringers bliebe völlig unberücksichtigt, wenn er allein auf der Grundlage statistischer Abweichungen seines Versorgungsverhaltens gegenüber dem Durchschnitt aller Optiker verpflichtet würde, sämtliche Geschäfts- und Versorgungsunterlagen unabhängig von Anhaltspunkten für eine fehlerhafte Abrechnung im Einzelfall vorzulegen. Dies gilt hier umso mehr, als die Klägerin vor dem SG selbst erklärt hat, keinen Hinweis für ein betrügerisches Verhalten des Beklagten gefunden zu haben. Damit wäre die vom LSG angenommene ergänzende Vertragsauslegung unvereinbar.

36

b. Entgegen der Auffassung des LSG kann sich die Klägerin auch nicht auf Vorschriften des bürgerlichen Rechts stützen. Insbesondere bestehen keine Auskunfts- und Rechenschaftspflichten auf Grund eines Geschäftsbesorgungsvertrages (§ 675 Abs 1 iVm § 666 BGB) oder nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB); ein etwaiger Anspruch nach dem Recht der unerlaubten Handlungen (§ 823 Abs 2 BGB)ist völlig fernliegend.

37

aa. Entgegen der Auffassung des LSG sind bereits die Voraussetzungen für die entsprechende Anwendung der Vorschriften des BGB nicht erfüllt. Denn die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden werden durch das Vierte Kapitel des SGB V sowie die §§ 63 und 64 SGB V abschließend geregelt(§ 69 S 1 SGB V). Im Übrigen gelten die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind(§ 69 S 3 SGB V idF des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 vom 22.12.1999, BGBl I 2626). Eine entsprechende Anwendung der Vorschriften des BGB kommt damit nur in Betracht, wenn die Regelungen des SGB V lückenhaft sind (BSGE 105, 157 = SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 15 aE). Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall.

38

Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und der Augenoptiker sind durch die §§ 126 und 127 SGB V sowie die darauf fußenden vertraglichen Vereinbarungen abschließend geregelt. Ein Rückgriff auf vertragliche Modelle des BGB kommt daneben nicht in Betracht (so schon für den Bereich der Arzneimittelversorgung BSGE 105, 157 = SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 15 ff). Auch die Versorgung von Versicherten mit Hilfsmitteln hat ihre Grundlage unmittelbar im öffentlichen Recht. Die Konstruktion eines in jedem einzelnen Versorgungsfall abzuschließenden und den Versicherten drittbegünstigenden öffentlich-rechtlichen Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen Leistungserbringer und Krankenkasse ist damit entbehrlich.

39

bb. Ein Auskunftsanspruch der Klägerin ergibt auch nicht unmittelbar aus § 242 BGB. Dabei kann dahinstehen, ob der aus § 242 BGB abzuleitende Grundsatz von Treu und Glauben ausschließlich über § 69 S 3 SGB V auf das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten anzuwenden ist(BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 28 RdNr 13) oder als auch dem Sozialrecht immanenter allgemeiner Rechtsgrundsatz (BSGE 99, 271 = SozR 4-2400 § 27 Nr 3, RdNr 13) unmittelbar zur Anwendung kommen kann. Denn auch insoweit bietet das öffentliche Recht die alleinigen Anspruchsgrundlagen (§§ 275 ff SGB V und die ergänzenden vertraglichen Regelungen). Die Klägerin hätte mit zeitnahen Rechnungsprüfungen rechtswidrige Hilfsmittelversorgungen und/oder Abrechnungen erkennen und verhindern können; dies hat sie versäumt. Zudem gebieten Treu und Glauben keinen über die einschlägigen gesetzlichen und vertraglichen Regelungen hinausgehende Auskunfts- und Herausgabepflichten, die ausschließlich deshalb nötig werden, weil letztere erst gar nicht oder nicht rechtzeitig genutzt wurden.

40

cc. Die Klägerin kann einen Auskunfts- und Herausgabeanspruch auch nicht aus dem Recht der unerlaubten Handlungen (§ 823 BGB) herleiten. Denn Voraussetzung für die Annahme einer diesen Anspruch begründenden rechtlichen Sonderbeziehung wäre, dass ein Leistungsanspruch dem Grunde nach besteht und nur der Anspruchsinhalt noch offen ist (BGH Urteil vom 18.1.1978 - VIII ZR 262/76, NJW 1978, 1002; Sprau in Palandt, BGB, 73. Aufl 2014, Einführung vor § 823 RdNr 17). Hiervon ist vorliegend nicht auszugehen; die Klägerin selbst hat keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme eines unerlaubten - betrügerischen - Verhaltens des Beklagten gesehen (Schriftsatz vom 30.1.2009 an das SG).

41

c. Etwaige Auskunfts- und Herausgabeansprüche der Klägerin gegen den Beklagten scheitern darüber hinaus weitestgehend an der Einrede der Verjährung (dazu aa) und im Übrigen an der Einwendung der Verwirkung (dazu bb).

42

aa) Ansprüchen aus der Zeit 2001 und 2002, die Versicherte der Klägerin betreffen, sowie aus dem Zeitraum 2001 bis 2003, die für Versicherte der BEK und der KKH geltend gemacht werden, steht die vom Beklagten erhobene Einrede der Verjährung entgegen. Für diese Auskunftsansprüche der Krankenkasse gegen den Leistungserbringer gilt die allgemeine sozialrechtliche Verjährungsfrist von vier Jahren, die mit Ablauf des Jahres beginnt, in dem der Anspruch entstanden ist - § 45 Abs 1 SGB I.

43

Der Senat hat bereits entschieden, dass die sozialrechtliche Verjährungsfrist von vier Jahren für alle gegenseitigen Rechte und Pflichten zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern und damit auch für den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen etwaiger Überzahlung von Vergütungsansprüchen als Kehrseite des Leistungsanspruchs gilt (für die Vergütung von Krankenhausbehandlung sowie die Mitteilungspflichten des Leistungserbringers nach § 276 Abs 2 S 1 SGB V: BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; für die Vergütung von Krankenhaustransporten: BSG SozR 4-1200 § 45 Nr 4 RdNr 22). Die Verjährungsvorschriften des BGB kommen auch über § 69 S 3 SGB V nicht zur Anwendung, weil die Verjährungsfrage schon aus dem Vierten Kapitel des SGB V selbst und den hierfür geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien zu beantworten ist(BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 17 ff; BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 8 S 30). Denn das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient. Die Regelung ist aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten, um jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen (so bereits BSGE 42, 135 = SozR 3100 § 10 Nr 7 S 10; BSGE 69, 158 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1 S 5; Übertragung auf das Abrechnungsverhältnis zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer: BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 8 S 30; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 17; BSGE 97, 125 = SozR 4-1500 § 92 Nr 3, RdNr 11; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; BSG SozR 4-1200 § 45 Nr 4 RdNr 22).

44

Die allgemeine sozialrechtliche Verjährungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist (vgl § 45 Abs 1 SGB I; BSGE 97, 125 = SozR 4-1500 § 92 Nr 3, RdNr 11). Auch insoweit kommt ein Rückgriff auf die Vorschriften des durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001 (BGBl I 3138) novellierten bürgerlich-rechtlichen Verjährungsrechts - anders als wohl das LSG meint - nicht in Betracht. Zwar mag sich der Gesetzgeber dort (§ 199 Abs 1 BGB) bewusst dagegen entschieden haben, kurze Verjährungsfristen mit einem kenntnisunabhängigen Beginn der Verjährungsfrist zu kombinieren. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass der Gesetzgeber eine entsprechende Änderung auch für den Bereich des Sozialrechts habe treffen wollen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber eine Änderung der verjährungsrechtlichen Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht hat herbeiführen wollen (vgl für den Bereich des öffentlichen Rechts BVerwGE 132, 324, RdNr 12). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem auf spezialgesetzlich geregelte Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857, S 42 zu Nummer 1). Hierzu wurde in der Folge das Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) erlassen. Auch dort hat sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts entschieden, da im öffentlichen Recht grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen gelten würden und auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden könne (BT-Drucks 15/3653 S 10).

45

Eine Korrektur der allgemeinen sozialrechtlichen vierjährigen Verjährungsfrist ist vorliegend schließlich auch im Hinblick auf die vom LSG gesehenen "hinreichenden Anhaltspunkte für einen Abrechnungsbetrug" nicht geboten. Denn Anhaltspunkte genügen zur Bestimmung der maßgeblichen Verjährungsfrist nicht. Welche Verjährungsfrist maßgeblich ist, bestimmt sich vielmehr nach dem - festgestellten - Sachverhalt zur Zeit der Entstehung des Anspruchs (Ellenberger in Palandt, BGB, 73. Aufl 2014, § 195 RdNr 14). Es widerspräche der mit der Verjährung (auch im öffentlichen Recht) bezweckten Zielsetzung der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens, stattdessen auf hinreichende Anhaltspunkte abzustellen. Im Übrigen hat die Klägerin selbst angegeben, keine derartigen Anhaltspunkte vorweisen zu können.

46

Daraus folgt für den geltend gemachten Klageanspruch: Ein Anspruch auf Auskunft und Herausgabe von Geschäftsunterlagen wäre ebenso wie ein möglicher Erstattungsanspruch mit Zugang der jeweiligen Abrechnungsunterlagen entstanden. Dementsprechend hat die vierjährige Verjährungsfrist der in den Jahren 2001 und 2002 vergüteten Hilfsmittelversorgungen in entsprechender Anwendung des § 45 Abs 1 SGB I am 1.1.2002 bzw 1.1.2003 begonnen und mit Ablauf des Jahres 2005 bzw 2006 geendet. Ansprüche aus 2001 und 2002 sind damit zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 29.12.2007 bereits verjährt gewesen. Dies gilt auch für die Ansprüche, die die Klägerin darüber hinaus in gewillkürter Prozessstandschaft für die BEK und KKH wegen der Versorgung von deren Versicherten im Jahr 2003 geltend macht. Zwar wird in entsprechender Anwendung von § 45 Abs 2 SGB I iVm § 204 Abs 1 Nr 1 BGB die Verjährung durch Klageerhebung gehemmt. Die verjährungshemmende Wirkung tritt im Fall der gewillkürten Prozessstandschaft aber erst in dem Augenblick ein, in dem diese prozessual offengelegt wird oder offensichtlich ist (BGH Urteil vom 7.6.2001 - I ZR 49/99, NJW-RR 2002, 20 mwN). Die Klägerin hat erstmals mit Schriftsatz vom 12.6.2008 (Bl 55 der SG-Gerichtsakte) offengelegt, dass sie mit der Klage nicht nur eigene Ansprüche, sondern darüber hinaus die weiterer Ersatzkrankenkassen, insbesondere der BEK und der KKH, geltend macht. Zum Zeitpunkt der Offenlegung der Prozessstandschaft war damit die vierjährige Verjährungsfrist auch hinsichtlich der von BEK und KKH in 2003 vergüteten Hilfsmittelversorgungen bereits abgelaufen.

47

bb) Soweit der Auskunfts- und Herausgabeanspruch nicht an der Einrede der Verjährung scheitert, ist er jedenfalls verwirkt, da die Klägerin die Abrechnungsprüfung entgegen dem sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergebenden Beschleunigungsgrundsatz erst knapp vier Jahre nach Rechnungslegung und vollständigem Rechnungsausgleich eingeleitet hat.

48

Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl Urteil vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R, SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 24 ff; BSGE 89, 104, 109 f = SozR 3-2500 § 112 Nr 2 S 16 f - "Berliner Fälle" sowie zB SozR 4-2500 § 109 Nr 28 RdNr 12) steht die Korrektur einer bereits bezahlten Krankenhausrechnung durch die Krankenkasse unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben. Danach ist eine Krankenkasse jedenfalls dann mit Einwendungen gegen eine Schlussrechnung ausgeschlossen, wenn sie die Rechnung zeitnah und vorbehaltlos bezahlt hat, ein Prüfverfahren beim MDK ohne nachvollziehbaren Grund dann aber erst Jahre nach Rechnungslegung und kurz vor Ablauf der Verjährung eingeleitet hat. Der Senat hat weiter aus den dauerhaften Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern auf die Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme geschlossen und hieraus die Befugnis zur nachträglichen Rechnungskorrektur durch das Krankenhaus begrenzt. Wegen des "Prinzips der Waffengleichheit" ist der Senat zudem davon ausgegangen, dass dies - also die Begrenzung der Befugnis zur nachträglichen Korrektur der Abrechnung - auch für nachträglich geltend gemachte Ansprüche der Krankenkasse gilt (vgl Urteil des Senats vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R, SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 26). Dieses vom Senat für den Bereich der Krankenhausabrechnung immer wieder betonte Beschleunigungsgebot bestimmt auch das Abrechnungswesen in der Hilfsmittelversorgung (vgl hierzu bereits SozR 4-2500 § 33 Nr 14 RdNr 13).

49

Um die Verwirkung eines Rechts anzunehmen, bedarf es dreier Voraussetzungen (stRspr, zuletzt Urteil des Senats vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R, SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 27 sowie BSG Urteil vom 13.11.2012 - B 1 KR 24/11 R - BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN; vgl auch Grüneberg in Palandt, BGB, 73. Aufl 2014, § 242 RdNr 93 ff mwN):

50

Zeitmoment: Seit der Möglichkeit, das Recht geltend zu machen, muss ein längerer Zeitraum verstrichen sein; maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls. Im vorliegenden Fall hätte die Klägerin die Abrechnungen des Beklagten bereits in den Jahren 2001, 2002 bzw 2003 überprüfen können und müssen, alle dafür erforderlichen Informationen lagen ihr vor. In Anbetracht der vierjährigen Verjährungsfrist und der Pflicht zur Beschleunigung aller Abrechnungsverfahren ist ein Abwarten von knapp vier Jahren (Abrechnungen aus Dezember 2003 bis zur Klageerhebung am 29.12.2007) bzw mehr als vier Jahren (Abrechnungen vor Dezember 2003) deutlich zu lang. Umstandsmoment: Der Verpflichtete hat sich darauf eingestellt, der Berechtigte werde aufgrund des geschaffenen Vertrauenstatbestandes sein Recht nicht mehr geltend machen. Dies ist der Fall, wenn der Berechtigte unter solchen Umständen untätig geblieben ist, die den Eindruck erwecken, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wird. Diese Voraussetzung ist hier ebenfalls erfüllt, weil in der Regel zu erwarten ist, dass Krankenkassen - wie Leistungserbringer - ihre Korrekturmöglichkeiten bis zum Ende des auf die Abrechnung folgenden Kalenderjahres wahrgenommen haben (vgl für den Bereich der Krankenhausabrechnung Urteil des Senats vom 18.7.2013 - B 3 KR 22/12 R, SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 27). Hinweise für einen Ausnahmefall sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus den von der Klägerin ermittelten statistischen Abweichungen des Versorgungsverhaltens des Beklagten, über die dieser schließlich nicht informiert war. Von einem den Vertrauenstatbestand zerstörenden unredlichen Verhalten des Beklagten geht schließlich auch die Klägerin nicht aus. Untätigkeit: Die Klägerin ist knapp bzw mehr als vier Jahre bezüglich der Geltendmachung ihrer Ansprüche gegenüber dem Beklagten untätig geblieben.

