Vom Unterschied zwischen Parteien und Fraktionen bei der Kanzlerwahl

bei uns veröffentlicht am02.08.2006

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Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

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Zusammenfassung des Autors
von Parlamentsinnenrecht, verfassungsrechtlicher Tradition und Interpretationsmöglichkeiten bei knappen Wahlentscheidungen in Deutschland - BSP Bierbach, Streifler & Partner PartGmbB
Der Ausgang der Wahlen am 18. September 2005 ließ zunächst die Frage als offen erscheinen, welche der beiden großen Parteien nun den Kanzler stellen darf. Besonders die unnachgiebige Haltung des Amtsinhabers und seines Parteiversitzenden stürzten die Republik immer tiefer in die Verwirrung. Der Rechenansatz des Bundeskanzlers Schröder, mit dem er seiner Partei letztlich doch noch zum Wahlsieg verhelfen wollte, erscheint völlig aus der Luft gegriffen. Schließlich hat doch die Union immerhin 0,9 Prozentpunkte mehr als die SPD und ist damit die stärkste Fraktion oder etwa doch nicht?

 
 
Mit Einzug in die parlamentarische Vertretung der Bundesrepublik wandelt sich die Partei in ein Gebilde um, das nur auf den ersten Blick identisch zu sein scheint. Das Erscheinungsbild des Bundestages wird nämlich von diesem Zeitpunkt an von den Parteien in Gestalt der Fraktionen bestimmt. Sie sind die alleinige Vertretung der Partei im Parlament und somit maßgeblicher Faktor der staatlichen Willensbildung. In der Regel entspricht die Sitzzahl der Fraktion auch der Stimmenzahl, die die jeweilige Partei bei den Wahlen erhalten hat. So wird z.B. die Anzahl der für die SPD abgegebenen Stimmen direkt in die dann der SPD Fraktion zustehenden Mandate umgerechnet. Würde man diesen Verteilungsschlüssel auch auf den Fall der CDU / CSU anwenden, so bliebe es bei dem zuvor bei den Parteien festgestellten Kräfteverhältnis: Die SPD bliebe auch stärkste Fraktion.

 
Eben diesen Rechenweg versucht nun die SPD zu gehen. Dabei lässt sie aber (scheinbar) die Regelung des § 10 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Bundestages außer Acht:
 
  
  
           §10 Bildung der Fraktionen (1) 1
Die Fraktionen sind Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen.  
           
Mithin kann die CDU und die CSU, die in keinem Bundesland in direktem Wettbewerb stehen und wohl auch meistens die gleichen politischen Ziele verfolgen, eine Fraktion bilden, obwohl es sich um zwei grundsätzlich unabhängige Parteien handelt.

Seit 1949 bilden die beiden Parteien CDU und CSU eine Fraktionsgemeinschaft. Grundlage dafür ist der Fraktionsvertrag. Darin ist vereinbart, dass die Abgeordneten von CDU und CSU auf Grund der übereinstimmenden politischen Ziele gemeinsam im Bundestag auftreten. Die Eigenständigkeit wird dabei aber nicht völlig aufgegeben. Seit 1998 ist im Fraktionsvertrag festgehalten, dass es sich um die Abgeordneten einer jeweils selbstständigen Partei handelt. Festgelegt ist auch, dass der Chef der CSU-Landesgruppe automatisch erster Stellvertreter des Fraktionschefs ist. Darüber hinaus mag das Erstarken des parteipolitischen Selbstbewusstseins der CSU um die Person des derzeitigen bayrischen Ministerpräsidenten Stoiber dazu beigetragen haben, die CSU umso mehr als eigenständige Partei zu sehen.  

Vielleicht liegt auch hier mitunter der Grund dafür, dass die SPD nun so vehement auf die Unabhängigkeit der  beiden Schwesterparteien pocht.

Tatsächlich kam es bereits einmal in der Geschichte beinahe zu einem Auseinanderbrechen der Fraktionsgemeinschaft. 1976 hatte die CSU unter Franz Josef Strauß beschlossen, der CDU ihre Kündigung ins Haus zu schicken. Nach der Drohung der CDU, nun ihrerseits in Bayern antreten zu wollen, ließ Strauß das Projekt jedoch wieder fallen.

Nicht nur aus diesem Grunde stellt man sich die Frage, warum sich die Union unbedingt während der Wahlen als zwei Parteien behandeln lassen will, um dann im Augenblick des Einzuges in den Bundestag wieder als eine Funktionseinheit zu erscheinen. Zum einen steht dahinter natürlich das Anliegen, dem Freistaat Bayern als Komponente seiner Autonomie auch seine eigene christdemokratische Bewegung zu gewährleisten. Das „doppelte Antreten“ der Union bei bundesweiten Wahlen hat aber daneben auch einen nicht zu vernachlässigenden materiellen Vorteil. Der sog. Sockelbetrag nach der alten Fassung des § 18 Parteigesetz, welcher allen Parteien, die bei Wahlen auf Bundesebene 2 % der Stimmen und mehr erzielten, einen Bonus zusprach, wurde zwar vom Bundesverfassungsgericht im Jahre 1992 für verfassungswidrig erklärt. Aber auch die aktuelle Fassung des § 18 Parteigesetz sieht in Absatz 3 vor, dass alle Parteien für die ersten vier Millionen Stimmen pro Stimme einen finanziellen Bonus erhalten. Folge ist, dass die Union bei Wahlen auf Bundesebene diesen Bonus zweimal erhält, nämlich jeweils für CDU und CSU getrennt. Das wäre natürlich nicht der Fall, wenn CDU und CSU zumindest bei Wahlen auf Bundesebene auch formell als eine Partei antreten würden.   

Hintergrund für den Anspruch der SPD auf das Kanzleramt könnte natürlich sein, dass die Bestimmung des § 10 GOBT dahingehend modifiziert werden, dass eine Fraktionsgemeinschaft zwischen CDU und CSU unmöglich würde.

Es handelt sich bei der Geschäftsordnung um Parlamentsinnenrecht, welches der Bundestag mit absoluter Mehrheit ändern könnte. Für diesen Fall wäre aber bereits umstritten, in welcher  Besetzung der Bundestag einer neu zu fassenden Geschäftsordnung zustimmen müsste. Es ist durchaus möglich, dass die SPD für einen solchen Antrag ohnehin keine Mehrheiten gefunden hätte.

Die Geschäftsordnung, das somit wichtigste selbst geschaffene Verfassungsrecht des Bundestages wird darüber hinaus ergänzt durch sein ebenso wichtiges Umfeld aus Parlamentsbräuchen, Observanzen und solchen im Bundestag dauerhaft akzeptierten Auslegungen. So existiert z.B. die stillschweigende Vereinbarung, jeweils der Opposition den Vorsitz im Haushaltsausschuss zu überlassen, was sonst im normalen Verfahren über die Ausschussbesetzung nicht erzwingbar wäre.  Solche Umgangsformen und parlamentarischen Gepflogenheiten lassen sich nun einmal nicht einklagen, worin ihre Schwäche begründet liegt. Dass die stärkste Fraktion nun die Kanzlerschaft innerhalb einer großen Koalition beanspruchen kann, steht demnach auch nirgendwo geschrieben, gehört aber irgendwie zu inneren Logik der parlamentarischen Demokratie und des parlamentarischen Systems. Die Kooperation von Regierung und parlamentarischer Mehrheit, in der Regierung und Parlament arbeitsteilig zusammenwirken, ist ein regulärer Bestandteil des parlamentarischen Regierungssystems.
Es ist richtig, dass in der Geschichte der Bundesrepublik der Kanzler nicht immer von der stärksten Fraktion gestellt wurde. So konnte Helmut Schmidt sich in den Jahren 1976 und 1980 nicht auf die SPD als stärkste Kraft im Bundestag stützen. Jedoch lag die Situation insofern anders, als dass sie SPD damals mit der FDP eine regierungsfähige Mehrheit bilden konnte, was heute nicht der Fall und auch nicht die Absicht der FDP ist.

Mit Blick auf die Verhandlungen zwischen SPD und der Union hätte ausgehend von dieser Prämisse die Union die besseren Karten. Aufgrund der knappen Mehrheit gebührte ihr zumindest formell der Vortritt bei der Kanzlerfrage. Wie so oft im Verfassungsrecht würde sich hieraus aber nicht die Verpflichtung des Bundespräsidenten ergeben, die Kandidatin der Union als neue Kanzlerin vorzuschlagen.