51

Damit steht fest, dass der Beklagte zum Zeitpunkt der Klageerhebung Ende 2007 nicht mehr mit einer Überprüfung seiner Abrechnungen aus den Jahren 2001 bis 2003 rechnen musste, so dass dem entsprechenden Auskunfts- und Herausgabeanspruch der Klägerin - auch - die Einwendung der Verwirkung entgegensteht.

52

3. Gegenstand des vorliegenden Revisionsverfahrens ist ausschließlich der Auskunfts- und Herausgabeanspruch, weil SG und LSG zu Recht ausschließlich dazu verhandelt und entschieden haben (BGH Urteil vom 28.11.2001 - VIII ZR 37/01, NJW 2002, 1042; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 56 RdNr 5 und § 157 RdNr 2a aE). Erst nach Rechtskraft der Entscheidung über den Auskunfts- und Herausgabeanspruch sind Verhandlung und Entscheidung über die nächste Stufe zulässig, also über den Leistungsantrag (Greger in Zöller, ZPO, 29. Aufl 2012, § 254 RdNr 11). Zwar ist eine gemeinsame Entscheidung über mehrere in der Stufenklage verbundene Anträge nicht ausgeschlossen. Dies setzt aber voraus, dass schon die Prüfung des Auskunfts- und Herausgabeanspruchs ergibt, dass dem Hauptanspruch die materiell-rechtliche Grundlage fehlt (BGH Urteil vom 28.11.2001 - VIII ZR 37/01, NJW 2002, 1042; Greger, aaO, § 254 RdNr 14). Dies ist vorliegend nicht der Fall, so dass dem Senat eine Entscheidung über die nächste Stufe verwehrt ist. Es liegt an den Beteiligten, die Fortsetzung des Rechtsstreits ggf durch Verhandlung und Entscheidung eines Leistungsantrags beim SG zu beantragen (Greger, aaO, § 254 RdNr 14).

53

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO.

54

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und § 47 Abs 1 GKG, die Korrektur der Streitwertfestsetzung für die 1. und 2. Instanz aus § 63 Abs 3 GKG. Bei Stufenklagen ist nach § 44 GKG für die Wertberechnung nur einer der verbundenen Ansprüche maßgebend, und zwar der höhere. Dies gilt aber nur, wenn in einer Instanz über beide Ansprüche entschieden wird. Ist - wie hier - in allen Instanzen lediglich ein der Informationsgewinnung dienender Auskunftsanspruch oder ein dem gleichen Zweck dienender Herausgabeanspruch Streitgegenstand, ist der Streitwert jeweils nur anhand dieses Anspruchs zu bemessen. Der Senat hat bereits entschieden, dass der Streitwert für eine Auskunfts- und Herausgabeklage am (ggf zu schätzenden) Leistungsanspruch zu orientieren ist, und je nachdem, in welchem Umfang der Kläger auf die Auskunft zur Durchsetzung seines Leistungsanspruchs angewiesen ist, ein Abschlag vorzunehmen ist (BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 31). Der Senat schätzt vorliegend den möglichen Erstattungsanspruch der Klägerin auf der zweiten Stufe der Stufenklage auf rund 50 Euro pro Versorgung, zu der vorliegend Angaben bzw Unterlagen angefordert werden. Hiervon ist ein Abschlag in Höhe von einem Drittel vorzunehmen, da die Bedeutung der begehrten Auskunft bzw Unterlagen für den Erstattungsanspruch als erheblich zu bewerten ist, nachdem die Klägerin geltend macht, ohne die Unterlagen eine abschließende Rechnungsprüfung beim Beklagten nicht vornehmen zu können.

Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück sowie auf Begründung, Übertragung oder Aufhebung eines Rechts an einem Grundstück oder auf Änderung des Inhalts eines solchen Rechts sowie die Ansprüche auf die Gegenleistung verjähren in zehn Jahren.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4. Juni 2014 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 912,41 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

2

Das für die Behandlung Versicherter zugelassene Krankenhaus der klagenden Krankenhausträgerin behandelte die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Corinna K. (im Folgenden: Versicherte) vollstationär vom 5. bis 6.4.2009 wegen einer verhaltenen Fehlgeburt (Hauptdiagnose ICD-10-GM <2009> O02.1 Missed abortion; O09.1 Schwangerschaftsdauer 5 bis 13 vollendete Wochen). Die Klägerin berechnete und erhielt hierfür die Fallpauschale (Diagnosis Related Groups - DRG <2009>) O40Z (Abort mit Dilatation und Kürettage, Aspirationskürettage oder Hysterotomie; kodiert ua: Operationen- und Prozeduren-Schlüssel 5-690.0, Therapeutische Kürettage, Abrasio uteri ohne lokale Medikamentenapplikation, 912,41 Euro, 20.4.2009; Zahlungseingang 4.5.2009). Die Beklagte forderte die Klägerin unter Hinweis auf BSG-Urteile vom 16.5.2012 und 21.3.2013 (BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 29) vergeblich auf, bis zum 8.11.2013 den Grund für den stationären Aufenthalt mitzuteilen, da die Leistung in der Regel ambulant erbracht werden könne (14.10.2013). Die Beklagte rechnete ua mit dem Rückforderungsbetrag von 912,41 Euro gegen Vergütungsansprüche der Klägerin für Krankenhausbehandlungen aus November 2013 auf (Rechnungen Nr 675883, 676021, 676103 und 676104; 10.12.2013). Das SG hat die Beklagte auf die am 18.12.2013 erhobene Klage antragsgemäß verurteilt, 912,41 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Ein Schlichtungsverfahren (§ 17c Abs 4 S 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz) sei nicht erforderlich gewesen. Zwar stufe Abschnitt 1 des AOP-Vertrags 2009 gemäß § 115b SGB V(ambulant durchführbare Operationen … aus Anhang 2 zu Kapitel 31 des EBM) die Prozedur 5-690.0 in die Kategorie 1 ein (Leistungen, die in der Regel ambulant erbracht werden können). Ein ggf entstandener Erstattungsanspruch sei aber bereits vor Aufrechnung verjährt gewesen (Urteil vom 4.6.2014).

3

Die Beklagte rügt mit ihrer Sprungrevision die Verletzung des § 17c Abs 4b S 3 KHG und sinngemäß der Grundsätze der Verjährung sozialrechtlicher Ansprüche. Das obligatorische Schlichtungsverfahren habe nicht stattgefunden. Die Voraussetzungen des unverjährten Erstattungsanspruchs seien mangels Angabe eines Grundes der Krankenhausbehandlung der Versicherten in der Abrechnung erfüllt.

4

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4. Juni 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der beklagten KK ist begründet. Das SG-Urteil ist aufzuheben, denn es verletzt materielles Recht. Die Klage auf Zahlung von 912,41 Euro Krankenhausvergütung nebst Zinsen ist zwar zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (dazu 2.).

8

1. Zu Unrecht beruft sich die Beklagte darauf, die Klage sei mangels vorangegangenen Schlichtungsverfahrens unzulässig. Das Zulässigkeitserfordernis eines vorangegangenen fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs (§ 17c Abs 4b S 3 KHG)greift nicht ein. Danach ist bei Klagen, mit denen nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V eine streitig gebliebene Vergütung gefordert wird, vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach § 17c Abs 4 KHG durchzuführen, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt.

9

a) Maßgeblich ist für die Zulässigkeit der Klage die ab 25.7.2014 geltende Fassung des § 17c KHG(idF durch Art 16a Nr 1 GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz vom 21.7.2014, BGBl I 1133), nicht die zuvor geltende Fassung (Art 5c des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013, BGBl I 2423 mWv 1.8.2013, vgl Art 6 des Gesetzes). Eine spätere Gesetzesänderung kann wegen des aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG abgeleiteten Rückwirkungsverbots nur eine unzulässige Klage zulässig, nicht aber eine zulässige Klage nachträglich unzulässig machen (vgl zB BGH Urteil vom 2.3.2012 - V ZR 169/11 - MDR 2012, 579 RdNr 4 mwN; BGH Urteil vom 10.7.2009 - V ZR 69/08 - NJW-RR 2009, 1238, 1239 RdNr 11). Schon nach dem aktuell geltenden Prozessrecht ist die Klage zulässig.

10

b) Nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts, die auch für die Zulässigkeitserfordernisse einer Klage gelten, sind Änderungen der Rechtslage grundsätzlich ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anzuwenden (vgl hierzu BSGE 115, 165 = SozR 4-2500 § 115b Nr 4, RdNr 14; Buchner, SGb 2014, 119, 121 f, mit zutreffendem Hinweis auf BVerfGE 39, 156, 167 und BVerfGE 65, 76, 98; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, Vor § 143 RdNr 10e). Für eine Abweichung von diesem Grundsatz unter weitgehender Einschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift bieten Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zielsetzung der Regelung des § 17c Abs 4b S 3 KHG keine Anhaltspunkte(vgl auch Buchner, SGb 2014, 119, 121). Nach den Gesetzesmaterialien dient die Regelung der Entlastung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Die Gesetzesbegründung bereits zur Ursprungsfassung (Art 5c Beitragsschuldengesetz vom 15.7.2013, BGBl I 2423) führt aus, bei streitig gebliebenen Vergütungsforderungen nach durchgeführter Krankenhausabrechnungsprüfung werde die Vorschaltung des Schlichtungsverfahrens auf Landesebene bei Forderungen unterhalb einer Bagatellgrenze in Höhe von 2000 Euro obligatorisch. Es sei davon auszugehen, dass im Schlichtungsverfahren ein großer Teil solcher Streitigkeiten außergerichtlich beigelegt werden könne (Beschlussempfehlung und Bericht des 14. Ausschusses für Gesundheit vom 12.6.2013, BT-Drucks 17/13947 S 40).

11

c) Zweck des vorgeschalteten obligatorischen Schlichtungsverfahrens ist es lediglich, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entlasten, nicht aber, die Beteiligten im Streit über Krankenhausvergütung nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V zu einer vom Üblichen abweichenden Klageart zu nötigen. Der erkennende Senat gibt die insoweit abweichende Auffassung des nicht mehr für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser zuständigen 3. Senats des BSG auf (vgl hierzu BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 35 ff, auch für BSGE vorgesehen; dem im Ergebnis zustimmend Felix, SGb 2015, 241, 243).

12

Klagen auf Zahlung von Krankenhausvergütung sind stets mit der echten Leistungsklage geltend zu machen (stRspr, vgl zB BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12 mwN), auch wenn zuvor ein fakultatives (bei Streitigkeiten mit einem Wert von mehr als 2000 Euro) oder obligatorisches Schlichtungsverfahren (bei Streitigkeiten mit einem Wert von bis zu 2000 Euro) stattgefunden hat. Nach § 17c Abs 4 KHG können die Ergebnisse der Prüfungen nach § 275 Abs 1c SGB V durch Anrufung eines für die Landesverbände der KKn und die Ersatzkassen gemeinsamen und einheitlichen Schlichtungsausschusses überprüft werden. Aufgabe des Schlichtungsausschusses ist die "Schlichtung zwischen den Vertragsparteien" (§ 17c Abs 4 S 2 KHG). Der Schlichtungsausschuss prüft und entscheidet auf der Grundlage fallbezogener, nicht versichertenbezogener Daten (§ 17c Abs 4 S 7 KHG). Das Gesetz umreißt ausdrücklich den Klagegegenstand: Es geht um Klagen, mit denen nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V "eine streitig gebliebene Vergütung gefordert" wird(§ 17c Abs 4b S 3 KHG). Für diese gilt, dass vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach Absatz 4 durchzuführen ist, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt (vgl ebenda).

13

Dem entspricht auch das Regelungssystem. Der Gesetzgeber ist in der konkreten Ausgestaltung außergerichtlicher Schlichtungsverfahren frei, soweit er die Grenzen seiner Gestaltungsmacht insbesondere durch das GG beachtet. Er ist nicht etwa auf ein dogmatisch vorgeformtes Regelungsmodell verpflichtet. Von dieser Gestaltungsmacht hat der Gesetzgeber im Rahmen des § 17c KHG in unterschiedlicher Form Gebrauch gemacht. Er unterscheidet selbst zwischen Klagen gegen (1.) Entscheidungen der Schiedsstellen nach § 17c Abs 2 S 3 KHG, § 17c Abs 3 S 7 KHG und § 17c Abs 4a S 5 KHG(dazu aa), (2.) Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene nach § 17c Abs 3 KHG(dazu bb) und (3.) Entscheidungen der Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG(vgl § 17c Abs 4b S 1 KHG; dazu cc). Die Differenzierung rechtfertigt sich aus den unterschiedlichen Regelungsaufgaben:

14

aa) Die erste Fallgruppe der Schiedsstellen betrifft drei Konstellationen von Klagen gegen hoheitliche Entscheidungen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (dazu (a) bis (c)), die gegenüber den Klagebefugten angreifbare Verwaltungsakte sind (vgl ähnlich zur Klage gegen einen Schiedsspruch nach § 114 SGB V BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 13 mwN).

15

(a) So hat die Schiedsstelle nach § 17c Abs 2 S 3 KHG das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs 1c SGB V zu regeln, wenn keine Vereinbarung nach § 17c Abs 2 S 1 KHG zustande kommt. Die Entscheidung ergeht als Festsetzung, die für die KKn, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich ist (§ 17c Abs 2 S 4 KHG). Die Festsetzung wirkt zugleich als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen, um diesen operationabel zu machen. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

16

(b) Die Schiedsstelle nach § 17c Abs 3 S 7 KHG trifft auf Antrag einer Vertragspartei die ausstehenden Entscheidungen, wenn die für die Einrichtung des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene erforderlichen Entscheidungen der hierzu berufenen Vertragsparteien (Spitzenverband Bund der KKn und Deutsche Krankenhausgesellschaft) nicht bis zum 31.12.2013 ganz oder teilweise zustande kommen. Die Entscheidungen der Schiedsstelle nach § 17c Abs 3 S 7 KHG ergehen ebenfalls als Verwaltungsakt. Sie sichern zusammen mit dem Notberufungsrecht der unparteiischen Mitglieder (§ 17c Abs 3 S 8 KHG) die funktionsfähige Einrichtung des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

17

(c) Die Schiedsstelle nach § 17c Abs 4a S 5 KHG trifft die ausstehenden Entscheidungen ebenfalls als Verwaltungsakt, wenn eine Vereinbarung von Spitzenverband Bund der KKn und DKG über die näheren Einzelheiten für die Durchführung und Auswertung der modellhaften Erprobung, insbesondere die Kriterien für die Überprüfung auf Auffälligkeiten und die Auswahl einer hinreichenden Anzahl teilnehmender Krankenhäuser ganz oder teilweise nicht fristgerecht zustande kommt. Die Entscheidung wirkt zugleich als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen. Hiergegen klagebefugt sind die Vertragsparteien.

18

bb) Die zweite Fallgruppe betrifft Klagen gegen Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene. Aufgabe dieses Schlichtungsausschusses ist die verbindliche Klärung von Kodier- und Abrechnungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung (vgl § 17c Abs 3 S 2 KHG). Dies ist notwendiges Teilelement der Ausgestaltung der Normenverträge zur Krankenhausvergütung als lernendes System. Die Entscheidungen des Schlichtungsausschusses sind zu veröffentlichen und für die KKn, den MDK und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich (vgl § 17c Abs 3 S 2 KHG). Die Entscheidungen wirken als Teil des Normenvertrags gegenüber den Normunterworfenen. Sie eröffnen zugleich als Verwaltungsakte den Trägerorganisationen des Schlichtungsausschusses die Möglichkeit, gegen die Entscheidungen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene das Gericht anzurufen.

19

cc) Die dritte Fallgruppe der Klagen gegen Entscheidungen der Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG betrifft demgegenüber kein Zwangsinstrument, um den Abschluss oder die Konkretisierung normenvertraglicher Regelungen sicherzustellen. Die hier geregelten "Entscheidungen" unterwerfen nicht die Beteiligten eines Vergütungsstreits inhaltlichen Bindungen. Die Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG sollen lediglich zwischen den Vertragsparteien schlichten(vgl § 17c Abs 4 S 2 KHG). Das bedeutet, dass sie eine konsensuale Streitbeilegung erreichen sollen. Handlungsform ist der öffentlich-rechtliche Vertrag. Kommt es nicht zu einer unstreitigen Erledigung, sondern schlägt die Schlichtung - notwendigerweise gerichtsverwertbar dokumentiert (vgl zur Erfolglosigkeitsbescheinigung gemäß § 13 Abs 1 S 2 Gütestellen- und Schlichtungsgesetz NRW BVerfG Beschluss vom 14.2.2007 - 1 BvR 1351/01 - BVerfGK 10, 275, 282 = Juris RdNr 41; Buchner, SGb 2014, 119, 124) - fehl, steht einer Klage, mit der eine "streitig gebliebene Vergütung" gefordert wird, nichts mehr im Wege. Dass hierfür - bei der Leistungsklage im Gleichordnungsverhältnis - ein Vorverfahren nicht stattfindet und die Klage keine aufschiebende Wirkung hat (§ 17c Abs 4b S 2 KHG), entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 30 RdNr 11 mwN), hätte also im Gesetz keiner besonderen Erwähnung bedurft, ohne dass dies andererseits schadet.

20

Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Aufgabe des Schlichtungsausschusses bis zu seiner Bildung übergangsweise von der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG wahrzunehmen ist, wenn bis zum 31.8.2014 kein Schlichtungsausschuss anrufbar ist, und dass die Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG für diese Zeit einen vorläufigen Schlichtungsausschuss einrichten kann(§ 17c Abs 4 S 10 und S 11 KHG idF durch Art 16a Nr 1 GKV-FQWG mWv 25.7.2014). Die im Gesetz vorgesehene vorübergehende Ersetzung des eigentlich berufenen Schlichtungsausschusses durch eine Schiedsstelle ändert nichts an der Handlungsform der Schlichtung. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass auch der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG die Handlungsform des öffentlich-rechtlichen Vertrages zur Verfügung steht, wenn sie vorübergehend - bis zur Etablierung des eigentlich berufenen Schlichtungsausschusses - zur Schlichtung eines Streits über Krankenhausvergütung nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V tätig wird.

21

d) Der erkennende Senat teilt nicht die Rechtsauffassung des 3. BSG-Senats (vgl BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 32 ff, auch für BSGE vorgesehen), dass zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes eine förmliche Bekanntgabe erfolgen müsse, welches Gremium ab wann tatsächlich in der Lage sei, die Aufgaben des Schlichtungsausschusses zu bewältigen, und dass das Zulässigkeitserfordernis des obligatorischen Schlichtungsversuchs (§ 17c Abs 4b S 3 KHG)erst eingreife, wenn die Schiedsstelle oder der Schlichtungsausschuss den jeweiligen Landeskrankenhausgesellschaften und den Verbänden der KKn förmlich angezeigt hätten, dass sie "funktionsfähig errichtet" seien (Schlichtungsausschüsse) bzw die Aufgaben der Schlichtung tatsächlich übernehmen könnten (Schiedsstellen). Diese Rechtsauffassung findet in Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Regelungszweck keine Stütze. Sie überschreitet die Grenzen verfassungskonformer Auslegung.

22

Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung ergeben sich grundsätzlich aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden (vgl BVerfGE 119, 247, 274). Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung vereinbare Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten (vgl BVerfGE 88, 145, 166; BVerfGE 119, 247, 274). Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet allerdings dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch träte (vgl BVerfGE 95, 64, 93; BVerfGE 99, 341, 358; BVerfGE 101, 312, 329 mwN; stRspr). Anderenfalls könnten die Gerichte der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen oder diese unterlaufen (vgl BVerfGE 8, 71, 78 f; BVerfGE 112, 164, 183 = SozR 4-7410 § 32 Nr 1 RdNr 32; siehe zum Ganzen BVerfG Beschluss vom 16.12.2014 - 1 BvR 2142/11 - DVBl 2015, 429, 432 = DÖV 2015, 430, 434 = Juris RdNr 86 mwN).

23

Die Regelungsintention des Gesetzgebers des Art 16a GKV-FQWG ist nach allen Auslegungsmethoden klar: Die Gesetzesmaterialien weisen in Einklang mit Wortlaut und Regelungssystem darauf hin, dass die Selbstverwaltungspartner bis zur Gesetzesberatung auf Landesebene noch keinen arbeitsfähigen Schlichtungsausschuss eingerichtet hatten. Um eine flächendeckende Einrichtung der Schlichtungsausschüsse zu gewährleisten, sollte durch die vorgesehenen Regelungen eine Konfliktlösung eingeführt werden. Durch den neuen Satz 9 des § 17c Abs 4 KHG wurde vorgegeben, dass im Falle einer nicht erfolgreichen Einigung der Vertragsparteien auf Landesebene auf Einzelheiten zum Verfahren und zur Finanzierung des Schlichtungsausschusses auf Landesebene die Landesschiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG auf Antrag einer Vertragspartei entscheidet. Wenn bis zum 31.8.2014 kein arbeitsfähiger Schlichtungsausschuss auf Landesebene besteht, ist nach der neuen Regelung des § 17c Abs 4 S 10 KHG die Aufgabe des Schlichtungsausschusses bis zur Bildung des Schlichtungsausschusses übergangsweise von der Schiedsstelle nach § 18a Abs 1 KHG wahrzunehmen. Allerdings kann nach der neuen Regelung des § 17c Abs 4 S 11 KHG die Landesschiedsstelle für die übergangsweise Wahrnehmung der Aufgabe des Schlichtungsausschusses einen vorläufigen Schlichtungsausschuss einrichten. Auch der vorläufige Schlichtungsausschuss muss paritätisch mit Vertretern der KKn und Krankenhäuser und einem unparteiischen Vorsitz besetzt sein (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit <14. Ausschuss> zum Entwurf eines GKV-FQWG, BT-Drucks 18/1657 S 71 f zu Art 16a Nr 1 Buchst c).

24

Da sich die Rechtspraxis im Vertrauen auf die Entscheidungsgründe des Urteils des 3. Senats des BSG auf die Notwendigkeit der dort geforderten Anzeige verlassen und das Gesetz mangels Abgabe solcher Anzeigen insoweit nicht angewendet hat (vgl Felix, SGb 2015, 241, 243, 245 f), muss es dem erkennenden Senat möglich sein, unter Achtung des verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutzes das vom 3. BSG-Senat konstruierte Anzeigeerfordernis zu beseitigen. Dementsprechend geht der erkennende Senat davon aus, dass die vom GKV-FQWG geforderte obligatorische Vorschaltung eines fehlgeschlagenen Schlichtungsverfahrens jedenfalls ab 1.9.2015 als Zulässigkeitsvoraussetzung für neu eingehende Klagen auf Krankenhausvergütung unterhalb einer Bagatellgrenze in Höhe von 2000 Euro auch dann wirkt, wenn die Schlichtungsausschüsse nach § 17c Abs 4 KHG keine Anzeige ihrer Arbeitsfähigkeit im Sinne der Entscheidung des 3. Senats des BSG abgegeben haben.

25

e) Diese vom Gesetz gewählte Ausgestaltung des Schlichtungsverfahrens als Zulässigkeitsvoraussetzung der allgemeinen Leistungsklage in der Auslegung durch den erkennenden Senat hält sich im Rahmen der Vorgaben des GG. Sowohl im Gewährleistungsbereich des Art 19 Abs 4 GG als auch des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs, der seine Grundlage in Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip hat (vgl BVerfGE 88, 118, 123; BVerfGE 97, 169, 185; BVerfGE 107, 395, 404, 407 = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1 RdNr 13, 21 ff), verfügt der Gesetzgeber hinsichtlich der Art der Gewährung des durch diesen Anspruch gesicherten Rechtsschutzes über einen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Er erstreckt sich auf die Beurteilung der Vor- und Nachteile für die jeweils betroffenen Belange sowie auf die Abwägung mit Blick auf die Folgen für die verschiedenen rechtlich geschützten Interessen (vgl zB BVerfGE 88, 118, 124 f; BVerfGE 93, 99, 108). Die Grenzen dieses Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums sind nicht überschritten.

26

Das GG gewährleistet, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten eröffnet ist, und garantiert darüber hinaus die Effektivität des Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf der normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. Deren Regelungen können für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken. Der Gesetzgeber ist nicht gehalten, nur kontradiktorische Verfahren vorzusehen. Er kann auch Anreize für eine einverständliche Streitbewältigung schaffen, etwa um die Konfliktlösung zu beschleunigen, den Rechtsfrieden zu fördern oder die staatlichen Gerichte zu entlasten. Ergänzend muss allerdings der Weg zu einer Streitentscheidung durch die staatlichen Gerichte eröffnet bleiben (vgl zum Ganzen BVerfG Beschluss vom 14.2.2007 - 1 BvR 1351/01 - BVerfGK 10, 275, 278 = Juris RdNr 26 mwN). Die geprüften Regelungen des § 17c KHG halten sich in diesem Rahmen.

27

f) Zutreffend macht die Beklagte geltend, dass es für das Zulässigkeitserfordernis des fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs nicht darauf ankommt, ob das Krankenhaus mit der Klage unmittelbar eine "streitig gebliebene Vergütung" nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung iS des § 17c Abs 4b S 3 KHG fordert, oder ob Streitgegenstand - wie vorliegend - der Anspruch auf eine an sich unstreitige Vergütung ist, gegen die die KK mit einem Erstattungsanspruch wegen einer "streitig gebliebenen Vergütung" für eine andere Behandlung aufgerechnet hat. Nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Regelungszweck zielt das Gesetz darauf ab, alle nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V streitig gebliebenen Vergütungsforderungen im Wert von maximal 2000 Euro vor Eröffnung des Rechtsweges einem Schlichtungsverfahren zu unterwerfen.

28

g) Zu Unrecht meint die Beklagte indes, für das Zulässigkeitserfordernis des fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchs komme es darauf an, ob eine Abrechnungsprüfung durch den MDK nach § 275 Abs 1c SGB V durchzuführen gewesen sei. Dies ist zu verneinen. Es kommt nicht darauf an, ob eine Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V durchzuführen war, sondern darauf, dass eine solche Prüfung stattgefunden hat. Der erkennende Senat gibt die insoweit ggf abweichende, mit der Beklagten übereinstimmende Auffassung des nicht mehr für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser zuständigen 3. Senats des BSG auf (vgl hierzu BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 16, auch für BSGE vorgesehen).