Art. 63 Abs. 1 Grundgesetz lässt für eine solche Annahme keinen Platz. Der Bundespräsident ist im Grunde frei, den Kandidaten für das Kanzleramt vorzuschlagen, wobei er sich jedoch von vernünftigen Überlegungen leiten lassen soll. Es soll der Kandidat vorgeschlagen werden, der politisch die besten „Überlebenschancen“ hat. Die Parteien sind in ihren Koalitionsverhandlungen gehalten, bis zum Zusammentreten des neuen Bundestages, welches gemäß Art. 39 Abs.2 Grundgesetz 30 Tage nach den Wahlen zu erfolgen hat, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Diese Entscheidung dient dann dem Bundespräsidenten nur als Hilfe bei seiner Einschätzung. Dem Bundespräsidenten steht es sogar im Extremfall frei, unnötig lange Koalitionsverhandlungen durch die Drohung abzukürzen, er werde zu einem bestimmten Zeitpunkt von sich aus eine ihm genehme Persönlichkeit vorschlagen, wenn die Parteien sich bis dahin nicht auf einen geeigneten Kandidaten geeinigt haben, so geschehen im Jahre 1961 als der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke die Verhandlungspartner CDU/CSU-FDP wissen ließ, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr warten werde, sondern Ludwig Erhard als Bundeskanzler vorschlagen werde.

Dabei muss sich der Bundespräsident bei seiner Kür nicht einmal auf die Mitglieder des Bundestages beschränken. Es steht im offen, auch einen Kandidaten außerhalb der deutschen Volksvertretung zu suchen. So war Kurt Georg Kiesinger Von 1966 bis 1969 Bundeskanzler der großen Koalition, ohne Mitglied des Bundestages zu sein. Persönlichkeiten wie Wulff, Koch oder Platzeck sind damit keinesfalls aus dem Rennen.

Das zur Theorie - in der Praxis wird sich der Bundespräsident schon aus Staatsräson an die Vorgaben der Koalitionsverhandlung halten, soweit es denn solche geben wird.

Sollte der vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat nicht die sog. Kanzlermehrheit gemäß Art. 63 Abs.2 i.V.m. Art. 121 Grundgesetz, also die absolute Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigen können, so steht es dann dem Parlament frei, gemäß Art. 63 Abs. 2 Grundgesetz einen Kanzler innerhalb von 14 Tagen zu wählen. Die dabei eingebrachten Kandidatenvorschläge müssen gemäß § 4 Geschäftsordnung jeweils von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages getragen werden. Es können während dieser Zeit beliebig viele Wahlgänge abgehalten werden. Sollte einer der Kandidaten es schaffen, die erforderliche Kanzlermehrheit auf sich zu vereinen, so muss ihn der Bundespräsident gemäß Art. 63 Abs. 4 Grundgesetz zum Kanzler ernennen. Erhält er nur eine einfache Mehrheit, so kann der Bundespräsident einen sog. Minderheitenkanzler ernennen oder den Bundestag auflösen, was dann wiederum Neuwahlen zur Folge hätte.

Das Szenario, das Art. 63 Abs.4 Grundgesetz zeichnet, dürfte dem Betrachter wohl eher noch stärker beunruhigen als dies die gegenwärtige Lage ohnehin schon tut. Beide Alternativen scheinen auf ersten Blick dem Land nicht die notwendige politische Sicherheit und Konsolidierung bringen zu können. Neuwahlen führen, so die Erfahrung, nicht zu einer deutlichen Klärung der Kräfteverhältnisse. Häufig wiederholt sich, eventuell mit geringfügigen Abweichungen, das vorherige Ergebnis.

Auch die Alternative des „Minderheitenkanzlers“ bleibt weit hinter zurück, was man sich unter dem Zustand einer handlungsfähigen Regierung vorstellt. Naturgemäß drängt sich die Frage auf, wie denn dann irgendeine Gesetzesvorlage im Bundestag noch erfolgreich sein soll. Anders interpretiert dies hingegen Altbundespräsident Roman Herzog, der hierin eine wahre Chance sieht, Demokratie in ihrer ureigensten Form zu betreiben, ohne das parteipolitische Interessen über das Wohl des Staates gestellt werden können. Auch mag die Tatsache, dass viele der europäischen Nachbarstaaten weitgehende Reformen unter Minderheitsregierungen bewältigt haben, Hoffnung machen. Die Frage stellt sich nur, ob dies auch in Deutschland so funktionieren kann.
 

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