29

Lediglich bei Klagen, mit denen "nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V" eine streitig gebliebene Vergütung gefordert wird, ist vor der Klageerhebung das Schlichtungsverfahren nach § 17c Abs 4 KHG durchzuführen, wenn der Wert der Forderung 2000 Euro nicht übersteigt. Das zeigt schon der dargelegte klare Wortlaut der Regelung des § 17c Abs 4b S 3 KHG. Das Regelungssystem spricht ebenfalls hierfür. Nach § 275 Abs 1c SGB V ist bei Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V eine Prüfung nach § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V zeitnah durchzuführen (S 1). Die Prüfung nach Satz 1 ist spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der KK einzuleiten und durch den MDK dem Krankenhaus anzuzeigen (S 2). Falls die Prüfung nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrags führt, hat die KK dem Krankenhaus eine Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro zu entrichten (S 3). Der Spitzenverband Bund der KKn und die DKG regeln das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs 1c SGB V; in der Vereinbarung sind abweichende Regelungen zu § 275 Abs 1c S 2 SGB V möglich(§ 17c Abs 2 S 1 KHG). Das Zulässigkeitserfordernis für eine allgemeine Leistungsklage "nach Durchführung einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Absatz 1c SGB V" knüpft an diese Gesamtregelung an. Es fordert, dass eine Prüfung von "Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V" unter Anzeige gegenüber dem Krankenhaus stattgefunden hat. Eine bloß interne Einschaltung des MDK durch die KK ohne Einbeziehung des Krankenhauses genügt hierfür nicht (aA Buchner, SGb 2014, 119). Die Auslegung widerspricht weder der Entstehungsgeschichte noch dem aufgezeigten Regelungszweck.

30

Hat tatsächlich eine Prüfung stattgefunden, die nicht von § 275 Abs 1c SGB V erfasst ist, oder ist es überhaupt nicht zu einer MDK-Prüfung gekommen, greift das Zulässigkeitserfordernis nicht ein. So liegt es etwa, wenn ein vorangegangenes Gutachten des MDK nicht auf einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V beruht, weil nicht die Prüfung der Abrechnung von Krankenhausbehandlungen nach § 39 SGB V betroffen ist, sondern zB Krankenhausaufenthalte bei Schwangerschaft und Mutterschaft(so der Fall in BSG Urteil vom 8.10.2014 - B 3 KR 7/14 R - SozR 4-5560 § 17c Nr 2 RdNr 17, auch für BSGE vorgesehen). Vorliegend fehlt es gänzlich an einer Abrechnungsprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V unter Einschaltung des MDK. Die Beklagte hat nicht selbst oder durch den MDK die Klägerin von einer Prüfung nach § 275 Abs 1c SGB V informiert. Sie hat auch nicht den MDK für eine solche Prüfung eingeschaltet. Beide Sachverhalte schließen schon jeweils für sich das Eingreifen der Zulässigkeitsvoraussetzung des erfolglosen Schlichtungsverfahrens aus.

31

2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung weiterer Vergütung von 912,41 Euro nebst Zinsen. Der ursprünglich entstandene Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Vergütung von Krankenhausbehandlungsleistungen für andere Versicherte (dazu a) erlosch dadurch in dieser Höhe, dass die Beklagte wirksam mit ihrem Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten aufrechnete (dazu b). Einwendungen und Einreden gegen den Erstattungsanspruch greifen nicht durch (dazu c).

32

a) Zu Recht ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass der Klägerin aufgrund stationärer Behandlungen anderer Versicherter der Beklagten zunächst ein Anspruch auf die abgerechnete Vergütung in Höhe von weiteren 912,41 Euro zustand; eine nähere Prüfung des erkennenden Senats erübrigt sich insoweit (vgl zur Zulässigkeit dieses Vorgehens zB BSG SozR 4-2500 § 129 Nr 7 RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 130 Nr 2 RdNr 15; BSG SozR 4-5562 § 9 Nr 4 RdNr 8).

33

b) Der anderweitige Vergütungsanspruch für Krankenhausbehandlung erlosch dadurch, dass die Beklagte wirksam mit ihrem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten analog § 387 BGB die Aufrechnung erklärte(zur entsprechenden Anwendung auf überzahlte Krankenhausvergütung vgl zB BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 9 ff mwN, stRspr). Der Vergütungsanspruch der Klägerin und der von der Beklagten aufgerechnete öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch waren gegenseitig und gleichartig (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 16), der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch war fällig und der Vergütungsanspruch der Klägerin erfüllbar. Die Voraussetzungen des Gegenanspruchs aus öffentlich-rechtlicher Erstattung in Höhe von 912,41 Euro waren erfüllt. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch setzt ua voraus, dass der Berechtigte im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht hat (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 15, stRspr). So liegt es hier. Die Beklagte zahlte der Klägerin 912,41 Euro ohne Rechtsgrund. Die Klägerin hatte keinen Vergütungsanspruch für die Behandlung der Versicherten vom 5. bis 6.4.2009.

34

Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung und damit korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist(stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 9).

35

Die Krankenhausbehandlung der Versicherten war nicht erforderlich. Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit ist ein Krankheitszustand, dessen Behandlung den Einsatz der besonderen Mittel eines Krankenhauses erforderlich macht (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 18 ff; BSGE 92, 300 = SozR 4-2500 § 39 Nr 2, RdNr 16; BSGE 94, 161 = SozR 4-2500 § 39 Nr 4, RdNr 14). Ob einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, richtet sich allein nach den medizinischen Erfordernissen (vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 15; BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 23). Ermöglicht es der Gesundheitszustand des Patienten, das Behandlungsziel durch andere Maßnahmen, insbesondere durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege, zu erreichen, so besteht kein Anspruch auf stationäre Behandlung und damit auch kein Vergütungsanspruch des Krankenhauses.

36

Das Krankenhaus muss in Fällen, in denen regelhaft ambulante Behandlung ausreichend ist, Angaben zu Begleiterkrankungen oder zu sonstigen Gründen machen, die Anlass für die stationäre Versorgung der Versicherten gaben (vgl BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 34), um die Anspruchsvoraussetzung der "Erforderlichkeit" der Krankenhausbehandlung zu belegen. Ohne solche Angaben darüber, warum ausnahmsweise eine stationäre Behandlung erforderlich ist, fehlen Informationen über den "Grund der Aufnahme" und damit eine der zentralen Angaben, die eine KK für die ordnungsgemäße Abrechnungsprüfung benötigt (vgl § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V und hierzu BSG Urteil vom 14.10.2014 - B 1 KR 27/13 R - Juris RdNr 21, für BSGE und SozR 4-2500 § 109 Nr 40 vorgesehen). Verweigert das Krankenhaus diese Angaben trotz eines Hinweises auf ihre Erforderlichkeit, darf das Gericht davon ausgehen, dass die Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt ist.

37

Versäumen es Beteiligte, insbesondere tatsächliche Umstände aus ihrer eigenen Sphäre anzugeben, kann für das Gericht der Anlass entfallen, diesen Fragen weiter nachzugehen, weil sich die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen dann nicht aufdrängt (vgl BFHE 113, 540, 545). Weigert sich ein Beteiligter, der aus einem bestimmten Sachverhalt ihm günstige Rechtsfolgen herleitet, trotz Aufforderung, dem Gericht nähere Angaben zu machen, obwohl er es könnte und ihm dies nicht unzumutbar ist, verletzt das Gericht seine Amtsermittlungspflicht nicht, wenn es keine weiteren Ermittlungen mehr anstellt (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 25 mwN; BVerwG NJW 1977, 163). Je nach den Einzelumständen muss das Gericht in einem solchen Fall nur dann versuchen, erforderliche Ermittlungen selbst anzustellen, wenn sie nicht unverhältnismäßig sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 5 RdNr 15). In Fällen der mangelnden Mitwirkung ist der Beteiligte allerdings über die Folgen der Nichtbeachtung einer gerichtlichen Aufforderung zur Mitwirkung zu belehren, soweit ihm dies nicht bereits konkret geläufig ist (vgl BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 25 mwN).

38

Ist einem Krankenhaus aufgrund Hinweises auf die gesetzliche Grundlage und die einschlägige BSG-Rechtsprechung konkret geläufig, dass sein Prozesserfolg von seiner Bereitschaft zur Mitwirkung im dargelegten Sinne abhängen kann, hält es aber die Mitwirkung aus Rechtsgründen dennoch für nicht geboten und verweigert es sie, bedarf es in der Revisionsinstanz schon nach allgemeinen Grundsätzen keiner Zurückverweisung zwecks ergänzender Ermittlungen (vgl entsprechend Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2014, § 170 SGG Anm 11e aa). Das gilt erst recht ebenso für die Sprungrevision, die nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden kann (vgl § 161 Abs 4 SGG). Zwar bleiben Verstöße gegen das Prozessrecht, die sich nur als prozessuale Konsequenz aus der fehlerhaften Anwendung des materiellen Rechts ergeben, auch mit der Sprungrevision rügbar (vgl BSG SozR 4-4200 § 21 Nr 15 RdNr 11 mwN; BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 15 mwN). Dies setzt aber ebenfalls das Angebot der gebotenen Mitwirkung - hier: der Klägerin - voraus, an dem es vorliegend gerade fehlt. Es war der professionell in Abrechnungsfragen der Krankenhausvergütung kundigen Klägerin jedenfalls aufgrund der Hinweise der Beklagten auf die einschlägige BSG-Rechtsprechung unter Einbeziehung der Regelung des § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V konkret geläufig, dass es der von der Beklagten geforderten Angabe über den "Grund der Aufnahme" der Versicherten bedurfte, um von der Erforderlichkeit von Krankenhausbehandlung bei der Versicherten ausgehen zu können. Lassen weder die übermittelte Hauptdiagnose noch die OPS-Nummer den naheliegenden Schluss zu, dass die Behandlung stationär erfolgen musste, hat das Krankenhaus von sich aus auch zur Begründung der Fälligkeit der Forderung gegenüber der KK die erforderlichen ergänzenden Angaben zu machen (vgl BSGE 114, 209 = SozR 4-2500 § 115a Nr 2, RdNr 26-27; BSG SozR 4-2500 § 301 Nr 1 RdNr 31; BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 32). So verhält es sich hier.

39

Abschnitt 1 des AOP-Vertrags 2009 gemäß § 115b SGB V(ambulant durchführbare Operationen … aus Anhang 2 zu Kapitel 31 des EBM) stuft die Prozedur 5-690.0 in die Kategorie 1 ein. Diese umfasst Leistungen, die in der Regel ambulant erbracht werden können. Die Klägerin legte weder in der Abrechnung noch anderweitig dar, dass ausnahmsweise dennoch ein Grund bestand, die Versicherte stationär zu behandeln. Insoweit war die Klägerin gehalten, um den Eindruck einer sachlich-rechnerischen Unrichtigkeit zu vermeiden, der Beklagten einen die stationäre Behandlung rechtfertigenden "Grund der Aufnahme" mitzuteilen. Daran fehlt es.

40

c) Einwendungen und Einreden gegen den Erstattungsanspruch greifen nicht durch. Die Beklagte leistete weder in Kenntnis ihrer Nichtschuld (dazu aa) noch erfüllte sie eine lediglich betagte Verbindlichkeit (dazu bb). Ihre Forderung war weder verjährt (dazu cc) noch verwirkt (dazu dd).

41

aa) Die Erstattung ohne Rechtsgrund gezahlter Krankenhausvergütung ist nicht in entsprechender Anwendung des § 814 BGB ausgeschlossen. Danach kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete ua nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war. Zahlt eine KK vorbehaltlos auf eine Krankenhausrechnung, kann sie deshalb mit der Rückforderung - und damit auch mit dem späteren Bestreiten ihrer Zahlungspflicht - ganz ausgeschlossen sein, wenn sie (positiv) gewusst hat, dass sie zur Leistung nicht verpflichtet war (vgl BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 30; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 47; zustimmend Wahl in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 109 RdNr 170). Daran fehlte es indes. Es liegt nach den Feststellungen des SG nichts dafür vor, dass die Beklagte die Krankenhausvergütung in positiver Rechtskenntnis ihrer Nichtschuld zahlte.

42

bb) Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin auch auf den Rechtsgedanken der Regelung des § 813 Abs 2 BGB(idF der Bekanntmachung vom 2.1.2002, BGBl I 42). Nach § 813 BGB kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete auch dann zurückgefordert werden, wenn dem Anspruch eine Einrede entgegenstand, durch welche die Geltendmachung des Anspruchs dauernd ausgeschlossen wurde. Die Vorschrift des § 214 Abs 2 BGB bleibt unberührt(Abs 1). Wird eine betagte Verbindlichkeit vorzeitig erfüllt, so ist die Rückforderung ausgeschlossen; die Erstattung von Zwischenzinsen kann nicht verlangt werden (Abs 2).

43

Es bedarf insoweit keiner Vertiefung, inwieweit diese Regelung auf den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch für ohne Rechtsgrund geleistete Krankenhausvergütung für die Behandlung Versicherter überhaupt anwendbar ist, oder ob dem spezifische Wertungen des SGB V entgegenstehen. Der Rechtsgedanke der Bestimmung des § 813 Abs 2 BGB greift schon nach allgemeinen Grundsätzen vorliegend nicht ein. Die Regelung soll nämlich bloß bei Bezahlung einer bereits bestehenden, aber noch nicht fälligen Schuld ein sinnloses Hin- und Herbewegen der an sich geschuldeten Leistung vermeiden. Demgegenüber verbleibt einem Schuldner, der trotz fehlender Fälligkeit bereits geleistet hat, unverändert ein Bereicherungsanspruch, wenn die vermeintlich erfüllte Verbindlichkeit - unabhängig von ihrer mangelnden Fälligkeit - materiell-rechtlich nicht bestand (vgl BGH Urteil vom 6.6.2012 - VIII ZR 198/11 - NJW 2012, 2659 RdNr 25 mwN). So lag es hier, wie oben dargelegt.

44

cc) Die Klägerin kann dem Anspruch der Beklagten auch nicht die Verjährung der Erstattungsforderung entgegenhalten. Der Anspruch einer KK gegen einen Krankenhausträger auf Erstattung einer zu Unrecht gezahlten Vergütung unterliegt einer vierjährigen Verjährung (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; zum - nach einhelliger Rspr aller betroffener Senate des BSG - zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsprinzip der Verjährung im Leistungserbringungsrecht vgl ausführlich Urteil des erkennenden Senats vom 21.4.2015 - B 1 KR 11/15 R - für SozR vorgesehen; entsprechend generell für das öffentliche Recht BVerwGE 132, 324 RdNr 12). Die Überlegungen des SG geben zu einer abweichenden Sicht keinen Anlass. Die Verjährung der streitigen Erstattungsforderung begann nach Ablauf des Jahres 2009. Sie beginnt nämlich entsprechend § 45 Abs 1 SGB I nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch im gleichgeordneten Leistungserbringungsverhältnis entsteht bereits im Augenblick der Überzahlung (vgl zB BSGE 69, 158, 163 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12 mwN; Guckelberger, Die Verjährung im Öffentlichen Recht, 2004, S 374 f), hier also mit der vollständigen Begleichung der Schlussrechnung am 4.5.2009. Die Klägerin hat am 18.12.2013 vor Eintritt der Verjährung Klage erhoben (§ 90 SGG)und hierdurch den Eintritt der Verjährung der Forderung gehemmt (§ 45 Abs 2 SGB I analog iVm § 204 Abs 1 Nr 1 BGB).

45

dd) Der Anspruch ist ferner nicht verwirkt. Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Es findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - Juris RdNr 18), etwa wenn eine Nachforderung eines Krankenhauses nach vorbehaltlos erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der KK erfolgt (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27). Ein solcher Fall liegt indes nicht vor.

46

Die Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl zB BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - Juris RdNr 19 mwN; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke , Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147 ff, 167 f).

47

An solchen die Verwirkung auslösenden Umständen fehlt es. Weder nach den Feststellungen des SG noch nach dem Vorbringen der Beteiligten gab es eine Vereinbarung zwischen den Beteiligten, die die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs ausschloss. Die Klägerin konnte auch nicht darauf vertrauen, dass die Beklagte innerhalb der Grenzen der Verjährung rechtsgrundlos geleistete Krankenhausvergütung nicht zurückfordern würde, etwa wenn ihr auffiel, dass die Klägerin Vergütung gefordert hatte, ohne die nach § 301 Abs 1 Nr 3 SGB V erforderlichen Angaben zu machen.

48

Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar. Der Umstand, dass die Beklagte bis kurz vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist mit der Geltendmachung ihrer Forderung gewartet hat, genügt als Vertrauenstatbestand nicht. Hierdurch unterscheidet sich die Verwirkung von der Verjährung. Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (stRspr, vgl nur BSG Urteil vom 21.4.2015 - B 1 KR 7/15 R - Juris RdNr 19 mwN, für SozR vorgesehen). Dafür gibt der vorliegende Sachverhalt jedoch keine Anhaltspunkte. Soweit die Rechtsprechung des 3. Senats des BSG in obiter dicta eine abweichende Auffassung angedeutet hat (vgl BSG SozR 4-2500 § 276 Nr 2 RdNr 26 ff; BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 11 RdNr 21), hat der erkennende 1. Senat des BSG diese Rechtsprechung aus Gründen der Klarstellung aufgegeben (vgl BSG Urteil vom 21.4.2015 - B 1 KR 7/15 R - Juris RdNr 20, für SozR vorgesehen). Der 3. Senat des BSG ist für das Leistungserbringungsrecht der Krankenhäuser nicht mehr zuständig.

49

3. Die Kostentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 770,02 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über Krankenhausvergütung.

2

Die Klägerin ist Trägerin eines Krankenhauses in Thüringen, das zur Behandlung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Versicherter zugelassen ist. Zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung (§ 140d SGB V aF) kürzte die beklagte Krankenkasse (KK) von der Klägerin im Jahr 2005 abgerechnete Krankenhausvergütung für Behandlungen ihrer Versicherten um insgesamt 770,02 Euro. Die Kürzungen erfolgten für zwei von der Beklagten zur Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung gGmbH gemeldete Verträge, den Vertrag über neurochirurgische Leistungen Marienstift A ab 1.10.2005 und den Vertrag Kinderchirurgie N Klinik ab 1.4.2005. Das SG hat die Beklagte auf die am 29.12.2009 erhobene Klage antragsgemäß verurteilt, der Klägerin 770,02 Euro nebst Zinsen zu zahlen, da die Verträge keine integrierte Versorgung im Sinne des Gesetzes zum Gegenstand gehabt hätten (Urteil vom 10.5.2013). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen: Der Vergütungsanspruch der Klägerin sei nach dem insoweit durch Schiedsstellenentscheidung geregelten Vertrag nach § 112 Abs 2 Nr 1 SGB V über die Allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung zwischen der Landeskrankenhausgesellschaft Thüringen eV und den Thüringischen Landesverbänden der KKn (KHBV) verjährt(§ 13 Abs 5 KHBV). Danach verjähren die Forderungen der Krankenhäuser sowie die Rückforderungsansprüche der KKn nach § 195 BGB in drei Jahren. Die Beklagte habe sich hierauf berufen (Urteil vom 13.6.2014).

3

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 112 Abs 2 Nr 1 SGB V. Die Verjährungsregelung des KHBV sei wegen Verstoßes gegen die gesetzliche Grundlage nichtig, das SG-Urteil zutreffend.

4

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2013 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juni 2014 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

5

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der klagenden Krankenhausträgerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, weil es auf der Verletzung materiellen Rechts beruht und sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist. Der erkennende Senat kann wegen fehlender Tatsachenfeststellungen des LSG zum Bestehen des Vergütungsanspruchs der Klägerin, insbesondere zur Rechtmäßigkeit des Einbehalts zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung, nicht in der Sache umfassend über den Erfolg der Berufung gegen das SG-Urteil entscheiden.

8

Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den zulässigerweise mit der (echten) Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG; stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9 mwN; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 8, alle mwN) geltend gemachten Anspruch auf Zahlung von 770,02 Euro nebst Zinsen zu entscheiden. Zwar ziehen die Beteiligten nicht in Zweifel, dass die Voraussetzungen der Vergütung für die stationäre Behandlung Versicherter der beklagten KK durch die Klägerin entsprechend ihrer Abrechnung im Jahr 2005 in dieser Höhe erfüllt waren. Es steht aber nicht fest, dass die Beklagte hiervon rechtmäßig 770,02 Euro zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung einbehielt. Das LSG hat nämlich - ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt folgerichtig - keine Feststellungen zur Erfüllung der Voraussetzungen des Einbehalts getroffen (dazu 1.). Entgegen der Auffassung des LSG ist die streitige Restforderung der Klägerin nicht verjährt. Die Klägerin machte sie vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist klageweise geltend. Die vertragliche Abbedingung der vierjährigen Verjährungsfrist war nicht zulässig, sondern unwirksam. Die Restforderung ist entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht verwirkt (dazu 2.).

9

1. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung und damit korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iS von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist(stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 9). Diese Voraussetzungen waren unstreitig auch in Höhe der geltend gemachten Restforderung der Klägerin erfüllt.

10

Es steht nicht fest, dass diese Forderung durch rechtmäßigen Einbehalt zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung in Höhe von 770,02 Euro erlosch. KKn behalten von Krankenhausrechnungen Mittel zur Anschubfinanzierung der integrierten Versorgung ein, indem sie mit einem Gegenrecht aufrechnen. Allerdings berechtigen nur geschlossene Verträge, die bei überschlägiger sozialgerichtlicher Prüfung die Grundvoraussetzungen eines Vertrags über integrierte Versorgung erfüllen, KKn zum Mitteleinbehalt zwecks Anschubfinanzierung (vgl BSGE 107, 78 = SozR 4-2500 § 140d Nr 2; dem folgend auch BSG Urteil vom 25.11.2010 - B 3 KR 6/10 R - USK 2010-166). Es fehlt hierzu an Feststellungen des LSG.

11

2. Das LSG-Urteil erweist sich auch nicht wegen des Eintritts der Verjährung oder Verwirkung der Forderung als richtig. Die Klägerin machte die Forderung vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist am 29.12.2009 klageweise geltend (dazu a). Die vertragliche Verkürzung der vierjährigen Verjährungsfrist war nicht zulässig, sondern unwirksam (dazu b). Auch der Einwand der Verwirkung greift nicht ein (dazu c).

12

a) Die Verjährung der streitigen Vergütungsforderung für 2005 begann nach Ablauf des Jahres 2005. Sie beginnt nämlich entsprechend § 45 Abs 1 SGB I nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung entsteht unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wie dargelegt (vgl oben, II. 1.). Die Forderung verjährte erst in vier Jahren nach Verjährungsbeginn. Die Klägerin hat vor Eintritt der Verjährung im Dezember 2009 Klage erhoben und damit den Eintritt der Verjährung der Forderung gehemmt (§ 45 Abs 2 SGB I analog iVm § 204 Abs 1 Nr 1 BGB).

13

Die Rechtsprechung des BSG geht einhellig davon aus, dass für Vergütungsforderungen der Leistungserbringer die kurze, sozialrechtliche vierjährige Verjährungsfrist gilt (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1; zustimmend BSGE 95, 141 RdNr 26 = SozR 4-2500 § 83 Nr 2 RdNr 34; BSG SozR 4-1200 § 45 Nr 4; BSG SozR 4-2500 § 302 Nr 1 RdNr 43; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 47/12 R - SGb 2014, 497, RdNr 9; zur entsprechenden Anwendung von Verjährungsvorschriften auf sozialrechtliche Ausschlussvorschriften vgl BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 15). Dies ist vereinbar mit dem Wortlaut des § 69 SGB V(hier anzuwenden idF durch Art 1 Nr 45 GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003, BGBl I 2190 mWv 1.1.2004). Es entspricht der Entwicklungsgeschichte, dem Regelungssystem und dem Regelungszweck.

14

Nach dem Wortlaut des § 69 S 2 SGB V werden die Rechtsbeziehungen der KKn und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 SGB V und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Die Regelung der Verjährung ergibt sich schon aus dem 4. Kapitel des SGB V selbst und den hierfür geltenden allgemeinen Rechtsprinzipien (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 10 ff; BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 8 S 30). Denn das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient. Die ergänzende Regelung des § 69 S 3 SGB V greift insoweit nicht ein. Danach gelten ua für die Rechtsbeziehungen nach § 69 S 2 SGB V lediglich "im Übrigen" die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V "und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach" dem 4. Kapitel des SGB V vereinbar sind.

15

Der Gesetzgeber hat die zitierte ständige Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen, die gesetzlichen Regelungen zu ändern. Er wollte eine Änderung der verjährungsrechtlichen Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht herbeiführen (vgl auch BSGE 115, 40 = SozR 4-2500 § 302 Nr 1, RdNr 44; entsprechend generell für das öffentliche Recht BVerwGE 132, 324 RdNr 11 f). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem der bürgerlich-rechtlichen Verjährung auf spezialgesetzlich geregelte Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857 S 42 zu Nr 1). Hierzu wurde in der Folge das Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) erlassen. Auch dort entschied sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts, da im öffentlichen Recht grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen gelten und auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden könne (BT-Drucks 15/3653 S 10).

16

Der Gesetzgeber wollte mit der Regelung des § 69 SGB V das Leistungserbringungsrecht des 4. Kapitels im SGB V von der Anwendung kartellrechtlicher Vorschriften ausnehmen, nicht aber die Verjährungsfristen ändern. Zivilgerichte hatten in der Nachfragetätigkeit der KKn und ihrer Verbände ein Auftreten als Unternehmen im Sinne des deutschen und des europäischen Wettbewerbs- und Kartellrechts gesehen. Deswegen hatten sie Festbetragsregelungen der Spitzenverbände der KKn nach den §§ 91 f, 35 f SGB V teilweise für wettbewerbswidrig erklärt. Der Gesetzgeber wirkte lediglich dieser Tendenz mit einem Bündel von neuen Vorschriften entgegen (vgl näher BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 12).

17

b) Die Regelung des § 13 Abs 5 KHBV, die vertraglich die vierjährige Verjährungsfrist abbedingen soll, ist nicht zulässig, sondern unwirksam. Der ihr zugrunde liegende Schiedsspruch ist materiell rechtswidrig. Der Schiedsspruch ist anhand der für die Krankenhausbehandlung in der GKV maßgeblichen Rechtsmaßstäbe zu überprüfen (dazu aa). Danach widerspricht die Regelung des § 13 Abs 5 KHBV dem Wirtschaftlichkeitsgebot, soweit sie Rückforderungsansprüche der KKn der dreijährigen Verjährung unterwirft. Die Teilnichtigkeit führt zur Gesamtnichtigkeit der Regelung (dazu bb).

18

aa) Der Schiedsspruch der Landesschiedsstelle nach § 114 SGB V unterliegt uneingeschränkt der Kontrolle seiner Vereinbarkeit mit den für die Krankenhausbehandlung in der GKV geltenden unabdingbaren Rechtsmaßstäben. Er soll eine vertragliche Regelung ersetzen, die sicherstellen soll, dass Art und Umfang der Krankenhausbehandlung den Anforderungen des SGB V entsprechen (§ 112 Abs 1 SGB V; vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 31; BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 32). Ausschließlich innerhalb dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen können die Verträge auf Landesebene - wie hier der KHBV - die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung einschließlich der Aufnahme und Entlassung der Versicherten, Kostenübernahme, Abrechnung der Entgelte, Berichte und Bescheinigungen regeln (§ 112 Abs 2 S 1 Nr 1 Buchst a und b SGB V). Nur soweit diese Vertragskompetenz reicht, besteht ein Gestaltungsspielraum der Landesschiedsstelle (zur Möglichkeit der Verletzung durch untergesetzliche Normen vgl BSGE 105, 1 = SozR 4-2500 § 125 Nr 5, RdNr 26 mwN).

19

bb) Dementsprechend steht die Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht zur Disposition der Vertragspartner und der Schiedsstelle. Das Regelungssystem des SGB V begründet Ansprüche nur auf eine erforderliche Krankenhausbehandlung (§ 27 Abs 1, § 39 Abs 1 S 2 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nach objektiven Kriterien (vgl BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 30 f; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 20 RdNr 19 ff mwN). Die Krankenhausbehandlung muss ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Nur unter diesen Voraussetzungen schuldet die KK dem Versicherten eine Krankenhausbehandlung und dem Leistungserbringer korrespondierend die vereinbarte Vergütung (§ 2 Abs 1 S 1, § 12 Abs 1 S 1, § 70 Abs 1 SGB V). Ein Anspruch auf Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung setzt dementsprechend ua voraus, dass die Behandlung unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots erforderlich war und die Voraussetzungen der gesetzlichen und vertraglich vorgesehenen Vergütungsregelungen erfüllt sind (vgl § 109 Abs 4 S 3 iVm § 39 Abs 1 S 2 SGB V). Über die Erforderlichkeit der Behandlung entscheidet allein die KK und im Streitfall das Gericht, ohne dass beide an die Einschätzung des Krankenhauses oder seiner Ärzte gebunden sind (BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 20, 26 unter Bezugnahme auf BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 27 ff). Die KKn haben ggf erst durch eine Prüfung festzustellen, dass die Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs erfüllt sind. Auch die Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser hat hieran nichts geändert (BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 23; vgl zum Ganzen BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 33). Das Vertragsrecht des SGB V kann dementsprechend nicht dazu eingesetzt werden, den gesetzlichen Rahmen für die Überprüfung der Krankenhausabrechnungen auf sachlich-rechnerische Richtigkeit und Wirtschaftlichkeit einzuschränken. Ähnlich wie im Vertragsarztrecht besteht auch im Bereich der Krankenhausbehandlung keine weitergehende Befugnis der Vertragspartner und an ihrer Stelle der Landesschiedsstelle, Überprüfungsmöglichkeiten der KKn gegenüber Vergütungsansprüchen der Krankenhäuser über die allgemeinen gesetzlichen Rahmenvorgaben hinaus zeitlich einzuschränken (vgl BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 37).

20

Die allgemeinen gesetzlichen Rahmenvorgaben für die Überprüfung von Krankenhausabrechnungen ergeben sich aus den Regelungen der Verjährung für Erstattungsansprüche, inzwischen ergänzt um die spezielle Ausschlussregelung des § 275 Abs 1c SGB V. Der Anspruch einer KK gegen einen Krankenhausträger auf Erstattung einer zu Unrecht gezahlten Vergütung unterliegt einer vierjährigen Verjährung (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 14.10.2014 - B 1 KR 27/13 R - Juris RdNr 33, für BSGE und SozR 4-2500 § 109 Nr 40 vorgesehen; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25). Dieser gesetzliche Rahmen steht nicht zur Disposition der Vertragspartner des § 112 SGB V. Vertragspartner und an ihrer Stelle die Landesschiedsstelle sind lediglich berechtigt, Modalitäten zur Abrechnung von Vertragsleistungen, zB Abrechnungsfristen und die Folgen bei Nichteinhaltung, durch Vereinbarung oder an ihrer Stelle durch Schiedsspruch zu regeln. Solche Regelungen halten die hieran gebundenen KKn und Krankenhäuser gleichermaßen dazu an, ihren Verpflichtungen nachzukommen (vgl Wahl in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 112 RdNr 41 ff). Dazu gehören etwa Zahlungsfristen, Verrechnungsmodalitäten sowie Verzugszinsen bei Überschreitung des Zahlungsziels (vgl BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1, RdNr 35).

21

Die Regelungen des § 13 Abs 5 KHBV sind nichtig. Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht, soweit sie den aufgezeigten Vorgaben zur Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots widersprechen. Sie schränken die gesetzlichen Möglichkeiten der Überprüfung der Krankenhausabrechnungen ein, indem sie die Rückforderungsansprüche der KKn der dreijährigen Verjährung gemäß § 195 BGB unterwerfen. Die Teilnichtigkeit der Regelung der Verjährungsfrist - bezogen auf Rückforderungsansprüche der KKn - bewirkt auch die Nichtigkeit der Geltung der dreijährigen Verjährungsfrist für Forderungen der Krankenhäuser. Denn die Schiedsstelle hat die Einbeziehung beider Forderungsarten in die Verjährungsregelung im Sinne einer ausgewogenen Gesamtregelung konzipiert. Nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB ist die gesamte Regelung der Verjährung in § 13 Abs 5 KHBV nichtig, da die Verkürzung der Verjährungsfrist für Erstattungsansprüche der KKn nichtig und nicht anzunehmen ist, dass die Schiedsstelle § 13 Abs 5 KHBV auch ohne den nichtigen Teil erlassen hätte.

22

c) Die Klägerin war nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch nicht - wie die Beklagte meint - daran gehindert, ihren Vergütungsanspruch gegenüber der Beklagten im Dezember 2009 klageweise geltend zu machen. Ihr restlicher Vergütungsanspruch ist nicht verwirkt.

23

Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Es findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN), etwa wenn eine Nachforderung eines Krankenhauses nach vorbehaltlos erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der KK erfolgt (BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27). Um eine solche Nachforderung geht es indes nicht.

24

Die Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37; BSGE 109, 22 = SozR 4-2400 § 7 Nr 14, RdNr 36; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 31; BSG SozR 4-2600 § 243 Nr 4 RdNr 36; BSG SozR 4-4200 § 37 Nr 1 RdNr 17; BSG SozR 3-2400 § 4 Nr 5 S 13; BSG Urteil vom 30.7.1997 - 5 RJ 64/95 - Juris RdNr 27; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f; BSG Urteil vom 1.4.1993 - 1 RK 16/92 - FEVS 44, 478, 483 = Juris RdNr 23; BSG SozR 2200 § 520 Nr 3 S 7; BSG Urteil vom 29.7.1982 - 10 RAr 11/81 - Juris RdNr 15; BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15; BSG Urteil vom 25.1.1972 - 9 RV 238/71 - Juris RdNr 17; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke , Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147 ff, 167 f).

25

An solchen die Verwirkung auslösenden Umständen fehlt es vorliegend. Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar (vgl auch BSG Urteil vom selben Tag - B 1 KR 7/15 R - RdNr 19, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der Umstand, dass die Klägerin erst am 29.12.2009 Zahlungsklage erhoben hat, genügt deshalb nicht. Hierdurch unterscheidet sich die Verwirkung von der Verjährung (s ferner ergänzend zu den bereits oben genannten Entscheidungen BSGE 51, 260, 262 f = SozR 2200 § 730 Nr 2 S 4; BSG Urteil vom 30.10.1969 - 8 RV 53/68 - USK 6983 S 345 = Juris RdNr 23; BSGE 38, 187, 193 f = SozR 2200 § 664 Nr 1 S 8 f; BSGE 34, 211, 214 = SozR Nr 14 zu § 242 BGB Aa 7 RS; BSGE 7, 199, 200 f; vgl auch BGH NJW 2011, 445, 446). Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (vgl BSG Urteil vom 19.6.1980 - 7 RAr 14/79 - USK 80292 S 1312 = Juris RdNr 32; BSGE 47, 194, 197 f = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 17; BSGE 45, 38, 48 = SozR 4100 § 40 Nr 17 S 55). Hierbei kann zu berücksichtigen sein, wie sich das Verhalten nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte darstellt (vgl dazu Müller-Grune, Der Grundsatz von Treu und Glauben im Allgemeinen Verwaltungsrecht, 2006, S 60; ebenso Knödler, Mißbrauch von Rechten, selbstwidersprüchliches Verhalten und Verwirkung im öffentlichen Recht, 2000, S 221).

26

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Es fehlt bereits an einem Verwirkungsverhalten. Die Klägerin gab der Beklagten keinen Anlass dafür, anzunehmen, dass sie ihre restliche Vergütungsforderung nicht mehr weiterverfolgen werde.

27

3. Das LSG wird nunmehr die gebotenen Feststellungen zu den Voraussetzungen einer rechtmäßigen Einbehaltung zwecks Anschubfinanzierung integrierter Versorgung zu treffen haben (vgl dazu grundlegend BSGE 107, 78 = SozR 4-2500 § 140d Nr 2).

28

4. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 GKG.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Streitwert wird auf 524 862,23 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über eine ergänzende Bundesbeteiligung an den Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II (KdU).

2

Die klagende Freie Hansestadt Bremen erhält von der beklagten Bundesrepublik Deutschland nach einem gesetzlich festgelegten Satz (§ 46 Abs 5 ff SGB II)eine Beteiligung an den im Gebiet ihres Bundeslandes aufgewandten KdU. Der Berechnung liegen Aufstellungen der Stadtgemeinde Bremen (S) über ihre erbrachten Leistungen zugrunde. Sie war mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) zunächst gemeinsam Trägerin der Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAGIS; § 44b SGB II aF). Die Funktion der BAGIS ging zum 1.1.2011 auf das Jobcenter Bremen über (gemeinsame Einrichtung von S und BA, § 44b SGB II nF). Die BAGIS erbrachte Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende einheitlich für BA und S (§ 6 Abs 1 S 1 SGB II; bzgl S: Leistungen nach § 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II). Die BAGIS bewirkte die Auszahlungen über Software der BA. Um die BA hierbei nicht mit kommunalen Leistungen zu belasten, verpflichtete sich die S, diesbezügliche Beträge jeweils binnen zweier Werktage nach Anforderung der BA zu zahlen. Die S erhielt Zugriff auf das EDV-System der BA, um zu ihren Lasten und Gunsten getätigte Buchungen abzurufen. Die S prüfte die sachliche Richtigkeit der Anforderungen wegen der kurzen Zahlungsfrist von zwei Werktagen und der Zahl von werktäglich hunderten bis über tausend Buchungen nicht, bevor sie die Zahlungen anwies. Sie erhielt für eine nachträgliche Prüfung - entsprechend der Praxis gegenüber kommunalen Trägern - von der BAGIS und später vom Jobcenter vierteljährlich Aufstellungen über die Ausgaben und Einnahmen bzgl der Leistungen, die den kommunalen Trägern obliegen. Die Prüfungen ließen wiederholt Fehlbuchungen erkennen. Sie lasteten zT nichtkommunale Leistungen der S an und erweckten zT den Eindruck geringerer Aufwendungen für KdU. Deshalb forderte die Klägerin geringere Beträge der Bundesbeteiligung. Sie sah in den Fehlbuchungen zunächst zu vernachlässigende Einzelfälle. Die Beklagte berichtete über Fehler und ihre Beseitigung (23.3.2010). Die Klägerin berief sich gegenüber dem Jobcenter Bremen wegen Hinweisen auf erhebliche Fehlbuchungen in Hamburg und Köln auf Umbuchungsansprüche rückwirkend ab 2005, deren Umfang ihre Innenrevision überprüfe (4.12.2013). Der Bund beglich lediglich die aufgrund einer Stichprobe bezifferten Ansprüche wegen Fehlbuchungen ab Januar 2010. Die Beklagte machte ua geltend, die übrigen Forderungen betreffend die Zeit von 2005 bis 2009 seien verjährt (5.2.2015).

3

Die Klägerin fordert mit ihrer am 15.1.2016 erhobenen Klage ergänzende Zahlung der Bundesbeteiligung an den KdU für die Zeit von 2005 bis Ende 2009. Der Anspruch sei nicht verjährt, da sie erst seit Ende 2013 Kenntnis von den strukturellen Buchungsfehlern der BAGIS habe. Die Beklagte habe sich in einem Parallelfall gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg nicht auf Verjährung berufen.

4

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin 524 862,23 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 15. Januar 2016 zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

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Die Beklagte trägt vor, sie habe sich auch gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg auf Verjährung berufen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig (dazu 1.), aber nicht begründet. Soweit die klagende Freie Hansestadt Bremen noch einen ergänzenden Zahlungsanspruch gegen die beklagte Bundesrepublik Deutschland hat, ist er wegen Verjährung nicht durchsetzbar (dazu 2.). Die Klägerin hat auch keinen Haftungsanspruch wegen grober Pflichtverletzung der Beklagten (dazu 3.). Ein Zinsanspruch ist mangels eines durchsetzbaren Hauptanspruchs nicht gegeben.

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1. Die Klage ist zulässig. Das BSG entscheidet ua im ersten und letzten Rechtszug über Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern in Angelegenheiten des § 51 SGG(§ 39 Abs 2 S 1 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin streitet als Bundesland gegen den Bund (vgl dazu BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 11; BSGE 114, 55 = SozR 4-4200 § 6b Nr 1, RdNr 23 ff) mit der allgemeinen Leistungsklage (vgl § 54 Abs 5 SGG) um Zahlung. Der Anspruch ist öffentlich-rechtlicher, nicht verfassungsrechtlicher Art (dazu a). Er betrifft eine Angelegenheit nach § 51 Abs 1 Nr 4a SGG(dazu b) und ist grundlegender Art (dazu c).

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a) Maßgeblich für das Vorliegen einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit ist, ob der geltend gemachte Klageanspruch in einem Rechtsverhältnis wurzelt, das entscheidend vom Verfassungsrecht geprägt wird und nicht durch Normen des einfachen Rechts (vgl BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 11, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; BVerfGE 109, 1, 6; BVerwGE 116, 234, 237 = Buchholz 310, § 40 VwGO Nr 289; BVerwGE 128, 99 RdNr 15 = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 20). Der Gegenstand des vorliegenden Klageverfahrens betrifft nicht die grundsätzliche Zuordnung verfassungsrechtlicher Finanzlasten und das verfassungsrechtliche Grundverhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern stellt sich als eine lediglich im einfachen Recht wurzelnde Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art dar. Es geht im Kern um einen Zahlungsanspruch aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II.

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b) Die Streitigkeit betrifft Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende iS von § 51 Abs 1 Nr 4a SGG. Hierfür sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig. Das streitige Begehren findet nämlich seine Grundlage im SGB II (vgl entsprechend BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 20; BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 12, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Coseriu in Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2015, § 51 RdNr 16a).

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c) Betroffen ist auch eine Streitigkeit grundlegender Art, die sich nach ihrem Gegenstand einem Vergleich mit den landläufigen Verwaltungsstreitigkeiten entzieht (vgl zum Erfordernis BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 21; BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 13, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1.12.2015, § 39 RdNr 3a). Die Eigenart der Bund-Länder-Beziehungen prägt den Gegenstand des Verfahrens. Hierbei geht es ua um die für diese Beziehungen grundlegende Frage nach den maßgeblichen verjährungsrechtlichen Regelungen.

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2. Die Klägerin hat keinen durchsetzbaren Anspruch auf Zahlung von 524 862,23 Euro gegen die Beklagte aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II. Der erkennende Senat lässt die Frage offen, ob der geltend gemachte ergänzende Zahlungsanspruch besteht (dazu a). Die Beklagte ist nämlich wegen Verjährung des Anspruchs berechtigt, die Leistung zu verweigern (dazu b). Die dagegen erhobenen Einwendungen der Klägerin greifen nicht durch (dazu c).

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a) Als Rechtsgrundlage des Zahlungsanspruchs der Klägerin kommt das Recht auf Bundesbeteiligung aus § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II in Betracht(zuletzt geändert durch Art 5 Nr 1 Gesetz zur Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen und zur Entlastung von Ländern und Kommunen bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern vom 24.6.2015, BGBl I 974 mWv 30.6.2015, ursprünglich eingefügt durch Art 1 Kommunales Optionsgesetz vom 30.7.2004, BGBl I 2014 mWv 1.1.2005). Danach beteiligt sich der Bund zweckgebunden an den Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II. Die Klägerin ist als Bundesland aus dieser Regelung berechtigt, obwohl diese eine quotale Beteiligung des Bundes an den Kosten der kommunalen Träger (§ 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB II) für Unterkunft und Heizung normiert (Harich in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 46 RdNr 20). Die Norm des § 46 Abs 5 und Abs 8 SGB II findet ihre finanzverfassungsrechtliche Grundlage nämlich in Art 104a Abs 3 S 1 GG(vgl BSG Urteil vom 10.3.2015 - B 1 AS 1/14 KL - Juris RdNr 22, für BSGE und SozR 4-4200 § 46 Nr 4 vorgesehen; Knapp in jurisPK-SGB II, Stand Online-Kommentierung 4.1.2016, § 46 RdNr 70; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Stand Dezember 2015, § 46 RdNr 22). Danach können Bundesgesetze, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden, bestimmen, dass die Geldleistungen ganz oder zum Teil vom Bund getragen werden. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes ermöglicht keine unmittelbaren Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Kommunen. Die Bundesbeteiligung wird an die Länder gezahlt, die für die Verteilung der Mittel an die Kommunen zuständig sind (vgl § 46 Abs 8 S 1 SGB II; Knapp in jurisPK-SGB II, Stand 4.1.2016 § 46 RdNr 70, 84 ff; O´Sullivan in Estelmann, SGB II, Stand April 2016, § 46 RdNr 56).

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b) Wenn der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch besteht, kann die Beklagte die Leistung verweigern. Sie beruft sich zutreffend darauf, dass der Anspruch verjährt ist. Der Zahlungsanspruch aus § 46 Abs 5 SGB II unterliegt einer vierjährigen Verjährungsfrist(dazu aa). Die Verjährungsfrist war bei Klageerhebung abgelaufen (dazu bb).

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aa) Das SGB II regelt weder in § 46 SGB II noch an anderer Stelle ausdrücklich die Verjährung des Zahlungsanspruchs aus der Bundesbeteiligung. Hierfür gelten die allgemeinen Grundsätze. Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient (vgl BSG Urteil vom 23.6.2015 - B 1 KR 26/14 R - Juris RdNr 44, für BSGE und SozR 4-5560 § 17c Nr 3). Die Regelung ist aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten, um früher zu beobachtende jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen (stRspr, vgl zB BSGE 42, 135, 138 = SozR 3100 § 10 Nr 7 S 10<10. BSG-Senat>; BSGE 69, 158 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1 S 5<6. BSG-Senat>; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 1 RdNr 17<3. BSG-Senat>; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 12 ff,<1. BSG-Senat>, alle mwN). Dieses allgemeine Rechtsprinzip gilt umfassend in den sozialrechtlich geprägten Rechtsbeziehungen (vgl zB Arzneimittelregress einer Kassenärztlichen Vereinigung gegen eine Universität, BSG SozR 2200 § 368e Nr 10; Zahlungsanspruch eines Krankenhauses gegen einen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, BSG Urteil vom 28.6.1988 - 2 RU 40/87 - Juris; Erstattungsanspruch zwischen öffentlich-rechtlichen Körperschaften im Bereich des Kassenarztrechts, BSGE 69, 158, 160 ff = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; kassenzahnärztlicher Honorarkürzungsbescheid, BSGE 72, 271, 272 ff = SozR 3-2500 § 106 Nr 19; kassenärztlicher Honoraranspruch, BSGE 76, 117, 118 ff = SozR 3-1200 § 45 Nr 5; entsprechende Anwendung auf sozialrechtliche Ausschlussvorschriften, BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 15; gegenseitige Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen - KKn - BSGE 98, 142 = SozR 4-2500 § 276 Nr 1, RdNr 25; Erstattungsanspruch einer KK gegen ein Krankenhaus, BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 39; Anspruch auf Aufwendungsersatz der kraft gesetzlichen Auftrags tätigen KK gegen den Sozialhilfeträger, BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15).

16

Die Grundsätze gelten trotz zwischenzeitlicher Modifizierung des Verjährungsrechts im BGB unverändert fort (vgl BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 15 mwN). Der Gesetzgeber hat die zitierte ständige Rechtsprechung des BSG nicht zum Anlass genommen, die gesetzlichen Regelungen des SGB zu ändern. Er wollte eine Änderung der verjährungsrechtlichen Rechtslage im Sozialrecht gerade nicht herbeiführen (vgl auch BSGE 115, 40 = SozR 4-2500 § 302 Nr 1, RdNr 44; entsprechend generell für das öffentliche Recht, BVerwGE 132, 324 RdNr 11 f). Die Entscheidung, ob das neue Regelungssystem der bürgerlich-rechtlichen Verjährung auf spezialgesetzlich geregelte Materien übertragen werden kann und welche Sonderregelungen ggf getroffen werden müssten, sollte weiteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben (vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 14/6857 S 42 zu Nr 1). Bei Erlass des Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 9.12.2004 (BGBl I 3214) entschied sich der Gesetzgeber bewusst gegen eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Rechts. Denn im öffentlichen Recht gelten grundsätzlich eigenständige Verjährungsregelungen. Nach der Gesetzesbegründung kann auf die zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen nur hilfsweise entsprechend zurückgegriffen werden (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks 15/3653 S 10).

17

Der Anspruch der Bundesländer auf Zahlung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung ist im gebotenen Sinne sozialrechtlich geprägt. Der Gesetzgeber hat die Rechtsgrundlage (§ 46 Abs 5 und 8 SGB II) dem SGB II zugeordnet. Der Bund beteiligt sich aufgrund dieser Regelung - wie dargelegt - an der Finanzierung der genannten Sozialleistungen.

18

bb) Die Verjährungsfrist war zum Zeitpunkt der Klageerhebung (vgl § 204 Abs 1 Nr 1 BGB) am 15.1.2016 bereits abgelaufen. Die allgemeine sozialrechtliche Verjährungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist (entsprechend § 45 Abs 1 SGB I, vgl zB BSGE 69, 158, 163 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1; BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 12; BSGE 117, 82 = SozR 4-2500 § 109 Nr 40, RdNr 33). Auch insoweit kommt aus den dargelegten Gründen ein Rückgriff auf die Vorschriften des durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001 (BGBl I 3138) novellierten bürgerlich-rechtlichen Verjährungsrechts nicht in Betracht.

19

Der Anspruch auf Bundesbeteiligung an den KdU entsteht mit Aufwendung der Kosten. Der Abruf der Erstattungen ist zur Monatsmitte und zum Monatsende zulässig (§ 46 Abs 8 S 2 SGB II). Die Verjährungsfrist für Ansprüche der Klägerin auf Bundesbeteiligung an den Aufwendungen in der Zeit vom 1.1.2005 bis 31.12.2009 endete dementsprechend grundsätzlich spätestens mit Ablauf des 31.12.2013. Anderes ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen der Hemmung, der Ablaufhemmung oder des Neubeginns der Verjährung. Hierfür gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß (vgl BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 13 zur entsprechenden Anwendung von § 45 Abs 2 SGB I idF durch Art 5 Nr 3 Buchst a Gesetz zur Einführung einer kapitalgedeckten Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und zur Änderung anderer Gesetze vom 21.6.2002, BGBl I 2167).

20

Für einen Neubeginn der Verjährung (vgl § 212 BGB)liegt nichts vor. Die Voraussetzungen keiner der sinngemäß geltenden Regelungen für die Hemmung sind erfüllt, ihre analoge Anwendung ist ausgeschlossen. Insbesondere hemmte das Schreiben der Klägerin an das Jobcenter Bremen (4.12.2013) den Ablauf der Verjährung nicht. Es löste zwischen Gläubiger und Schuldner, also Klägerin und Beklagter keine Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände aus, die die Verjährung hemmten (vgl § 203 S 1 BGB). Verhandlungen schweben zwar schon dann, wenn eine der Parteien Erklärungen abgibt, die der jeweils anderen Partei die Annahme gestatten, der Erklärende lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung des von ihr - der anderen Partei - geltend gemachten Anspruches oder dessen Umfang ein (BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 16 mwN). Die Beklagte gab aber der Klägerin bis zum Ablauf des Jahres 2013 keinen Anlass dafür, anzunehmen, sie lasse sich verjährungshemmend auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruches oder dessen Umfang ein.

21

Es liegt auch keine Hemmung der Verjährung nach Maßgabe einer der Fälle des § 204 BGB vor. Keiner der Hemmungstatbestände der Vorschrift ist auf das vorgerichtliche Schreiben vom 4.12.2013 übertragbar. Handlungen, welche das Vorliegen eines Anspruchs nur prüfen und damit seine (mögliche) Geltendmachung vorbereiten, hemmen den Ablauf der Verjährungsfrist nicht (vgl BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 14; BGH Urteil vom 25.9.2015 - V ZR 246/14 - Juris RdNr 30; BGH Urteil vom 24.5.2012 - IX ZR 168/11 - Juris RdNr 16). Gleiches muss erst Recht für die (bloße) Ankündigung einer Prüfung gelten. Die Klägerin machte lediglich vorsorglich Ansprüche geltend, deren Vorliegen sie noch nicht geprüft hatte, sondern erst überprüfen wollte. Auch eine analoge Anwendung des § 204 BGB kommt nicht in Betracht. Eine planwidrige Regelungslücke ist nicht ersichtlich (vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 22).

22

c) Die Beklagte beruft sich nicht treuwidrig auf Verjährung. Ihre Erhebung der Verjährungseinrede ist weder rechtsmissbräuchlich (dazu aa) noch widerspricht sie im Übrigen dem Grundsatz der Bundestreue (dazu bb).

23

aa) Die Geltendmachung der Verjährungseinrede findet generell ihre Grenze im Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und hierbei im Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung wegen Rechtsmissbrauchs (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 11). Die Beklagte wäre nach Treu und Glauben gehindert, sich auf Verjährung zu berufen, wenn sie die Klägerin durch Irreführung von einer rechtzeitigen verjährungshemmenden oder - unterbrechenden Geltendmachung ihrer Ansprüche abgehalten hätte (vgl entsprechend zum Abhalten von Obliegenheiten zB BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15, RdNr 27 f; BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 7 RdNr 19; E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung Bd 1, Stand Januar 2016, § 13 SGB V RdNr 254). Die in diese Richtung zielende Behauptung der Klägerin, die Beklagte habe einen zum Minderabruf der Bundesbeteiligung führenden Softwarefehler erkannt, aber die Klägerin nicht hierüber informiert, findet in den Akten keine Stütze. Die Beklagte legte vielmehr auch gegenüber der Klägerin die Probleme mit dem IT-Verfahren A2LL und ihre Bemühungen offen, aktiv von sich aus eingetretene Fehler zu beseitigen (Schreiben vom 23.3.2010). Sie gab der Klägerin damit zugleich Gelegenheit zu einer umfassenden Prüfung, die jene aber nicht nutzte. Die Klägerin kann sich insoweit nicht mit Erfolg auf Rechtsmissbrauch berufen, da sie es versäumte, zeitnah ihren eigenen Prüfobliegenheiten nachzukommen. Ausdrücklich sieht das Gesetz zwar erst ab 1.4.2011 vor, dass die Länder die Prüfung zu gewährleisten haben, dass die Ausgaben der kommunalen Träger begründet und belegt sind und den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entsprechen (vgl § 46 Abs 8 S 5 SGB II idF der Bekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850). Die Prüfobliegenheit traf die Klägerin nach allgemeinen Grundsätzen aber auch schon zuvor.

24

bb) Die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten ist eine Ausprägung des Bundesstaatsprinzips (Art 20 Abs 1 GG; vgl zB BVerfGE 12, 205, 255; 13, 54, 75; 81, 310, 337 mwN). Die Pflicht verlangt, dass sowohl der Bund als auch die Länder bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder nehmen (stRspr, vgl zB BVerfGE 32, 199, 218; 43, 291, 348; 81, 310, 337; 104, 249, 269 f; 139, 321 RdNr 101 mwN). Der Bund oder ein Land verstoßen gegen diese Pflicht allerdings nicht schon dadurch, dass sie von einer ihnen durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenz oder gesetzlich eingeräumten Rechten Gebrauch machen; vielmehr muss deren Inanspruchnahme missbräuchlich sein oder gegen prozedurale Anforderungen verstoßen, die aus diesem Grundsatz herzuleiten sind (vgl BVerfGE 106, 1, 27). Grundsätzlich dürfen sich der Bund und die Länder dementsprechend nach dem für sie geltenden Grundsatz der sparsamen Haushaltsführung (§ 7 Abs 1 Bundeshaushaltsordnung)auf Verjährung berufen.

25

Es bedarf keiner Vertiefung, inwieweit hiernach eine willkürliche Benachteiligung eines Bundeslandes gegenüber anderen Bundesländern bei Ausübung des Leistungsverweigerungsrechts die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten verletzt. In diesem Sinne sieht sich die Klägerin gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg benachteiligt. Die Beklagte berief sich indes nach dem Akteninhalt auch gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg auf Verjährung.

26

3. Die Klägerin hat gegen die Beklagte auch keinen Haftungsanspruch wegen grober Pflichtverletzung (vgl Art 104a Abs 5 S 1 Halbs 2 GG). Nach dem Wortlaut dieser Norm haften Bund und Länder im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung. Ungeachtet der Fragen, inwieweit solche Haftungsansprüche zugleich mit dem speziell ausgestalteten Anspruch auf Bundesbeteiligung (§ 46 Abs 5 ff SGB II)bestehen können (zum grundsätzlichen Anwendungsbereich der Haftungsregelung für das Auseinanderfallen von Verwaltungs- und Finanzierungszuständigkeit vgl BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 26 ff mwN) und welche Verjährungsregeln hierfür gelten, sind auch bei unterstellter Anwendbarkeit jedenfalls dessen Voraussetzungen nicht erfüllt. Außerhalb der Fälle der gemeinschaftsrechtlichen Anlastung, in denen nur ein "einfaches", objektiv rechtswidriges Verhalten erforderlich ist (vgl BVerfGE 116, 271, 318 mwN), bedarf es bei Anwendung rein nationalen Rechts darüber hinaus zumindest einer schwerwiegenden grob fahrlässig oder vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung der in Anspruch genommenen Gebietskörperschaft (vgl BSGE 105, 100 = SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 25 mwN; BSG SozR 4-4200 § 6b Nr 2 RdNr 44 mwN; BVerwGE 96, 45, 57 ff = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 11; BVerwG Buchholz 11 Art 104a GG Nr 13 und 14; BVerwGE 128, 99 RdNr 21 = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 20; "vorsätzliche Pflichtverletzungen" für notwendig erachtend: BVerwGE 104, 29, 32 ff = Buchholz 11 Art 104a GG Nr 16). Daran fehlt es. Wie dargelegt hielt die Beklagte die Klägerin nicht treuwidrig von der Realisierung von Ansprüchen ab.

27

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Entscheidung über den Streitwert folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und Abs 3 S 1 sowie § 47 Abs 1 S 1 GKG.

(1) Rechtskräftige Urteile binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist,

1.
die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger,
2.
im Falle des § 75 Absatz 2a die Personen und im Falle des § 75 Absatz 2b die Versicherungsträger, die einen Antrag auf Beiladung nicht oder nicht fristgemäß gestellt haben.

(2) Hat der Beklagte die Aufrechnung einer Gegenforderung geltend gemacht, so ist die Entscheidung, daß die Gegenforderung nicht besteht, bis zur Höhe des Betrags der Rechtskraft fähig, für den die Aufrechnung geltend gemacht worden ist.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

(1) Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind.

(2) Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß.

(3) Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung oder durch Erhebung eines Widerspruchs gehemmt. Die Hemmung endet sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch.

(4) (weggefallen)

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

(1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem

1.
der Anspruch entstanden ist und
2.
der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

(2) Schadensersatzansprüche, die auf der Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen, verjähren ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.

(3) Sonstige Schadensersatzansprüche verjähren

1.
ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an und
2.
ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.
Maßgeblich ist die früher endende Frist.

(3a) Ansprüche, die auf einem Erbfall beruhen oder deren Geltendmachung die Kenntnis einer Verfügung von Todes wegen voraussetzt, verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Entstehung des Anspruchs an.

(4) Andere Ansprüche als die nach den Absätzen 2 bis 3a verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an.

(5) Geht der Anspruch auf ein Unterlassen, so tritt an die Stelle der Entstehung die Zuwiderhandlung.

12
Ein Gläubiger, der einen Bereicherungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB verfolgt, hat Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen , wenn er von der Leistung und den Tatsachen weiß, aus denen sich das Fehlen des Rechtsgrundes ergibt (Senat, BGHZ 175, 161, Tz. 26). Der Verjährungsbeginn setzt grundsätzlich nur die Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen voraus. Nicht erforderlich ist in der Regel, dass der Gläubiger aus den ihm bekannten Tatsachen die zutreffenden rechtlichen Schlüsse zieht. Nur ausnahmsweise kann die Rechtsunkenntnis des Gläubigers den Verjährungsbeginn hinausschieben, wenn eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage vorliegt, die selbst ein rechtskundiger Dritter nicht zuverlässig einzuschätzen vermag. In diesem Fall fehlt es an der Zumutbarkeit der Klageerhebung als übergreifender Voraussetzung für den Verjährungsbeginn (Senat, BGHZ 179, 260, Tz. 47 m.w.N.).

(1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem

1.
der Anspruch entstanden ist und
2.
der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

(2) Schadensersatzansprüche, die auf der Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen, verjähren ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.

(3) Sonstige Schadensersatzansprüche verjähren

1.
ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an und
2.
ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.
Maßgeblich ist die früher endende Frist.

(3a) Ansprüche, die auf einem Erbfall beruhen oder deren Geltendmachung die Kenntnis einer Verfügung von Todes wegen voraussetzt, verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Entstehung des Anspruchs an.

(4) Andere Ansprüche als die nach den Absätzen 2 bis 3a verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an.

(5) Geht der Anspruch auf ein Unterlassen, so tritt an die Stelle der Entstehung die Zuwiderhandlung.

12
Ein Gläubiger, der einen Bereicherungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB verfolgt, hat Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen , wenn er von der Leistung und den Tatsachen weiß, aus denen sich das Fehlen des Rechtsgrundes ergibt (Senat, BGHZ 175, 161, Tz. 26). Der Verjährungsbeginn setzt grundsätzlich nur die Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen voraus. Nicht erforderlich ist in der Regel, dass der Gläubiger aus den ihm bekannten Tatsachen die zutreffenden rechtlichen Schlüsse zieht. Nur ausnahmsweise kann die Rechtsunkenntnis des Gläubigers den Verjährungsbeginn hinausschieben, wenn eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage vorliegt, die selbst ein rechtskundiger Dritter nicht zuverlässig einzuschätzen vermag. In diesem Fall fehlt es an der Zumutbarkeit der Klageerhebung als übergreifender Voraussetzung für den Verjährungsbeginn (Senat, BGHZ 179, 260, Tz. 47 m.w.N.).

(1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem

1.
der Anspruch entstanden ist und
2.
der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

(2) Schadensersatzansprüche, die auf der Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen, verjähren ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.

(3) Sonstige Schadensersatzansprüche verjähren

1.
ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an und
2.
ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.
Maßgeblich ist die früher endende Frist.

(3a) Ansprüche, die auf einem Erbfall beruhen oder deren Geltendmachung die Kenntnis einer Verfügung von Todes wegen voraussetzt, verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in 30 Jahren von der Entstehung des Anspruchs an.

(4) Andere Ansprüche als die nach den Absätzen 2 bis 3a verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an.

(5) Geht der Anspruch auf ein Unterlassen, so tritt an die Stelle der Entstehung die Zuwiderhandlung.

Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

Schweben zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände, so ist die Verjährung gehemmt, bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert. Die Verjährung tritt frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung ein.

(1) Dieses Kapitel sowie die §§ 63 und 64 regeln abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94. Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Krankenhäusern und ihren Verbänden werden abschließend in diesem Kapitel, in den §§ 63, 64 und in dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Krankenhausentgeltgesetz sowie den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen geregelt. Für die Rechtsbeziehungen nach den Sätzen 1 und 2 gelten im Übrigen die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach diesem Kapitel vereinbar sind. Die Sätze 1 bis 3 gelten auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind.

(2) Die §§ 1 bis 3 Absatz 1, die §§ 19 bis 21, 32 bis 34a, 48 bis 81 Absatz 2 Nummer 1, 2 Buchstabe a und Nummer 6 bis 11, Absatz 3 Nummer 1 und 2 sowie die §§ 81a bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend. Satz 1 gilt nicht für Verträge und sonstige Vereinbarungen von Krankenkassen oder deren Verbänden mit Leistungserbringern oder deren Verbänden, zu deren Abschluss die Krankenkassen oder deren Verbände gesetzlich verpflichtet sind. Satz 1 gilt auch nicht für Beschlüsse, Empfehlungen, Richtlinien oder sonstige Entscheidungen der Krankenkassen oder deren Verbände, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind, sowie für Beschlüsse, Richtlinien und sonstige Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, zu denen er gesetzlich verpflichtet ist.

(3) Auf öffentliche Aufträge nach diesem Buch sind die Vorschriften des Teils 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden.

(4) Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach den §§ 63 und 140a über soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014, die im Rahmen einer heilberuflichen Tätigkeit erbracht werden, kann der öffentliche Auftraggeber abweichend von § 119 Absatz 1 und § 130 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie von § 14 Absatz 1 bis 3 der Vergabeverordnung andere Verfahren vorsehen, die die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gewährleisten. Ein Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und ohne vorherige Veröffentlichung nach § 66 der Vergabeverordnung darf der öffentliche Auftraggeber nur in den Fällen des § 14 Absatz 4 und 6 der Vergabeverordnung vorsehen. Von den Vorgaben der §§ 15 bis 36 und 42 bis 65 der Vergabeverordnung, mit Ausnahme der §§ 53, 58, 60 und 63, kann abgewichen werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen berichtet dem Bundesministerium für Gesundheit bis zum 17. April 2019 über die Anwendung dieses Absatzes durch seine Mitglieder.

Die Verjährung schließt die Aufrechnung und die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts nicht aus, wenn der Anspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem erstmals aufgerechnet oder die Leistung verweigert werden konnte.

Die Aufrechnung bewirkt, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind.

(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes erhoben; die §§ 184 bis 195 finden keine Anwendung; die §§ 154 bis 162 der Verwaltungsgerichtsordnung sind entsprechend anzuwenden. Wird die Klage zurückgenommen, findet § 161 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung keine Anwendung.

(2) Dem Beigeladenen werden die Kosten außer in den Fällen des § 154 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung auch auferlegt, soweit er verurteilt wird (§ 75 Abs. 5). Ist eine der in § 183 genannten Personen beigeladen, können dieser Kosten nur unter den Voraussetzungen von § 192 auferlegt werden. Aufwendungen des Beigeladenen werden unter den Voraussetzungen des § 191 vergütet; sie gehören nicht zu den Gerichtskosten.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Träger der Sozialhilfe einschließlich der Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, soweit sie an Erstattungsstreitigkeiten mit anderen Trägern beteiligt sind.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes erhoben; die §§ 184 bis 195 finden keine Anwendung; die §§ 154 bis 162 der Verwaltungsgerichtsordnung sind entsprechend anzuwenden. Wird die Klage zurückgenommen, findet § 161 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung keine Anwendung.

(2) Dem Beigeladenen werden die Kosten außer in den Fällen des § 154 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung auch auferlegt, soweit er verurteilt wird (§ 75 Abs. 5). Ist eine der in § 183 genannten Personen beigeladen, können dieser Kosten nur unter den Voraussetzungen von § 192 auferlegt werden. Aufwendungen des Beigeladenen werden unter den Voraussetzungen des § 191 vergütet; sie gehören nicht zu den Gerichtskosten.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Träger der Sozialhilfe einschließlich der Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, soweit sie an Erstattungsstreitigkeiten mit anderen Trägern beteiligt sind.

(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.

(2) Bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist ein Streitwert von 5 000 Euro anzunehmen.

(3) Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend. Hat der Antrag des Klägers offensichtlich absehbare Auswirkungen auf künftige Geldleistungen oder auf noch zu erlassende, auf derartige Geldleistungen bezogene Verwaltungsakte, ist die Höhe des sich aus Satz 1 ergebenden Streitwerts um den Betrag der offensichtlich absehbaren zukünftigen Auswirkungen für den Kläger anzuheben, wobei die Summe das Dreifache des Werts nach Satz 1 nicht übersteigen darf. In Verfahren in Kindergeldangelegenheiten vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit ist § 42 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 entsprechend anzuwenden; an die Stelle des dreifachen Jahresbetrags tritt der einfache Jahresbetrag.

(4) In Verfahren

1.
vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit, mit Ausnahme der Verfahren nach § 155 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung und der Verfahren in Kindergeldangelegenheiten, darf der Streitwert nicht unter 1 500 Euro,
2.
vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit und bei Rechtsstreitigkeiten nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz nicht über 2 500 000 Euro,
3.
vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit über Ansprüche nach dem Vermögensgesetz nicht über 500 000 Euro und
4.
bei Rechtsstreitigkeiten nach § 36 Absatz 6 Satz 1 des Pflegeberufegesetzes nicht über 1 500 000 Euro
angenommen werden.

(5) Solange in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit der Wert nicht festgesetzt ist und sich der nach den Absätzen 3 und 4 Nummer 1 maßgebende Wert auch nicht unmittelbar aus den gerichtlichen Verfahrensakten ergibt, sind die Gebühren vorläufig nach dem in Absatz 4 Nummer 1 bestimmten Mindestwert zu bemessen.

(6) In Verfahren, die die Begründung, die Umwandlung, das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Beendigung eines besoldeten öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnisses betreffen, ist Streitwert

1.
die Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen, wenn Gegenstand des Verfahrens ein Dienst- oder Amtsverhältnis auf Lebenszeit ist,
2.
im Übrigen die Hälfte der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen.
Maßgebend für die Berechnung ist das laufende Kalenderjahr. Bezügebestandteile, die vom Familienstand oder von Unterhaltsverpflichtungen abhängig sind, bleiben außer Betracht. Betrifft das Verfahren die Verleihung eines anderen Amts oder den Zeitpunkt einer Versetzung in den Ruhestand, ist Streitwert die Hälfte des sich nach den Sätzen 1 bis 3 ergebenden Betrags.

(7) Ist mit einem in Verfahren nach Absatz 6 verfolgten Klagebegehren ein aus ihm hergeleiteter vermögensrechtlicher Anspruch verbunden, ist nur ein Klagebegehren, und zwar das wertmäßig höhere, maßgebend.

(8) Dem Kläger steht gleich, wer sonst das Verfahren des ersten Rechtszugs beantragt hat.